40 Nr. <strong>10</strong>/2006 Buch V – Design <strong>ST</strong>/A/R Waran betrachtet das correalistische Möbel von Heidulf Gerngross,eine Weiterentwicklung der großartigen Kieslerschen hundsknochenartigen Möbel aus dem vorigen Jahrhundert, die derzeit bei Wittmann wieder hergestellt werden.
<strong>ST</strong>/A/R Buch VI – Literatur Nr. <strong>10</strong>/2006 41 VORWORT Sprache konstruiert und organisiert das Verhältnis zu der von uns bewusst wahrgenommenen und ausserhalb von uns gedachten Wirklichkeit. Dabei ist und erzeugt Sprache selbst eine eigene Wirklichkeit, eine selbständige energetische Entität, ein Wesen, mit Milliarden von Armen, allen Möglichkeiten laufender Selbst-Setzungen und –überschreitungen, Erweiterungen, Umformungen. Sprache geht in ihrer allgemeinen Form als auch in ihren individuellen Ausprägungen Kooperationen mit anderen ein, sie verliebt sich gewissermassen oder verweigert sich, setzt Preferenzen, Machtansprüche und Grenzen, ist in einem ständigen Fluss und Austausch mit allem Lebendigen. Sprache erzeugt bewegliche, fragile Landschaften, in denen wir uns durch das Leben bewegen und sie ist gleichzeitig das Werkzeug, mit dem wir navigieren. Sprache trennt also scheinbar, was nicht zu trennen ist, um funktionale Felder zu erzeugen. Sie ist ein Teil von uns, sie ist gleichzeitig vollständig unabhängig von uns. Denn sämtliche gesprochenen oder geschriebenen oder auch nur gedachten Äusserungen leben auch ein von uns unabhängiges Leben. Wer weiss schon, wohin sie gehen? Und wer weiss schon, woher sie gekommen sind? Produziert ein situatives Umfeld notwendigerweise SCHRIFT WECHSEL die zu sprechenden Sätze und Worte? Inwiefern sind wir also selbstbestimmt oder benützt uns die Sprache als Wirt, um zu reisen und sich zu erweitern? Sind Gedanken Besatzungsmächte? Wir bestehen aus vielerlei offensichtlichen Verhaltensaufführungen und Verhaltensverführungen, aus Programmschwerpunkten, die uns gewohnheitsmässig durch die Gegend steuern. Von denen wir jedoch kaum bewusst wissen, nach welchen Gesetzmässigkeiten sie auftreten, in welchen Wirkungszusammenhängen sie in der Tat zu uns stehen. Wir fragen uns selten, welche Programme wir verwenden möchten, in welcher Intensität, wie folglich unsere Sprache aussehen, aufblühen und wo sie enden oder hinreichen soll, um was zu erreichen? Welches sind beispielsweise die von uns selbst am meisten gestellten Fragen, und wie genau sehen diese aus? Und wie lauten unsere bevorzugten Antworten darauf? Fragen und Antworten ergeben gemeinsam die gegenwärtigen Koordinaten unserer Biografie (= die unter dem Namen der jeweilen Person gewöhnlich auftretenden Handlungsmuster, Orientierungspunkte, Verkehrstafeln, für Funktionszusammenhänge herausgeschnittene Weg- und Weltzusammenfassungen). Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen unserer Welt, hat Wittgenstein gesagt, es sind jedoch bloss die Grenzen der von uns bewusst wahrgenommenen Verhältnisses zu der von uns (und anderen) selbst erzeugten ausserhalb von uns gedachten Wirklichkeit. Manchmal weiss die Sprache und artikuliert sie mehr als der Benützer bewusst weiss, ist permanent an grössere Felder angeschlossen als an unsere Wie-bekomme- ich-einen- Espresso-aus-dem- Automaten-Ego- Cockpit-Fragestellung. Sämtliche sprachlichen (energetischen) Ausdrücke erzeugen ununterbrochen ein uns persönlich übersteigendes Gesamtbewusstsein, eine Art Superorganismus, eine ständige fluktuierende Bewegung. Um unsere Grenzen zu verstehen, müssen wir uns unsere Sprachverwendungen genauer ansehen, die Fensterscheiben, die wir kreieren und alsann benützen. Operiere ich nun in einem Coaching Diskurs, spreche ich einem NLP-Practioner ähnlich? Wir sollten eine Auswahl so bewusst wir nur irgend möglich treffen, unsere Verhaltens-Programme verstehen, ihre Kräfte, die ja auch unsere Kräfte sind, sie, wenn notwendig und möglich, upzudaten, zu vergrössern, sie mit anderen kurzzuschliessen, um eine grössere Beweglichkeit unseres Bewusstseins zu erlangen. Die Beweglichkeit des Bewusstseins erzeugt unsere lebbaren Freiheitsgrade. Die Literaturseiten im <strong>ST</strong>/A/R - Schriftwechsel - sind diesem Wunsch und dieser Vision nach Beweglichkeit und Erweiterung zugeneigt. Feel the taste of diversity & celebrate it. D. Sperl LITERATUR Von Fragen und Erinnerungslücken Gerhard Jaschke Seneca Seneca hat recht, nur allzuleicht läßt man sich von einem Wort verführen, etwas anderes zu schreiben, was man eigentlich wollte. Manche Wörter sind ja wie Stopschilder, insgesamt handelt es sich bei ihnen um Verkehrszeichen, Warn- und Gebotstafeln, diesen oder jenen Weg nicht zu gehen, dieses oder jenes Feld zu meiden. Wird doch zu leicht aus dem Gras ein Sarg! Stelle Spiegel auf und neue Wörter fallen wie automatisch aus dem vorhin noch so scheinbar Ganzen. Leben taucht im Nebel unter, Roma läßt sich behände gegen den Amor tauschen. Jeder möge es sich richten, wie er glaubt. Das Verbotene reizt, das war schon immer so. Was sagt Montaigne? „Mein Lehrer war so klug, mir Virgil, Lukrez und Plautus zu verbieten; das steigerte mein Interesse an ihnen beträchtlich.“ Die fremden Gedanken munden wie Kirschen aus Nachbars Garten. Laßt uns von diesen Früchten viele mit nach Hause nehmen. Ich schloß mit ihm Freundschaft. Er wurde mir zu einem guten Freund. Auf ihn kann ich mich verlassen. Er ist mir eine Stütze. Er ist mir stets hilfreich. Auf diese Freundschaft bin ich stolz. Und was sagt er? „Der Grund unserer Freundschaft? Weil gerade er es war – weil gerade ich es war. Alles Übrige geht über meinen Verstand.“ Der Verstand als Horizont unseres Daseins. Das im Unendlichen auslaufende Meer an Einfällen. Der Schlußstrich unter unsere Existenz. Ein Ende am Anfang über uns wie der Horizont, der darüber hinausgeht. Es weht Gesichte herbei. Zu ergründen gibt es nichts. Was meint Ihr, Montaigne? „Wir suchten uns, ohne uns zu kennen.“ Gerhard Jaschke, 1949 in Wien geboren. Freischaffende literarischkünstlerische Tätigkeit seit Beginn der 70er Jahre. Einzelveröffentlichungen (z.B.: VON MIR AUS, Illusionsgebiet Nervenruh, Schlenzer), Beiträge in Anthologien u. Zeitschriften. Ausstellungen. Gemeinschaftsarbeiten mit Ingrid Wald. Mitbegründer und Herausgeber der Zeitschrift für Literatur und Kunst Freibord. Lehrbeauftragter an der Akademie der bildenden Künste. Duettduelle mit Werner Herbst. Von anderen Fragen Habe ich etwa zu danken, daß ich auf der Welt bin? Habe ich den Damen Vortritt zu lassen? Habe ich auf meine Uhr zu schauen, fragt mich irgendjemand nach der Zeit? Gewiß, ich stelle mir Fragen. Gewiß, ich halte Wort. Gewiß, ich schnüre mir die Schuhe. Aber sonst? Bin ich vielleicht ein Hellseher wie Sie? Oder bin ich gar schon im Bild, um etwas sagen zu müssen? Bin ich gar so schön wie Sie? Stehe ich demnach ebenfalls unter Kostümierungszwang? Hält die Pappnase noch? Sehe ich einigermaßen intelligent aus? Verkörpere ich also das, was Sie sich vorstellen? Haben Sie Übung im Beisammensein, im Mitmenscheln? Tun Sie sich nur keinen Zwang an. Berühren Sie nur ruhig jede Menge Peinlichkeiten, reden Sie schlichtweg bloß so vor sich hin. Kann denn das die Möglichkeit sein? Wollen Sie um jeden Preis als erster das Ziel erreichen? Schämen Sie sich nicht? Wer will denn heute schon Sieger sein? Sie vielleicht? Von den Erinnerungslücken Eines Nachts erwachte Kraut und wollte von alldem nichts wissen, nichts gewußt haben, wollte mit alldem nichts zu tun haben, gar nichts mehr zu schaffen haben. Ja, war es das? Tatsächlich dachte er dies und nichts anderes. Aber wann will es schon gelingen? Wann? Wann denn nur? Er blickte um sich, als hätte er hier etwas verloren. Aber was hatte er schon hier, hier schon!, verloren? Was könnte er bloß hier verloren haben? Er wußte es nicht. Absolut nicht. Irgendwann einmal war hier etwas. An das dachte er. So eine Art Ausgangspunkt vielleicht? Ein Knotenpunkt für diverse Grenzüberschreitungen? Er überlegte. Das muß es gewesen sein! Nichts anderes. An dies dachte er, als er eines Nachts, mitten in der Nacht, plötzlich erwachte und von alldem nichts wissen wollte. Ein Stöckelschuh wanderte über die Leinwand. Passanten winkten ihm zu.