-flip_joker_2020-12
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8 KULTUR JOKER VISION
Apfelbäume und Garagen
Im Gespräch: Pia Leydolt-Fuchs über Chemnitz
Kultur Joker: Liebe Frau Leydolt-Fuchs,
Ihre Verbindung mit
den Europäischen Kulturhauptstädten
begann in Linz ...
Leydolt-Fuchs: Ja, genau:
Von Mitte 2007 bis Anfang
2010 war ich Pressesprecherin
bei„Linz09“. Mein Traumjob!
Kultur Joker: Was hat sich daraus
für Sie entwickelt?
Leydolt-Fuchs: Eine Leidenschaft
zu dem Projekt Europäische
Kulturhauptstadt, private
und geografische Veränderungen
und nicht zuletzt das Label CaP.
CULT, unter dem meine Kollegin
Carina Kurta und ich seit
2013 Konzepte und Inhalte Europäischer
Kulturhauptstädte
an Interessierte vermitteln und
Städte, die sich für das Projekt
Kulturhauptstadt interessieren
oder bewerben, beraten.
Kultur Joker: Zu Chemnitz: Inwiefern
waren Sie da involviert?
Leydolt-Fuchs: Zum einen haben
meine Kollegin und ich ein
Bürger*innen-Beteiligungskonzept
für das Kulturhauptstadtbüro
entwickelt, dann nahm ich an
einer Arbeitsgruppe für das erste
bid book (Bewerbungsbuch) teil
und habe für das zweite bid book
das Kapitel „Outreach“, also die
ThemenBürger*innen-Beteiligung,
Publikumsentwicklung
und Weiterbildung erarbeitet.
Kultur Joker: Was ist das
Besondere des Chemnitzer Antrags?
Warum hat die Stadt den
nationalen Wettbewerb gewinnen
können?
Leydolt-Fuchs: Ich denke,
Chemnitz hat glaubhaft gemacht,
dass sich die Stadt mit ihren
Stärken und Schwächen intensiv
auseinandersetzt. Gerade auch in
Hinblick auf die rechtsradikalen
Ausschreitungen im August 2018
oder gesellschaftlichen Herausforderungen
wie die „Stille Mitte“.
Chemnitz will sein Image
ändern, sich gegenüber Dresden
und Leipzig positionieren und
gleichzeitig zeigen, welches
künstlerische und kulturelle Potential
es besitzt, und zudem demokratische
Defizite anpacken.
Chemnitz kann und will als
Drehscheibe zwischen Ost- und
West-Europa verstanden werden.
Und dafür– und noch viel mehr
– wird die Europäische Kulturhauptstadt
definitiv ein Katalysator
sein. Man könnte sagen,
Chemnitz hat den Wettbewerb
gewonnen, weil die Stadt den
Titel einfach am dringendsten
braucht.
Kultur Joker: Zum Inhalt der
Bewerbung: Was ist das Profil?
Berichten Sie aus den Bewerbungsbüchern.
Leydolt-Fuchs: Es gibt sehr
schöne Vorhaben, die die Ernsthaftigkeit
verdeutlichen, viele
Bürger*innen mit an Bord zu
holen – nicht nur die üblichen
Verdächtigen, sondern wirklich
von Jung bis Alt, aus allen Stadtteilen
und auch aus der Region.
Mit breitangelegten partizipatorischen
Projekten wie „3000 Garagen“
oder der „Apfelbaum-Parade“
ermöglicht man einerseits
denjenigen Zugang zu Kunst und
Kultur, die bis dahin nichts damit
zu tun hatten, anderseits können
die Bewohner*innen der Stadt
wieder näher zueinander rücken.
Auch die Europäische Dimension
der Bewerbung macht neugierig:
So wird ein „Europäischer Workshop
für Kultur und Demokratie“
entwickelt, eine Programmschiene
läuft unter dem Titel „Europäisches
Manchester“, und es sind
eine Vielzahl an künstlerischen
Kooperationen mit Städten aus
Osteuropa geplant.
Pia Leydolt-Fuchs
Kultur Joker: Was wird in
Chemnitz bis 2025 passieren?
Leydolt-Fuchs: Hoffentlich
viel. Es gibt Areale und Leerstände,
die einen kulturelle Nutzung
erhalten sollen – dafür gilt
es, gute Konzepte zu entwickeln
bzw. bestehende zu realisieren.
Es werden touristische Anreize
geschaffen– kultur- wie auch
kreativtouristische, ebenso Angebote
für Randgruppen. Vieles
wird sich zunächst im Hintergrund
abspielen. Es wird für alle
ein Kraftakt sein, denn die Erwartungshaltung
ist hoch.
Kultur Joker: Das klingt so,
als solle Chemnitz nun zum touristischen
Hotspot avancieren
– nimmt man da nicht Gentrifizierung
und soziale Verdrängung
mit in Kauf? Noch können die
Essen – nun Chemnitz
Zur Historie Europäischer Kulturhauptstädte und dieser Seite
Essen war die letzte deutsche Europäische
Kulturhauptstadt. Unter
dem versammelten Titel RUHR
2010 entstand enormer Auftrieb:
Investitionen wurden getätigt,
reichlich Sponsorenmittel eingeworben,
für das Ruhrgebiet insgesamt
mit seinen 53 Kommunen und
5,1 Mio. Einwohnern vollzog sich
ein ungeahnter Identifikationsprozess.
Und der war wichtig, denn
Kohle und Stahl als Garanten der
Arbeitsplätze und des Wohlstands
hatten sich längst verabschiedet.
Die positiven Nachwirkungen des
einen Jahres halten bis heute an
und befördern den so schwierigen
Strukturwandel im Revier.
Davor gab es den Titel für Berlin-West
(1988) und Weimar (1999)
– beides politisch bestimmte Entscheidungen
ohne wesentlichen
kulturellen Nachhall. Aber das
Jahr 2010 strahlte in die Republik
aus. Und so machte sich auch Freiburg
auf, über eine künftige Bewerbung
nachzudenken. Zunächst
sollte 2020 das Ziel sein, doch
durch die Erweiterung der EU
kamen neue Mitgliedsländer zum
Zuge und bald wurde deutlich, dass
Deutschland erst 2025 wieder im
Karussell dabei sein würde.
Im Sog von Essen erschien
diese Seite zuerst in der Kultur
Menschen die Mieten ja halbwegs
bezahlen …
Leydolt-Fuchs: Nein, Chemnitz
soll kein touristischer Hotspot
werden, auch wenn klar
ist, dass die Stadt die nächsten
Jahre nationale und europäische
Aufmerksamkeit erlangen wird.
Chemnitz will sich vielmehr
aufgrund seines Potentials positionieren,
damit die Stadt attraktiver
und lebenswerter wird, Studierende
bleiben, Familien nicht
abwandern und sich die „Stille
Mitte“ wieder einbringt. Und ja,
bei einem solchen Stadtentwicklungsprojekt
darf man Tendenzen
von Gentrifizierung und sozialer
Verdrängung nie aus dem Blick
lassen.Auch deshalb ist die Einbindung
der Bevölkerung in das
Projekt so wichtig.
Joker-Ausgabe Oktober 2009,
zur Beförderung einer Freiburger
Kulturhauptstadt-Bewerbung. Die
war eine Zeit lang durchaus realistisch:
Der Gemeinderat bewilligte
eine befristete Stelle. Mit deren
Hilfe entwickelte das Kulturamt
(unter Federführung des damaligen
Leiters Achim Könneke) ein
erstes Konzept. Im Mai 2011 kam
es zum Showdown: Ein international
besetztes Experten-
Hearing tagte im Rathaus,
die Mehrheit der
Referenten riet Freiburg
zur Bewerbung – doch
der damalige OB wollte
nicht. Auch die Hoffnung,
über ein ambitioniertes
Konzept zum
Stadtjubiläum 2020
gleichsam einen ‚Vorlauf‘
für eine EKH-Bewerbung
zu erreichen,
zerschlug sich mit der
(erzwungenen) Demission
Barbara Mundels
2017.
In Chemnitz geschah
alles anders: Die langjährige
Oberbürgermeisterin
Barbara Ludwig
(seit 2006) stellte sich
voran und riss Gemeinderat
und Bevölkerung
Foto: Jörg Landsberg
Kultur Joker: Was könnten die
Benefits für die Stadt und Ihre
Bewohner aus Ihrer Sicht werden?
Leydolt-Fuchs: Das größte
Ziel könnte sein, dass die
Bewohner*innen wieder
stolz werden – auf sich als
Chemnitzer*innen und auf ihre
Stadt.
Kultur Joker: Wie würden Sie
Chemnitz in der Reihe der bisherigen
deutschen EKHs sehen?
Leydolt-Fuchs: Berlin, Weimar
und Essen – das ist alles
lange her und das Konzept der
Europäischen Kulturhauptstadt
hat sich seitdem stark verändert,
professionalisiert und ist komplexer
geworden. Insofern fällt
ein Vergleich schwer und ist
vielleicht auch nicht notwendig.
Chemnitz wird und muss sein
Bestes geben und dafür drücke
ich die Daumen!
Martin Flashar
Zur Person: Pia Leydolt-Fuchs,
geb. 1979 in Wien, studierte
BWL mit Spezialisierung auf
Public Management, es folgten
Weiterbildungen in PR und Kultur-
und Medienmanagement.
Mit ihrem Mann Ulrich Fuchs,
Direktor der Kulturhauptstadt
„Marseille-Provence 2013“ lebt
sie seitdem in Südfrankreich.
Ihre Firma organisiert Beratungen
für Kulturhauptstädte:
www.capcult.org .
mit, mit der Verkündigung des
Titels vor wenigen Wochen endete
ihre Amtszeit. Chemnitz birgt,
als ‚dritte‘ Stadt in Sachsen, vielfältige
Potentiale: Gründerzeit, Jugendstil,
Bauhaus, Plattenbauten
– die Architektur- und Lebensstile
treten bis heute nebeneinander ungeschminkt
zutage.
Martin Flashar
Landesmuseum für Geschichte und
Archäologie Sachsens, ehemaliges (jüdisches)
Kaufhaus Schocken, Entwurf
Erich Mendelsohn 1927
Foto: Martin Flashar