ST:A:R_23
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Buch I - DAS SPIEL DER MÄCHTIGEN Nr. <strong>23</strong>/2009<br />
**Rosencranz und Gernegross are dead - Reclam<br />
Am 19. November – unserem 21.<br />
Februar – hatte das Erdbeben<br />
stattgefunden, und Sturm war<br />
aufgekommen. Auf der anderen Seite der<br />
Erdkugel begannen Dichter und Künstler<br />
von einer merkwürdigen dumpfen<br />
Zyklopenstadt zu träumen, und der junge<br />
Bildhauer in unserem Atelier formte<br />
im Traume die Gestalt des furchtbaren<br />
WARAN, ein Architekt war wahnsinnig<br />
geworden, und ein berühmter Literaturkritiker<br />
war plötzlich im Alkoholdelirium<br />
versunken!<br />
Die Ausschreitungen spielten sich<br />
im wesentlichen an der Ringstraße ab.<br />
An der Ringstraße war es, wo das Lueger/Lugnerhochhaus,<br />
das Café Landmann<br />
und Billigläden in Brand gesteckt<br />
wurden, und an der Ringstraße war<br />
es auch, an der der prunkvolle Eispalast<br />
in Flammen aufging und über tausend<br />
Enzis mit ins verderben riss, das<br />
beliebte Sitzmöbel des österreichischen<br />
Architekturbüros Popelka Poduschka.<br />
Von der Ringstraße kamen die, die das<br />
Lebensmittel Hofer am Karlsplatz verwüsteten<br />
und Autos umwarfen und in<br />
Brand setzten. Offiziere in voller Uniform<br />
dirigierten mitten in der Demonstration<br />
am Naschmarkt die Komparserie<br />
zur Aufwiegelung der Bevölkerung. Aus<br />
serbokroatischen Funkmietwagen wurde<br />
diesen arbeitslosen Banden Weisung<br />
erteilt. Aus polnischen Charterflugzeugen<br />
wurden von der Firma Morawa über<br />
dem Regierungsbezirk Flugblätter und<br />
<strong>ST</strong>/A/R-Zeitungen abgeworfen mit der<br />
Aufforderung zum Aufruhr und zur<br />
Fortsetzung des Streiks. Obwohl zu diesem<br />
Zeitpunkt durch die Beschlüsse des<br />
Ministerrats zur Normenfrage der Anlass<br />
für die Arbeitsniederlegung längst entfallen<br />
war.<br />
Über die Ringstraße wollten die<br />
Leiharbeiter Vorgestern den Zug der Bauarbeitslosen<br />
führen. Das gelang ihnen<br />
nicht. Über die Ringstraße schließlich<br />
verschleppten Burschen mit halblangen<br />
Armyhosen und bunten Texashemden<br />
den greisen, aber ungebrochenen Stellvertreter<br />
des ehemaligen Staatsekretärs<br />
Franz Morak. Was vorgestern und Gestern<br />
die grosse Mehrheit der Bevölkerung<br />
fühlte und empfand, das ist nun<br />
Bewiesen. Die Forscher beschrieben<br />
die Zerstörung von Städten durch die<br />
Auffaltung von Bergen, das zentrifugale<br />
Bersten von Kontinenten. Die seismischen<br />
Zuckungen von Erdboden und<br />
Meeresgrund und andere geologische<br />
Ereignisse tauchten immer wieder in<br />
den Dokumenten auf. All das musste<br />
von den Spezialisten bedacht werden.<br />
Vor einem Jahrhundert hatte eine (eine!)<br />
Wirtschaftskrise das Land heimgesucht.<br />
Sie war mit Maßnahmen beendet worden,<br />
so stahlhart, dass niemand mehr<br />
in seinem eigenen Haus einen Sessel<br />
streichen durfte ohne die Zustimmung<br />
des Amtes. Fabriken wurden stillgelegt,<br />
um schließlich von Funktionären der<br />
Regierung übernommen zu werden, die<br />
– unter beträchtlichen Preissteigerungen<br />
und Maßnahmen des Personalabbaus –<br />
die Produktion wieder aufnahmen.<br />
Das Nullwachstum des Arbeitslosenquotienten<br />
war zur fixen Idee geworden<br />
– zu einer Zeit, als die Bevölkerungszahl<br />
ohnehin beständig schrumpfte -,<br />
und Erwerbslosigkeit wurde mit Schande<br />
bestraft. Dieses Gefühl der Schande<br />
war noch immer spürbar, obwohl die<br />
Bevölkerung der Erde jetzt nur noch 90<br />
Milliarden Menschen betrug, ein Viertel<br />
der einstigen Anzahl. Ehepaare mussten<br />
noch immer eine Lizenz einholen, wenn<br />
Johann Neumeister, Ovaltower<br />
Vienna 2009, ca. 60 x 70 cm, Acrylic on Canvas<br />
UTOPIA ULTRA*<br />
sie Kinder in die Welt setzen wollten.<br />
Kinder, die ohne Lizenz geboren wurden,<br />
mußten auf ihre vollen Staatsbürgerrechte<br />
verzichten.<br />
Ohne zu wissen, was Futurismus<br />
ist, kam Peter Noever dem sehr nahe,<br />
als er von der Stadt sprach; denn anstatt<br />
irgendeine präzise Struktur oder ein<br />
Gebäude zu beschreiben, verweilt er<br />
nur bei Eindrücken weiter Winkel und<br />
Steinoberflächen – Oberflächen, die zu<br />
groß waren, um von dieser Erde zu sein;<br />
unselig, mit schauderhaften Bildern und<br />
blasphemischen Hiroglyphen bedeckt.<br />
eine<br />
kritische<br />
Selbstreflektion<br />
von Marcus Hinterthür<br />
Ich erwähne seine Bemerkung über<br />
die Winkel deshalb, weil sie auf etwas<br />
hinweist, das Gerngroß mir aus seinen<br />
Schreckensträumen erzählt hatte. Er hatte<br />
gesagt: die Geometrie der Traumstädte,<br />
die er sah, sei abnorm, un-euklidisch<br />
und in ekelhafter Weise von Sphären<br />
und Dimensionen erfüllt gewesen, die<br />
fern von den unseren seien. Sogar die<br />
Sonne am Himmel schien verzerrt, als<br />
sie durch das polarisierte Miasma strahlte,<br />
das aus diesen wiedernatürlichen<br />
Mauern hochstieg, und fratzenhafte<br />
Bedrohung und Spannung grinste boshaft<br />
aus diesen trügerischen Ecken und<br />
Winkeln der behauenen Steine, die auf<br />
den ersten Blick konkav erschienen und<br />
auf den zweiten konvex.<br />
»Also läßt sich ganz gewiß nichts<br />
mehr ändern?«<br />
»Wir schreiben das Jahr 2098« -<br />
sagte jemand. »69 Milliarden amtlich<br />
bescheinigter Menschen und sicherlich<br />
rund 26 Milliarden Illegale. Die mittlere<br />
Jahrestemperatur ist um vier Grad<br />
gesunken. In fünfzehn, zwanzig Jahren<br />
wird hier ein Gletscher sein. Wir können<br />
der Vereisung nicht entkommen, wir<br />
können ihr nicht vorbeugen, wir können<br />
sie nur verbergen.«<br />
Gerngroß, der sich jetzt Grausam<br />
nannte, hatte kurz vorher, auf einer<br />
Reise durch die holländische Provinz<br />
Limburg, einige Zechanlagen gesehen,<br />
die sich durch peinliche Sauberkeit und<br />
gärtnerisch gepflegte Umgebung auszeichneten.<br />
Daraus entwickelte er, wie<br />
es seinem verallgemeinernden Temperament<br />
entsprach, eine Nutzanwendung<br />
für die gesamte österreichische<br />
Industrie. Mir persönlich brachte diese<br />
Idee eine ehrenamtliche Nebenbeschäftigung,<br />
die mir viel Freude bereitete:<br />
Wir beeinflußten zunächst die Fabrikbesitzer,<br />
ihre Betriebsräume neu herzurichten<br />
und Blumen in den Werkstätten<br />
aufzustellen. Unser Ehrgeiz blieb dabei<br />
nicht stehen: Fensterflächen sollten vergrößert,<br />
Kantinen eingerichtet werden;<br />
aus mancher Abfallecke entstand ein<br />
Sitzplatz für die Arbeitspause, statt des<br />
Asphalts wurden Rasenflächen angelegt.<br />
Wir ließen ein einfaches, gut geformtes<br />
Eßgeschirr standardisieren, entwarfen<br />
schlichte Möbel, die normiert in größeren<br />
Stückzahlen aufgelegt wurden und<br />
sorgten dafür, daß die Unternehmen in<br />
Fragen der künstlichen Beleuchtung und<br />
Belüftung des Arbeitsplatzes durch Spezialisten<br />
und aufklärende Filme beraten<br />
wurden.<br />
In den Niederlanden haben die<br />
Menschen schon seit der Frühzeit des<br />
Calvinismus keine Vorhänge im Erdgeschoss.<br />
“Seht her”, hieß das ursprünglich<br />
einmal, “wir haben nichts zu verbergen,<br />
unsere Teller sind auch nicht aus Gold<br />
und wir essen Kartoffeln, genau wie Ihr,<br />
liebe Nachbarn”. Die Wohnungen wurden<br />
so eingerichtet, daß sich alles in der<br />
Mitte der riesigen Räume konzentrierte,<br />
um die Wände für die Dekorationen freizuhalten.<br />
Die Beleuchtung erfolgte bei<br />
den Landbewohnern durch eine Vorrichtung<br />
von vermutlich elektrochemischer<br />
Art. Unter Wasser wie auch zu Lande<br />
benützten sie sonderbare Tische, Stühle<br />
und Sofas, die zylindrischen Gehäusen<br />
glichen – denn sie ruhten und schliefen<br />
in aufrechter Stellung mit eingezogenen<br />
Tentakeln – sowie Regale für die<br />
durch Scharniere verbundenen, mit Tupfen<br />
bedeckten Tafeln, die ihre Bücher<br />
waren.<br />
Ihre Gärten halten sie hoch. Darin haben<br />
sie Weinberge, Früchte, Kräuter, Blumen,<br />
von solcher Pracht und Pflege, daß<br />
ich nirgends mehr Üppigkeit und Zier<br />
gesehen habe. Ihr Eifer in dieser Art Gärtnerei<br />
entspringt nicht nur bloß dem Vergnügen,<br />
sondern auch einem Wettstreit<br />
der Straßen untereinander in Bezug auf<br />
die Pflege der einzelnen Gärten. Und<br />
sicherlich ist in der ganzen Stadt nichts<br />
Nützlicheres und Angenehmeres für die<br />
Bürger zu finden. Der Gründer der Stadt<br />
scheint denn auch auf nichts mehr Sorgfalt<br />
verwendet zu haben, als auf diese<br />
Gärten. Und richtig heißt es, West selbst<br />
habe von allem Anfang diese Gestalt und<br />
Anlage der Stadt vorgesehen. Aber die<br />
Ausschmückung und den weiteren Ausbau,<br />
wozu, wie er voraussah, ein Menschengeschlecht<br />
nicht genügen würde,<br />
hat er den Nachkommen überlassen.<br />
Und so steht in ihren Annalen<br />
geschrieben, die sie von der ersten Besitzergreifung<br />
der Stadt an, die Geschichte<br />
von siebenundachzighundertundsechzig<br />
Jahren umfassend, fleißig und gewissenhaft<br />
zusammengestellt aufbewahren,<br />
daß die Häuser im Anfang niedrig, wie<br />
Baracken und Schäferhütten, waren - aus<br />
beliebigem Holze errichtet, die Wände<br />
mit Lehm verschmiert, die Dächer spitz<br />
zulaufend und mit Stroh gedeckt. Heutzutage<br />
ist jedes Haus elegant mit drei<br />
Stockwerken gebaut, die Außenseite der<br />
Mauer entweder von Kieselstein, Zement<br />
oder gebrannten Steinen, auf der Innenseite<br />
mit Bruchstein ausgekleidet. Die<br />
Dächer sind flach und werden mit einer<br />
Kalkmasse belegt, der das Feuer nichts<br />
anhaben kann und die gegen die Unbilden<br />
des Wetters sich widerstandsfähiger<br />
als Blei erweist. Den Wind halten sie<br />
durch Glas ab (dessen Gebrauch ihnen<br />
ganz geläufig ist). Doch gibt es auch<br />
Fenster von sehr dünner, mit klarem<br />
Öl oder Bernstein getränkter Leinwand,<br />
was den doppelten Vorteil hat, daß mehr<br />
Licht und weniger Wind durchgelassen<br />
wird.<br />
Obwohl die Kultur im wesentlichen<br />
städtisch war, gab es etwas Ackerbau und<br />
umfangreiche Viehzucht. Auch Bergbau<br />
und, in bescheidenem Ausmaß, handwerkliche<br />
Fertigung wurden betrieben.<br />
Die Verbindung zwischen den alten<br />
und neuen Wohnstätten wurde durch<br />
die Verbesserung der unterirdischen<br />
Zugangswege erleichtert; so wurden<br />
beispielsweise auch zahlreiche direkte<br />
FUTURE<br />
______________________<br />
Vgl. Heinrich Zille “Leben und Werk”<br />
in dem Zusammenhang: die Berliner Sezession (1892 - 1933),<br />
sowie: Simplizissimus (Satirische Deutsche Wochenzeitschrift)<br />
Die Wiener<br />
Strassenbahn<br />
...Verkauft an<br />
amerikanische<br />
Investoren?!