Life Channel Magazin November 2020
Glauben
Glauben
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| THEMA<br />
Das Spannungsfeld<br />
von Glauben und Denken<br />
Ich meine, es ist gut, dass wir darüber<br />
immer noch streiten! Wo einseitig das eine<br />
auf Kosten des anderen betont wird, verliert<br />
die Kirche an Glaubwürdigkeit. Und wo es<br />
umgekehrt geschieht, verliert sie an Bedeutung.<br />
Das Spannungsfeld von Glauben und Denken<br />
prägt auch meine persönliche Biografie.<br />
Als gemässigt landeskirchlich geprägte<br />
Jugendliche begegnete ich in einem freikirchlichen<br />
Jugendlager erst einer fetzigen<br />
Musik, die mich begeisterte, dann einer<br />
klaren und eindeutigen Verkündigung und<br />
schliesslich meinem persönlichen Herrn<br />
Jesus Christus. Diese Gemeinschaft packte<br />
mich ganz anders als es die Landeskirche<br />
getan hatte. Ich genoss die familiäre Wärme<br />
und Zugehörigkeit in der Gemeinde und<br />
teilte die Überzeugung, dass die Bibel in<br />
allen Aspekten des Alltags eine Rolle spielen<br />
sollte. Das war Gemeinde, wie sie von<br />
Gott gemeint sein musste. Das war Kirche<br />
als die Gemeinschaft der Heiligen, nein: der<br />
Geheiligten, die sich ihrer Sündhaftigkeit<br />
und ihrer Rechtfertigung durch Christus<br />
zutiefst bewusst waren. Die wahre Gemeinschaft<br />
der Gläubigen im Gegensatz zu den<br />
Ungläubigen, welche diesen Schritt nicht<br />
gemacht hatten. Und das alles stand in der<br />
Bibel, an welche man nur zu glauben<br />
brauchte.<br />
Als ich mich nach der Matura für das Studium<br />
von Philosophie und Theologie entschied,<br />
ging ich davon aus, dass das Denken<br />
so etwas wie die kleinere Schwester des<br />
Glaubens war. Gott hatte uns doch mitsamt<br />
unserem Verstand erschaffen, und sicherlich<br />
konnte uns das Denken nicht vom<br />
Glauben abbringen. Einige wohlmeinende<br />
Mitglieder meiner Gemeinde waren allerdings<br />
anderer Ansicht und versuchten mich<br />
mit Verweis auf Sprüche 3,5 (verlass Dich<br />
auf Gott und nicht auf Deinen Verstand) von<br />
dieser Wahl – und wenn, dann doch wenigstens<br />
nicht an der Uni – abzuhalten. Tatsächlich<br />
vertiefte ich mich dort in ganz unterschiedliche<br />
Weltbilder, christliche und<br />
atheistische, aber vor allem auch solche, in<br />
denen die Frage nach Gott und Glaube<br />
überhaupt keine Rolle spielte, weder im<br />
positiven noch im negativen Sinn. Und sie<br />
brachten mich zum Nach- und Weiterdenken.<br />
Man konnte den Alltag auch ganz ohne<br />
Gott leben und denken – und man konnte<br />
dabei trotzdem ein sehr tief nachdenklicher<br />
und moralisch hochstehender Mensch sein.<br />
Wer denkt, er könne jenseits dieser Traditionsgemeinschaft einfach<br />
selber denken und glauben, der verkennt, auf welchen Schultern<br />
wir immer schon stehen.<br />
Und wer meint, nur die eigene Art zu denken und zu glauben<br />
entspräche der richtigen Tradition, der verkennt die Dynamik und<br />
Bewegung, die immer schon diese Tradition geprägt hat.<br />
<strong>Life</strong> <strong>Channel</strong> <strong>Magazin</strong> | <strong>November</strong> <strong>2020</strong> | 5