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8 KULTUR JOKER VISION

Apfelbäume und Garagen

Im Gespräch: Pia Leydolt-Fuchs über Chemnitz

Kultur Joker: Liebe Frau Leydolt-Fuchs,

Ihre Verbindung mit

den Europäischen Kulturhauptstädten

begann in Linz ...

Leydolt-Fuchs: Ja, genau:

Von Mitte 2007 bis Anfang

2010 war ich Pressesprecherin

bei„Linz09“. Mein Traumjob!

Kultur Joker: Was hat sich daraus

für Sie entwickelt?

Leydolt-Fuchs: Eine Leidenschaft

zu dem Projekt Europäische

Kulturhauptstadt, private

und geografische Veränderungen

und nicht zuletzt das Label CaP.

CULT, unter dem meine Kollegin

Carina Kurta und ich seit

2013 Konzepte und Inhalte Europäischer

Kulturhauptstädte

an Interessierte vermitteln und

Städte, die sich für das Projekt

Kulturhauptstadt interessieren

oder bewerben, beraten.

Kultur Joker: Zu Chemnitz: Inwiefern

waren Sie da involviert?

Leydolt-Fuchs: Zum einen haben

meine Kollegin und ich ein

Bürger*innen-Beteiligungskonzept

für das Kulturhauptstadtbüro

entwickelt, dann nahm ich an

einer Arbeitsgruppe für das erste

bid book (Bewerbungsbuch) teil

und habe für das zweite bid book

das Kapitel „Outreach“, also die

ThemenBürger*innen-Beteiligung,

Publikumsentwicklung

und Weiterbildung erarbeitet.

Kultur Joker: Was ist das

Besondere des Chemnitzer Antrags?

Warum hat die Stadt den

nationalen Wettbewerb gewinnen

können?

Leydolt-Fuchs: Ich denke,

Chemnitz hat glaubhaft gemacht,

dass sich die Stadt mit ihren

Stärken und Schwächen intensiv

auseinandersetzt. Gerade auch in

Hinblick auf die rechtsradikalen

Ausschreitungen im August 2018

oder gesellschaftlichen Herausforderungen

wie die „Stille Mitte“.

Chemnitz will sein Image

ändern, sich gegenüber Dresden

und Leipzig positionieren und

gleichzeitig zeigen, welches

künstlerische und kulturelle Potential

es besitzt, und zudem demokratische

Defizite anpacken.

Chemnitz kann und will als

Drehscheibe zwischen Ost- und

West-Europa verstanden werden.

Und dafür– und noch viel mehr

– wird die Europäische Kulturhauptstadt

definitiv ein Katalysator

sein. Man könnte sagen,

Chemnitz hat den Wettbewerb

gewonnen, weil die Stadt den

Titel einfach am dringendsten

braucht.

Kultur Joker: Zum Inhalt der

Bewerbung: Was ist das Profil?

Berichten Sie aus den Bewerbungsbüchern.

Leydolt-Fuchs: Es gibt sehr

schöne Vorhaben, die die Ernsthaftigkeit

verdeutlichen, viele

Bürger*innen mit an Bord zu

holen – nicht nur die üblichen

Verdächtigen, sondern wirklich

von Jung bis Alt, aus allen Stadtteilen

und auch aus der Region.

Mit breitangelegten partizipatorischen

Projekten wie „3000 Garagen“

oder der „Apfelbaum-Parade“

ermöglicht man einerseits

denjenigen Zugang zu Kunst und

Kultur, die bis dahin nichts damit

zu tun hatten, anderseits können

die Bewohner*innen der Stadt

wieder näher zueinander rücken.

Auch die Europäische Dimension

der Bewerbung macht neugierig:

So wird ein „Europäischer Workshop

für Kultur und Demokratie“

entwickelt, eine Programmschiene

läuft unter dem Titel „Europäisches

Manchester“, und es sind

eine Vielzahl an künstlerischen

Kooperationen mit Städten aus

Osteuropa geplant.

Pia Leydolt-Fuchs

Kultur Joker: Was wird in

Chemnitz bis 2025 passieren?

Leydolt-Fuchs: Hoffentlich

viel. Es gibt Areale und Leerstände,

die einen kulturelle Nutzung

erhalten sollen – dafür gilt

es, gute Konzepte zu entwickeln

bzw. bestehende zu realisieren.

Es werden touristische Anreize

geschaffen– kultur- wie auch

kreativtouristische, ebenso Angebote

für Randgruppen. Vieles

wird sich zunächst im Hintergrund

abspielen. Es wird für alle

ein Kraftakt sein, denn die Erwartungshaltung

ist hoch.

Kultur Joker: Das klingt so,

als solle Chemnitz nun zum touristischen

Hotspot avancieren

– nimmt man da nicht Gentrifizierung

und soziale Verdrängung

mit in Kauf? Noch können die

Essen – nun Chemnitz

Zur Historie Europäischer Kulturhauptstädte und dieser Seite

Essen war die letzte deutsche Europäische

Kulturhauptstadt. Unter

dem versammelten Titel RUHR

2010 entstand enormer Auftrieb:

Investitionen wurden getätigt,

reichlich Sponsorenmittel eingeworben,

für das Ruhrgebiet insgesamt

mit seinen 53 Kommunen und

5,1 Mio. Einwohnern vollzog sich

ein ungeahnter Identifikationsprozess.

Und der war wichtig, denn

Kohle und Stahl als Garanten der

Arbeitsplätze und des Wohlstands

hatten sich längst verabschiedet.

Die positiven Nachwirkungen des

einen Jahres halten bis heute an

und befördern den so schwierigen

Strukturwandel im Revier.

Davor gab es den Titel für Berlin-West

(1988) und Weimar (1999)

– beides politisch bestimmte Entscheidungen

ohne wesentlichen

kulturellen Nachhall. Aber das

Jahr 2010 strahlte in die Republik

aus. Und so machte sich auch Freiburg

auf, über eine künftige Bewerbung

nachzudenken. Zunächst

sollte 2020 das Ziel sein, doch

durch die Erweiterung der EU

kamen neue Mitgliedsländer zum

Zuge und bald wurde deutlich, dass

Deutschland erst 2025 wieder im

Karussell dabei sein würde.

Im Sog von Essen erschien

diese Seite zuerst in der Kultur

Menschen die Mieten ja halbwegs

bezahlen …

Leydolt-Fuchs: Nein, Chemnitz

soll kein touristischer Hotspot

werden, auch wenn klar

ist, dass die Stadt die nächsten

Jahre nationale und europäische

Aufmerksamkeit erlangen wird.

Chemnitz will sich vielmehr

aufgrund seines Potentials positionieren,

damit die Stadt attraktiver

und lebenswerter wird, Studierende

bleiben, Familien nicht

abwandern und sich die „Stille

Mitte“ wieder einbringt. Und ja,

bei einem solchen Stadtentwicklungsprojekt

darf man Tendenzen

von Gentrifizierung und sozialer

Verdrängung nie aus dem Blick

lassen.Auch deshalb ist die Einbindung

der Bevölkerung in das

Projekt so wichtig.

Joker-Ausgabe Oktober 2009,

zur Beförderung einer Freiburger

Kulturhauptstadt-Bewerbung. Die

war eine Zeit lang durchaus realistisch:

Der Gemeinderat bewilligte

eine befristete Stelle. Mit deren

Hilfe entwickelte das Kulturamt

(unter Federführung des damaligen

Leiters Achim Könneke) ein

erstes Konzept. Im Mai 2011 kam

es zum Showdown: Ein international

besetztes Experten-

Hearing tagte im Rathaus,

die Mehrheit der

Referenten riet Freiburg

zur Bewerbung – doch

der damalige OB wollte

nicht. Auch die Hoffnung,

über ein ambitioniertes

Konzept zum

Stadtjubiläum 2020

gleichsam einen ‚Vorlauf‘

für eine EKH-Bewerbung

zu erreichen,

zerschlug sich mit der

(erzwungenen) Demission

Barbara Mundels

2017.

In Chemnitz geschah

alles anders: Die langjährige

Oberbürgermeisterin

Barbara Ludwig

(seit 2006) stellte sich

voran und riss Gemeinderat

und Bevölkerung

Foto: Jörg Landsberg

Kultur Joker: Was könnten die

Benefits für die Stadt und Ihre

Bewohner aus Ihrer Sicht werden?

Leydolt-Fuchs: Das größte

Ziel könnte sein, dass die

Bewohner*innen wieder

stolz werden – auf sich als

Chemnitzer*innen und auf ihre

Stadt.

Kultur Joker: Wie würden Sie

Chemnitz in der Reihe der bisherigen

deutschen EKHs sehen?

Leydolt-Fuchs: Berlin, Weimar

und Essen – das ist alles

lange her und das Konzept der

Europäischen Kulturhauptstadt

hat sich seitdem stark verändert,

professionalisiert und ist komplexer

geworden. Insofern fällt

ein Vergleich schwer und ist

vielleicht auch nicht notwendig.

Chemnitz wird und muss sein

Bestes geben und dafür drücke

ich die Daumen!

Martin Flashar

Zur Person: Pia Leydolt-Fuchs,

geb. 1979 in Wien, studierte

BWL mit Spezialisierung auf

Public Management, es folgten

Weiterbildungen in PR und Kultur-

und Medienmanagement.

Mit ihrem Mann Ulrich Fuchs,

Direktor der Kulturhauptstadt

„Marseille-Provence 2013“ lebt

sie seitdem in Südfrankreich.

Ihre Firma organisiert Beratungen

für Kulturhauptstädte:

www.capcult.org .

mit, mit der Verkündigung des

Titels vor wenigen Wochen endete

ihre Amtszeit. Chemnitz birgt,

als ‚dritte‘ Stadt in Sachsen, vielfältige

Potentiale: Gründerzeit, Jugendstil,

Bauhaus, Plattenbauten

– die Architektur- und Lebensstile

treten bis heute nebeneinander ungeschminkt

zutage.

Martin Flashar

Landesmuseum für Geschichte und

Archäologie Sachsens, ehemaliges (jüdisches)

Kaufhaus Schocken, Entwurf

Erich Mendelsohn 1927

Foto: Martin Flashar

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