11.12.2020 Aufrufe

ST_A_R_19

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Städteplanung / Architektur / Religion Buch VII - LITERATUR <strong>ST</strong>/A/R 45<br />

Elisabeth von Samsonow:<br />

Mary Magdalene’s Re-Immigration Center, Jerusalem<br />

Wunderbare Reise einer Statue<br />

Zu einer Reise aufbrechen, im Sommer, am besten dorthin, von woher einem die<br />

interessantesten Nachrichten entgegenkommen. Es wird ein großer Reisekoffer<br />

hergestellt, eigentlich ein Sarkophag oder eine Couchette: ausgepolstert,<br />

verziert, mit Satinbettwäsche in leuchtendem Rot und Gelb. Es gibt auch Kleingepäck,<br />

ein Kosmetiktäschchen, Parfumflakons. Eigentlich handelt es sich im Falle der Reise<br />

meiner Statue um eine „Heimkehr“. Denn wenn man es im Licht ihrer Geschichte<br />

betrachtet, ist Maria Magdalena, geboren in Magdala am See Genesareth, keine „natürliche<br />

Französin“. Auch wenn sie bei Marseille mit ihrem Schiffchen gelandet und dann viele<br />

Jahre in einer Grotte im Massiv La Sainte Baume verbracht hat, schließlich ihre Gebeine<br />

in St-Maximin-La Sainte Baume bzw. in Vézélay gelassen haben soll, war sie vielleicht<br />

Frankreichs prominenteste Immigrantin. Die Geschichten wandern mit den Leuten,<br />

Maria Magdalenas Geschichte hatte von da an ihr Zentrum nicht mehr zwischen See<br />

Genesareth und Jerusalem, sondern in „Europa“. Das Exil Maria Magdalenas entspricht<br />

dem Exil des Weiblichen in der Geschichte. Die Reise nach Jerusalem meiner Statue dreht<br />

diese Geschichte symbolisch um. Gibt ihr eine neue Drehung. Markiert einen neuen<br />

Punkt Null. Von hier aus, von diesem bestimmten Ort aus an der Stadtmauer Jerusalems<br />

zwischen dem Damaskustor und dem Herodestor, kommt jetzt ein neuer Impuls. An diese<br />

Stelle wurde die Statue in einer feierlichen Prozession getragen, mit Musik begleitet, von<br />

einer Gruppe von Leuten umgeben, die in den Händen weiße Lilien und Teppichklopfer<br />

hielten. Hier, an dieser ausgesuchten Stelle, wurde der „Sendemasten“ aufgestellt, die<br />

Statue, der Apparat, der Echo-Emitter, die Informationskonserve, die unsterbliche Mumie.<br />

Eine Heimkehr nach ungefähr <strong>19</strong>56 Jahren (wenn man dem Kalender Glauben schenken<br />

will). Eine späte, aber angemessene Ehrung und Feier.<br />

Die Skulptur, die in der zeitgenössischen Kunsttheorie auf Grund mangelnder Kriterien<br />

und und Kategorien ausgelassen wird, um nicht zu sagen: gesnobbt, besitzt für solche<br />

Operationen, wie ich sie im Sinn hatte, unüberbietbare Vorteile. Insofern sie einer<br />

transhumanen Chronik angehört (Dendrochronie oder Geschichte der Bäume) haftet<br />

ihrem „Fleisch“ etwas Objektivierendes an. Der Geschichte der Bäume zuzugehören heißt,<br />

reine Genealogie zu sein, reine Evolution, reine Erdlogik, Aufgehen im Metabolismus.<br />

Jede Skulptur ist im eigentlichen Sinne „Transplantation“, Ortswechsel der Pflanze.<br />

In dieser Transplantation bleibt aber die Pflanze bzw. ihre Gedächtnisbatterie (der<br />

Stamm) innerhalb der Echosphäre der Erde (biotopisch). Das Lindenholz nimmt die<br />

Information und hält sie zurück, anders und langsamer als Wasser. Holz ist daher der<br />

vornehmste Operator einer Tiefengeschichte, einer longue durée, die menschliches,<br />

nicht mehr nur geologisches (wie beim Stein) Geschichtsformat besitzt. Die Bedingung<br />

der Möglichkeit von Gedächtnis ist die elektromagnetische Interferenz des Erdfeldes<br />

mit ihren „Kleinkörpern“. Der Lindenstamm, der von uns verschickt und in Jerusalem<br />

herumgetragen wurde, wechselt (als Transpflanze im Transport) das Echofeld und<br />

hält seine Maria-Magdalena-Information (eine Form haben heißt: einen Zweck haben,<br />

griech. Entelechie) in das Feld hinein. Das ergibt eine neue Interferenz, eine neue<br />

Gedächtniskonstellation.<br />

Maria Magdalena taucht auf, um einen neuen Nullpunkt zu generieren. Die<br />

Gedächtniskonstellation zu verändern heißt eine neue Geschichte zu erzählen. Die<br />

neue Geschichte ist die des Ausgleichs. Es ist die der Balance zwischen Männlich und<br />

Weiblich, nicht weniger als die Verkündigung der Gleichwertigkeit des Verschiedenen:<br />

zwei Hälften (Teppichklopfer/Lilie), die kybernetisch aufeinander reagieren. Es gibt<br />

auch ein Evangelium der Maria Magdalena. Der Teppichklopfer, ein unmittelbar an den<br />

Haushalt verweisendes Instrument, steht für das Weibliche, sofern damit Innerlich,<br />

Intimes, Häusliches, Privates gemeint ist. Ein in einer Prozession im öffentlichen<br />

Raum mitgeführter Teppichklopfer ist, wie Lacan sagen würde, nicht an seinem Ort.<br />

Der Teppichklopfer erhebt also eine Forderung, erstens die Disjunktion zwischen<br />

Weiblichkeit und Häuslichkeit, und zweitens die Konjunktion zwischen Weiblichkeit und<br />

Öffentlichkeit. Der Teppichklopfer ist der provisorische Signifikant. Der Teppichklopfer<br />

ist meistens als schöner Knoten ausgebildet, was ihm einen einzigartigen ästhetischen<br />

Reiz gibt. Ferner steht er als Knotendarstellung mit anspruchsvoller Knotenmathematik in<br />

Beziehung. Und diese Mathematik verweist natürlich auf eine komplexen Diagrammatik<br />

des Raumes, die unweigerlich sowohl BildhauerInnen wie ArchitektInnen in ihren Bann<br />

zieht wie ein „Traktor“.<br />

Die Form der Statue der Maria Magdalena ist selbst aus zwei sich ineinander schlingenden<br />

langen Linien entwickelt. Die gesamte Figur wird von sich schlängelnden Linien wie<br />

von hölzernen Oszillogrammen bedeckt. Damit drückt sie ein „Erdwissen“ aus oder die<br />

Technologie des Lebendigen, das sich im Schlängeln der Kräfte und Informationen, in der<br />

Integration des Bipolaren realisiert. Maria Magdalena verkörpert den idealen Moment, den<br />

Drehmoment, der die Bewegung (wieder) anstößt. Sie wird nicht ohne Grund als Apostola<br />

Apostolorum bezeichnet. Stellvertretend bewegt wieder sie die „weibliche Angelegenheit“.<br />

Jetzt, wo sie wieder zurückgekommen ist und öffentlich in Jerusalem gezeigt wurde, ist<br />

das Exil des Weiblichen beendet.<br />

SAMSONOW

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!