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JAKOB DER LÜGNER - Badisches Staatstheater - Karlsruhe

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mit der Geschichte“ wird zentrales<br />

Element der Inszenierung – die Fragen,<br />

die Jakobs Radio-Lüge und ihre Folgen<br />

aufwerfen, finden ihre Entsprechung auf<br />

einer zweiten Ebene: In einer vehementen<br />

Selbstbefragung des Menschen, der<br />

diese Geschichte erzählen muss, der die<br />

einzelnen Teile zusammenfügt, das Erlebte,<br />

Gehörte und Erdachte aufschreibt,<br />

kommentiert und verändert. Mit Hilfe einer<br />

Live-Kamera projiziert Videokünstler<br />

Manuel Braun die den Erzähler treibende<br />

innere Stimme in den Bühnenraum.<br />

„Wir müssen uns nichts beweisen“, stellt<br />

der Erzähler wiederholt seinen Versuch<br />

infrage, Licht in das Dunkel zu bringen;<br />

„kein Mensch kann mich zwingen, zu<br />

trinken und mich an Bäume zu erinnern.<br />

Und an Jakob und an alles, was damit zu<br />

tun hat.“ Und dennoch macht er weiter.<br />

Er will etwas genauer wissen. Was den<br />

Namenlosen antreibt, ist das Gefühl der<br />

Schuld, durch eine zufällige Laune des<br />

Schicksals überlebt zu haben. Die quälende<br />

Frage, warum er widerstandslos dem<br />

Verbrechen zugesehen hat. Die Schwierigkeit,<br />

mit der Erinnerung und den Leerstellen<br />

darin umzugehen. Die Angst, bemitleidet<br />

zu werden, die Sehnsucht, sich<br />

von seinem Trauma zu befreien, vielleicht<br />

auch die Hoffnung, über eine erfundene<br />

Geschichte Hoffnung stiftender Erfindungen<br />

Antworten zu finden, Erlösung,<br />

Erleichterung, Wahrheit. Er beschreibt,<br />

wie er erfolglos versucht hat, die Erinnerungen<br />

im Alkohol zu ertränken: „Immer,<br />

wenn ich ein paar Schnäpse getrunken<br />

habe, ist sie da, die Geschichte, und ich<br />

kann nichts dagegen machen.“ Die Frage<br />

nach der Identität des Erzählers, nach<br />

seiner Rolle in der Geschichte, steht von<br />

Anfang an im Raum – und bis zum Schluss<br />

bleibt sein Name unerwähnt, nur wenige<br />

Einzelheiten einer möglichen Biografie<br />

fließen in das Erzählte ein: Seine Affinität<br />

zu Bäumen, der Name seiner Frau. Er<br />

berichtet, welche Teile der Geschichte er<br />

aus erster Hand erzählen kann, worüber<br />

er mit Jakob und Mischa gesprochen hat,<br />

was er weiß und was er nicht weiß, wofür<br />

es Zeugen gibt und wo sie fehlen.<br />

Ein wichtiges Mittel im Versuch, sich mit<br />

dem eigenen Trauma und den mit der Vergangenheit<br />

verbundenen Schrecken auseinanderzusetzen,<br />

ist in Beckers Roman<br />

wie auch in der Inszenierung der subtile,<br />

dann wieder extrem offensive Humor, mit<br />

dem Becker seinen Erzähler zunächst von<br />

den Menschen, die für seine Geschichte<br />

von Bedeutung sind, berichten lässt.<br />

Einer nach dem anderen tauchen sie in<br />

seiner Erinnerungswelt auf und nehmen<br />

ihre Plätze ein. Er holt sie aus der Anonymität<br />

heraus und in die Geschichte hinein,<br />

lässt sie das Schweigen brechen, das<br />

über diesem Ort liegt, und setzt der Stille<br />

und Einsamkeit seiner Gegenwart absurdkomische<br />

und tragische Episoden einer<br />

gemeinsamen Vergangenheit entgegen.<br />

Ricarda Knödler hat sich für die Kostüme<br />

der Figuren, die in der Fantasie des Erzählers<br />

lebendig werden, an historischen<br />

Schnitten, Mustern, Farben und Stoffen<br />

orientiert, sich dabei allerdings weitgehend<br />

gegen eine mit Ghetto oder Lager<br />

assoziierte Bekleidung entschieden, sondern<br />

vielmehr die Figuren mit einer ihrer<br />

Persönlichkeit in einem früheren Leben<br />

entsprechenden Kleidung ausgestattet.<br />

Sie sind, wie der Erzähler sie sieht oder<br />

sehen möchte, so wie die Geschichte von<br />

Jakob dem Lügner die ist, die er erzählen<br />

will – bis er den Gesetzen einer guten<br />

Geschichte zum Trotz der Wahrheit nicht<br />

mehr ausweichen kann.<br />

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