ST:A:R_11
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<strong>ST</strong>/A/R Buch VIII - Galerie Brunnhofer Nr. <strong>11</strong>/2006 61<br />
“Mr. And Mrs. B’s Time Window“, Acryl, Farbstift, Kreide / 176 x 237cm, 3-teilig, 2006<br />
DIE WELT HINTER DEN DINGEN<br />
Zu den jüngsten Arbeiten von Inge Kracht<br />
„Wir müssen wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden<br />
und nicht so verächtlich wie bisher über sie hinweg<br />
nach Wolken und Nachtunholden hinblicken.“ (Friedrich Nietzsche)<br />
In erster Linie war die Neue Sachlichkeit an der Dingwelt selber interessiert. Das Objekt an sich war das<br />
Primäre, und seine Isolierung und Formalisierung mit den Mitteln der Kunst das Ziel. Wieland Schmied<br />
postuliert fünf entscheidende Momente, die die neusachliche Kunst charakterisieren. „(1) Die Nüchternheit<br />
und Schärfe des Blicks, eine unsentimentale, von Emotionen weitgehend freie Sehweise; (2) die Richtung des<br />
Blicks auf das Alltägliche, Banale, auf unbedeutende und anspruchslose Sujets… (3) einen statisch festgefügten<br />
Bildaufbau… (4) die Austilgung der Spuren des Malprozesses, die Freihaltung des Bildes von aller Gestik der<br />
Handschrift; und (5) schließlich eine neue geistige Auseinandersetzung mit der Dingwelt.“ 1)<br />
Auch bei Inge Kracht (1957 in Dülmen/Westfalen geboren) steht der banale Alltagsgegenstand im Zentrum<br />
des Interesses, wird zum Ausgangspunkt für ihre künstlerische Arbeit. „Die Dinge teilen sich in manchen<br />
Momenten mit einer besonderen Eindringlichkeit und Intensität mit. Sie veranlassen mich, über ihre Existenz<br />
nachzudenken. Wenn ich mich mit den Dingen auseinandersetze, den sogenannten alltäglichen, gewöhnlich<br />
sichtbaren, entwickeln sie eine Eigendynamik, erscheinen verändert, als gäbe es eine Welt hinter der Welt.<br />
Am Ende ist es der Versuch nicht das Ding abzubilden, sondern das, was es ausgelöst hat“, so Inge Kracht<br />
und malt Bilder, die versuchen, hinter den Augenschein der Gegenstände zu gelangen, wobei sie sich auf<br />
Immanuel Kants Konzept des „Dings an sich“ bezieht. „Wir erkennen ein Ding als Gegenstand unserer<br />
Wahrnehmung nur so, wie es uns eingekleidet in den Ausbauungsformen Raum und Zeit, in den Kategorien<br />
und Verstandesgesetzen so erscheint. Wie es an sich beschaffen ist, werden wir niemals erkennen.“ 2)<br />
Inge Kracht setzt sich mit den Wechselwirklungen zwischen Raum und Zeit, Materie und Metaphysik<br />
auseinander. Die meisten ihrer jüngsten Arbeiten bestehen aus drei Teilen: (1) die „sachliche“ Darstellung<br />
der Dinge, (2) Ornament und Muster und (3) die monochrome – oft kalligrafisch erweiterte - Fläche. Das<br />
Ornament – Alois Riegl, einer der wichtigsten Vertreter der „Wiener Schule der Kunstgeschichte“, forderte<br />
bereits 1893 die Anerkennung des rein künstlerischen Wesens des Ornaments und die Loslösung vom<br />
Gebrauchsgegenstand – entwickelt sich bei Inge Kracht aus dem in einer geradezu hyperrealistischen<br />
Schärfe dargestellten Gegenstand, welcher von der Künstlerin am PC zerteilt, gespiegelt, verzerrt und<br />
als neu entwickelte Form in intensiver Farbigkeit auf die Leinwand übertragen wird. „Ich stelle mit<br />
einem Ornament oder Muster einen Bezug zum Wesen des Gegenstands her und konstruiere eine Idee,<br />
beziehungsweise eine vorgestellte Struktur, auf deren Ordnung, die zu erkennen ich versuche, alles,<br />
was ist, basiert,“ erklärt Inge Kracht, „ich empfinde das Ornament auch als einen anderen Blick auf die<br />
Gesetzmäßigkeit und Ordnung die in allen Dingen dieser Welt verborgen ist.“<br />
Der dritte Teil, die monochrome Fläche, beruhigt. In der Malerei markiert die Monochromie einen<br />
Grenzbereich. Im strengen Sinn begriffen, beschränkt sie sich auf einfarbige, in Helligkeit und Tonalität<br />
kaum variierende Bilder. Das Spektrum individueller Gestaltung ist reduziert und es fehlt an expliziten<br />
Bezügen zur außerbildlichen Realität. Teilweise überzieht Inge Kracht ihre monochromen Flächen in<br />
Spiegelschrift - für den Betrachter, wenn überhaupt, nur schwer entschlüsselbar, für die Künstlerin, die<br />
seit ihrer Kindheit diese Art der Schreibens praktiziert, eine Selbstverständlichkeit – mit komplexen<br />
Texten aus Büchern, die sie gerade liest.<br />
Die Bilder von Inge Kracht sind Metaphern für philosophische Fragestellungen und ein Versuch einer<br />
neuen/anderen Leseart von „Realität“.<br />
Angelika Gillmayr<br />
1)<br />
Wieland Schmied: Neue Sachlichkeit und Magischer Realismus in Deutschland 1918-1933, Hannover 1969, S. 26<br />
2)<br />
Ding an sich – nach Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“, zitiert aus „Philosophisches Wörterbuch“,<br />
Stuttgart 1974, S. 124<br />
Inge Kracht<br />
1957 in Dülmen/Westf., Deutschland geboren, Hauptwohnorte jeweils für einige Jahre in<br />
Wuppertal, München, Hanau/Main, Regensburg, Hanau/Main, Linz-A., Langenargen-D<br />
1983-85 Studium an der Akademie der bildenden Künste, Wien, MK für Tapiiserie<br />
1985-86 Studium an der Hochschule für angewandte Kunst, Wien,<br />
Studienrichtung Graphik/Malerei<br />
1986-91 Studium an der Hochschule für künstlerische und industrielle Gestaltung<br />
in Linz, Prof. F. Riedl, Diplom 1991<br />
1991-96 Unterrichtstätigkeit an der HBLA für künstlerisches Gestalten, Linz<br />
1993-97 Assistentin an der Hochschule für künstlerische und industrielle Gestaltung<br />
Linz, MK Textil<br />
Seit 1997 freischaffend tätig<br />
Lebt und arbeitet in Langenargen (D)