JAKOB DER LÜGNER - Badisches Staatstheater - Karlsruhe
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waHrHeit<br />
Stellt euch diesen Fall vor: Trotz einer Gedächtnislücke<br />
höre ich nicht zu erzählen<br />
auf, weil ich euch nicht den Spaß verderben<br />
will. Ein paar Tage später komme ich<br />
beim Erzählen an dieselbe Stelle, doch<br />
plötzlich weiß ich wieder, wie es wirklich<br />
war. Fragt nicht, woher ich das weiß,<br />
die Erinnerung ist ein rätselhaftes Ding.<br />
Blitzschnell muss ich dann entscheiden<br />
zwischen etwas, das ihr für die Wahrheit<br />
haltet, und der Wahrheit. So kann es also<br />
sein, dass ich als Flunkerer dastehe, nur<br />
weil mir die Wahrheit endlich eingefallen<br />
ist ... Manchmal, das gebe ich ehrlich zu,<br />
rede ich euch auch nach dem Munde ...<br />
Und nicht nur euretwegen tue ich das, ich<br />
tu es auch mir zuliebe: Ich möchte, dass<br />
ihr zufriedene Zuhörer seid, so sieht der<br />
Grund für meinen Egoismus aus. Sonst<br />
würde mir das ganze Erzählen keine<br />
Freude machen ... Gewiss, die Wahrheit<br />
ist die Wahrheit. Und was passiert ist,<br />
ist passiert, das ist genauso klar. Doch<br />
hat auch das Erzählen seine Gesetze.<br />
18<br />
des erzäHlens<br />
von jurek beCker<br />
Ein schöner Erzähler ist mir, wer seine<br />
Zuhörer ohne Sinn und Verstand mit<br />
der Wahrheit überschüttet. Wer es sich<br />
hübsch leicht macht und sagt: So und so<br />
ist es gewesen, fresst! Es ist doch wohl<br />
ein Unterschied, ob man eine Geschichte<br />
erzählt, oder ob man sie den Zuhörern<br />
vor die Füße wirft ... Dass ihr mich aber<br />
nicht falsch versteht: Ich will nicht gesagt<br />
haben, die Wahrheit sei bloß dazu da, sie<br />
zu missachten. So dicht an sie heran wie<br />
möglich, das ist meine Devise. Am allerwohlsten<br />
fühlt sich der Erzähler nämlich,<br />
wenn links und rechts von seinem Weg<br />
noch etwas Wahrheit übrig bleibt, zum<br />
Ausweichen sozusagen. Ganz wörtlich<br />
könnt ihr das nehmen: ein Feind kommt<br />
euch entgegen, er oder ihr heißt die Frage,<br />
der Weg ist schmal. Und wie ihr wisst:<br />
In der Not gibt der Klügere nach. Da wird<br />
kaltblütig ausgewichen, der Feind stößt<br />
ins Leere, man selbst hat aber noch Grund<br />
unter den Füßen, steht nicht im Sumpf,<br />
wie er es gerne hätte – man ist gerettet.