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Blogtexte2019

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Blog 2019

Meine Blogtexte auf johnbassiner.de | 8. März bis 31. Dezember 2019


Blogtexte 2019 / Inhaltsverzeichnis - Datum, Titel der Publikation auf https://johnbassiner.de

# Seite

Jan ........................................................................................................................................................................................................................

17, 2021 - Inhalt: Blogtexte vom 8. März bis zum 31. Dezember 2019

2

Mrz ........................................................................................................................................................................................................................

8, 2019 - Malerei darf heute so vielseitig sein wie Musik, Schreiben, jede andere Kunst

3

Mrz ........................................................................................................................................................................................................................

11, 2019 - Warum zeichnen, warum Skizzenbuch?

4

Mrz ........................................................................................................................................................................................................................

12, 2019 - Warum malen?

5

Apr ........................................................................................................................................................................................................................

6, 2019 - Skizzenbücher, im Original zu kaufen

7

Apr ........................................................................................................................................................................................................................

6, 2019 - Kalte Küche, was soll das bedeuten?

8

Mai ........................................................................................................................................................................................................................

14, 2019 - Du musst es wirklich wollen?

9

Jul ........................................................................................................................................................................................................................

24, 2019 - Wir sind noch selbst die Natur

13

Aug ........................................................................................................................................................................................................................

5, 2019 -„Wir schaffen das!“

17

Okt ........................................................................................................................................................................................................................

16, 2019 - Nachgeschenkt

21

Okt ........................................................................................................................................................................................................................

19, 2019 - Als ich klein war

27

Okt ........................................................................................................................................................................................................................

31, 2019 - Mein Bild: Reform Your Life

32

Nov ........................................................................................................................................................................................................................

9, 2019 - Motivation, von Oelke bis Teufel

35

Dez ........................................................................................................................................................................................................................

15, 2019 - Ankern oder auf der Tonne

40

Dez ........................................................................................................................................................................................................................

19, 2019 - Es fühlt sich gut an

42

Dez ........................................................................................................................................................................................................................

23, 2019 - Die Angst ist ein Tiger

43

Dez 31, 2019 - Obama hat die Hand gewechselt

45

Blogtexte 2019 / Inhaltsverzeichnis - Datum, Titel der Publikation auf https://johnbassiner.de 2 [Seite 2 bis 2]


Malerei darf heute …

Mrz 8, 2019

… so vielseitig sein wie Musik, Schreiben,

jede andere Kunst. Seit dem Kindergarten,

der Schule, dem Grafik-Studium ist Zeit vergangen:

1964 bin ich geboren, als Illustrator

mit Diplom wurde ich 1990 der Wirklichkeit

übergeben, dem staatlichen Lernapparat entlassen.

Note: „Sehr gut“. Seitdem habe ich

illustriert, Segelbücher, die Zeitschrift Yacht,

Gelegenheitsjobs, nicht nur Grafik. Es ist mir

nicht recht gelungen, aus meinem Leben eine

geradlinig und finanziell erfolgreiche Karriere

zu machen. Zu Beginn unseres neuen,

schon selbstverständlich gewordenen Jahrhunderts,

begann ich mit Acrylfarbe zu malen.

Erst auf Holz, dann auf immer größeren

Leinwänden. Ich wollte mir selbst beweisen,

was ich kann. Ausgleich zu einem gefühlten

Mangel an sozialer Anpassung, fehlender Ellenbogen.

Gegenpol für normale Integration,

ein emotionaler Wutboxball für zuhause. Ich

wollte wissen, was ich leisten kann, wenn

man mich in Ruhe lässt, es meinem Sozialneid

entgegen halten. Für mich ist Malen Erfüllung,

mein Sinn des Lebens; nicht Glück,

ist Begegnung mit allen spürbaren, leibhaftigen

Gefühlen.

Brotlos sei die Kunst? Ich verkaufe Bilder. Das

kommt durchaus vor. Meine Malerei und ich

selbst als Person dahinter verstellen den geraden

und willkommen einfachen Weg in die

Ausstellungen. Ich passe nicht in bekannte

Muster. Ich arbeite an großen Acrylbildern

recht lang: mehrere Wochen, Monate. Ich

muss ja auch Pflichten erfüllen, anders Geld

erwirtschaften und darf meine kleine Familie

nicht überstrapazieren. Ich begann die freie

Malerei nicht wie eine Ich-AG als Geschäftsmodell.

Ich fing einfach an

zu tun, was ich vom Talent

her konnte, obwohl ich

ungeübt war. Ich wollte

mich fortentwickeln: Auf

mich selbst zu. Ich in war

in Illustration und Auftragsarbeit

unterfordert

und kämpfte nicht wirklich

dafür, ein guter Grafiker

zu werden. Es gefällt mir

inzwischen sehr, mich auf

meine ganz eigene Art

ausdrücken zu können.

Aktionismus mit dem man leicht in die Presse

kommt? Das ist nichts für mich. Ich wollte

ja gegenständlich malen, weil es mir liegt.

Schiffe, Bauernhöfe oder Brandung und nette

Dünen malen, weil das in die Wohnzimmer

passt? Schöne Akte, die man auch als Druck

anbieten kann? Ich brauche diesen Moment

im Alltag, wo ich plötzlich etwas erlebe, begreife:

Das wird mein Bild. Nur ich bin grad

hier, sehe das aus meiner Perspektive und

habe eine eigene Bildsprache, um es nun

in wochenlanger Arbeit zuhause zu rekonstruieren

und mich damit auszudrücken und

auszuleben.

In der Erwartung, als farbenfreudiger Erzähler

unterhalten und überraschen zu können –

Herzlich

John Bassiner

Mrz 8, 2019 - Malerei darf heute so vielseitig sein wie Musik, Schreiben, jede andere Kunst 3 [Seite 3 bis 3]


Warum zeichnen, warum Skizzenbuch?

Mrz 11, 2019

Mein Freund Martin schlägt gelegentlich vor:

„Du kannst unsere Wohnung auf Mallorca

nutzen, mache Zeichnungen, besser noch farbige

Aquarelle, die kannst du gut verkaufen

und die Gegend inspiriert.“ Fehmarn ist nicht

Mallorca, das Buch ist klein und Farbe ist

nicht, nicht einmal Fehmarn kann man hier

wirklich erkennen.

Ich habe den Monte-Carlo-Circus im Fernsehen

gesehen. Der weltbeste Jongleur, die

meisten Bälle überhaupt gleichzeitig in der

Luft. Bewegt die Arme rhythmisch fehlerfrei,

wie eine Windmühle ihre Flügel, arbeitet zuverlässig

wie die Betonmischmaschine auf

der Baustelle um die Ecke – und hat auf einem

Auge nur 10 Prozent Sehkraft, was von

der Ansagerin ausführlich als seine extrabesondere

Leistung (das auch noch) herausgestellt

wird. Nie fällt dem was runter. Der

Beste.

Während seiner Nummer habe ich mir kurz

ein Bier aus der Küche geholt. Davon, dass ich

ihn bewundere oder nicht, weil ich eventuell

ignorant wegzappe, hat der nix. Wenn er aber

täglich 8 Stunden übt, um nicht schlechter zu

werden, wird er ohne große Zusatz-Akquise

engagiert, wo auch immer. Seine Arbeit muss

er für sich ganz alleine lieben, denn, wenn er

auf das Publikum schielt – und da er nur „ein“

gutes Auge hat, wäre das für ihn noch recht

einfach und in diesem Fall seine Macke ein

Vorteil – verliert er die Kontrolle über sein

Kunststück.

Er muss sich konzentrieren und darf sich

nicht dem Applaus hingeben. Und dass es

nach dem Auftritt ordentlich im jubelnden

Publikum braust und rauscht, ist nur so Trinkgeld,

wie es vielleicht ein Mädel auf dem

Oktoberfest kriegt, die ordentlich Holz vor

der Hütte trägt. Dass der Jongleur selbst ein

schnuckeliges Mädel abbekommt, weil er so

gut ist, darf wirklich bezweifelt werden. Dass

sich deswegen mal

eine Beziehung aufgrund

Bewunderung

anbahnt, ja – aber

niemand liebt jemanden

dauerhaft

wegen seiner Kunst,

sondern viel wahrscheinlicher

wegen

seines Naturells,

dem ihm eigenen

Charakter, seinem

Humor (oder wegen

dem steifen Penis, den der jederzeit aus der

Hose zieht), den Muckis eventuell … oder einfach,

weil „sie“ an seiner Seite mitbewundert

wird. Wegen der zwanzig Bälle in der Luft,

wird „Mann“ kaum wirklich geliebt. Der hat

aus seinem Traum, der Beste sein zu können,

etwas gemacht – und muss nun arbeiten wie

jedermann.

Diesen Grundzusammenhang

von eigenen Träumen,

den sich zeigenden

Talenten, wenn jemand

jung ist und dem sich daraus

ergebenden: „Das

kannst du aber gut!“, zu

begreifen, ist für den reifen

Künstler ganz wichtig. Nur wenn du das mit

dem bewundert, gelobt und geliebt werden

trennen kannst von deinem Tun, bist du frei.

Du kannst so viel oder so wenig von deinem

Traum umsetzen, wie du als gesund und gut

für dich empfindest und „den Applaus“ auch

genießen.

Für viele deiner Mitmenschen ist deine Kunst

weniger wichtig, als das was du dir davon gekauft

hast. Ein dickes Auto, tolle Klamotten

und so was. Und wenn wir „Kollegen“ einmal

ehrlich sind, jeder geht doch mal Bier holen,

wenn der weltbeste Artist turnt. Wenn du

aber gerade auf einem Arm einen Handstand

machst (in der Manege), musst du voll und

ganz bei der Sache sein.

Wenn du also jung bist und die Eltern, die

Tante und der Kunstlehrer dir mal was Nettes

sagen, darf dich das später nie davon abbringen

zu begreifen, wann man sich irgendwo

selbst gut festhalten muss.

Beim Zeichnen z.B. wenn man nicht tastend

herumstrichelt, sondern „additiv“ zeichnet,

ein großes Gebäude „links oben“ beginnt,

eine Aktzeichnung am Kopf oder ein geparktes

Auto an einem

Scheinwerfer, und

man nicht wirklich

radieren und nachkorrigieren

möchte,

muss man irgendwann

auch „ankommen“.

Sonst „passt“ es nicht.

Mit diesem kleinen Skizzenbuch auf Fehmarn

2017 habe ich mich in die Richtung der beiden

aktuellen Skizzenbücher 2018, die nur

wenig größeres Format haben und die beide

ganz und gar mit dokumentenechten nicht

korrigierbaren Kugelschreiber gezeichnet

wurden, quasi vorbereitet.

Ich wollte das schaffen: ein ganzes Buch in

dem Sinne fehlerfrei, dass es mir selbst gefällt.

Dafür muss es nicht Mallorca sein. Ich

muss nur in dem Sinne „ankommen“, dass ich

die jeweilige Skizze nicht versaue.

Schenefeld, im Oktober 2018

Mrz 11, 2019 - Warum Zeichnen, warum Skizzenbuch? 4 [Seite 4 bis 4]


Warum malen?

Mrz 12, 2019

Könnte ich auch ganz anders malen, genauso

gut normale Arbeit machen, im Büro oder so?

Ich stelle mir die Frage, warum ich gerade so

lebe, wie ich’s tue? Warum ich getan habe,

was ich tat und solche Sachen. Dazu kommt,

parallel zum Wunsch, es gut darzustellen, die

bedrückende Frage, ob ich mein Leben verfehlte,

grundsätzlich versagte und es besser

wäre, ich könnte neu beginnen? Am Besten

doch mit dem Wissen und der Erfahrung von

heute! In der Summe dieser Überlegungen,

in Anbetracht vieler Gemälde, Zeichnungen,

Skizzenbüchern und dem Unvermögen, daraus

nenneswerte Anerkennung zu erlangen,

steht die Hintergrundfrage nach dem freien

Willen an sich.

Na ja, eines ist zum anderen gekommen. Erst

habe ich studiert, Illustration – und bin als

Infografiker so einigermaßen normal in das

Berufsleben gestartet. Als ich meinen Hauptkunden

verloren hatte,

begann ich zu malen:

attraktive maritime

Landschaft, Seezeichen

und Aquarelle, die sich

ganz gut in Café und

Kunstkreis-Umgebung

anbieten ließen, und

ich habe auch verkauft.

Reichlich Publikum kam

gern zur Vernissage.

Die Kunst unterliegt

wirtschaftlichen Gesetzen

von Produkt, Ort des Verkaufs und der

zum Verkaufsgegenstand passenden Zielgruppe.

Solange jemand nicht unangefochten

an der Spitze der etablierten Künstler mitmischt,

also ein Star ist welcher der breiten

Gesellschaft und nicht nur einer bestimmten

Kunst-Szene bekannt ist, wird unsereiner in

einem speziellen Bereich tätig, der schaffbar

ist. Wir sind unterwegs in Landschaft oder

zeichnen Akt, malen abstrakt oder real, arbeiten

in hauptsächlich einer Ausdrucksform:

Druckgrafik, Aquarell oder Ölmalerei.

Wir machen moderne digitale Präsentation

oder eben gerade nicht. Wir arbeiten stattdessen

mit selbstangerührten Pigmenten,

selbstgeschöpften Papieren als Malgrund auf

diese oder (nicht: und) jene Weise. Künstler

arbeiten in Serien. Der Wiedererkennungswert

ist „Marke“ im Verkauf. Genau genommen

ist’s oft nur Kunsthandwerk, das wir ausüben

(wenn wir ehrlich sind). Die Kollegen

illustrieren nur die Bedürfnisse bestimmter

Gruppen. Künstler möchten frei sein, sind es

oft nicht: Schauspieler in Serien träumten

anfangs größer.

So wie ich nach dem Verlust meiner Hauptbeschäftigung

als maritimer Info-Grafiker

ähnlich hätte weiter machen können, nach

entsprechender Akquise, in einem anderen

Info-Bereich oder organisiert mit anderen,

verabschiedete ich mich schnell wieder aus

gefälliger Malerei für das Wohnzimmer. Ich

machte mich als Person unmöglich. Ich entdeckte,

dass meine reale Malweise alles Bild

werden lassen konnte. War ich bislang darauf

fixiert, gefallen zu wollen und redete anderen

nach dem Mund, öffnete mir mein Talent

nun den Weg in Sehnsucht und Gefühle. Hatte

ich bislang weder sinnvoll eigennütziges

Streben noch eigene Meinung, kam jetzt ein

Ego hervor. Ich musste für die Gründe warum

ich so und nicht anders arbeitete einstehen.

Ich begann eigene Ideen zu formulieren.

Wenn ich weiter Teil eines Verlages geblieben

wäre? Womöglich wäre ich brav den anderen

gefolgt, die meinen etwas zu sein und

vielleicht noch spät aus der gewohnten Bahn

geworfen, zur Besinnung kommen, merken,

wie eingebildet ihr Leben ist? Einbildung

ist ein „dickes Fell“ – viele Menschen haben

nicht Selbstbewusstsein, eher: „Gruppenbewusstsein“.

Damit meine ich, dass ihr Ego nur

funktioniert, solange sie im sozialen Verbund

integriert weiter machen können. Ich frage

nach mir selbst – die Mehrheit fragt unbestimmt

nach dem Sinn vom Ganzen. Allen

gleich ist der Wunsch nach Entschleunigung,

Entspannung und Glück. Wer möchte nicht

innehalten, ausruhen, genießen und wenn

nicht glücklich, zufrieden sein?

Festzustellen, wie viel misslingt, und dass die

anderen auch einiges vermasseln, zu spüren,

wie mir andauernd

etwas in die Quere

kommt, hassen und

fluchen, zu lernen,

andere zu beschuldigen,

das hat mich

einige Jahre gekostet.

Ich habe das

gelernt: Glücklich

im Frust! „Sozialfalle“

bedeutet: Wie

in einer Endlosschleife

kreisend

gefangen sind wir,

wie alle anderen um uns herum, die nicht

den Weg ins eigene Denken finden. Unangenehme

Emotionen zu vermeiden, weil man

weniger stört, ist normal. Ein Obdachloser

kann auch mit größter Unterstützung nicht

kurzfristig Chef oder Präsident werden: Der

nächste Schritt kann nur so weit wie die individuellen

Möglichkeiten sein. Was wir selbst

können, ist nicht auf der Stelle trippeln. Wir

könnten vital voran gehen, wenn wir wüssten,

dass wir’s können. Der Wettbewerb mit anderen

mithalten zu wollen, vermiest die Zufriedenheit

mit dem individuellen Weg. Fehlt es

an Anerkennung? Davon möchte ich mehr!

Sehnsucht ist hartnäckig. Dazu Fatalismus.

Was schert mich meine Zukunft, Existenz, solange

ich im Moment erfüllt tue, was mir als

befriedigend erscheint?

Ich denke, dass viele entwickelte Zeitgenossen

nur Teil ihres Systems sind, ihr Ego ohne

das Produkt ihrer Firma wegbrechen würde.

Ich glaube, dass eigene Bilder mir selbst

ein Baumstamm sind, der fester verwurzelt

ist, als eine Karriere. Der fremdbestimmte

Mensch, der selbstbestimmte Mensch oder

das Wesen einer kanalisierenden Natur, was

sind wir? Führungspersönlichkeiten denken

freier, haben mehr Gestaltungsspielraum?

Welterklärer behaupten, dass Millionäre unglücklich

sind!

# Drei Beispiele: Jesus, das Gleichnis vom Säman,

Tageshoroskop und Feldenkrais: Wo ist

oben?

Das Gleichnis vom Sämann lehrt, dass auch

Gott nachlässig ist. Nicht jeder startet gut

platziert und genetisch perfekt ausgestattet

ins Leben. Die Feindseligkeit der natürlichen

Umgebung: Schon Jesus gibt zu, dass es mit

der Gerechtigkeit so eine Sache ist.

Mein (gestriges) Tageshoroskop: „Nach einer

stürmischen Zeit verziehen sich die Gewitterwolken

nun langsam. Sie können aufatmen

und wieder klar sehen. Das ist die Chance für

einen Neuanfang.“ Eine andere Tageszeitung

(von ebenfalls gestern) wenig positiv: „Sie

fühlen sich heute mit ihren Wünschen immer

wieder ein bisschen alleingelassen. Öffnen

Sie sich mehr für andere, dann kommt man

Ihnen, vor allem über Mittag, auch entgegen!“

Morgens habe ich darüber nachgedacht, was

besonders die Voraussagung der erstgelesenen

Zeitung bedeuten würde, und mir intensiv

gewünscht, es würde genauso passieren.

Tatsächlich erfüllte sich darin aber das

zweite Horoskop: „Sie fühlen sich heute mit

Ihren Wünschen alleingelassen“ – die Hoffnung,

meine Nöte würden sich zum Besseren

wenden, wurde enttäuscht. Meine Befürchtungen

hielten dem ersten Horoskop beharrlich

stand. Wenn Gewitterwolken abzogen,

dann unbemerkt. Vielleicht konnte ich das

nicht sehen, weil andere für mich taten, was

ich mir wünsche, und später werde ich vom

Glück beschenkt, im Sommer oder so? Niemand

kam mir (besonders über Mittag) entgegen;

vielleicht war ich nicht offen genug,

die Chance für einen Neuanfang? Das hätte

nur Sinn gemacht, wenn ich den Abzug der

Gewitter bewusst erlebt hätte, er also sichtbar

stattgefunden hätte. Dann hätte ich aktiv

mein Segel wieder gesetzt, ausgerefft oder

die Anker gelichtet, wäre in eine neue Richtung

losgesegelt. Fehlanzeige.

Wenn ich die Horoskope nicht gelesen hätte,

weil das unlogischer Blödsinn ist? Dann wäre

mir die tiefempfundene Begegnung mit meinen

Wünschen und Befürchtungen hier nicht

gelungen. Aus dem Allgemeinen fantasierte

ich, was es mir bedeutete, wenn eine stürmische

Schlechtwetterzeit ihr Ende fände!

Jeremey Krauss ist Feldenkrais-Lehrer. Das ist

so eine Art Turnen und Nachspüren, was es

mit uns macht. Wie im Yoga oder autogenes

Training. Krauss schlägt ein Gedanken-Experiment

vor: Man solle die Hände und Arme

„nach oben“ ausstrecken. Dann lege man sich

auf den Boden, und zwar auf den Rücken. Nun

strecke man erneut die Arme nach oben. Da

gibt es zwei Möglichkeiten, das zu tun. Die

einen strecken die Hände zur Zimmerdecke,

andere werden die Arme über den Kopf in der

Verlängerung ihres Körpers auf dem Teppich

ablegen. Immerhin um neunzig Grad verschieden,

kann die Anweisung „nach oben“,

die doch zunächst recht eindeutig scheint,

korrekt interpretiert werden. Da gibt es welche,

die streiten, es gäbe nur eine richtige

Lösung. Krauss sagt dazu: „Der Hintern ist

immer hinten.“ Sämann, Horoskope und wo

oben ist – wir denken nach, ob wir uns an der

Welt ausrichten oder an uns selbst.

Medikamente für psychisch Kranke: Das ist

etwa so, wie wenn wir uns eine Art Sack

überziehen, um nicht zu merken. Wir stecken

den Kopf in den Sand, bis die Gewitterwolken

unserer Ängste fort sind. Wir lesen quasi

das Horoskop gar nicht erst. Oder durch eine

unscharfe Brille. Selbstbestimmung wird in

diesem Fall notfallmäßig zurückgewonnen,

Mrz 12, 2019 - Warum Malen? 5 [Seite 5 bis 6]


indem der Arzt uns unsere Umgebung einnebelt

und wir mit Volldampf weiterschippern

können, weil dieser Nebel ein Gewitter verbirgt

(das es eventuell gar nicht gibt).

Jesus: man bete drum, dass die schlechte

Ausgangslage in Dürre oder Matsch uns

benachteiligtem Samenkorn nichts anhabe,

uns gottbefohlene Wege die Richtung zum

fruchtbaren Boden und die Gegend mit den

anderen Körnern, finden lässt. In diesem Fall

heißt es nicht, dass wir uns ein Gewitter einbilden,

sondern dass die Lage wirklich beschissen

ist. Aber in beiden Fällen geht die

Hilfe auf diese Art vor sich: „Vertraue darauf,

dass du den Weg zur Besserung findest.“ Ein

schwieriger Weg. Auch: Kein Leben ohne Weg.

Es ist da ein Boden, auf dem wir gehen. Es

heißt auch, dass andere um uns herum sind.

Wir sind nicht im Nichts.

Jesus entwirft den grundsätzlichen Rahmen.

Weiter als im alten Testament, das mit zehn

Geboten, Marsch ins gelobte Land, dem harten

„wie du mir, so ich dir“, Grundregeln funktionierender

Systeme und das Begreifen einer

großen (nicht vollends zu verstehenden)

Natur beschreibt, wird der Mensch vom Messias

aufgefordert, nach einer Kränkung nicht

zurückzuschlagen. Das ist nicht ganz einfach

umzusetzen.

Der Mensch ist sein eigenes Problem. Jesus

schlägt vor, nicht zu verzagen und einzusehen,

dass nicht alle gleich gut ausgestattet

und bestplatziert in die Welt kommen. Wir

mögen Gott drum bitten, gute Wege aufzuzeigen,

innere Stärke für schwieriges Gelände

zu entwickeln. Die beiden Pole: Individuelle

Kraft zu Selbsthilfe und Persönlichkeit auf

einer Seite und Bemühungen, die Umgebung

geschmeidig zu gestalten, auf der anderen.

Das dritte Beispiel: Wir sind in einem Raum.

Worauf beziehen wir uns? Auf uns, unseren

Körper – oder beziehen wir uns auf den

Raum, die Umgebung. Wo ist oben? Ist „oben“

über meinem Kopf? Oder ist oben dort, wo

die Zimmerdecke ist? Und was ist, wenn ich

mich hinlege und die Zimmerdecke dort zu

sehen ist, wo ich sonst den Horizont sehe?

Darf man noch angestellt in einer Firma arbeiten

oder geht Leben nur als Chef? Ich kam

nicht klar damit, anderen zu malen oder zu

illustrieren, wie sie es wollten, warum nur?

Was können Haarspaltereien wo oben ist

nützen? Ich habe darüber nachgedacht: Wer

nicht fühlt, ob es hinten juckt oder unten,

weiß vielleicht auch nichts mit sich anzufangen,

wenn seine Gesundheit von was betroffen

ist. Wo tut es weh? Das könnte aus der

Sicht vom Doktor ganz woanders sein!

Im Zimmer auf dem Rücken liegen, nachspüren,

wie sich’s anfühlt, wo sich was bewegt:

oben oder hinten, was bringt denn das? Was

hat das mit Kreativität zu tun? Ich schweife

gar nicht ab, von meiner Malerei! Hintergründig

im Sinne des Wortes wird das Experiment,

wenn wir weiter denken: linke oder

rechte Seite, vorn und hinten, wo ist das? An

Bord: Backbord bleibt die linke Schiffsseite

auch dann, wenn wir achteraus gehen.

Wo ist hinten, wenn ich auf dem Rücken liege

und meine Arme zur Zimmerdecke strecke, im

Bewusstsein, das sei oben? Schließlich doch

logisch, jeder Baum reckt sich nach oben,

weg vom Boden, gegen die Schwerkraft, hoch

in den Himmel. Ich liege rum, und wo ist hinten?

Hinten in der Nische, wo der Raum nicht

gut ausgeleuchtet ist, wo das Sofa steht, ganz

da hinten (ein großes Zimmer), jedenfalls

nicht dort, wo die Tür ist und ich den Raum

vorn betreten habe?

Ein Denkspiel, noch besser mit einem Freund:

Er steht bei meinen Füßen, ragt hoch auf,

sagt: „Hinter dir ist das Sofa.“ „Nein – ja“, sage

ich, weil ich an meinen Rücken denke, auf

dem ich liege (unter mir ist ja der Teppich –

und doch denken möchte, dass mein Hintern,

wie der Name ja schon sagt, hinten ist und

hinten bleibt). Das Sofa wäre wohl über meinem

Kopf?

Was kann man lernen: Jeder hat seine eigenen

Ansichten. Habe ich einen Chef, und der sagt:

„Da hinten, Bassiner … da“, so ist das zunächst

einmal die Perspektive meines Arbeitgebers.

Wenn ich das gut realisieren kann, fällt es

mir nicht schwer, innerhalb eines Teams ein

starkes Mitglied zu sein – und das konnte ich

nicht. Bis heute ist der Motor meiner Kunst

soziale Unfähigkeit! Im dünnhäutigen über

den narzistischen bis hin zum autistischen

Menschen, sind „Künstler“ in der Gesellschaft

beschrieben. Normales Mitlaufen gelingt uns

nicht. Wir kommen noch dahin zu begreifen,

dass Kunst Selbsthilfe ist.

Ob ich zwanghaft auch schlechte Wege

wählte, weil ich aktiv zu gestaltender Zukunft

scheute oder ob ich gar nicht anders konnte

(determiniert durch meine Vergangenheit),

und demzufolge passierte, was mein Weg

wurde? Ich bin Skeptiker was mein Verdienst

und auf der anderen Seite meine Schuld

ist. Ich schaue anders auf umjubelte Stars,

Obdachlose und Straftäter. Ich lernte mich

zu wehren. Als ich jung war, betäubte der

Wunsch, anderen zu gefallen, um sie im vorausschauenden

Gehorsam gütig zu stimmen,

das peinliche Gefühl von Kränkung, wenn mir

jemand klarmachen konnte, stärker zu sein.

Wenn ich nett in den Wald hineinrufe und es

wie versprochen freundlich zurück schallt,

werden dort immer noch Leute sein, die mir

aus meiner Vergangenheit einen Strick drehen.

Auch wenn ich in Frieden mit allen meinen

Fehlern lebe: Den ganzen Wald kann ich

nicht ändern.

Gut zu malen, ist nicht leicht. Es kann harte

widerspenstige Arbeit mit allerlei Tücken

sein. Ich bin durchaus nicht immer entspannt,

froh allein im Atelier zu wüten, wenn ich

nicht klar komme, mit Farbe und Form und

meiner Motivation. Aber: Eine eigene Welt

schaffen, wie das Paradies verlorener Kinderzeit,

Stunden, in denen wir träumten: Das

kann ein Bild sein!

Ich male so wie ich es eben tue, aus dem für

mich so wesentlichen Grund: Auf einem Bild

bestimme ich ganz allein, was passiert. Alles,

was auf spätere Anerkennung durch Fremde

zielt, ob das Bild ausgestellt und zu einem

guten Preis angeboten und tatsächlich verkauft

wird, soll zunächst zurückstehen. An

erster Stelle steht die eigene Qualitätsprüfung:

Ist dieses Bild ganz genau so gemalt,

wie ich den thematischen Rahmen und die

gemalte Form möchte, um es für mich selbst

als gelungen anzusehen? Nachdem ich geschickt

geworden bin, genieße ich es, ein

Arbeitsfeld gefunden zu haben das meiner

Kontrolle untersteht. Keine Kollegen, kein

Kunde, keine imaginäre Stimmen fremder

Kritiker, wie früher zu Beginn meiner Arbeit,

als ich wenig frei bei allem was ich tat, die

Lehrer aus Schule und Studium im Geist hinterfragte.

Gespenster der Fantasie oder reale

Auftraggeber, die mir dreinredeten oder Termindruck

machten! Ich bin kritisch, ich bin

selbstkritisch, ich bin Perfektionist, und das

ist hart genug.

Und wenn ich etwas geschafft habe, kommt

meine Frau ins Atelier, bringt mir einen Kaffee,

stellt ihn boshaft nah an das Wasserglas,

wo ich meine Pinsel eintauche, schaut auf

das Bild und sagt vielleicht: „Die Hand da ist

zu groß oder ich kann das da nicht erkennen.“

Eine letzte Instanz ausserhalb gibt es immer.

Aber im Atelier auf der Staffelei ist das Bild

ja noch nicht fertig. Ich konnte mir eine Arbeitsumgebung

schaffen, bei der Arbeit und

Broterwerb aufgeteilt sind. Meine Kunst ist

weniger zu malen, als das wirtschaftliche

und soziale Überleben grundsätzlich (und

dabei noch malen zu können). Gut möglich,

dass es ein Hobby ist. Nennt es so. Ich lade

mir kein Spiel runter. Ich kaufe mir keinen

Modellbausatz, den ich nach Plan zusammen

klebe. Mein Kopf selbst ist mein Spielzeug,

ich erfinde das Spiel.

Meine Farben, in welchem Format – wie

schräg, wie hell, wie dunkel, und was für eine

Geschichte ich malend erzähle, bestimme ich

allein. Ich muss die Motivation für das Thema

und das Durchhalten fertigzumalen allein

schaffen. Mein Ansatz ist anders, entspringt

meiner Erfahrung: Ich möchte persönliche

Bilder. Ich thematisiere nicht allgemein. Ich

schöpfe Motive aus eigenem Erleben, meinen

Gefühlen und nicht aus dem, was kollektiv

Medien beherrscht.

Was kann ich geben? Ich war sozial ausgerichtet,

bin erst heute schockiert, nach persönlicher

Erfahrung. Lüge und plakativer

Beschiss der Bürgermeisterin haben mich

verändert. Eine Insel frei von Beziehungen

und ihren Verletzungen habe ich mit meiner

Kunst gesucht und gefunden – und möchte

doch andere mit meinen Bildern erreichen.

Bin ich verkehrt aufgestellt in dieser Welt

schöner Brandungs- und Blumenszenen und

Hafenbildern einerseits und inhaltsschweren

Rostplatten, metergroßem Farbgeschredder

andererseits, dass hier kein Platz bleibt für

meine Malerei?

Ich habe kein Smartphone. Wenn ich mit

dem Bus fahre, schaue ich aus dem Fenster,

schaue mir die Sozialen an, mit ihrer digitalen

Suchtstörung. Schade: Die jungen Menschen

sind schöner denn je. Aber sie sind nicht bei

dem, was sie grade tun. Sie fahren nicht mit

mir Bus, sie sind im Netz ihrer Freunde unterwegs:

„Ich bin in Iserbrook“, schreiben sie

gerade. Stimmt das eigentlich?

Ich fühle mich nicht isoliert. Ich kann freundlich

und hilfsbereit sein. Ich genieße das Zusammensein

mit anderen, aber: Ich konnte

eine Grenze um mein innerstes Fühlen herum

aufbauen. Ich sehe die Welt mit meinen

Augen heute besser, schaue genau hin, merke

mehr. Das habe ich gelernt.

Das kann ich wiedergeben.

Schenefeld, im Februar 2019

Mrz 12, 2019 - Warum Malen? 6 [Seite 5 bis 6]


Skizzenbücher, im Original zu kaufen

Apr 6, 2019

Was heißt im Original? Alles echt, kein Druck

und nicht korrigierbar tintenecht artistisch

vor Ort gezeichnet. 2017 und ’18 habe ich im

Sommer zwei Wochen Urlaub auf der Insel

Fehmarn gemacht und jedes Mal ein Skizzenbuch

mit Zeichnungen gefüllt. Das ist nicht

neu für mich.

Neu ist, dass ich von Beginn an die Absicht

entwickelte, so ein Buch wie ein Bild zu verstehen

das schließlich im Rahmen einer Ausstellung

oder auf der Webseite interessierten

Kunstfreunden angeboten wird. Ich zeichnete

also wie bisher, um mir die Zeit im Urlaub zu

vertreiben und um mein Talent nicht einrosten

zu lassen, aber auch in der Absicht, fehlerfrei

durch das ganze Buch zu kommen, damit

ein schönes Ganzes entsteht. Fehlerfrei heißt

nicht perfekt im Sinne von fotogleicher Abbildung.

Es bedeutet, im Sinne des Gesamten

zu denken, wenn jemand das durchblättert.

Ich darf nicht achtlos herumstricheln oder

durchkritzeln, was misslungen ist. Es soll

nichts misslingen.

Die Bücher haben 160 Seiten, Hardcover.

2018 ist A5 und durchgehend mit dokumentenechtem

Kugelschreiber gezeichnet.

2017 ist in Bleistift und nur halb so groß.

Zuhause habe ich in Schenefeld gleich weitergemacht,

war damit im Herbst 2018 noch

in Backnang unterwegs. Ich bin beim Kugelschreiber

geblieben und auch bei den 160

Seiten in A5. Dann habe ich vom Typ her das

gleiche Produkt verwendet, aber größer in A4

(in Doppelseiten A3 quer, nur damit Sie sich

das besser vorstellen können).

Das Buch jeweils: Es soll schön daherkommen,

auch wenn nur skizziert ist.

Echt vor Ort erlebt, ohne Hilfe durch Fotografie

oder spätere Eingriffe zuhause.

Eine Auswahl der Abbildungen finden

Sie hier. Es gibt keinen Text, nur das Datum

ist im Bild. Es kommt vor, dass ich

mein Gegenüber frage, ob ich zeichnen

darf. Das mache ich, wenn mir jemand

(im Café) direkt gegenüber sitzt. Meistens

frage ich nicht. Es sind nur Striche,

denke ich bei mir. Überall haben die Leute

Kameras montiert. Jedes Handy hat

eine, alle sind Selfie. Ich habe gar kein

Mobiltelefon. Auf Fehmarn nehme ich

immer nur das Seniorenhandy meiner

verstorbenen Mutter mit und verabrede

ein Treffen zum gemeinsamen Essen mit

meiner Frau per sms, die für gewöhnlich irgendwo

am Strand herumliegt, während ich

in der Stadt sitze und zeichne. Ich frage: „Hast

du schon Hunger? Wo bist du?“ Sie schreibt

dann vielleicht zurück: „Südstrand. Nein“,

oder: „Strand am Sorgenfrei. Nachher Borgo?“

– (wir sind lange verheiratet).

Viel Spaß beim durch die Galerie(n) blättern.

Apr 6, 2019 - Skizzenbücher, im Original zu kaufen 7 [Seite 7 bis 7]


Kalte Küche, was soll das bedeuten?

Apr 6, 2019

Eine Geschichte in zwölf Bildern, warum? Daraus

kann man einen Kalender machen, das

ist ein Grund. Und: Ich wollte ein Konzept

entwickeln, eine lange Geschichte umsetzen,

mehr erzählen als auf einem einzigen Bild.

Wie in einem Film. Plötzlich ging das, da

ich einen neuen Eingang in meine Fantasie

fand. Es wurde möglich, Erinnerungen mit

quasi Schauspielern in fiktiven Situationen

neu zu gestalten. Es ist nicht nötig, Inhalte

eins zu eins wie im illustrierten

Krimi nachzubilden.

Du kannst verschrobene

Facetten einer Traumsequenz

formen. Lücken in

der Logik werden im Kopf

des Betrachters mit eigenen

Bildern gefüllt. Jack

London entwickelte sein

Thema, nachdem er selbst

das abenteuerlichste Leben

riskiert hatte. Joseph

Conrad fuhr zur See, bevor

er schrieb. Der Maler Caravaggio

floh in eine andere

Stadt, um Beschuldigungen

auszuweichen und weiter

malen zu können. Wenn

man absurde Realität malt, können Elemente

kombiniert werden, die in Wirklichkeit ganz

andere Bedeutung haben. Ein banaler Hauseingang

kann zum Eingangstor in ein Gruselkabinett

geeignet sein, wenn das eigentlich

nur ein nettes Lokal in irgendeiner Stadt ist.

Als Maler stelle ich andere Architektur an seine

Seite, erfinde noch ein Boot oder so dazu.

Kunst muss mehr sein als gefällige Deko, und

sie muss dem Individuum entsprechen das

schafft. Kunst muss persönlich sein. Blakey’s

Theme, das ist

ein Stück von

Art Blakey,

dem Schlagzeuger.

Eine

eigene Musik,

der eigene

Stil. Müssen

wir Erfolg haben,

wie die

Berühmten?

Oder dürfen

wir alle uns

auf auf den

ganz eigenen

Weg machen,

auch wenn

der wenig erfolgsversprechend

im Dunkel einer ungewissen

Zukunft verläuft? Nicht ohne Grund wird

hier vom Casting erzählt, von einer jungen

Frau. Nicht willkürlich sind bunte absurde

Situationen gemischt mit – ja, wie soll ich

das nennen? Wie wurden Tim und Struppi

erfunden, wie Asterix? Wer sind Schulze und

Schultze, der Kapitän, und wo mögen Automatix,

Verleihnix und Gutemine herkommen?

Haben sie Entsprechungen in der Realität ihrer

Erfinder Hergé, Goscinny und Uderzo?

Kalte Küche ist ein schräg verwunschener

Traum, auch Albtraum, in jedem Fall eine

Geschichte von Zwang, Abhängigkeit und

Befreiung. Es ist die Geschichte vom Erwachsenwerden.

Dichtgemacht wird diese „Küche“,

und mein Mädchen ist frei, das ist es. So hätte

ich das gern. Wenn ich male, bestimme ich

wie’s ausgeht.

Apr 6, 2019 - Kalte Küche, was soll das bedeuten? 8 [Seite 8 bis 8]


Du musst es wirklich wollen?

Mai 14, 2019

Es ist nicht verkehrt, sich nach einem Grund

auf die Suche zu machen, wenn man etwas

nicht versteht. Nach „dem“ Grund, sollte hier

eventuell stehen, um genau zu sein. Ein Leben

voller Ausflüchte, ein Leben auf der

zwanghaften Suche nach Lob und Anerkennung

ist die normale Alternative. Die Suche

nach dem, was uns bedrückt, irritiert oder

verstört, kann von einer Flut von Eindrücken

verdrängt werden. Sie verstellen wie dichtes

Urwaldblattwerk den Blick auf ein hartnäckiges,

kleines Problem: Ein schwarzes Loch im

All, ein weißer Fleck auf unserer Karte, die

eigene Macke! Schwer erkennbar, weil sie so

vertraut und gewohnt ist.

Aus dem Malen heraus habe ich gelernt, meinen

Alltag angenehmer zu machen. Angenehm

bedeutet nicht entspanntes Glück die

ganze Zeit. Es bedeutet, im Zulassen von Zorn

und Angst in der Bandbreite möglicher Gefühle

Unterschiede zu bemerken, und das ist

(in dieser Summe) mehr als angenehm. Vielen

bleibt das Glück vollkommener Emotion

verbaut, durch den Rahmen von Gewohnheit,

Erziehung und gesellschaftlichen Zwängen.

Unangenehme Dinge ereignen sich nun mal.

Menschen gefällt es nicht, unglücklich zu

sein oder ärgerlich. Man kann lernen, sich

für Kummer nicht niederzumachen. Peinliche

Dinge möchten viele gern vermeiden, und

Gewalt ist verpönt. Auf der anderen Seite

kommen wir tagtäglich in Situationen, die

nicht einfach sind. Umgebung und die notwendigerweise

anzusteuernden Stationen

auf unserem Lebensweg, weil einiges unserer

Vergangenheit uns festlegt, bestimmen den

Lebensweg mit und beschränken unseren

Willen und unser Geschick zum Glück.

Manchem reicht banaler Zwang, um in der

Behörde durchzuknallen: Ich benötige vielleicht

einen neuen Personalausweis, weil

der abgelaufen ist? Schließlich ist der Ausweis

in der Ausgabestelle der städtischen

Behörde eingetroffen. Ich gehe (am Folgetag

nachdem ich darüber informiert wurde) auf

das Amt und hole den neuen Personalausweis

ab. Es gibt genug Beispiele dieser Art,

bei denen wir verpflichtet sind, etwas zu tun.

„Ohne Krankenversicherungskarte ist man

kein Mensch“, sagte mir einmal der vertraute

Arzt, das war ironisch gemeint? Unser Wille

wird gern beschworen, aber die anderen um

uns herum wollen auch einiges. Oft können

wir uns dem nicht entziehen. So ist es wenig

verwunderlich, dass sich Situationen

zuspitzen, weil eine beteiligte Person von

einer dumpfen Umgebung unbemerkt an ihre

Grenze und darüber hinaus verschoben wird.

Die allgemeine Gesellschaft: Sie möchte gar

nichts dafür können, wenn jemand aus der

Haut fährt?

Auch sonst (in der Medizin und anderswo)

gern getan, der pseudodetektivisch kluge,

aber isolierte Blick: Zwei Bandscheiben verkeilen,

und doch ist die ganze Wirbelsäule

schlecht gehalten, warum sehen wir nur die

schadhafte Stelle an? Ein einzelner Mensch

wird zum Fehler vom Dorf schlechthin hin

vorverurteilt. Jeder kennt ihn, und jedes Dorf

hat einen Apfelfestbomber oder Reichsbürger.

Niemand der integrierten anderen will

irgendwie dran mitschuld sein, sagt mit

Überzeugung, das ist er: der Spinner. Was

tun? Zu lernen ist, sich das Ausrasten selbst

nicht so übel zu nehmen. Eine gewaltfreie

Welt ist nicht erreichbar, war nie da und wird

nie sein. Sie ist weniger als eine Utopie, sie

ist schlichtweg eine dumme Ideologie, mit

der man kleine Mädchen in die Klapse treiben

kann. Verurteilen ist leicht, verstehen

ist schwieriger. Die Gefängnisse sind stets

gut gefüllt, und fragen Sie mal rum, die

meisten finden das gut. So viele Gute leben

Seite an Seite mit mir, die würden nie in die

Lage kommen, gerichtlich verurteilt und gar

weggesperrt zu werden. Sie sind sich scheinbar

sicher: „Das hat sie (die!) auch verdient“,

meinen viele, wenn das Gespräch auf einen

bekannten Fall kommt. Bei näherer Bekanntschaft

fallen Verurteilungen wackliger aus.

Nicht jeder hat gleich einen Mörder oder eine

Hochstaplerin Anna im Bekanntenkreis. Aber

eine depressive Mutter, den manischen Onkel,

der im Zwang auch mal ernsthaft Geld verbrennt

oder ein anderes irgendwie inkorrektes

Mitglied, das gibt es in jeder Familie. Ein

auffälliges Kind, das kommt vor. Ich möchte

in Erinnerung rufen, dass wir alle Menschen

kennen, die Anlass dazu geben, nachzufragen

warum etwas so ist: bei mir oder uns. „Warum

ich, warum bekomme gerade ich so ein

Kind“, sagt eine Freundin, „in ganz Hamburg

ist niemand mit diesem Gendefekt. Deutschlandweit

ein paar nur, so selten ist es. Und ich

wusste nicht einmal, dass ich das habe, warum?“

Das sagt sie mit normaler Stimme, aber

für mich klingt es wie ein Schrei. Du darfst

schreien, denke ich.

Anderen scheint weniger wichtig, warum irgendetwas

ist, sie leben einfach. Wenn wir

uns jedoch fragen „wie“ wir etwas machen,

bedeutet es genau zu beobachten und dem

Sachverhalt nachzuspüren. Wer zu fragen

beginnt: Wie kommt das? macht die überraschende

Erfahrung, näher an die Antwort auf

die Frage zu gelangen: Wie kann das sein?

und das ist beinahe ein: Warum nur? Wie

male ich ein großes Bild? Es mag wie Haarspalterei

scheinen, wie und warum auseinanderzuhalten.

Warum lebe ich, warum wurde

ich in Wedel geboren, warum regnet es, so

etwas lässt sich nicht gut beantworten. Wie

ich beim Malen vorgehe, ich kann mich das

fragen und eine einigermaßen treffende Antwort

finden. Wenn ich darauf achte, wie ich

etwas mache, komme ich dem eigentlichen

Grund warum ich’s tue näher. Ich weiß, wer

ich bin, was ich kann und was nicht. Kenne

meine Position, meine aktuelle Richtung und

erinnere, wo ich hergekommen bin. Es gibt in

einem Buch von Max Frisch diesen (wiederkehrenden)

Satz: Ein Mann (oder jemand, das

erinnere ich nicht so genau) hat eine Erfahrung

gemacht, wo ist die Geschichte dazu?

Das habe ich gelesen als ich jung war. Das

ist doch ein Widerspruch, hat da jemand sein

Gehirn zuhause liegen lassen? Wenn ich eine

Erfahrung mache, weiß ich was ich erlebte.

Nur wer sein Erleben reflektiert kann das in

Erfahrung verwandeln, und die anderen bleiben

eben doof, sie erleben bloß. Das ist doch

gerade, was den reifen Menschen vom Idioten

unterscheidet. Ich muss wissen, wie es

war – und dann erst erfahre ich mich selbst.

Frisch will uns hinters Licht führen, so sind

Schriftsteller. Er behält seinen Scheiß für sich

und möchte trotzdem petzen, das ist es.

Heute verwende ich Leinwände, die ich fertig

bespannt und weiß grundiert im Fachhandel

kaufe. Ich habe mehrere Bilder im

Format 100 x 120 cm gemalt, sind das große

Bilder? Klar, man kann größere Formate

bemalen, und einige kommen über 30 x 40

cm zeitlebens nicht hinaus. Größe ist relativ.

Als ich das Bild „Schenefeld Dorf“ malte, in

tatsächlich 70 x 120 cm, war ich schon stolz,

das geschafft zu haben. „Wer soll denn so

ein großes Bild kaufen“, meinte meine Mutter

dazu. (Das Bild wurde verkauft). Ich habe

schon im Text „Warum malen?“ zu begründen

versucht, wie sich mein Antrieb, überhaupt

zum Malen gekommen zu sein, herleiten lässt

und ein wenig befriedigendes Textfragment

fabriziert. Klar, ich war seit meiner Kindheit

talentiert, bin dabei geblieben, meiner Neigung

treu geblieben, malend schließlich dort

angekommen, wo ich nun bin.

Kommen wir zum wie, und da kann ich erzählen,

dass ich im Studium an einem Bild

in ungefähr dieser Größe, mehr als einen

Meter breit und hoch, gescheitert bin. Dieser

„Schinken“ (so nannte meine Oma ein großes

schwer gemaltes Ölbild, wie es vielleicht bei

irgendeinem Onkel im Wohnzimmer hängt)

steht umgedreht im Keller des Hauses meiner

Eltern und wird möglicherweise bald

einer Entrümpelung zum Opfer fallen. Inzwischen

scheitere ich nicht mehr am Format,

alle späteren großen Bilder wurden fertig.

Man muss es wirklich wollen. Diese nicht

wirklich zu erforschenden Gedanken warum

ich male, mischen sich hartnäckig in solche

hinein, die pragmatisch beschreiben, wie ich

das mache, warum? Insofern, ich habe das

schon angedeutet, halten wir einen Schlüssel

zu unserem Herzen, zu unserem Selbst in der

Hand, wenn wir dieses Denken als nützliches

Instrument besserer Orientierung begreifen.

Die Bewusstheit meines Tuns ist mein individuelles

Navi.

Ich könnte einfach behaupten, na ja, links

oben fange ich an zu malen und rechts unten

in der Ecke bin ich nach drei Wochen fertig,

Mai 14, 2019 - Du musst es wirklich wollen? 9 [Seite 9 bis 12]


so ist das. So ist es aber nicht. Eine Antwort

auf die Frage, wie ein Bild von mir gemalt

wird, lässt sich nur mit der Beschreibung

meiner täglichen Motivation weiterzumachen

erklären und den Strategien, mich in

diesen Zustand zu versetzen. Was muss ich

typischerweise anstellen, um etwas an dem

Bild zu tun, und was bedeutet das praktisch

auf der Leinwand? Schwer zu sagen. Sie sehen

schon, es macht mir Umstände, eine genaue

Antwort hinzubekommen. Es braucht

einen ganz persönlichen Grund für das jeweilige

Bild. Etwas, was ich nicht gut mit Worten

sagen kann, und genauso für mein Durchhaltevermögen

das Bild fortzumalen, über viele

Wochen. Anerkennung und Geldgewinn sind

kein Grund, es geht tiefer.

Der Kauf der Leinwand bei Boesner ist einfach.

Da ist alles fertig abgepackt, man muss

nur an die kleinen Keile denken, die sind

extra, und man bekommt sie in genügender

Menge so dazu. Man kann zu Jerwitz gehen,

wenn es einem bei Boesner nicht gefällt und

bestimmt gibt es noch andere gute Anbieter

fertig grundierter Leinwand. Zu Beginn

malte ich auf Holz, Tischlerplatte aus dem

Baumarkt, und die Rückseite dieser Platten

habe ich ebenfalls angemalt, damit das

Holz nicht krumm wird. Dann habe ich diese

Bilder mit Aluminiumleiste gerahmt, wie

ich es von Otto Ruths gelernt habe. (Otto

war mein wichtigster Prof. und Freund). Das

große Bild im Keller, das aus dem Studium,

dieses Ding, das ich nicht zu Ende brachte,

ist auf einem selbst zusammen montierten

Keilrahmen gemalt, den wir in einzelnen

Leisten bei Jerwitz einkauften. Dazu gab es

einen großen Lappen echter Leinwand, und

die haben wir unter fachkundiger Beobachtung

von Almut Heise mit dem Keilrahmen

verbunden, wir haben sie angetackert. Dann

wurde mit weißer Wandfarbe grundiert. Ich

machte eine Skizze, bevor ich malte, und die

Professorin bewertete diese so: „Gut. Ohne

Vorbereitung klappt es nicht. Aber zu exakt

darf die Skizze nicht sein. Sonst erlebt man

auf dem Bild nichts mehr.“ Darin steckt wieder

diese Befürchtung, dass bei zu genauer

Vorbereitung etwas vorweg genommen wird,

die Motivation das eigentliche Bild umzusetzen

beschädigt und weiter die Weisheit, dass

das Malen so befriedigend ist, weil du dabei

etwas erleben kannst. Du kannst haben, dass

du dich selbst überrascht, weil einige formale

Lösungen erst während der Arbeit im Prozess

der Herstellung erschaffen werden. Auf der

anderen Seite führen viele Wege nach Rom.

Mancher bereitet sich gern gut vor und ist

grad deswegen kreativ, jemand anderes darf

sich nicht festlegen, um die Inspiration nicht

zu gefährden.

Auf meine Unsicherheit wie vorzugehen sei

gefragt, antwortete die Professorin Heise:

„Sie müssen eben überall mit allen Farben

malen.“ Ihr Kollege Otto Ruths entgegnete:

„Gut ist auch, den Farbton für speziell eine

bestimmte Stelle exakt zu ermitteln.“ Was

ich wie einen Widerspruch begriff, muss das

nicht sein. Heute mache ich’s so: Ich male

fleckig, mit reichlich verschiedenen Farben

wie ein Impressionist und verdichte im Prozess

allmählich, bis ein nahezu einheitlicher

Ton ermittelt ist. Es muss noch leben. Kleine

Durchblicke lassen den Blick unter die farbige

Fläche zu. Es sind Augen: Sie erzählen die

Geschichte ihrer Entstehung. Ein wenig Buntheit

bleibt rhythmisch verstreut stehen. Das

heißt korrekt: das malerische Prinzip.

Netterweise muss ich meinen Professor

Grossmann erwähnen, der machte das zum

Selbstzweck. Pünktchen malen, nannten wir

das leider abwertend. Weitere Namen führen

zu weit, ich bin nicht mehr Student. Annamaria

Rucktäschel. Gero muss seinen Platz

bekommen, gewürdigt als Professor, Mensch

und Freund: Bei Gero Flurschütz studierte ich

„Informative-Illustration“ und gelangte zu einem

Diplom. Was immer das heißt.

„Ich will sehen, ob ihr das Bild schafft, oder

das Bild euch“, sagte sie, die feine Almut Heise,

die im Nachhinein wichtigste von allen, und

sie sagte auch solche Sachen: „Das Gemälde

muss für diesen Zweck mindestens einen Meter

breit und hoch sein, eventuell noch ein

wenig mehr. Nicht zu klein. Malt ein Familienbild,

Menschen die ihr kennt. Stellt eine

Gruppe auf. Die müssen real zeitlich, wann sie

lebten oder noch leben, so gar nicht zusammen

gewesen sein. Malt eine fiktive Gruppe,

auch stilistisch, ihr könnt so oder so malen,

denkt darüber nach, was ihr eigentlich wollt.

Die Gesichter sollen groß und gut erkennbar

sein. Aber nicht größer, als ein Gesicht in der

Natur ist. Porträts, die größer als wirkliche

Gesichter gemalt sind, machen keinen Sinn.“

Niemand malte sein Bild zu Ende. Wir waren

alle voller Begeisterung angefangen. Frau

Professorin Almut Heise saß, kaum mal mit

uns redend, schon zeitweise mit im Raum,

trank vielleicht ein Bier (aus der Flasche), las

etwas. (Eine wunderschöne Frau, manchmal

gab sie Geschichten zum Besten, und wir haben

sie auch in ihrem Atelier besucht).

Wir durften auch zu allen möglichen anderen

Zeiten in den Raum, wenn etwa keine Vorlesungen

sonst wo stattfanden. Und das nutzten

wir, nach ein oder zwei Semestern am

Bild irgendwie, um einer nach dem anderen,

klammheimlich, jeder mit mehr oder weniger

eingekniffenem Schwanz, unser Bild nicht

recht fertig gemalt, nach Haus zu nehmen.

Wir umschifften das Thema bei späteren Treffen.

Susanne fing in der Werbung was an zu

machen, ich illustrierte (weit unter meinem

Talent) die Zeitschrift Yacht (am Computer).

Dass ich heute male, verdanke ich so sehr

dieser lieben Almut Heise, das weiß ich jetzt.

Man muss es also wollen, sonst schafft man

so eine Fläche nicht. Zum Wie gehört der innere

Antrieb, und den muss ich starten können.

Der Beginn für ein neues Bild, ist bei mir

dort zu suchen, wo ungefähr das aktuelle Bild

fertig wird. Natürlich gibt es Überschneidungen.

Man denkt ja in einem fort. Bevor ich auf

der Leinwand beginne, bereite ich mich vor.

Wenn ich die Leinwand auf die Staffelei stelle,

zeichne ich mit Bleistift ein Raster darauf

und übertrage vorher entworfene Elemente

nach Plan. Ich male nicht drauf los. Ich möchte

spontanes Tun nicht abwerten: Man kann

toll in der Natur schaffen. Ich mache was ich

mache, weil es mir so gefällt und nicht weil

es die richtige Methode ist. Ich kenne die

richtige Art, ein Bild zu malen, nicht. Ich habe

ohnehin kaum Malerei studiert oder gelernt.

Ich kann wirklich gut zeichnen, und da weiß

ich genau, warum und wie und alles, was du

wissen willst. Malen ist mir die autodidaktische

Selbstbefriedigung. Das kann ich nicht.

Das mache ich, so gut es mir eben gelingt.

Ich male nicht einfach ein Foto ab. Ich möchte

eine Geschichte erzählen. Ich möchte etwas

sagen, aber nicht mit Worten. Ich möchte,

dass ich mein Bild schön finde! Mir liegt

nichts am rumgeschredder mit Spachtel oder

so. Ich löse eine ästhetische und thematische

Problemstellung, erforsche, wie ich etwas

ausdrücken kann, was ganz genau mich betrifft

und deswegen auch andere. Ich fange

bei mir an. Ich frage nicht: „Was könnte interessieren?“

Ich beginne dort, wo es mich nicht

mehr loslässt. Auch zu beschreiben ist, dass

jedes Bild auf vorangegangene Bilder folgt

und insofern ein Fahrwasser meines Lebens

abgesegelt wird, eine Entwicklung. „Mal doch

mal deine Familie“, sagte meine Freundin

(nicht die mit dem Kind) abschließend – und

ging „ganz weit“ weg; das klang so doof für

mich, nach allem was war – gar nichts begriffen!

Jetzt ist der thematische Rahmen ungefähr

erklärt, zugegeben so, dass nicht all zu viel

gesagt ist. Aber die Inhalte sollten ja ästhetisch

transportiert sein, da muss ich’s nicht

haarklein schreiben? Ich habe eine Idee, ich

skizziere eventuell, beginne Fotos zu machen,

suche passende Fotoelemente im Internet,

und ich montiere am Computer eine

Arbeitsgrundlage für das Bild. Dann übertrag

ich das per Bleistift und mit Pauspapier,

nachdem ich ausdruckte, auf die Leinwand.

Ich verwende eine dunkle Farbe, wie Indigo

oder Vandyckbraun und fange damit an, Teile

der Zeichnung malerisch konkret werden zu

lassen. Wenn etwas nicht so treffend gelingt,

beginne ich mit weiß zusätzlich.

Nun kommt es drauf an, wonach mir ist,

schwer zu begründen; es kommt vor, dass

ich inselhaft einen kleineren Teil farbig recht

vollständig ausführe und den Rest der Leinwand

einfach weiß stehen lasse oder ich

sehe zu, möglichst zügig eine Art Untermalung

überall hinzubekommen, so dass das

Ganze recht fertig wirkt. Das mache ich mal

so, mal so. Wichtig ist, nicht überall gleichzeitig

etwas anzufangen. Etwa, als würde man,

nachdem man sich ein renovierungsbedürftiges

Haus gekauft hat, ausgestattet mit einem

großen Traum, wie das alles mal werden wird,

übernehmen. Man saniert in jedem Raum nur

einen Teil, und das selbstgeschaffene Chaos

ist schließlich erdrückend. Besser ist es, einen

Fußboden fertig zu verlegen, sagen wir

im Wohnzimmer. Du kannst alle Fenster übermalen

und anschließend machst du die Küche.

Schlecht wäre, den neuen Fußboden an

einer Stelle ein wenig anzufangen, parallel in

die Küche zu gehen, mit einem Teil der Arbeit.

Die alten Tapeten etwa: sie werden an einer

Wand halb runtergekratzt oder drei Kacheln

versuchsweise abgeschlagen, aber dann seid

ihr erschöpft! Ihr könnt den Laden nicht mehr

sehen. Mit einer Vision von neuer skandinavischer

Frische brecht ihr auf. Ihr kauft im Sonderangebot

vier Farbeimer mit Schwedenrot

im Baumarkt, und deine Freundin malt mit

Tränen vor Glück wie alles werden wird ein

Fenster links vorn der Straßenseite rot an.

Das kann so in der Vielzahl der begonnenen

Baustellen im Messiehaus enden!

Deshalb ist die Grundregel: Ein Bild muss

immer fertig sein. Das ist wichtig. Fertig bedeutet,

am jeweiligen Tag genau so lang zu

malen, bis etwas dasteht das morgen oder

nächste Woche, wenn ich wieder dazu komme

weiterzumachen, gefällt (und Anreize gibt

wieder loszulegen). Wenn ich wieder dran

gehe genauso: Wo ist das Bild gerade jetzt

noch am schlechtesten? Wo ist die aktuell

schwächste Stelle? Dort zu malen, dazu muss

man sich eventuell zwingen. Es ist nicht gut,

eine gute Stelle immer besser zu machen. Es

kann schwierig sein, diesen nötigen Ort an

Mai 14, 2019 - Du musst es wirklich wollen? 10 [Seite 9 bis 12]


dem man sinnvollerweise weiter malt, auf

der Fläche genau zu lokalisieren. Wenn du

dir aber recht sicher bist, findet sich auch die

starke Motivation, genau hier voranzukommen.

Immer gut arbeiten, schnell voranmachen,

was ist nun richtig? Sei gründlich. Es ist

schlecht, eine Sache hinzupfuschen, im Gedanken

das reicht erstmal. Schlechte Stellen

sind schlecht und ziehen alles runter. Dazu

musst du wissen, was du genau als schlecht

empfindest, das ist wichtig!

Da kommt irgendwann der Punkt: Mein Bild,

jetzt kann es nicht mehr weg! Wie soll ich das

sagen? Es gibt auf dem Weg fertig zu werden

auch Zweifel. Manchmal eine schlimme Sache,

wer gibt es gern zu? Das sind so Schwierigkeiten,

man hat einen Sinn dafür, wie das

Auge des Betrachters den Elementen auf der

Fläche gern folgen möchte, Schwerpunkte

und Spannungen durch die

Richtungen und thematische

Kanäle einer Bildidee geleitet

zu werden, und spürt wenn es

Fehler in dieser Logik gibt.

Das ist beinahe eine unbewusste

Angelegenheit, eine

Art Denken direkt in Farbe

und Form. Nun möchte man

Stabilität, und so wie es beim

Segeln einer Regatta heißt,

die Schläge auf die Luvtonne

müssen immer kürzer werden,

muss man dem Bild als Ganzes

zielführend zuarbeiten.

Effektivität bedeutet einen

Rohling vom Bild zu erwirken,

der schon gut funktioniert. Es

beginnt Spaß zu machen, darauf

herumzuschauen. Das ist

wohl, wenn überall Farbe ist und einigermaßen

exakte Form, es sieht nicht gepfuscht aus,

ist noch gut zu steigern, wir freuen uns drauf,

farbliche Spannungen bald gekonnt ausreizen

zu können, wie eine gute Trimmung des

Segels, aber es fährt auch so schon gut los.

An einem Bild viele Tage oder Wochen arbeiten?

Das ist nicht die Abiturklasse im

Kunstleistungskurs. Ein ganz eigenes Bild zu

erfinden, ist nicht das Kulturhaus soundso,

das einen Wettbewerb zum Thema „x“ ausruft

(so etwas ist nur für spätberufene KünstlerInnen

befriedigend). Man kennt sich irgendwann.

Das wird entscheidender, als Bilder zu

verkaufen. Wie ich lebe, wird wichtiger als

die Existenz an sich. Ich kümmre mich drum,

gleich dem Seemann, der sagt: „Eine Hand

fürs Schiff, eine für dich selbst.“ Wie finde

ich mein Thema, was ist ein originaler „Bassiner“?

Ich versuche exemplarisch, irgendwo

einzusteigen. Erzähle, wie „Verwurstete Heimat“

entstand oder „Schöne Worte“, um dann

die komplizierten Strukturen anzudeuten, die

heute bei mir in Bewegung kommen. Und

die einfachen Anfänge motivischen Denkens

vom Beginn, das deute ich auch an.

Ich arbeitete damals Tag für Tag in einem Beschäftigungsverhältnis

das später unter dem

Begriff „Schein-Selbständigkeit“ einzuordnen

war, kann sein, dass es daran scheiterte? So

fing ich unvernünftigerweise an zu malen. Ich

malte aus dem Fenster raus den Hinterhof,

malte einen Leuchtturm und noch einen nach

einem Foto aus einem Buch, und als ich ein

wenig von diesen Sachen hatte, stellte ich in

einem Café aus. Ich aquarellierte im Urlaub

und stellte aus. Ich verkaufte an Freunde, ich

begann fleißiger zu werden und traute mich

an größere Bilder ran. Ich mal(t)e mit Acryl,

weil es einfacher ist als Ölfarbe. Man benötigt

nicht das Lösungsmittel und hat keinen Geruch

und nicht das Problem der Entsorgung,

und das Malen selbst ist einfach, es schlägt

nichts weg. Wenn es nach mir ginge, könnte

die Acrylfarbe gern etwas länger offen sein.

Ich verwende den Retarder standardmäßig.

Das mit dem Holz habe ich irgendwann zugunsten

typischer Leinwand gelassen, aber

Otto Ruths sagte treffend: „Das lappert nicht.“

Holz ist schon fein als Prinzip, das hat was.

Es ist so ein Prozess, Lehrermeinungen hinter

sich zu lassen.

Ich kann sagen, dass meine ersten Bilder thematisch

nahe an naiver Malerei und im Hobbykunst-Sektor

angesiedelt waren, mir fiel

nichts anderes ein. Allmählich kam ich auf

die Vorlieben persönlicher Inhalte, und dabei

bin ich konsequent geblieben. Als ich „Schöne

Worte“ umsetzte,

ging das

darauf zurück,

dass ich diesen

Spruch eines

extra-schicken

Mädels zu ihrer

Freundin: „Warum

müssen

hässliche Menschen

heiraten?“

aufgeschnappt

habe (zufällig

im selben Waggon,

mit meinem

Sohn in

der Hamburger

un-

Hochbahn

terwegs).

Die Mädels waren noch an der Grenze zum

Erwachsenwerden oder knapp darüber, und

ein Jungesellenabschied bahnte sich (buchstäblich

im Zug) an, aber von recht normalen,

männlichen Mitdreißigern. Das waren wohl

weniger die erhofften Traumprinzen der Teenies.

Mir kamen die vor wie Piet, Klaus und

Schampus, meine Segelfreunde; Tellkamp,

Nielsi, was weiß ich? Welche wie wir, nicht

„Brad Pit“. Einer musste „Kleine-Feiglinge“

verkaufen, und alle waren mit grünen T-

Shirts lustig angezogen. Spießer auf Mutprobe

für einen Tag. Die süßen und schicken

Teens saßen tuschelnd einige Plätze entfernt

und bewerteten die alten, bärtigen und wenig

gepflegten Jungs (die sicher gestandene

Männer im Beruf waren) abfällig. Wir stiegen

gemeinsam aus.

Ich fand die Mädchen scharf. Ich dachte an

meine eigene Hochzeit, die schon zurück

liegt, und ich bin ja lang verheiratet. Ehrlich,

ich wäre nie der Traummann einer so attraktiven

und begehrenswert, schnuckeligen Lütten

gewesen (und werde es aller Wahrscheinlichkeit

nie werden). Ich bin kein Wendler.

Diese Szene in der Bahn, weiter über den

Ausgang Hoheluft oder so, irgendwo oben,

wo die Hamburger U-Bahn draußen auf Stelzen

geht, wurde die Grundlage für mein Bild.

Natürlich habe ich die beiden (mich so erregenden

jungen Frauen / und zur Peinlichkeit

meines Sohnes) noch angequatscht, bis hinunter

an die Bushaltestelle, wo langverheiratete

Senioren und zwei von oben bis unten

in pechschwarzen Klamotten, mit allerlei

Sicherheitsnadeln an mutwilligen Rissen zusammengehalten

und im Gesicht mit reichlich

Piercing übel vernagelte, tätowierte und

glücklich verschmuste, fette Punks standen.

Daraus ein Bild zu schaffen, denn die reale

Situation hätte man höchstens erzählen oder

als Film darstellen können, war eine Herausforderung.

Den Hauptbahnhof wählte ich, um

eine breite Bühne zu schaffen. Nur eines der

praktischen Probleme. Eigentlich ist das Bild

schwach; gegen alles, was mir damals durch

den Kopf ging. Perfektion, ich bin immer noch

weit weg, vom möglichen kreativen Ziel und

kann mich meinen Idealen noch lange annähern.

Das ist doch gut, nicht wahr? Das ist

eine grundsätzliche Motivation.

„Verwurstete Heimat“, ich war mit der Jolle

unterwegs, allein, ein schöner Sommerabend.

Ich segelte nett unter Spi dahin, hatte die Pinne

bequem festgebunden, saß mehr vorn an

Deck, auf dem Platz, wo für gewöhnlich der

Vorschoter wirkt und steuerte nach Gewicht,

ich kann das. Ich war etwa auf der Höhe der

„Geheimnisinsel“ vor Fährmannsand, als die

„Barmbek“ elbab ging. Ein Containerschiff,

nicht besonders groß. Heimathafen „Monrovia“

stand am Heck; der war also ausgeflaggt.

Gleichzeitig kam gerade die Debatte um die

„Deutschland“ auf: Ein Schiff mit diesem Namen

auszuflaggen, das ging dann sogar dem

Kapitän zu weit, weil das doch einigermaßen

seltsam klingt, wenn statt Neustadt in Holstein

(oder so) der Heimathafen auf den Bahamas

(oder was weiß ich) ist.

Blankenese, wie kamen die Würste in das

Bild? Das ist schon schwieriger zu erklären.

„Alles sollte persönlich sein“, sagt Meg Ryan in

einem Film, Neapel lässt grüßen. Meine ganz

eigenen Fragen werden zu Bildern: Kann eine

gute Pizza wirklich nur Euro 3,95 kosten?

Auch „Zeitgeister“ ist kompliziert und „Malen

hilft“ wird nicht mehr gezeigt! Grenzen sind

welche, und das ist auch gut so. Ich habe die

Signatur aus der Leinwand geschnitten, bei

„Vorsicht Startbahn!“ genauso. „Mal kurz für

immer“, Willy hat es wohl weggeworfen? Im

Schredder der Pinneberger Kriminalpolizei

geendet, nehme ich an. So viele Mauersteine

umsonst für nix gemalt. Umsonst sei der Tod

heißt es. Den eigenen Tod zu überleben, ist

so unglaublich, wie an Christus zu glauben.

Im Moment male ich „Gurken und Rosen“, und

wir müssen mal schauen, auf welcher Seite

der Grenze von wem das Bild später ist. Ich

bin nun in der glücklichen Lage, Bilder für

mich allein zu malen, frei vom inneren Druck,

mich irgendwo um eine Ausstellung zu bewerben.

Die Freiheit ist im Kopf. Abhängig ist

jeder; aber selbst im Knast bist du frei, wenn

deine Gedanken dir selbst gehören.

Einige praktische Dinge: Schön ist, wenn

das Licht von links kommt. Gut ist, wenn

keine Sonne draufknallt, auf die Leinwand

(und es trotzdem schön hell ist), und bei

Lampenlicht finde ich es doof zu malen. Ich

habe normale Beleuchtung, und die ist mau

und gelb im Vergleich zum Tageslicht. Blöd

ist, wenn der Stuhl irgendwo hängen bleibt,

ich unversehens zurückrollend den Tisch abramme,

versehentlich das Malwasser umstoße,

und blöd ist meine Frau, wenn sie saugt

während ich male (weil der Lärm penetrant

nervt, auch wenn das von unten nur entfernt

aus dem Erdgeschoss zu mir ins Dachoberstübchen

tönt). Doof ist, wenn unbemerkt die

gelegentlich mit Retarder frisch angerührte,

zufällig recht flüssige Farbe an einer Stelle

unbemerkt von der Palette rutscht. Sagen

wir, das „Kadmiumrot-hell“ flutscht mir als

Ganzes von der in meiner Hand unbewusst

leicht schräg gehaltenen Farbmischplatte

auf die Hose, und ich merke das nicht. Das

Mai 14, 2019 - Du musst es wirklich wollen? 11 [Seite 9 bis 12]


hatte ich schon, auch einmal mit dem bösen

„Permanentgrün-hell“. Permanent bescheuert

ist diese Farbe! Sie weiß nie, was ich von ihr

will und hat eigene Teufel in sich. Auch wenn

ich versuche, exakt zu mischen: Nie ist irgendwas

richtig.Immer muss ich ein weiteres

Mal korrigieren, das dauert. Und dann noch

schlitternde Farbfladen? Es kommt darauf

an, welche Farbe gerade oben oder unten

auf der Palette angeordnet ist (die ich in der

linken Hand, den Daumen im dafür vorgesehenen

Loch platziert halte), und das mache

ich je nach dem Plan, was ich heute schaffen

möchte, verschieden. Die oberen Farben rutschen

auf der Palette zur Mitte, und manchmal

rutscht auch gar nichts. Man rührt das

nicht immer gleich, auf die selbe Art zusammen,

und es ist auch mal kalt, mal warm. Das

Wetter, der Sommer und solche Sachen.

Auf meinen Bildern kannst du was erkennen,

und das ist auch gut so. Ich möchte gegenstandslose

Bilder nicht abwerten, aber für

mich ist es nichts. Ich muss auch nicht wetteifern

damit, wie fotorealistisch ich bin, im Vergleich

mit was weiß ich. Ich muss es schaffen,

mein Thema auf den Punkt zu bringen, und

da kann ich mir selbst nicht bei in die Tasche

lügen. Ich höre erst auf, wenn ich fertig bin.

Was genau mein Thema ist, auch das ändert

sich während der Bildfindung, leider. Was ist

schon der eigene Wille, wenn der liebe Gott

immer mitmalt, das kann nur begreifen, wer

genau sein will und perfekt. Da kommt dann

immer was dazwischen. Darum ist es wohl

Kunst und nicht Wullst. Denn der menschliche

Wille – er ist beim stärksten Künstler am

kleinsten wohl.

Schenefeld im Mai 2019

Mai 14, 2019 - Du musst es wirklich wollen? 12 [Seite 9 bis 12]


Wir sind noch selbst die Natur

Jul 24, 2019

Nordkirche: Erstmals weniger als zwei Millionen

Mitglieder, Schenefelder Tageblatt

vom Sonnabend, 20. Juli 2019 – „Wofür der

christliche Glaube steht, ist für viele Menschen

nicht mehr verständlich“, sagte gestern

die Landesbischöfin (…), Kristina Kühnbaum-

Schmidt, heißt es dort.

Das liegt wohl daran, dass die Kirche sich als

eine soziale Institution unter vielen anderen

zeigt. Ist Religion grundsätzlich sozial, also

an erster Stelle gemeinschaftlich zu begreifen,

wir sind die Weltbessermacher? Oder

sollte die Kirche nicht idealerweise auf den

einzelnen Gläubigen (innerhalb der anderen)

schauen, dem Menschen Orientierung sein,

einen guten Weg als Möglichkeit aufzeigen?

Wenn suggeriert wird, es sei bereits durch

die Mitgliedschaft belegt, der Gemeinschaft

der guten oder sogar besseren Menschen

anzugehören, kann dieser hohe Anspruch

leicht verfehlt werden. Wenn sich die Kirche

mit sozialen Hilfsorganisationen gleichstellt,

gerät sie in die bekannten Probleme solcher

Institutionen. Besinnt sie sich stattdessen

auf ihre eigenen Werte, nämlich Menschen

in eine verbesserte Welt erst hinführen zu

wollen, muss diese Gemeinschaft nicht fertig

oder perfekt sein. Das hieße Schwäche innerhalb

der Kirche zuzulassen. Eine quasi offene

Gemeinschaft innerhalb der Gesellschaft.

Wenn Pastoren und Priester annehmen, als

Hirte nur den weißen Schafen vorzustehen,

bilden die anderen außerhalb eben eine größer

werdende eigene Herde aus, und die ist

möglicherweise nicht einmal schwarz, sondern

bunter und vielfältiger.

Viele Menschen (und nicht die schlechtesten)

sind da, die sagen: Wir können gut und

menschlich sein, auch ohne die Rituale einer

Kirche, und die beweisen es uns Tag für Tag

so nebenbei. Sie tragen die Gesellschaft ohne

viel Aufhebens. Sie treten für sich ein, machen

ihren Weg, helfen unspektakulär wenn es mal

passt. Dafür benötigen sie kein Ehrenamt. Es

ist ihr Selbstverständnis abzugeben, wenn es

noch für andere langt. Sie geben dem Bettler,

nehmen ihn aber nicht mit in ihr Haus. Sie

öffnen sich, und setzen doch eine Grenze, sie

sind gesund. Wir folgen ihnen gern, sie sind

in der Kirche, sie sind nicht in der Kirche, das

ist nicht wichtig. Auf der anderen Seite gibt

es Menschen, die krank werden am Anspruch

kirchlicher Gebote. Sie beten, sie missionieren

uns, sie nerven – sie sind erkennbar nicht

gesund. Es ist eine Wahrheit, dass manche

besser dran sind, die überkommene Glaubensdogmen

ablegen konnten. Vielleicht

tut uns eine schlanke Kirche sogar gut? Gott

selbst kann niemand abschaffen, wenn er um

uns herum wahrhaftig da ist. Lassen wir es

doch drauf ankommen!

Wir finden immer wieder neue, machtorientierte

Bosse ohne Skrupel, die innerhalb

der Gesellschaft wirtschaftlich kraftvoll aufsteigen.

Es gibt wohl schon Menschen, die

sich deutlich über das Gesetz stellen und

dennoch mehr und mehr Macht um sich

versammeln können. Jedenfalls ist das eine

Annahme, die durch zahlreiche Skandale in

Wirtschaft und Politik immer wieder neue

Nahrung erhält. Wenn die christliche Predigt

diese Leute nicht sozial mäßigen kann und

eher durchsetzungsarme Mitglieder eine

Glaubensgemeinschaft bilden, entsteht das

Bild einer schwachen Kirche. Das wäre eine

Gemeinschaft der Ohnmächtigen. Die Bibel

zeichnet ein anderes Bild. Der Gläubige

scheint dort auch unterlegen in schwierigen

Lagen und gewinnt erst allmählich innere

Stärke, kommt gerade durch Zweifel, Skrupel

und eigene Fehler zu einem besseren Selbst.

Vielleicht muss der moderne Gott suchende

Mensch akzeptieren, dass es Zeitgenossen

gibt, die ihn scheinbar mühelos beiseite

drücken und feist-zufrieden konsumieren?

Das sieht nach frechem Glück aus! Wer ohne

Glaube befriedigend leben kann, ist besser

dran, als ein Mensch, der glaubt Ansprüchen

genügen zu müssen, an denen schon einige

zerbrochen sind. Wir wollen doch nicht feist

und frech sein, wir wollen nicht gemobbt und

verarscht werden. Das ist eine Herausforderung:

Wer lernte anderen wehzutun, als das

Ergebnis der Überlegung, ich kann jetzt auch

tun wie die anderen, erlebt Befriedigung

darin nur, wenn er den Hass grundsätzlich

kultiviert. Muss zulassen, alle Sensibilität gegenüber

der früher selbstverständlichen Empathie

zu vergessen, als wäre eine Denkweise

ausgestorben, wie eine Tiergattung auf unserem

Planeten. Das faszinierende, sich selbst

in diese Richtung gehen zu lassen, ist den

Punkt innerer Umkehr zu bemerken – etwa,

wie ein frustrierter Ehepartner in langjähriger

Ehe nach einiger Zeit bemerkt, dass sein

Maulen nun nicht mehr nützt. Wenn der Rat

darin bestünde, nutze deine Ellbogen ohne

Gewissen, und es dazu keine Alternative gibt,

dann wäre die Welt ein Spielball der Asozialen.

Das ist sie aber noch nie gewesen.

Glaube kann frei machen, und dafür muss die

Kirche offen bleiben, mutig gegenüber sinkenden

Mitgliederzahlen, sich auf den Kern

ihres Wesens besinnen. Jesus Christus, dieser

langhaarige Spinner (so wie wir es von den

Gemälden kennen), dieser Aufrührer damals

in Jerusalem (nicht wenige werden ihn so

gesehen haben), den der Mob angeklagt und

schließlich angenagelt hat, unser Messias!

– der war anders. Er stand vor dem Tempel,

nicht auf der Kanzel drinnen, er mauerte sich

keinen Dom; er hat solange geredet, gepredigt,

bis einige genug hatten. Der hatte zum

Schluss nicht nur sinkende Mitgliederzahlen,

der hatte so viele „Daumen runter“, dass er

gekreuzigt wurde und starb.

Das wirkt bis heute nach.

Da sind wohl einige, die nicht glauben wollen,

dass der Heiland anschließend noch herumspazierte,

schließlich locker und zufrieden

angesichts seines Gesamtkunstwerks mit Vaters

Gnade in den Himmel aufgefahren ist.

Allein die Beschreibungen der letzten Tage

und Stunden im Leben vom Mann aus Nazareth,

regen bis heute immer wieder dazu an,

dargestellt zu werden. Im Film oder durch die

wiederholten Lesungen in den Kirchen. Es erschüttert

noch immer. Das ist der Mensch!

Vielfältig motivierte Demonstranten, wie

auch die zur Kirche gehörenden Bischöfe,

zeigen sich solidarisch mit den Rettern der

Flüchtlinge im Mittelmeer. Sie ziehen sich

eine leuchtend rote Schwimmweste über.

Hilft uns das? Das kann auch eine locker umgehängte

Maske sein, denn wir selbst bleiben

ja sicher an Land dabei. In Italien leben

Menschen. Irritierend ist das dünne, leicht

als fadenscheinig erkennbare Mäntelchen,

mit dem sich selbst für gut und besser Erklärende

gern behängen. In den verschiedenen

Leitungsämtern der Politik und den Kirchen

(manchmal) und natürlich überall in den Medien,

wenn wegen „irgendwas“ ein Aufschrei

durch die Nation geht. Wie an jedem Stammtisch.

Eine gute Predigt muss kreativ stark

sein, nicht nur im Chor harmonieren: Ich bin

auch dafür, wo die dagegen sind, und aus sicherer

Distanz leicht mal „dabei“ mitschwimmen-

und schwingen.

Jesus Christus gab sich ganz und gar hin, er

verkörperte seine Mahnung so sehr, dass er

zum Opfer der Welt um ihn herum wurde.

Er wich der persönlichen Gefahr nicht aus,

sprang quasi selbst ins Meer, um die Menschen

da heraus zu fischen. Und um bei diesem

Bild zu bleiben, weil es zum Weiterdenken

animiert und wir es in die heutige Zeit

projizieren können: Jesus fischte Menschen,

und da waren auch aggressive, wie gefährlich

zuschnappende Haie dabei. Es stimmt, dass

andere schuld sind. Aber wir sind selbst doch

auch die anderen, bitte. Was auch immer

ungerechtes weltweit medial uns erreicht,

reflexartig reagiert eine breite Palette sozial

sich engagierender Menschen. Das rote

Kreuz, die Seawatch, Greenpeace, der weiße

Ring, die Gewerkschaften und die großen Kirchen,

sie unterscheiden sich marginal. Etwa

wie die „guten“ Parteien in der Politik, bei

denen derzeit die grüne Farbe im Trend vorn

liegt. Konkurrieren evangelische und katholische

Kirche, wie SPD und Linkspartei, ist Gott

rot, schwarz oder grün?

Das Problem: Jede Organisation trägt das

Risiko in sich, innerhalb des Systems auch

Fehler zu machen, z.B. Korruption oder Missbrauch,

Ausbeutung der Mitarbeiter, während

man nach außen hin zu den sich für gut erklärenden

Personen gehört. Sind Menschen die

an Gott glauben nur eine Organisation, wie

jede andere Firma und Verein oder verbindet

sie der Glaube und deswegen eine innere

Stärke, die durch die Kirche lediglich einen

Rahmen findet, zum Gebet mit anderen? Die

feste Burg, das ist doch nicht das gemauerte

Gotteshaus. Die Kirche: Ein Vereinshaus, das

soll das nur sein?

Im Spiegel der Welt: Gerade hier könnte die

Kirche sich als von Gott beauftragt unterscheiden.

Sie könnte sich profilieren, im für

sie einzigartig möglichen Unterschied zu jeder

beliebigen sozialen Institution, dadurch,

dass sie sich nicht als eine weitere Polizei

präsentiert. Anprangern kann jeder. Gott vergibt

dir, aber seine Kirche nicht? Der Missbrauchsskandal

in der katholischen Kirche

wird nie befriedigend geklärt werden und

die Opfer werden nie gebührend gewürdigt

und nichts davon wird je umfassend wieder

gut gemacht werden. Das geht gar nicht. Und

nach dem Missbrauch wird immer vor dem

Missbrauch sein.

Jede Schule, Kindergarten, Sportverein und

Kirche, werden immer der Ort sein, wo Menschen

ausgenutzt, vergewaltigt werden. Jede

Psychiatrie birgt das als eine reale Gefahr in

sich. Alle sozialen Vereine für jungen Menschen,

Pfadpfinder, Jugendtreffs. Die Orte,

wo Jugendlichen ohne Orientierung oder die

bereits Opfer von Gewalt geworden sind, geholfen

werden soll, sind zugleich die Anlaufpunkte

für Erwachsene mit dem zwanghaften

Wunsch, sexuelle Macht auszuüben. Das

nährt jede Institution bedrohlich in sich, wie

Unkraut im Garten, ein Aspekt der menschlichen

Natur (wie ja auch immer neue Kriege

losbrechen). Das ist unabhängig von Glaube

Jul 24, 2019 - Wir sind noch selbst die Natur 13 [Seite 13 bis 16]


und Kirche zu verstehen; obwohl Missbrauch

dort natürlich den Zorn der sich von Gott verlassen

fühlenden Menschen noch anfeuert.

Wir sind schwach und böse. Ob ein Mensch

nun Teil der Gläubigen ist oder nicht, spielt

keine Rolle. Es gibt keine „guten“ Menschen.

Ein gesamtgesellschaftliches Problem. Ein

(noch) aktueller Bericht illustriert, wie leicht

Missbrauch bagatellisiert wird, nicht nur wie

z.B. gerade heute in den Nachrichten, bei den

Regensburger Domspatzen in Kirchenumgebung.

Tagesschau Investigativ / Das Portal für die

Recherchen der ARD

MONITOR: Missbrauch im Saarland, Nikolaus

Steiner, WDR, 24.06.19

Universitätsklinikum des Saarlandes/Möglicher

Kindesmissbrauch in etlichen Fällen

Über Jahre soll ein Assistenzarzt im Universitätsklinikum

in Homburg etliche Kinder

sexuell missbraucht haben. Laut Monitor-

Recherchen wurden die betroffenen Eltern

nicht informiert, obwohl das Klinikum schon

Anzeige erstattet hatte. (…) hat ein Assistenzarzt,

der zwischen 2010 und 2014 am Universitätsklinikum

des Saarlandes in Homburg

tätig war, in einer Vielzahl von Fällen intime

Behandlungen an Kindern vorgenommen, die

medizinisch nicht erforderlich waren. Der Klinik

lagen dabei schon früh Hinweise auf eine

pädophile Neigung des Mediziners vor. Die

möglichen Opfer und deren Eltern wurden

jedoch selbst dann noch nicht in Kenntnis

gesetzt, als die Uniklinik Ende 2014 Strafanzeige

gegen den Arzt stellte und die Staatsanwaltschaft

Saarbrücken wenig später ein

Ermittlungsverfahren einleitete.

(…) hatte an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie

Hunderte von Kindern behandelt.

Die Behandlung intimer Körperzonen gehörte

eigentlich nicht zu seinen Aufgaben.

Nach Recherchen von Monitor ergab eine

stichprobenartige Überprüfung der Behandlungsakten

durch den Klinikdirektor, dass 95

Prozent der Behandlungen (…) medizinisch

nicht indiziert waren. Wie viele Patienten betroffen

sind, ist bis heute unklar. Außerhalb

des Klinikums war der Tatverdächtige in der

Jugendarbeit tätig. Auch hier gab es Hinweise

auf sexuellen Missbrauch – die Dimension ist

jedoch unklar. (…)

Der Assistenzarzt ist im Jahr 2016 plötzlich

verstorben. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft

Saarbrücken wurden daraufhin

eingestellt. Auch in der Folge wurden andere

mögliche Opfer offenbar nicht informiert.

(…) Eine Anwältin betroffener Eltern,

die durch Zufall von den Vorkommnissen

erfahren hatten, wandte sich im April 2019

an den Ministerpräsidenten des Saarlandes,

dessen Staatskanzlei als Aufsichtsbehörde

für das Universitätsklinikum fungiert. Dort

kam man daraufhin zu der Entscheidung, nun

doch einen Teil der betroffenen Eltern über

die Missbrauchsvorwürfe in Kenntnis zu setzen.

(…) MONITOR: Missbrauch im Saarland/

Nikolaus Steiner, WDR 24.06.2019 07:36 Uhr/

Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk

am 24. Juni 2019 um 06:18 Uhr.

Mich hat erschüttert, als dieser Fall im Fernsehen

lief, wie rational und überzeugend ein

Mitarbeiter darstellen konnte, warum man

das seinerzeit nicht öffentlich gemacht hatte:

„Wir haben uns gedacht, wir schützen die

psychisch schwachen Kinder auf diese Art.

Die werden einfach angenommen haben, so

etwas gehörte zu der ihnen helfenden Behandlung

dazu, weil es ja ein Arzt war, der

das machte.“ Psychisch Kranke sind so doof,

die merken nix? Waren nur Kinder, und wir

sind erwachsen, wir sind Arzt.

Missbrauch im Gotteshaus ist nur der zufällige

Ort, an dem es geschieht. Der Kirche Heuchelei

vorzuwerfen und deswegen auszutreten,

bedeutet sich selbst außerhalb der Glaubensgemeinschaft

als den besseren Christen

darzustellen. Das ist intellektuelle Akrobatik,

mehr nicht. Wer sich auf diese Art profiliert,

beschneidet sich um das gemeinschaftliche

Glaubenserlebnis in einem Kirchenraum bei

einer Andacht. Nimmt sich die tiefe Geborgenheit

durch das christliche Miteinander

bei wesentlichen Lebensereignissen, Heirat,

Taufe, Konfirmation, und Beerdigung von Angehörigen.

Ganz schön kurzsichtig.

Gewalt ist Realität und besser ist doch, daraus

eine Kraft für eine menschlichere Gesellschaft

zu formen, als so zu tun, als ob man

etwas verstünde, was in Wirklichkeit keiner

kann. Niemand ist einfach so mal gut. Das

hängt sehr davon ab wo und an welchem

Ort der Welt und mit welcher Geschichte im

eigenen Gepäck der Mensch seinen Lebensplatz

hat. Und von der jeweiligen Situation.

Es ist leicht, mangelnde Zivilcourage anzuprangern,

wenn wir einen Vorfall in den

Medien kommentieren, aber schwerer ist

es, mutig zu sein, wenn der Moment es erfordert.

Schon immer haben Männer Frauen

vergewaltigt und werden es weiter tun. Es ist

ein natürlicher Unterschied, dass ein Mann

einen Penis hat, hart wie eine Waffe, wenn

er es so versteht, und die Frau eine natürliche

Öffnung an dieser Stelle ihres Körpers.

Es ist ein natürlicher Fakt, dass Männer in

der Regel kräftiger sind, und seit je haben

Soldaten, nachdem sie eine Stadt eroberten,

die Frauen im Ort vergewaltigt. Schon immer

haben Menschen, denen Macht über andere,

auch über Kinder zugefallen ist, das ausgenutzt.

Zu allen Zeiten haben inselhafte Gruppen

der Gesellschaft Raum für Missbrauch

gelassen und werden das weiter tun. Warum

so tun, als ob das alles eines schönen Tages

nicht mehr ist, so tun als ob du als Verkünder

dieser neuen Welt die Macht hast, das Unheil

an sich abzuschaffen oder es bei dir selbst

nicht existiert? Das können nur ganz naive

Menschen glauben. Die Kirche wird nur ernst

genommen, wenn Sie nicht wie ein Feuer

schwenkende Schamane oder als betakelter

Ordensonkel daherkommt. Glaube darf gern

real sein und handfest.

Ist die Kirche vielleicht ein zahnloser Tiger?

Gibt es eine spürbare Macht des Glaubens, wo

ist die Stärke zu finden bei denen, die glauben?

Kann ein gläubiger Mensch kraftvoll für

etwas stehen und ist deswegen in der heutigen

Zeit (noch) echter Bedarf dafür? Manche

tun alle Wunder der Bibel als Märchen ab.

Andere versuchen sich noch zu retten, wenn

wieder ein Forscher die geschichtliche Wahrheit,

anders als im biblischen Geschichtenbuch,

widerlegt, indem sie uns die Kraft der

Bilder dieser Texte beschwören. Ist da nun

eine praktisch nutzbare Fähigkeit, eine wirkliche

Macht, so wie eine Art Energiestrom

im Film „Krieg der Sterne“, eine anwendbare

Manipulation des Geschehens für einen irdischen

Skywalker auf dem Boden der Realität

unserer Moderne? (Manche suchen noch).

Die moderne Demokratie, der erkämpfte

Rechtsstaat heute: Raum für Kirche, Platz

für Glaube? Mahnt der Gläubige, greift er

ein, leistet er passiven Widerstand und auf

der anderen Seite, wo geht ein gläubiger

Mensch gern mit, sagt: „Ja!“ – mal davon abgesehen,

dass Religionen verschieden sind?

Wie geht der moderne Mensch mit seinen

Raum greifenden Kräften, nachdem wir nun

Jahrtausende lang Zeit hatten, uns kennen

zu lernen, um? Ich habe gegoogelt: Die Legislative

ist in der Staatstheorie neben der

Exekutive und Judikative eine der drei – bei

Gewaltenteilung voneinander unabhängigen

– Gewalten. (Wikipedia). Hier ist das Wort Gewalt

als anerkannte Kraft legitim. Wir haben

sie aufgeteilt.

Üben auch Gläubige Gewalt aus? Ist es erlaubt,

und wenn, auf welche Weise legitimiert?

Islam, Christentum – es scheint nicht

einmal klar, was die jeweilige Religion ihren

Anhängern genau auferlegt oder freistellt.

Wir diskutieren das immer wieder neu. Ganz

unabhängig davon, bleibt ja eine übergeordnete

Sinnfrage, ob Gott selbst in das Geschehen

auf Erden und im Weltall eingreift,

frei nach Einstein: „Gott würfelt nicht.“ (Albert

Einstein war Physiker). Ein großer Sinn

scheint nicht für alle gleich gut als eine Art

Zweck des Lebens erkennbar, wir hätten das

inzwischen bemerkt. Ein brutaler Serienmörder,

getrieben in perverser Lust, ein verheiratet

und vergleichsweise brav im System

mitlaufender Automechaniker, mit durchschnittlichem

Anspruch an seine Umgebung

– wir können nicht erkennen, dass sie gleich

sind. Der Mensch bleibt blind gegenüber seinem

Sein. Und muss doch handeln.

Gewaltverzicht ist eine grundsätzliche Forderung

des Christen an sich selbst, und heißt

das, es gelingt nach Ansage? Es ist wohl schon

gruselig, was ein Polizist heute tun muss, sich

zu tarnen, um das Schlimmste zu beenden.

Genauso gruselig finde ich, wie sehr der

Staat in unser aller privatestes Heim schaun

kann. Denn der Staat (handelt er so auf richterlichen

Verdacht) – das sind Menschen wie

du und ich, deine Nachbarn im Dorf (unter

Umständen). Die Kirche könnte im Verständnis

einer ganzen Welt deutlich machen, dass

Fehler vergeben werden können. Die Kirche

könnte zeigen, dass auf Gewalt zu verzichten

schwierig ist, weil die Welt voller Gewalt ist.

Es könnte uns eine Herausforderung sein,

unsere eigenen Fehler zu bemerken und vor

uns selbst zuzugeben. Es kann bereichern zu

spüren, wie sehr unser Ärger, unsere Wut und

Zorn auf die, die uns verletzen, uns nun wiederum

zum gleichen Hass führt.

Etwas zu merken ist eine Chance, die innersten

Regungen zu vermeiden dagegen riskant.

Es wäre eine einmalige Chance für die Kirche,

die Menschen zu lehren, auf ihre Bösartigkeit

zu verzichten. Als eine Herausforderung, eine

Aufgabe. Nicht, indem mit dem Finger auf

andere gezeigt wird, wie jeder es kann, sondern

durch eine Schau ins eigene Selbst. Ein

gläubiger Mensch bist du in der Erkenntnis

deiner Fehler und deinem Zorn auf andere,

aber eben nicht in der Idee, du wärest ja bei

den Guten (im Register eingetragen) und

kämpfst allein deswegen (bekanntermaßen)

gegen das Schlechte. Dann wäre durch das

Glaubensbekenntnis allein alles böse Tun

in dir nicht länger vorhanden und dir somit

unmöglich? Erfolgreiche Gehirnwäsche zum

saubersten und grundgütigsten Menschen?

Jul 24, 2019 - Wir sind noch selbst die Natur 14 [Seite 13 bis 16]


Ein riskanter Irrtum bis zu dem Moment,

wo du, gesellschaftlich gesehen, komplett

versagst. Das ist schon vorgekommen. Viele

können sich gar nicht vorstellen, was ihnen

mit ihrer aggressiven Hände und Füße Kraft

möglich ist wie jedermann, und das bedeutet,

wie mit einer Tüte über dem Kopf, Vogel

Strauß zu spielen. Die Leute gehen in ein

Kino, schauen James Bond mit der Lizenz zum

Töten an, der weiß was er tut, der darf das?

Dann ist der Film aus, und die „Tagesschau“

ist ihnen der gleiche Film? Man schaut nicht

länger fern, wir sind stattdessen modern im

Netz unterwegs? Wir wissen Bescheid? Das

Leben ist kein Film. Nicht im Kino, nicht in

der Zeitung, nicht im Fernsehen und nicht im

modernen Internet sind wir.

Wir sind noch selbst die Natur.

Nicht zuzuschlagen und trotzdem frei zu

sein, ist schwierig. In einer Gesellschaft von

gruppenweise verkleisterten Opportunisten,

bedeutet Gewaltlosigkeit nur zu oft eine Art

„kalten“ Krieg gegen jedermann zu führen.

Wer nicht politisch korrekt durchhält und

ausrastet, verliert. Kein Wunder, dass Empathie

und Hilfsbereitschaft zum Marktwert

verkommen. Alle sind nur Prostituierte, wenn

gut zu sein wie ein Wappen ist, mit dem wir

uns maskieren.

Warum treten Menschen aus der Kirche aus?

Wohl kaum, weil sie eingesehen haben, dass

sie selbst jeden Tag ungerecht sind, zu ihrem

Nächsten und nun aufgeben, nach dem Motto,

diese Kirche, sie ist zu anspruchsvoll für mich.

Denken die: Das sind hier alles Gut-Profis neben

mir in der Bankreihe, ich habe unter der

Woche einfach nicht die Zeit dafür, weiter zu

üben, um dieses Level noch neben den Profi-

Gläubigen am Sonntag halten zu können, die

werden bald merken, wie verdorben schwach

und schlecht ich in Wirklichkeit bin, besser,

ich trete schnell aus? Die Menschen wissen

gar nicht was und wie sie etwas tun, sie machen

das, was andere machen.

Möglicherweise ist es eine Anspruchshaltung:

die Kirche, die Vereinsleitung, die Politik,

mein Chef, der Arzt, sie geben mir nicht

genug? Das Ergebnis unserer Konsum gesteuerten

Welt? Ich bezahle euch, also gebt

mir die Befriedigung die der Herr Jesus uns

einst versprochen hat? Das ist nirgends verkehrt

außer in der Kirche. Du gibst dich hin

und bekommst dafür, Glaube ist (wir erinnern

uns) andersherum. Was geben Menschen an,

gefragt warum sie ausgetreten sind? Meinen

Eltern war unter anderem die Kirchensteuer

ein Grund. Sie hatten ein Geschäftshaus gebaut,

waren Kinder des Wirtschaftswunders,

dieser Erfolg zeigte sich so in den achtziger

Jahren, als meine Schwester und ich erwachsen

wurden. Bei kraftvoll anwachsenden

Verdiensten, gleichzeitig den an jeder Ecke

flott steigenden Abgaben zündete ihr Argument:

„Das auch noch zahlen?“ durchaus im

Bekanntenkreis. Wir traten alle vier in kurzem

Abstand aus. Wir fanden das zeitgemäß.

Die verschiedenen Konfirmationen hatten

noch traditionell die Qualität unserer Familie

als gut integriert illustriert. Sie lagen

aber einige Jahre zurück, die Oster- und Weihnachtsfeste

waren bereits kirchenbesuchsfreie

Konsumtage geworden, da gingen wir

leichthin fort. Hat sich das ausgezahlt? Mein

Vater begann zu schimpfen, das machen ja

viele, wenn sie älter werden und es kommt

nicht so sehr darauf an, worauf. Heuchelei

warf er „den Pfaffen“ vor, parallel vermutete

er, die Katholische Kirche wüsste etwas vom

Sinn und Zweck der Welt, ein großes Geheimnis

etwa, wäre im Vatikan gespeichert. So wie

der seinerzeit populäre Erich von Däniken

sich einigermaßen sicher ist, dass wir von

Ausserirdischen besucht wurden.

„Wi lev nich op de erste Welt“, habe „der Alte“

(der bereits verstorbene Vater von meinem

Vater) immer gesagt, und das sollte wohl

noch unterstreichen, dass Papa Willy Bassiner

(genauso wie die Pfaffen in Rom) Dinge gewusst

hatte, die man „uns“ nicht sagte. Bassi’s

Vater war im Krieg nach Spanien strafweise

abkommandiert, nach Internierung. Sein Vergehen:

er hatte lautstark öffentlich gegen

Hitler gewettert: „Dat gift Kriech, de Mann

hat n’ Schaden. In der Mittelmeerfahrt hatte

er (angeblich) einige Heldentaten vollbracht,

als Kapitän des (großen) „Fortiedtje“, einem

(behauptete mein Vater) landesweit bekannten

Hochseeschleppers. Inzwischen überlege

ich, war es vielleicht: „Four Tides“ oder etwas

in der Art?

Maritime Meisterleistungen und Zivilcourage.

Denken wir an Käpt’n Blaubär, der Döntjes

erzählt. Nachts: Im Feuersturm der englischen

Flugzeuge, steht La Spezia in Flammen!

„Kaptein“ Bassiner, „de veerantwortliche

Schipper“ im Geleitzug, löppt mit de

ihm anne Siet gestellten Tankschiffen nich’

ein! Befehlsverweigerung: Kriechsgericht!

Dor kümmt noch bi, he hätt’ de Flak eigenmächtich

wedder afbaut, de se em an denn

Vorsteeven geschruuft harn. Willy har’ dütt

finstre Kriechsgerät e-nfach över Boord

’kippt! He wullt partut nix to doon hebben,

mit denn unmenschlichen Kriech. (Er verhinderte

die sichere Zerstörung vom Geleitzug,

da er erkannte, dass es im Dunkel der Nacht

leicht war, den Angriff auf See unbemerkt abzuwarten,

ging mit ihm anvertrauten Tankern

erst im Morgengrauen in das völlig zerstörte

La Spezia).

Held der zivilen Fahrensleute im Hitler-

Krieg! Er konnte den auf Schiet gelaufenen

Frachter von der Sandbank holen, nachdem

drei spanische Marineschlepper es nicht

schafften. So wurde er im ganzen Land berühmt

(behauptete mein Vater). Der Alte, auch

an Land unerschütterlich, damals: Er hatte,

unten in Spanien, einmal einen Riesenberg

mit goldigem Bargeld, angehäuft auf einem

Tisch, ausgeschlagen. Vorschuss für ein dubioses,

mafiöses und mit der ortsansässigen

Kirche verstricktes Geschäft. In einer Machtund

Wutdemonstration seiner Ehrbarkeit und

Nichtkäuflichkeit, gleich einem betrunken

tobenden Kapitän Haddock, wenn er den Säbel

gegen einen imaginären, roten Rackham

schlägt, hatte er den gesamten Tisch umgestoßen.

Das ganze viele Gold: es kullerte

durch den Raum über den Fußboden. Mit einem

Krachen stürzte der schwere Tisch den

erschrockenen Mafia- und Kirchenpaten vor

die Füße! Das erzählte uns mein Vater gern.

Er war ja nicht dabei. Es blieb dieser Eindruck,

manche wissen mehr, und man sagt es uns

nicht. Vertrauensverlust, vielleicht war das

ein Grund auszutreten? Glaube ist wohl über

das Selbstvertrauen hinaus auch das grundsätzliche

Vertrauen in das Dasein überhaupt.

Die Welt muss einen festen Boden bieten, damit

ich meinem Selbst Dinge zutrauen kann.

Sollte ich vorab sagen, dass ich John Steinbeck,

Conrad, Irving, Böll, Frisch, Watzlawick,

Popper – wirklich alles, was Rang und Namen

hat, rauf und runter gelesen habe, wenn ich

behaupte: Erich von Däniken ist nie blöd

gewesen, der kann schon in der Tradition

von Thor Heyerdahl verstanden werden, das

sind Forscher mit dem Mut, eigene Wege zu

gehen? Sie konnten sich auch selbst damit

finanzieren, weil ihre Ideen plakativ sind.

Was ist schlecht daran? Die Wissenschaft tut

gern wichtig, wenn angestammte langjährige

Fakten hinterfragt werden. (Däniken hat das

Niveau eines Boulevard-Journalisten). Raumfahrt,

wo ist Gott – Verschwörungen? Als zum

Jubiläum der Mondlandung noch einmal der

Start einer Saturn V im Fernsehen lief, habe

ich geweint und mitgefiebert wie damals.

Es wurde auch klar, dass man das nicht faken

kann. Thor Heyerdahl hat sich ernsthaft

forschend und mutig auf seine Fahrten begeben.

Däniken hat mich zumindest mit der

Grabplatte vom Kukumatz nachdenklich machen

können.

Was auch immer war – aus der Kirche trat ich

nicht aus, weil ich nicht glaubte. Mein Grund

war der persönliche Zorn, alleingelassen zu

sein. Weniger von Gott als von meinem Pastor:

Knuth ging nach Afrika, fand die Not dort

größer als in Wedel und kam zurück, um Jutetaschen

auf unserem Marktplatz feilzubieten.

„Jute statt Plastik“, war sein Motto. Wenn

man bedenkt, wie lange das her ist, modern.

Es gab also keinen geregelten Konfirmandenunterricht.

Am Ende einer vollkommen

unstrukturierten Zeit, wurden wir konfirmiert.

Der Pastor hatte sich anfangs der Konfirmandenzeit

einmal vorgestellt, skizziert, was das

Evangelium eigentlich wäre und jedem von

uns eine „Gute Nachricht“, das ist eine halbe

Bibel, in die Hand gedrückt. Er trat erst wieder

an uns heran, als der Tag der Feierlichkeiten

kam: „Meine Hilfe kommt vom Herrn, der

Himmel und Erde gemacht hat.“ Das wurde

mein Konfirmationsspruch. Heute würde ich

sagen, der Herr war weit hinter dem Pluto

in anderen Welten ernsthaft verhindert, und

Pastor Knuth tat wichtige Dinge in Afrika.

Kaum betreut vom jungen Diakon Werner, las

ich einmal in der Woche irgendein Buch der

kircheneigenen Bibliothek weiter, während

der Vertretungspastor in einem Nebenraum

auch irgendwas machte. Es gab dort jede

Menge primitive Sexual-Anleitungs-Bücher!

Wenn ich wieder in der Schule war, musste

ich meinen Freunden Jens und Lenzus neue

Wörter, die ich nun kannte und ihre Bedeutung

(petting), erklären.

„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, das war damals

neu. Es ist ziemlich dick. Ich habe es

ganz gelesen, das war mein Konfirmanden-

Unterricht. Vielleicht habe ich deswegen nie

Drogen genommen, war nie für Geld bei einem

Mädchen; als ich im vergangenen Jahr

nun gelegentlich geschäftlich in St. Georg

unterwegs war, ständig angesprochen, ist mir

das wieder richtig bewusst geworden: „Na,

hast du Lust …?“

Mein lieber alter Vater wurde später stark depressiv.

Sein Traum durch „ranklotzen“ recht

bald arbeitsfrei Rentner zu sein, renommierend

herumzulaufen damit, in der Bahnhofstraße

oder am Yachthafen, ganz frühzeitig

die Arbeit generell aufgeben zu können und

nun nur noch segeln zu gehen, kam nicht

leicht in Gang. Erst allmählich wurde das

besser. Mit dem Auto, mit Bus und Freunden

Jul 24, 2019 - Wir sind noch selbst die Natur 15 [Seite 13 bis 16]


unterwegs, lange Reisen mit der Segelyacht;

nach und nach fanden meine Eltern noch zu

einigen guten Jahren. Wir Kinder wechselten

nicht stilsicher in das Erwachsenenleben,

meine wiederkehrenden psychischen Erkrankungen

waren doch kaum zu verbergen

und niemand war stolz drauf. Das verdiente

Geld aus unserem Haus und Geschäft finanzierte

und unterstützte mich in wechselnden

Lebenslagen und meine Schwester in wechselnden

Berufen. Wenn meine Hilfe in dieser

Zeit vom Herrn kam, dem, der Himmel und

Erde gemacht hat, dann habe ich sie nicht

wahrgenommen.

Warum trat meine Mutter aus? Weil mein

Vater nicht mehr in der Kirche sein wollte,

ihm zuliebe? Das hat sie gesagt, als sie schon

krank war. Als Kind hat meine Mutter Karl

May rauf und runter gelesen, so begeistert,

dass sie eines schönen Tages zur allgemeinen

Belustigung in der Schule von den anderen

Mädchen mit einem „Großen-Karl-May-

Orden“ aus Pappe behängt wurde. Gerade in

dem Moment, als die Deutsch- und Klassenlehrerin

den Raum betrat. Peinlich. An einer

Schule, die das Abitur zum Ziel hatte, galt

der reißerische und streckenweise doch sehr

schlichte Stil von May nichts, da konnte „der“

deutsche Volksschriftsteller schlechthin, trotz

seines großen Erfolges, nicht punkten. Karl

May hatte es sehr mit dem Glaube, das zieht

sich durch alle Bücher. Ich habe die auch vollständig

gelesen. Heute würde ich sagen, dass

das durchaus bedenklich ist. Es hat mich in

einer Weise geprägt: Ich wollte nie wahrhaben,

dass Old Shatterhand eine Erfindung ist!

Ich glaubte alles. Möglicherweise später ein

Problem in anderen Lebensbereichen? Warum

meine Schwester austrat, kann ich nicht

sagen. Unsere Wege sind schon verschieden!

Wie wäre eine Familie gewesen, die ich gemocht

hätte?

Meine Mutter führte penibel und fleißig Buch

im familiären Betrieb, sie blieb hart, stark und

für sich allein auch ganz bestimmt glücklich,

bis sie schließlich krank wurde und schnell

verstorben ist. Mein Vater folgte bald darauf.

Ihm fehlte jeder Sinn, er sah gar keine Zukunft,

er blieb einfach im Bett liegen, bis er

wund und verhungert und voll mit Wasser in

der Lunge hustend endlich tot war. Ich saß

am Bett, das war ja gar nicht auszuhalten.

Er hatte nicht die Kraft, ein letztes Eisen in

einen weißen Wal Moby Dick zu schleudern

und mit einem Fluch auf den Lippen, angetakelt

und verheddert, verstrickt und gefesselt,

an seinen ganz eigenen Riesenfisch zu versaufen,

wie Ahab. Eine gottlose Familie?

Ich bin wieder in die Kirche eingetreten, habe

meinen Frieden mit mir und dem lieben Gott

gemacht, gefunden. Wir haben die Eltern beerdigt.

Das konnte ich nicht tun, ohne Gott

um Verzeihung zu bitten, und meine Mutter

ging gern, begleitet vom afrikanischen Pastor

und Freund Siaquiyah Davis. Er war unersetzlich

an unserer Seite in schwerer Zeit.

Meinen Vater haben wir still in kleinstem

Kreis beerdigt. Er wollte nicht zurück: Kein

klares Bekenntnis für unseren Herrn konnte

ich ihm entlocken. Und so habe ich seine

Urne selbst über den Friedhofsweg getragen,

nachdem ich auch einige Worte an die wenigen

Trauergäste gerichtet hatte. Ich folgte

dem ernsthaften und professionellen Bestatter.

Ich habe die Urne behutsam in das kleine

Erdloch gesenkt, wie ich es bei Siaquiyah, als

meine Mutter gegangen war, gesehen hatte.

Da ist eine Schlaufe aus dünnem Band

dran befestigt, und du musst aufpassen alles

langsam und geschickt und würdevoll zu

tun, damit nicht noch ein Malheur am Grab

passiert.

Wenn so viele Menschen gar nicht spüren,

was genau ihnen gut tut und wie sehr sie

manches kränkt, dann könnte die Kirche die

möglicherweise noch schwarzen Schafe doch

wie mit einem Spiegel blenden und beleuchten,

so dass das Licht Gottes sie weiß erstrahlen

ließe und sie sich nun hier zum ersten

Mal wohlfühlen? Eine blonde wunderschöne

Carola Rackete funkelt mit ihrem zupackenden

Mut wie eine Fackel der ungebrochenen

Hoffnung auf Rettung und Menschlichkeit, an

Bord im Mittelmeer als Seawatch-Kapitänin.

Sie ist eine amazonenhafte Heldin, hell am

Himmel der Sterne unserer Ideale, wie das

(beinahe) namensgleiche Feuerwerk, dass

wir abfeuern, wenn wir stolz auf uns sind.

Das möchten wir! sein. Wir ziehen eine

Schwimmweste über und demonstrieren. Wir

ziehen einen Zaun zum Reihenhausnachbarn

und prozessieren.

Gut sein und mit Lob belohnt? Wenn du das

willst, kannst du zu unzähligen anderen Vereinen

gehen, nicht zuletzt auch zur Polizei.

Die Kirche ist doch kein Verein! Wo ist die

Kraft des Glaubens, wenn die Pastoren sich

fragen müssen, warum ihnen weniger zuhören?

Ein Prediger sollte wie ein Bettler sein.

Jesus wurde doch verurteilt und öffentlich

gekreuzigt, Seite an Seite mit angeklagten

Verbrechern. Einige Dislikes dürfte der barmherzige

Messias da seinerzeit bekommen

haben. In dieser Tradition stehen wir Christen.

Wer richtet denn? Das steht uns nicht zu,

das ist die Aufgabe von denen, die sich das

zutrauen, bitte. Nehmt es an, ihr Pastoren,

Bischöfe und Bischöfinnen. Ertragt, dass sich

welche abwenden und bleibt an Bord vom

Kirchenschiff. Und wenn das irgendwann nur

noch ein kleines Boot ist. Es ist nicht zu erwarten,

mit Geld überschüttet zu werden und

mit dem Geschenk, unterhalb der Kanzel von

einer großen Menge bewundert zu sein, wie

ein Superstar, wenn man Glaube predigt, was

denkt ihr denn?

Einen Weg innerhalb der Gesellschaft finden,

das eigene Selbst zu formen und mit mehr

als einer gekauften Individualität aus dem

Baukasten dastehen: wie das geht? Das sollte

Kirche aufzeigen. Und das kann sie auch.

Menschen wenden sich ab, zum goldenen

Kalb, und? Das ist kein neues Problem. Die

Schöpfung an sich als verfehlt ansehen? Sich

erst zufrieden zu geben, wenn gar nichts

Böses oder Falsches mehr getan wird? Das

hieße, gegen Fehlverhalten so gründlich

siegen zu wollen, dass der Friede auf Erden

eventuell erdrückend und unmenschlich widernatürlich

würde, wie sich’s niemand vorstellen

kann. Eine so vollkommen künstlich

geregelte Welt, das wir uns darin kaum zurecht

finden. Wir hätten wohl gar nichts zu

tun? Könnten nichts lernen in einer Welt, die

keine Fehler, keine Unterdrückung und keine

Schmerzen kennt. Die in der Bibel an mancher

Stelle vorausgesagte neue Weltordnung

ist als wohltuend endlich beschrieben. Das

ist außerhalb unseres Begreifens.

Die schwedische Klima-Aktivistin Greta

Thunberg hat sich gegen Kritik gewehrt, sie

sei ein „Guru der Apokalypse“ und verbreite

Angst und Schrecken. Ein Zusammenbruch

des Bekannten in Überbevölkerung, Klimahitze

und Chaos ist beschreibbar! Eine göttliche

Endzeitwelt, in der alles ewiglich gut ist,

nicht. Warten wir einfach ab? Der Eintritt in

eine neue Welt kann doch nur wie das Aufwachen

aus einem Traum geschehen, da warten

wir auch nicht. Wir taumeln durch, bis wir

klar begreifen, es ist morgens. Dann wissen

wir für gewöhnlich, was nun zu tun ist. Wir

stehen auf, gehen ins Bad usw.

Worin besteht das höhere Gericht? Kirche

kann lehren, wie Glaube neue Wege aufzeigt,

nachdem der bisherige Kurs des Lebens abgesegelt

ist. Eine See- und Landkarte. Die

Vorstellung einer draußen und oben von

uns übergeordneten Macht, wird sich vernünftigerweise

innen Wege bahnen, uns lehren

und führen auch dort, wo jeder Weg zu

ende scheint. Wenn die alles stabilisierende

Weltordnung nicht kommt, bleibt nach wie

vor die Suche nach dem inneren Frieden

inmitten des umgebenden Chaos möglich.

Natürlich ist ein funktionierender Staat, wie

wir ihn haben, kein Chaos. Aber in den Köpfen

einzelner richtet das alltägliche Gewusel zumindest

zeitweilig soviel Unordnung an, dass

der Ausweg doch einfach darin besteht, das

Vertraute im Normalen wieder zu erkennen

und zur Ruhe zu kommen. Wahrscheinlich

ist doch, dass wir im Zuge der Klimaveränderung

vor Problemen stehen, die insgesamt

so komplex werden, dass die Not des Einzelnen,

sich zu orientieren ohnehin in den Focus

rückt. Da bleibt genug Raum für Glaube und

Religion. Wie sieht denn ein ewiges friedliches

und eventuell jenseitiges Leben aus, wo

wird das sein? Ich glaube, das ist genau hier:

Da wo wir sind.

Gott zum Gruße! Bleiben wir fröhlich und

finden zu neuer Gelassenheit, nach Enttäuschung

und Zorn, dem Begreifen eigenen

Versagens.

Schenefeld, 24. Juli 2019

Jul 24, 2019 - Wir sind noch selbst die Natur 16 [Seite 13 bis 16]


„Wir schaffen das!“

Aug 5, 2019

Nicht zittern: „Alles Leben ist Problemlösen“,

Karl Popper. In großer Klammer vereint der

Philosoph das menschliche mit jeder anderen

Form des Lebens. Wir müssen nur einen

Tierfilm ansehen, um zu verstehen. Irgend ein

strubbeliges Wesen steckt die Nase aus dem

Loch, baut am Nest rum, wuselt geschäftig

um die Höhle, man kennt das. Vielleicht wird

Nachwuchs versorgt. Eventuell kommt eine

böse andere Gattung daher und schafft echte

Probleme, Kampf und Tod.

Lösen wir Probleme oder schaffen wir Probleme,

die wir lösen müssen?

Das Tier löst natürliche Probleme, die ihm

eigene Bedürfnisse und eine vorgegebene

Umgebung auftragen. Da der Mensch Natur

durch soziale Struktur ersetzt, entsteht eine

neue Situation. Das ist in vielen Bereichen

Realität. Anstelle den Schwierigkeiten durch

Wetter, Jagd und anderen äußeren Problemen

großer Natur, die ein Urmensch in geringer

Stammesgröße lebend, vordringlich meistern

musste, haben wir die Umgebung selbst

geformt. Je nachdem, zivilisiert im Bereich

integrierter Gesellschaft oder verdreckt im

Drogensumpf eines Slums, von allgegenwärtiger

aber machtloser Polizei wie im Krieg

gefangen. Ein sozialisiertes Dasein, eine Sozialnatur,

eine künstliche Umgebung. Wir leben

nicht vereinzelt hier und da einer im Wald.

Unsere Natur ist enges aufeinander hocken

mit anderen, die Natur ist vielen nur ein Park.

Landmarken, Berührungspunkte, natürliche

Widerstände? Die Bäume links und rechts,

das sind wir nun selbst. Dennoch scheint es

ja gerade die altmodisch echte Natur zu sein,

die uns im Klimawandel entgleitet. Wir beginnen,

das zu bemerken.

Die Natur kommt zurück.

Im heftigen Wetter und in der Person des afrikanischen

Flüchtlings gleichermaßen. „Wir

schaffen das?“, dieser Satz der Kanzlerin hat

polarisiert – warum? Es sind die, die unsere

Realität verdrängen, sie regen sich auf. Aber:

Wir ziehen die Grenzen wieder deutlicher.

Haben wir eine Wahl – wir vermehren unsere

Spezies jeden Tag, läuft deswegen unsere

Zeit ab? Der Urmensch hatte keine Uhr.

Ist der Mensch von Natur aus gesund, im

Sinne von kollektiv psychisch auf der Höhe?

Wenn ja, wird das wie selbstverständlich immer

so sein? Kann die Gesellschaft in künstlichen

Rahmenbedingungen ihre natürliche

Gesundheit verspielen, eine Umgebung, die

wenig gemein hat mit dem ursprünglichen

Planeten? Oder findet das menschliche Verhalten

Lösungen für jede denkbare Umgebung?

Was ist gesundes und zielführendes

Problemlösen? Wir mussten schon immer

neu denken. Haben wir kaum steuerbare

Überbevölkerung, und bedeutet das Unvergleichbarkeit

mit früher? Ein neues Problem.

Eines, das alle vereint und deswegen so bisher

nicht vorgekommen ist. Das Miteinander,

unsere gute Seite, wird gern beschworen:

„Frieden schaffen ohne Waffen!“ Wir nutzen

die freundliche Natur, sie ernährt uns. Auf

der anderen Seite, der Mensch verteidigt sich

gegen Naturkatastrophen und seine menschlichen

Feinde. Menschen sind selbst Natur.

Kämpfen wir gegen uns, als eigenen grundsätzlichen

Feind, weil das, was die Natur war,

nur noch ein vermüllter Restplanet ist? Sind

wir schon bald resistent gegen die natürliche

Zersetzung, wie unsere technischen Schöpfungen?

Im günstigsten Fall wächst die

Plastikblume, bewässert durch versauerten

Regen, plötzlich von selbst! Und ist essbar

geworden, weil auch wir zur Kunstfigur mutierten

– in einem evolutionären Sprung, den

niemand vorausgesehen hat: So könnten wir

(mit der Natur) wieder Freunde werden!

Der Mensch hat bewiesen, wie anpassungsfähig

er ist. Er hat sich die Welt bequem umgestaltet.

Wer nicht mag, muss nicht zu Fuß gehen.

Dem Wetter trotzen wir mit einem Haus.

Wir tragen Schuhe und warme Klamotten

gegen jeden Wintersturm. Mehr noch, wir machen

besser Eindruck mit Kleidung, als jeder

Papagei, dem die Natur ordentlich Farbe in

die Federn gegeben hat. Wir machten uns die

Erde untertan! Wir gestalten diese Welt. Wir

drückten ihr den menschlichen Stempel auf,

und einige meinen, wir erdrücken die Erde

dabei. Wir versauen das Klima, versauern das

Meer, alles voll mit Plastik – schließlich erstickt

die Menschheit im eigenen apokalyptischen

Dreck, bevor sie fremde Planeten nach

Bedarf kultivieren kann.

Ein gemeinsames Problem erfordert Klugheit,

aber: Ist dazu der gesunde Menschenverstand

ein Auslaufmodell in einer dekadenten ihrer

Natur entfremdeten Gesellschaft? Erkennen

wir, wie wir sind? Hinschauen! heißt es doch.

Heute sind überall Kameras, jeder kann sich’s

vorstellen: Vor vielen Jahren überlegte ich,

ein Kinderbuch zu machen. Seite für Seite

wollte ich den Bahnsteig einer S-Bahn-Station

zu bestimmten Uhrzeiten abbilden. Da

sind vermutlich um 8 Uhr herum die selben

wartenden Fahrgäste an jedem Tag der Woche

versammelt. Um 9 Uhr wären es andere.

Die wiederkehrenden 9-Uhr-Leute an jedem

Tag. Soziologie für jedermann, wer sind wir?

Eine Freundin hat in einem Geschäft gearbeitet,

im Einkaufszentrum. Der Laden war in

der oberen Ebene, im ersten Stock. Am Weg

vor den Geschäften ist ein Geländer, wie die

Schiffsreling auf dem Kreuzfahrtschiff. Dort

stand meine Bekannte, wenn wenig zu tun

war. Sie schaute runter auf die Menschen, die

im Erdgeschoss shoppen gehen. Wenn ich da

unten vorbei kam, sah hinauf – ich stellte mir

gern vor, im Abfahrtsbereich eines Hafens am

Kai zu sein und sie (zieht gleich ein Taschentuch

hervor, winkt mir noch, fährt ab) steht

oben an Deck. Wir verbrachten Zeit zusammen.

„Es gibt Oben-Leute und es gibt Unten-

Leute“, sie lachte, weil der Spruch mehrdeutig

ist. Sie meinte, wer unten jeden Tag vorbeikommt,

wird kaum mein Kunde. Sie kannte

sich aus. Da gibt es jeden Tag dieselben Menschen

hier – „Manche gehen nie oben.“

Wenn wir eine gesunde Gesellschaft beobachten,

werden wir dasselbe sehen, wie

in diesen Tierfilmen. Die Menschen, die wir

beobachten, lösen Probleme. Sie erfüllen

bekannte Pflichten. Sie gehen der Befriedigung

eines Hobbys nach, und das ist gleichfalls

das Lösen eines Problems: Wie kann ich

mich am Besten erholen? Wenn wir die Beobachtung

ausweiten, nicht nur den Flur im

Einkaufszentrum einen Tag lang anschauen,

sondern das Verhalten von Stadt und Bewohnern

insgesamt erfassen, könnte die Studie

genutzt werden, um Menschen zu verstehen

wie Alien. Was tut der Mensch? Mobbing zum

Beispiel ist Natur. Auch Tiere mobben. Jede

Gesellschaft grenzt aus. Wer dem System suspekt

ist, bekommt Gegenwind. Das Gesunde

der Gesellschaft liegt auch darin, abnormes

Verhalten als krank und eventuell gefährlich

abzusondern, in ein Gefängnis oder die Psychiatrie.

Wir führen eine Gefährderkartei, wir stöhnen

auf, wenn wieder einmal ein bislang unauffälliger

Mensch durchgeknallt ist. Wir hielten

den für so, wie wir uns selbst empfinden,

normal eben. Er hat nicht gestört. Dass der

Attentäter sich durch uns gestört fühlte? Wir

haben das nicht bemerkt. Das steht dem ja

auch nicht zu. So konnten wir übersehen,

was dieser stille unauffällige Typ ausgebrütet

hat. Wer hingegen auffällt, das begreifen

wir schnell: Der hat ’nen Schaden. Können wir

überhaupt einschätzen, wer hier grundsätzlich

krank ist, der gestörte Täter – oder wir

alle, die Gesellschaft insgesamt? Eine verboten

kranke Frage! Aber, wenn umgekehrt wir

kollektiv auf dem falschen Dampfer sind und

wissen das eventuell gar nicht, weil wir uns

aus einem noch zu beschreibenden Grund

nicht mehr als Gesellschaft wirklichkeitsgetreu

sehen können, sollten wir aufmerken

wenn einer auffällt. Dann nämlich wäre gestörtes

Anderssein eine Qualität.

Wie wäre das Bild, das eine kranke Gesellschaft

abgibt? Wir stellen uns das vor: Gewusel,

eine Stadt lebt, arbeitet und tut Dinge,

die Bewohner so tun. Aber das Verhalten ist

grundsätzlich krank, in dem Sinne es nicht

die Probleme der Menschen effizient löst.

Der Einzelne wuselt irrational herum. So eine

Art Ameisenhaufen, der sich dabei dumm anstellt

und allmählich selbst zerstört. Schildbürger,

die Unfug machen. Wie würde eine in

sich kranke Gesellschaft überleben? Und wie

würde eine kranke Gesellschaft über nicht

dazu passende Menschen urteilen? Wenn

eine unmündige Gesellschaft existenzfähig

wäre, dann doch nur als Anteil eines gesamten

Systems, in dem einige übergedeckelt

das Sagen haben und ausserhalb Menschen

ums echte Überleben kämpfen. Wir müssen

nur in die schmutzigsten Slums der Metropolen

schauen: Ein moderner Dschungel, der

dem steinzeitlichen Urwald an Gefährlichkeit

in nichts nachsteht. Wenn die gesamte Erde

zum Irrenhaus mutierte, wer fütterte diese

Menschheit? Im Überlebenskampf erprobte,

einfache Menschen vom Rand, würden die

Oberhand über die gewinnen, denen man

ihre Realität nur dargestellt hat und die daran

glaubten? Es gibt noch Hoffnung.

Die Schildbürger bauten ein Rathaus, sie

vergaßen die Fenster in den Mauern und

versuchten Licht mit Säcken hineinzutragen.

Heutige Patzer städtischer Verwaltungen

reichen nicht an diese Satire heran. Licht

in Säcken tragen, wie massenhaft gerufene

Soldaten, die in einer Notlage Sandsäcke

schleppen damit der Deich nicht bricht? Moderne

Arbeit ist klug: wenige Menschen produzieren

spezialisiert. Wir würden bemerken,

dass Licht nicht die ganze Zeit von einzelnen

Menschen mit Säcken transportiert werden

kann. Wir würden eine Maschine bauen, die

säckeweise Licht ranschafft! Diese Maschine

würden wir umweltfreundlich mit Strom aus

Sonnenlicht antreiben. Wir sind die besten

Schildbürger von heute, bis es noch wieder

bessere gibt. Leistungssteigerung hat die

Klugheit besiegt.

Unsere Wirtschaft ist so, dass das Nachbardorf

einen Apparat baut, der noch mehr Licht

in noch mehr Säcken schneller anschleppt

und deswegen in Konkurrenz zu unseren

Aug 5, 2019 - „Wir schaffen das!“ 17 [Seite 17 bis 20]


Leuten alles plausibel und nötig macht. Einige

sind sauer auf ein Kind Greta, das uns ermahnt.

Man muss sich das vorstellen: Landwirte

hier bei uns sollen ihren Viehbestand

verkleinern, damit die Menschen weniger

Fleisch essen! Wir sagen: Sie hat Asperger.

Der psychisch gestörte Mensch erkrankt am

wechselseitigen Wirklichkeitsbeschiss der

Umgebung. Unter dem Druck der Erziehung

schlecht aufgestellter Erwachsener, gewöhnt

sich der abhängige junge Mensch daran, einer

nicht nachvollziehbaren Realität (sich in die

Tasche lügender Menschen), sein spezielles

Wirklichkeitsbild entgegenzuhalten. Das zerbricht,

wenn ein Kind selbst erwachsen wird.

Manche Eltern wollen „das besondere Kind“;

nicht selten kommt ein kleiner Idiot dabei

heraus. Wenige Stars konnten der irrationalen

Umgebung ihrer Kindheit etwas entgegensetzen

das sie später wirklich besonders

gemacht hat. Mehr Studierte gibt es, die noch

Glück haben wenn sie eine Taxe fahren können

oder Briefe austragen. Viele Menschen

sitzen dauerhaft in einer psychiatrischen Einrichtung,

das ist statt „ganz besonders“ ganz

besonders traurig.

Einigen ist Denken, wie anderen zuhören und

ihnen nachsprechen. Den meisten Erwachsenen

ist fortwährendes verbales Verdrehen

der Realität nicht bewusst. Unzählige Fettleibige

reden sich ihr Leben schön, magere Essgestörte

gleichwohl. Nicht nur im Bereich der

Ernährung, es ist mehr als eine Angewohnheit,

alles besser darzustellen. Das ist wie

ein Schmerzmittel, als kurzfristige Lösung

nachvollziehbar. Die Lüge steckt, neben dem

was wir anderen nebenbei erzählen, wer wir

sind oder vorgeben sein zu wollen, auch in

der Werbung. Wir imitieren das, betreiben intellektuelle

Inzucht, verkaufen uns gut. Eine

Schmerzsalbe macht keine Seniorin mit Kniebeschwerden

gesund. Es gibt kein Pflaster für

einen gereizten Darm, obwohl das als gutes

Produkt beworben wird. Niemand braucht

vitale Sprint-Dragees, um mehr Leistung zu

bringen. Sich gegen andere aufzuwerten, sich

selbst wie ein Produkt anzupreisen, eigentlich

als Ergebnis der Konsumgesellschaft,

bricht uns insgesamt das Genick. Natur und

Erde können wir auf Dauer nicht belügen. Der

Kapitalismus besiegte den Kommunismus,

nun besiegt uns die Natur.

Unsere Krankheit ist Effizienz, auch politisch.

Durch vielfältige Demokratie im Vergleich

zu kommunistischer Diktatur, wurden wir im

einzelnen Menschen so leistungsfähig, dass

der Raubbau am Ganzen ein bedrohliches

Tempo angenommen hat. Es wird schwierig,

wenn das, was uns voranbringt weil es so gut

ist, uns schneller ans Ende bringt. Wir sind

Gefangene unserer selbst, weil wir überall

sind und einer dem anderen sagt, was wir

zu tun haben. Wir lassen uns nicht von der

Natur belehren. Wir bemerken die Natur erst

bei Katastrophen. Kein naturverbundener

Mensch in direkter Konfrontation zum Wetter,

wo es etwa gegolten hätte auf einem Schiff

das Segel zu reffen oder Schutz irgendwo im

Gelände zu suchen, hätte solange gewartet

wie wir heute als Gesellschaft insgesamt.

Wir deuten die Geschichte zu unseren

Gunsten. Wenn wir von der Zeit des Nationalsozialismus

hören, wähnen wir uns wie

selbstverständlich bei den Guten. Wir wären

Anne Frank. Wenn ein hundertjähriger Täter

schließlich noch dingfest gemacht werden

kann, das gefällt. Gottes Mühlen scheinen zu

malen. In der Schule wurde mir gesagt, zeitgenössische

Wissenschaftler hätten vor dem

Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 nach Christus,

der Pompeji-Katastrophe gewarnt, heute

finde ich dafür keine Belege. Im Gegenteil, es

heißt, dass der Ausbruch des nahen Vulkans

die Bewohner der Umgebung überrascht

habe. Die Lehrerin meiner Grundschule hingegen

schilderte plastisch, wie unbelehrbar

die Menschen gegenüber den fundierten

Warnungen gewesen seien und wie fatal alles

endete, wie eine Strafe eben. So sind Lehrer.

Auch die Titanic, sie ging unter, weil man

den Dampfer als unsinkbar bezeichnet hatte,

ein schicksalhaftes Ende. Natürlich wären wir,

damals an Bord gewesen, doch bestimmt diejenigen,

die clever ein Floß aus den schweren

Mahagoni-Türen des Salons gezimmert

hätten oder edelmütig Menschen aus dem

Wasser zu uns ins Boot gezogen hätten, das

wir noch erwischten.

Wir empören uns leicht, sprechen vom

menschlichen Versagen? Überlebende erzählen

von Schiffbrüchigen im Rettungsboot

und anderen im Wasser draußen, die sich ans

Dollbord geklammert hatten. Wer es ins Boot

schaffte, schlug den Verzweifelten außen am

Rumpf mit einem der hölzernen Riemen, mit

denen diese Boote gerudert werden, auf die

klammen Finger, bis sie aufgaben, ins Eiswasser

wegsackten: „Sonst kentern wir!“ Der

kurzsichtig Stärkere gewinnt ein Match. Wir

sollen den Viehbestand in Deutschland reduzieren?

Um den Ausstoß klimagefährlicher

Furze aus den Ärschen der Rinder in den Griff

zu bekommen? Da denke ich an die Ärsche,

die mich auf der Landstraße mit ihrem protzigen

SUV nötigen, noch ein wenig schneller

zu fahren. Die mir bis auf wenige Meter hinten

drauf drängen und sich mutmaßlich gerade

einen zweiten Luxus-Grill und exquisites

Zubehör gekauft haben, für ein zünftiges

Steak zu jeder Zeit. (Ich esse übrigens sehr

gern Rindfleisch vom Grill und fahre auch

sehr gern Auto).

Selbst wenn alle modernen Zivilisationen zu

gelenkten Demokratien verdooften, blieben

noch die Bewohner der restlichen, möglicherweise

eher vom Klimawandel und harten

Kriegen, Hungersnöten betroffenen Naturbereiche,

voll mit unserem Müll und ums tägliche

Überleben kämpfende Menschen. Die,

deren Hosen nicht der Mode wegen zerrissen

sind, weil es dort keine neuen heilen Hosen

gibt. Wir abgehobenen, gesunden Auskenner

der Luxusrechtsstaaten, eingebildet auf

unser freiheitliches, angeblich menschlicheres

besser sein, wir suchen Gefährder durch

Beobachtung. Wo sind sie, was könnten sie

planen? Wir sind uns ganz sicher: unsere gesunde

Welt wird von gestörten kranken Menschen

bedroht. Wer hat sie gestört und wobei,

egal. Wissen wir Bescheid, wenn wir anderen

zuschauen oder meinen wir nur zu wissen?

Auf einem geparkten Auto habe ich gelesen:

„In meiner Welt macht das Chaos das ich verursache

durchaus Sinn.“

Physik spiegelt sich im Alltag wieder, Wikipedia:

Die heisenbergsche Unschärferelation

(…) ist die Aussage der Quantenphysik, dass

zwei komplementäre Eigenschaften eines

Teilchens nicht gleichzeitig beliebig genau

bestimmbar sind. Heißt wohl, wenn ich weiß

wohin du gehst, kann ich nicht erkennen, wie

schnell du gerade bist. Weiß ich, wie schnell

du bist, bleibt mir verborgen, wo du hingehst

und wo du aktuell exakt bist. Je genauer ich

auch hinschaue, mit dem Beweis des einen,

mache ich mir die Kenntnis des anderen unmöglich.

Meine Beobachtung, ungefähr. Wo

sind die Bösen, was planen sie? Nach jeder

spektakulären Aktion, wenn eine länger observierte

Zelle ausgehoben wurde, schleicht

sich das fatale Gefühl ein: dieser Fahndungserfolg

bedeutet wohl nicht, dass hier die

Wahrheit an sich gefangen wurde.

Unschärferelation ist …? Man kann annehmen,

dass Wahlen durch Vorabfragen beeinflusst

werden. Wir nehmen weiter an, dass

auch bewusste Manipulation stattfindet. Im

positiven Sinne hilft Berichterstattung dem

Wähler, das für ihn Beste herauszufinden. Die

Gesellschaft diskutiert gründlich aus. So wird

deutlich, was uns wichtig ist. Wir können die

Richtung einschlagen, die dem Nutzen aller

dient. So ist der merkelige Politikstil entstanden.

Am längsten vorn an der Leitungsspitze

bleibt kein Mensch mit einer festen geraden

Linie und eigener Überzeugung. Eine Wackelpudding-Spitze

leitet uns in die Zukunft von

Deutschland und der Welt. Tanz auf dem kippeligen

Boden der politischen Bühne, gebildet

von einer gärenden Masse unzufriedener

Wut- und anderer Bürgerinnen und Bürger.

Wir wählen die beste Tänzerin, machen ihr

die heißeste Musik. Nicht zittern! Wer abstürzt

verliert.

Was ist wahrscheinlich? Entweder kommen

wir durch, bis zum Mars, und zuhause auf der

Erde wird es ganz anders als je zuvor. So eine

Science-Fiction-Welt vielleicht. Wir passen

uns an, das bedeutet, dass wir selbst mehr

wie die Umgebung werden, die wir schon

sind. Wenn es keine Luft mehr gibt, atmen wir

das, was es dann gibt, und ein Implantat in

unserer Brust formt einen Luftersatzstoff daraus,

mit dem unser Organismus handlungsfähig

ist. Apokalyptische Zustände, in denen wir

scheitern, sind auch nicht unwahrscheinlich.

Vorher: Große Gefängnisanlagen und für politisch

Unkorrekte die Psychiatrien, modernes

Lagern. Luxusbereiche, Machtzentren. Lemminge

in Arbeit, Seite an Seite des Roboters.

Angreifer aus dem wilden Dschungel wahrscheinlich.

Das ist ja eigentlich schon heute

so. Sich selbst in den eigenen Ansprüchen zu

erkennen, die eigene Angst und Aggressivität

zu verstehen und daraus klug zu werden,

Maßlosigkeit bei sich zurückfahren, langsamer

zu sein, wenn zu rasen nicht nützt – das

bleibt gut bis ans Ende.

Die Richtung, wir kennen sie nicht, die Menge

drückt hierhin, dorthin. „50 Jahre Kanzlerschaft

Willy Brandt“, hängt es schief auf einem

Plakat im Dorf. Filmabend, die alten Zeiten.

Einige Alte, die sich noch erinnern, werden

hingehen. Wir kennen schon aus der Bibel,

dass es fatal in die verkehrte Richtung geht:

Kaum, dass Moses ein paar Tage oben auf

dem Berg am Gesetzestafeln beschaffen ist,

werden die anderen vom zum neuen Leader

berufenen Populisten animiert, all ihr Gold in

eine Form zu gießen. Sie tanzen blöde um’s

goldene Kalb, und Moses ist außer sich, als

er zurück kommt. Führen wir von innen oder

eiern wir ab? Ein Stimmungsbarometer misst

kollektives Fieber. Von Arzt zu Arzt, von Doppelspritze

zur Doppelspitze. Das sind wir.

Zwei Seiten des Problems: Von außen geht

die Beobachtung am Innersten vorbei. Im

Inneren der Gesellschaft ist es fehlende Distanz,

die unmöglich macht, das Ganze zu sehen.

Wir können annehmen, dass der Einzelne

nicht grundlos etwas tut. Wir nehmen es aber

nicht an. Wenn wir unseren Nachbarn beobachten,

werden wir uns an irgendeiner Stelle

Aug 5, 2019 - „Wir schaffen das!“ 18 [Seite 17 bis 20]


über sein Tun erheben: Warum macht der das?

Wir würden niemals uns so anziehen und so

einem Hobby nachgehen oder dergleichen.

Hier liegt der Anfang einer unter Umständen

dynamischen Absturzbewegung innerhalb

eines Systems. Die gegenseitige Beobachtung

dient zu Recht auch der Kontrolle des

Ganzen. Es ist zunächst nur die Abstimmung,

inwieweit sich benachbarte Menschen wohlfühlen.

Alle haben ein ähnliches Häuschen

oder gleiche Vorlieben. Darüber hinaus beobachtet

sich die Gesellschaft auf Regelverstöße

hin, und das trägt ebenfalls zur Stabilität

bei. Diese Stabilität kann gerade deswegen

problematisch werden, wenn sie einen theoretischen

Rahmen hat, der dem Einzelnen

nicht entspricht. Wenn das Gesetz verlangt,

um 5 Uhr stehen wir alle auf und beginnen zu

arbeiten, wird jemand der gern länger schläft,

übergangen. Banale Vereinfachung, aber jede

Form von Mobbing, Ausgrenzung und in der

Folge psychische Erkrankung und Aggression

beginnt einmal.

Probleme einzelner, Bedürfnisse, wovon träumen,

Ziele: Welche Regeln sind unerlässlich,

damit die Gesellschaft vielen gerecht ist?

Je komplexer das System, umso machtvoller

kann sich Zwang ausbilden welcher einigen

abverlangt, sich mehr anzupassen als gut

ist. Schlimmstenfalls wird der Mensch unter

widernatürlichen Bedingungen krank. Wenn

normal sein bedeutet, ziemlich bescheuert

sein zu müssen, ist es nicht das richtige für

dich. Krankheiten durch Umweltzerstörung:

Der Mensch kann als einzelner zunächst wenig

dagegen tun, dass Umweltgifte in seinen

Körper gelangen. Trotzdem hilft er mit, die

Bedingungen zu verschlechtern, allein weil

er lebt. Wir können erkennen, dass Menschen

zuviel und widernatürlich essen, weil die anderen

es tun, weil die Läden diese Sachen

verkaufen. Wir stellen intellektuellen Druck

fest, der Menschen dazu bringt ihre Identität

nicht an ihren eigenen Bedürfnissen auszurichten

sondern an pseudo-individueller

Mode. Wir bemerken, dass Menschen durch

das Anschwärzen ihrer Nächsten, wenn diese

vermeintlich regelwidrig leben, eine kleine

Aufwertung ihres Selbstwertes erfahren, und

dass dieselben Menschen darunter leiden,

wenn sie selbst ausgespäht, ausgegrenzt und

kritisiert werden. Wir können annehmen, dass

raumgewinnende Aktivitäten eines jeden andere

bedrängen, manche mobben, einzelne

krank machen.

Ein Staat, der uns ausspäht und gängelt, wie

wir das wieder erleben. Macht das krank?

Passiert das nur in „bösen“ Ländern, China

oder Russland oder machen das alle Staaten?

Die große Glocke um uns herum. Drückt auf

die individuelle Entfaltung, die Perspektive

des Einzelnen. Hier kommt wieder die grundsätzliche

Frage auf: Bedeuten intellektuell

und perspektivisch in ihrer Kreativität amputierte

Einzelpersonen ein letztlich krankes

Ganzes oder ist es möglich, zufriedene desinformierte

Menschen heranzubilden? Leben

wir bereits in einer Lüge, wie Winston, der

Protagonist in George Orwells Roman „1984“

oder der Wilde im symmetrischen Buch von

Aldous Huxley „Schöne Neue Welt“, den Klassikern

pessimistischer Fiktion? Treten wir gut

informiert auf der Basis von Fake-News fleißig

Hamsterräder, bis wir am Ende erkennen,

das Leben ist vorbei und was war das nun?

Ein Staat, in dem Kunst Deko ist. Die Politik

eine Farce. Die Leistungsträger sind nicht

berufen, sie sind im Job. Sie sind nicht verliebt,

sie sind in Partnerschaft (mit Vertrag).

Nüchterne Rationalität im verbalen Duktus

politisch korrekter Ausdrucksfähigkeit unterstreicht

die Ernsthaftigkeit fit moderner

Akteure. „Das passt schon, alles gut“ – wir

sprechen neu. „Das ist nicht so meins, MeToo“

– wir können Kommunikator. Eine Beziehung,

deren Bindung der gegenseitige Nutzen ist,

welcher nicht zuletzt gegenseitige Wertsteigerung

bedeutet und deswegen nur auf Zeit

gilt. Wir opfern die Träume der Funktionalität.

Erwachsensein in so einer Welt: Menschen

spielen im Sandkasten der Illusion, sie seien

mündige Bürger und Leistung bestimmt den

Selbstwert. Nicht krank werden! Dabei ist die

Bedingung: Was du dir kaufen kannst von

deiner Arbeit, steht über dem, was du machst.

Eine Gesellschaft, in der die Bürger glauben,

Rechte und Perspektiven zu haben und unter

Umständen erleben, wie das System alle Werte

karikiert. Verzerrte Menschen, eingepfercht

in die Baukästen vorgefertigter Schein-

Selbstständigkeit. Zum Glück verpflichtet,

wenn schließlich alles passt: Haus, Frau und

Kind. Boot oder Pferd und Hund dazu und ein

Garten, der Job stimmt. Randfiguren werden

belächelt. Dicht an dicht stehen ihre kleinen

Mickey-Maus-Villen im Neubaugebiet.

Stehen wir am Anfang des Problems einer

größer werdenden Gesellschaft, die Probleme

inflationär erschafft statt zu lösen und

möglicherweise im Bemühen um Fortbestand

die eigene Instabilität forciert? Je mehr

wir einander auf die Finger schauen, um Unrecht

frühzeitig einzudämmen, desto fieser

wird der Druck. Extreme Belastung einzelner

Punkte eines gesellschaftlichen Bogens, dem

gemeinsamen Nenner des Wohlbefindens,

wird diese Punkte krachend brechen lassen.

So erschaffen wir den aggressiv gestörten

Mitbürger selbst. Weil fortwährende Spitzen

vom Provokateur unbemerkt bleiben, der sich

im Gegenteil als mahnender gutmenschlicher

Polizist versteht.

Je spezialisierter wir schaffen, desto effizienter

sind wir. So haben wir den Beruf des

Controllers erfunden. Die moderne Gesellschaft

sucht den Fehler. Um noch besser zu

werden. Die These ist: je spezialisierter, desto

leistungsfähiger. Je besser kontrolliert, desto

effizienter. „Nach fest kommt ab“, der sich daraus

ergebende Umkehrschluss ist bedenklich.

Spezialisten sind keine Allrounder. Was

wäre ein halber Mensch, der den Körper eines

ganzen hat? Wir stellen uns das vor: Ein

Leib, ein Hirn, zwei Arme, zwei Beine – aber

nur spezialisierte Handlungsfähigkeit. Der

kann nur Rechtskurven laufen. Er kann nur

auf eine Art denken. Ungefähr halb so viel,

wie ein der vollen Natur ausgesetzter Affe. Er

weiß nichts mit sich anzufangen, wenn Neues

aufkommt, weil er so zentriert auf seine

ganz spezielle Umgebung trainiert, nur rote

Türen mit Klinke links nach außen öffnen

kann. Andere schließen für ihn diese Türen.

Vielleicht hat sie jemand auf der Rückseite

blau angestrichen? Kenntlich gemacht und

deswegen sicher. Person-A (rot, Klinke links:

nur öffnen!) weiß nicht, was Person-B überhaupt

als blau und Aufgabe für sich erkennt.

Was ist blau?

Ein weiteres Beispiel. Musikunterricht, eine

kleine Geschichte. Was bringt Menschen zu

höchster Leistung? Zur Nachahmung empfohlen:

Als ich ein wenig Fuß gefasst hatte,

im Leben, und mit Info-Illustrationen gut

verdiente, noch nicht malte, wollte ich einen

Kindertraum auf den Weg bringen. Ich nahm

Trompetenunterricht als Erwachsener! Vor

der Stunde hörte ich gern, wie mein Lehrer

anderen noch Tipps gab. Er schraubte die

kleinen Tablets von den aus den Ventilen ragenden

Stößeln ab, um dem Schüler das Leben

schwer zu machen. Ganz genau musste

dieser nun drei dünne, senkrecht bewegliche

Rohre treffen, und Bob scheuchte ihn durch

einige schnelle chromatische Läufe. Ohne die

runden Tasten (groß, wie in etwa unsere kleinen

Geldstücke), hatte der Schüler mit Auflagen

in Trinkhalmstärke zu kämpfen die in

die Fingerspitze drücken und schwierig exakt

zu treffen sind. Es gibt Amateurjazzer, deren

schlechte Angewohnheit es ist, die Ventile

grundsätzlich aus der Mitte ihrer Finger zu

drücken, anstelle die Präzision ihrer flinkeren

Fingerspitzen zu trainieren. Die lassen, weil

es bewusste Aufmerksamkeit, das zu erlernen

bedeutet hätte (welcher sie als Autodidakt

nicht fähig waren), die halben Finger links

überstehen, weil es auch so geht. Was geht

denn? Natürlich kann ein Musiker ausdrucksstark

mit einfachen Mitteln bewegende Musikmomente

schaffen. Ein Virtuose hingegen

muss Techniken trainieren.

Training, Fitness, Routine – wie im Sport. Anschließend

drehte Bob die Tasten oben wieder

fest und lockerte nun boshaft ihre natürlichen

Stopper unten. Geschraubte Auflagen,

wenn die Pumpen niedergedrückt sind, direkt

oberhalb der Rohre, in denen der Schieber

auf und ab gleitet. Anstelle filzgepolsterter

Auflagen des Ventilzylinders, trafen die Finger

nun metallisch klöternde Scheiben. (Eine

Trompete kann in ihre Bauteile zerlegt werden).

Jetzt musste der Schüler wieder schnelle

Tonleitern spielen: „I wanna hear a clack in

each tone.“ Wie zusätzliche Percussion, sollten

klackernde satt gedrückte Anschläge die

chromatischen Läufe begleiten und alle Töne

gleichmäßig fließen. Als der Geplagte das

Ende seiner Stunde herbeisehnte, bewertete

Bob: „Ich habe rr-R-ächt, es sind die Finger.“

Sein rollendes „r“ und die unverwechselbar

amerikanischen Einschübe, wenn ihm (wieder

einmal) das deutsche Wort fehlte, sind

unvergesslich.

Kann jemand Trompete spielen, andere

nicht? Natürlich muss man üben. Aber es

gibt Menschen, die mit der Trompete oder

rhythmischer Musik grundsätzlich nicht klar

kommen. Bob hat auch sehr gute Schüler, und

die wollen besser werden. Im Beispiel geht

es nicht um Talent, können oder nicht können.

Ein talentierter junger Trompeter, und

der sollte schnell und exakt werden. Musste

er anders atmen? Sollte er höher ansetzen?

Hätte er mehr chromatisch üben oder besser

Stücke spielen sollen? Bob war offenbar der

Ansicht, die erhöhte Bewusstheit auf das, was

der Bläser mit seinen Fingern machte, wäre

gezielt zu üben und hatte auch gleich Tricks

für zuhause dabei. „Es sind die Finger“ – wie

Berater, die Abläufe im Prozess einer Firma

betrachten und anschließend dem Chef Gutachten

erstellen, an welcher Stelle effizienter

gearbeitet werden kann. Bewusstheit kann

man lernen.

Wenn ein Flugzeug abstürzt, wir suchen den

Grund. Wenn andere besser sind, wir fragen

den Unternehmensberater. Wenn wir junge

Leute ausbilden, wir spezialisieren sie, qualifizieren

exakt. Sie verdrängen alte Mitarbeiter,

die die Firma gern abfindet. Früher galt,

wir sind in die Arbeit reingewachsen, haben

uns nach und nach verbessert, einige Male

gewechselt. Studenten von der Schule sind

Aug 5, 2019 - „Wir schaffen das!“ 19 [Seite 17 bis 20]


heute speziell trainiert. Fast jeder von uns ist

Rechtshänder, und kaum jemand kann alles

mit beiden Händen gleich gut tun. Das ist

nicht neu. Früh erfand der Mensch spezialisiertes

Handeln, um besser zu werden. Wir

begreifen, dass den Grund eines Problems

zu kennen, der Schlüssel zur Lösung ist. Ich

frage Dörte am Yachthafen: „Was machen die

Kinder?“ „Üben Rollwenden an der Alster, mit

Trainer im Begleitboot. Die können schnell

wenden, aber nicht, wenn ein Gegner sie

zwingt. Dann parken sie nur ab. Das wollen

sie optimieren.“ Im Sport, im Beruf: Bist du

dein eigener Detektiv, wirst du besser. Leistung

befriedigt unbestritten.

Die Kehrseite verdient Beachtung: Die neuen

Beispiele sind dem Straßenverkehr entnommen.

Einige sind der Meinung, wir hätten zu

viele Verkehrszeichen aufgestellt. Sie sind

der Ansicht, zu viele Ampeln bremsen nur

und beruhigte Zonen mit verbreitet installierten

Buckel-Schikanen, davon gäbe es zuviel.

Kritiker finden sich, die der Meinung sind,

Blitzanlagen dienten nur der beutegeilen

Polizei. Das darf man ja fast nicht schreiben,

denn mehr Menschen werden hier und da ein

weiteres Verbotsschild verlangen, dort eine

Spielstraße und ein Tempolimit sowieso.

Die „grüne“ Welle ist uns nicht immer wohlgesonnen.

Ampelstopp, Stau – wer Auto fährt,

muss sich in Geduld fassen. Unzählige Sicherungen

(nicht nur im Verkehr). Sie brennen oft

durch. Gurtpflicht, Handy-Am-Steuer-Verbot,

keinen Alkohol dürfen wir trinken, exakt vom

TÜV geprüft ist unser Fahrzeug. Airbag wo es

geht; das sicherste Fahren aller Zeiten – und

dennoch fahren Menschen verkehrt herum

in die Autobahn ein. Dement, verwirrt, einfach

blind – und einige in suizidaler Absicht.

Viele Menschen können nicht mehr auf ein

Fahrrad steigen, ohne sich einen Helm anzutüdeln,

eine gelbe Warnweste umzuhängen,

und einige von diesen Menschen sind sogar

klug. Man darf annehmen, dass Verkehrsteilnehmer

ganz bewusst moderne Sicherungen

nutzen. Sie fahren bewusst viel Fahrrad, sind

schnell, bei Regen und in schummrigem Licht

unterwegs, die brauchen das.

Wir erinnern uns noch? Damals, Old Shatterhand

ist wieder mit Hatatitla unterwegs. Am

Horizont der Prairie taucht ein anderer Westmann

auf, kommt näher, eine Begegnung im

Wilden Westen! Kommt ja nicht so oft vor.

Weites Land. Wir sind im amerikanischen

Indianergebiet, so wie es uns Herr Karl May

anschaulich fabuliert hat, und da verwundert

es den geneigten kundigen Leser nicht, oh

Wunder, der andere hat kein schäbiges Yankeegesicht,

nein oh Zufall (schon wieder) ein

Sachse trifft auf einen anderen, mitten in der

Rolling-Prairie, ganz weit weg von Dresden

und Radebeul: „Guten Tag, habt Ihr vielleicht

einen Indianer gesehen, der ein schwarzes

Pferd reitet?“

Heute, der Bus schrammt in die Haltestelle.

Menschen drängen raus, andere rein, alles

gleichzeitig, und ein Rollstuhlfahrer oder ein

Rollator-Senior halten noch zusätzlich auf.

Jemand muss die metallne Klappe von innen

aus dem mittleren Türbereich als Rampe für

den Senior einrichten, lässt sie unsanft auf

den Gehweg krachen! Du suchst einen Sitzplatz.

An guten Tagen ist es leicht. Alle sind

gerade hilfsbereit, man lacht, schafft Platz

für den Rolli, lagert einen Kinderwagen mit

um und findet noch einen Sitzplatz, vielleicht

neben einem schlanken freundlichen Zeitgenossen,

der zurück lächelt und ein unverbindliches

aber höchst sympathisches „Moin!“

oder so zum Besten gibt. (Es gibt aber auch

andere Tage).

Wie können Menschen gleichgültig aneinander

vorbei und gegeneinander Platz beanspruchen!

Die Vogel-Strauß-Tüte über dem

Kopf, den Blick mobile gesenkt. Klar, wenn

nicht der freundliche Sachse von weit her

angeritten kommt, stattdessen aus dem Hinterhalt

mordlustige Rothäute feuern, mit Karabinern

welche sie skalpierten Bleichgesichtern

abgenommen haben, dann war es schon

immer böse. An anderen Tagen jedenfalls. Wir

sind nicht kollektiv krank, wir sehen uns nicht.

Wir sind eingebildet und wissen es nicht. Das

neue Problem: Wir sind zu gut geworden! Wir

müssen über Hasskommentare reden? Im

Netz müsse gelten, wie überall: Wer anderen

drohe, müsse strafrechtlich verfolgt werden.

Fernsehen: die von einer sympathischen Frau

der grünen Partei nachdrücklich vorgetragene

Forderung. Niemand kann widersprechen,

zu eindeutig die Situation. Es hat in Folge

solcher Drohungen realen Mord gegeben.

Wir wehren nicht Anfängen. Wir sind mitten

drin in der neuen Welt. Ein Sender zeigt typische

Kommentare auf der Plattform, wir kennen

das. „Nimm deinen scheiß Satelliten und

verpiss dich!“, musste Lena Meyer-Landrut in

Oslo über sich und ihren Song im Netz lesen.

Harmlos, verglichen mit aktuellen Beiträgen.

Menschen des öffentlichen Lebens müssen

viel aushalten.

Politikerin, attraktive Frau, vor nicht langer

Zeit ein Mädchen in der Schule, wie müssen

wir uns das vorstellen? War sie eines der klugen,

ein wenig braven Kinder aus guter Familie,

die schon mal gesagt hat: „Der da, Herr

Lehrer, der war’s“, wenn ein Mitschüler eine

Banane falsch weggeworfen hat? Wir gehen

nach der Schule weit auseinander. Auf einen

grünen Hügel oder in strafbaren Sumpf. Eine

grüne Spitzenfrau ist, wo Zerstörung der Natur

und Lösungsansätze, es besser zu machen,

hohen Aufmerksamkeitsfaktor garantieren,

unantastbar. Demokratie in Gefahr! Frauen

werden noch benachteiligt – die Natur wird

angegriffen! Ein blattgewordenes feminines

Menschengewächs: Wie kann man(n) die beleidigen?

Achtung Satire! (Neue Bilder sind so nötig.

Bitte nicht nachmachen). Findet ein Mädchen

die Treppe mit Geländer auf den Gipfel

eines parteigrünen Mount Everest. Sie kauft

sich einen Öko-Kletteranzug. Sie setzt einen

Anti-Aggressionshelm auf, schaut die himmlische

Friedensleiter – und beschreitet die

Stufen aufwärts. Ist es ihr leicht, gut grün zu

sein! Sie bemerkt die bekannten Müllberge

am Rande der Route. Am Gipfel staut es sich,

Nachdrücker schieben sie in eine doppelte

Spitze oder knapp daran vorbei. Hier der Berg

und daneben bist du! Sie blickt idealisiert in

die bessere Ferne: The green flash! Sie gibt

die erwachsene Greta am Berg.

Wind weht und wird Sturm. Grüne Wellenberge

werden grau, schließlich weiß in Gischt

– ich bin auf See! – in schlechtes Wetter geraten.

Ich habe probiert, anders als gewohnt,

der „schiefen Bahn“ ein Bild zu malen, wie das

Deck eines im Wind steil und schräg überliegenden

Rahseglers. Aber genau so alt wie ein

Segelschiff ist dieser Ausdruck. (Wer kennt

schon die guten Strecktaue, die Seeleute

benötigten, um keinen der Mannschaft zu

verlieren)? Wo ich auch versuchte, eine Lanze

für Straftäter an sich zu brechen, um auf die

abgehoben feste Position hinzuweisen aus

welcher wir urteilen – auf dem Boden hier,

musst du doch geradezu abrutschen, kommt

immer wieder nur: Selbst schuld.

Eine Freundin im motorgetriebenen Rollstuhl,

sie würde keinen Menschen schlagen,

nie. Jemanden angreifen? „Stell dir doch nur

vor, wie das für dich wäre, wenn dich eine

Faust im Gesicht trifft“, sagt sie. „Du kannst

gar nicht auf einen erwachsenen Mann einstürmen

und ihn kraftvoll niederstrecken. Du

kannst nicht gehen, hast keine Kraft im Arm.

Du bist eine alte Frau im Rollstuhl. Dein Mann

benötigt eine volle Stunde, dich anzuziehen

und hineinzusetzen. Jedenfalls im Winter,

wenn du warme Sachen anziehen musst“,

habe ich entgegnet. Kannst es dir nicht vorstellen,

weil du es nicht tun kannst. Du bist

raus aus diesem Spiel, habe ich gedacht.

Ich bin ein Mann, ich kann es tun.

„Ich bin schon wütend gewesen“, sagt meine

Freundin rechtfertigend, als müsste sie

mir beweisen, dass auch sie immer noch ein

Mensch sei. Die schlimmste Befürchtung?

„Wenn mein Mann nicht mehr da wäre“, sagt

sie – was soll ich dann machen? – (ich vervollständige).

Und an meine Frau denke ich –

dann auch an Susanne … und an früher denke

ich auch oft. Das soll man ja nicht.

Ein als Flüchtling eingereister Mann vergewaltigt,

ermordet eine Studentin – und sagt

im Gericht: „Das ist doch nur ’ne Frau, was

habt ihr denn?“ Es gibt keine guten Menschen,

hier nicht und dort nicht. Gut zu sein ist Zufall

oder eine Erfahrung – vielleicht – die uns

hilft, den Weg zu finden. Ein Geschenk, nicht

selbstverständlich. Erst wenn wir, die guten

zivilisierten Menschen, auf unseren dann

immergrünen Bergen stehen, deren Schnee

einer von gestern ist, werden wir verstehen.

Vorher bleibt uns nur, mehr und noch größere

Gefängnisse zu bauen. Eine randvolle Welt

ist ein nicht zu ignorierender Faktor bei allen

Vergleichen. Wir leben in der Besten aller

möglichen Welten! Ist unsere Zeit begrenzt?

Es hat sich was geändert. Wir können nicht

gut sagen, früher wäre es besser gewesen.

Wir können nicht sagen, es war immer schon

schlimm. Wir sind die Erde A.

Da ist keine Reserve, keine Erde B.

Danke, Greta Thunberg, du merkst noch. (Meine

Mutter hieß auch so). Wenn Kinder wieder

Susanne, Katrin oder Thorsten, Klaus, Thomas

oder Ulrike heißen, werde ich alt sein. Wie

sieht dann Schenefeld aus, und was macht

weit weg Person A. an der roten Tür? Ein Problem

ist das eigene. Fällst du auf, wenn du

gleich dem Kind im Märchen: „Der Kaiser ist

ja nackt!“ rufst? So etwa entstehen meine Bilder

„Zeitgeister“ und aktuell „Gurken und Rosen“–

nicht der Anfang meiner Probleme …

:)

Schenefeld, Anfang August 2019

Aug 5, 2019 - „Wir schaffen das!“ 20 [Seite 17 bis 20]


Nachgeschenkt

Okt 16, 2019

Das Leben ist ein Geschenk. Was kann ich

damit machen? Die Sparkasse hatte diese

Headline für verschiedene Spots: „Jeder

Mensch hat etwas, das ihn antreibt.“ Stimmt

das? Können wir über uns verfügen, wissen

wir, was Wirklichkeit bedeutet oder ist alles

Leben mehr oder weniger Blindflug? Was

macht Menschen im einzelnen aktiv, die

ganze Erde, Heimat und Basis des Lebens,

sich drehen – und wie heftig wäre ein Crash,

wenn eine Wand in der Umlaufbahn errichtet

würde – ein anderer Klotz im All wird falsch

geparkt?

Solange die Erde rast, solange das Leben wuselt

– alles ist in Bewegung. Wer fragt nach

dem Widerstand, wenn es nicht gut läuft,

weiß geschickt umzulenken, wenn der Schuh

drückt, der Rücken schmerzt? Höher springen

als gestern, mehr Geld als der Nachbar verdienen,

eine Liebe perfekt machen? Den Unfall

vermeiden. Wir können nicht beantworten,

warum unser Herz schlägt, aber wir spüren,

wann es Zeit wird zu essen. Wir müssen uns

nicht zum Atmen aufraffen, es geschieht. Das

Herz schlägt, ohne dass wir wissen warum.

Wo gehen wir hin?

Leben ist ein Antrieb, wie ein Motor, der immer

läuft. Wir sind unterwegs, sogar nachts

im Bett. Das Bett rast als Teil der Erde, und

wie an Bord von einem Schiff oder im Wagen

eines schnellen Zuges, können wir die Kabine

zum Deck hin wechseln oder mal in den

Speisewagen des Zuges gehen. Das Tempo

unseres Fahrzeuges ist die Basis von allem.

Wir sollten akzeptieren, dass wir diesen Zug

nicht wechseln können und den Zeitpunkt

der Abreise verlegen. Wir wissen nicht, wann

wir ankommen und wo.

Zunächst werden unsere Eltern bestimmen,

mit welchem Wagen wir fahren. Geschenkt

und nachgeschenkt: „Das Leben ist ein

Traum. Irgendwann wachst du auf“, hat mir

ein Freund gesagt. Chaotische Umgebung

stößt uns herum! Fahren im ruppigen Gelände,

ohne selbst lenken zu können. Ein Traum

mit schnellen Szenenwechseln. Erwachsen

ist erwachen? Der Unterschied besteht nicht

darin, dass Chaos und gestoßen werden ein

Ende hat. Wir sind in gewissem Maße steuerungsfähig:

„Ich gehe mal in den Speisewagen

und trinke ein Bier“, sagen wir, und der

Zug rast weiter.

Wir nehmen an, als kleiner Mensch in einer

großen Welt herumzulaufen, achten kaum

auf die Schwerkraft. Als Baby ist die Sache

durchaus anders. Totale Abhängigkeit, interpretiert

als gefühlte Allmacht. Fehlt was oder

juckt es irgendwo? Schreien genügt – und es

passiert etwas. Wirst du gefüttert und eigentlich

hat’s dich gejuckt, dann beginnst du eben

von Neuem damit, die Mama anzubrüllen. Du

bist immer in der Mitte deiner Welt. Drückt

etwas gegen deinen Hintern, lernst du, dich

auf den Bauch zu drehen. Nach einiger Zeit

drückst du den Boden mit Armen und Beinen

von dir weg. Die Tante nennt es: „Oh, er

krabbelt schon“, aber du weißt nicht, was eine

Tante ist, und dass du im Zimmer unterwegs

bist. Du drückst nur was weg.

Auf diese Weise bewegst du eine ganze Welt,

wie ein Hamster sein Rad dreht. Da ist kein

Boden für dich, es gibt keinen Teppich unten

oder eine Zimmerdecke oben. Das ist das,

was immer drückt, und allein durch drücken

und schieben mit deinen Gliedern, kannst du

einen Tapetenwechsel machen. Auch Mama

drückt dich! Du lernst nun, selbst zu drücken

und stoßen. Leben ist Widerstand, manchmal

mehr, dann wieder weniger. Halte es dir vom

Leib! Schmiege dich an, du bist nicht allein.

Selbstschutz ist leicht, solange Mama kommt.

Oben oder unten, das macht wenig Sinn für

dich. Du weißt, wie weit deine Füße von deinem

Mund entfernt sind. Das hast du schnell

besser verstanden als manche Erwachsene.

Wir kennen Dinge, die wir erledigen müssen:

aufs Klo gehen müssen wir. Wir müssen die

Miete bezahlen und pünktlich sein, wenn

etwas davon abhängt. Zu leben, kann Kampf

darum sein! Wir kennen Vorlieben, Sachen,

denen wir gern nachgehen und manches davon

ist eine Sucht. Es gibt Zeiten, in denen wir

Pflichten ausblenden: genießen, gutes Essen,

Sex – mit Freunden abhängen oder irgend

ein Spiel machen, Sport, nichts existentielles.

Einige lieben die Arbeit.

David Hockney beschreibt, wie er (als Jugendlicher)

bemerkte, dass es Menschen gibt,

Künstler, die nicht im Auftrag ein Werbeschild

(bis nächste Woche) fertigen oder den Hund

der Nachbarin porträtieren, sondern Bilder

für sich selbst malen. Hockney schreibt, als

Kind hätte er angenommen die Bilder im

Museum würden nach Feierabend gemalt,

wenn die Künstler mit ihren Werbeschildern

und Plakaten fertig wären. Das hing damit

zusammen, dass in seiner Nachbarschaft sehr

wohl Menschen anzutreffen waren, die kreativ

arbeiteten: Drucker und Fotografen für die

Dorfzeitung oder der Mann, der die Plakate

für das Theater malte. Die logische Perspektive

für einen talentierten Schüler ist wohl,

sich nach Perspektiven umzusehen: „Was soll

aus dem Jungen werden?“, werden Eltern,

Verwandte gesagt haben. Dazu Lebensweisheiten,

typische Tipps, die nicht gerade eine

Karriere als professioneller Fußballer, Musiker

oder Künstler nahelegen. So sind Eltern.

Hockney muss früh mit eigenem Denken begonnen

haben, sich frei gemacht haben von

dem was gesagt wird. Er begriff bereits zu

Beginn seines Lebens, dass Menschen Geld

verdienen mit Bildern, die nicht im Auftrag

entstanden. Er verstand, Hobby von Kunst zu

unterscheiden. Nachdem er es verinnerlicht

hatte, konnte er individuell arbeiten.

Bei mir war das durchaus anders. Eine Freundin

und ich hatten Anfang der Neunziger in

Chicago die Gelegenheit, Dennis Conner kennenzulernen.

Uli fragte ihn nach dem Spaß

beim Segeln. Das zu tun, was für andere nur

Wochenendvergnügen ist, aber die Antwort

fiel vergleichsweise brutal aus: kein Spaß,

nur Arbeit. Harte Arbeit, wir wären naiv hieß

das. Ich war noch (von uns beiden) besonders

naiv, ich habe mich nicht einmal getraut, ihn

anzusprechen.

Der Blog, es ist wie meine Malerei: Ich schreibe

zunächst für mich selbst. (Schreiben sei

das Sichtbarmachen von Gedanken, sagte

uns Professor Martin Andersch im Studium).

Gegenüber nachwachsenden Künstlern (die

im Kunstunterricht dahingelobt sind), habe

ich auch die Pflicht zu informieren, wie ich

über Malerei denke. Es sollte lohnend sein,

authentische Kenntnisse und das erreichte

Lebensgefühl weiterzugeben, möglichst frei

von der Absicht, alles gut wirken zu lassen.

Was bringt die Beschäftigung mit Kunst,

wenn Anerkennung weniger im Vordergrund

steht, als zu malen an sich?

Um den Eindruck nicht nachvollziehbarer

Überheblichkeit zu entkräften: Ich bin verheiratet,

habe parallel zur Info-Grafik mit Malerei

angefangen, nachdem klar wurde, dass ich

in der Summe verschiedener Einkommen einen

aktiven Hausmann und Papa geben kann.

Meine Eltern beteiligten uns an Mieteinnahmen,

das hat immer geholfen. Geld ist nicht

alles, mache nicht glücklich heißt es, und ich

wäre gern normal durchs Leben gegangen.

Ich möchte davon abraten, mich zu beneiden.

Als junger Erwachsener wurde ich wiederholt

aus der Bahn geworfen, und die Basis meines

Lebens wurde zu ergründen, warum ich

und andere psychisch erkranken. Ich wollte

eine so grundsätzliche Antwort über die verschiedenen

Diagnosen breit hinweg – und

forderte Gesundheit ohne Medikament und

Therapie vom Leben und der Gesellschaft

zurück. Das ist nun gut gelungen. Es hätte

gern schneller gehen können. Ich fand meine

Freunde dort, wo ich es nicht vermutet hätte,

wegweisend, danke! Wenn ich mich berufen

fühle, dann dazu, Erfahrungen hin zu malenund

schreiben.

Dem Arzt genügt die „Begleitung“ des Behandelten.

Er findet es nicht verkehrt, Erkrankte

nur diagnostisch zu beschreiben, wie in der

Biologie verschiedene Arten bezeichnet sind

und übliche Medizin anzuwenden. Er versteht

sich gern als lebenslanger Anleiter für diejenigen,

denen zunächst gar keine Wahl bleibt,

da sie unmöglich normal sein können. Ihnen

diese Möglichkeit zurück zu geben, das ist

ein Ziel, vor dem der Psychiater kapituliert. Er

schafft die Alternative pseudonormaler Zukunft.

Die eigene Wohnung, eine Arbeit, und

dass es zu einer gewissen Anpassung kommt,

die je nach Diagnose und Form typischen

Ausprägungen kranken Verhaltens milder

werden, da geht es hin. Falls die Krankheit

schubweise auftritt, wird angestrebt, dass die

Schübe weniger heftig sind und seltener. Das

sind erfahrungsgemäß erreichbare Ziele, die

das Team, bestehend aus Arzt und Patient, erwarten

kann.

Dass gerade diese pragmatische Haltung,

erreichen zu wollen was typischerweise

gelingen kann, ein Nährboden für weitere

unerwartete psychotische, aggressive oder

depressive Fehlentwicklung ist, die sich zur

Überraschung des Arztes trotz seiner Medikation

und Therapie ereignen, wird er kaum

einsehen wollen. Ein junger Mensch nimmt

nicht an, zum parallelen Leben neben den

normalen anderen, seinen früheren Mitschülern,

bestimmt zu sein. Man erwartet von ihm

lebenslang gepaart mit einem Arzt auszuhalten.

Ein den Eltern nachfolgender Dau-

Okt 16, 2019 - Nachgeschenkt 21 [Seite 21 bis 26]


ererzieher, der ohne mit dieser Erziehung je

zu einem Ende zu kommen zufrieden ist. So

ermuntert, in irgendeiner Ausbildung durchzuhalten,

damit irgendein Abschluss erreicht

wird, darf sich ein Betroffener schon gegängelt

fühlen. Psychisch Kranke fühlen aber

nicht, das ist ihr Problem.

Die Kraft eines Medikamentes wird unkontrolliertes

Aufwallen von Emotionen zu verhindern

suchen. Es ist damit der Zeitpunkt des

Aufwachens aus dem geleiteten Leben eines

Kindes in die Risikobereitschaft verantwortlicher

Selbsthandlung bis zum Sanktnimmerleinstag

verschoben. Kein Erwachsener kann

ohne tiefe Gefühle existieren. Sie sind gerade

die Basis seines Erlebens und der Grund, Verstand

und Mut zu entwickeln! Damit es nicht

zu quasi spätpubertären Schüben, nun mit

Gewalt in die Freiheit der anderen auszubrechen

oder Resignation und Rückentwicklung

kommt, fehlt zunächst die belastbare Theorie,

die menschliches Verhalten zuverlässig

beschreibt.

Belastbar hieße Messbarkeit der Entwicklung

eines jeden, sein Verhalten, Gefühle, Wohlbefinden

und auf der anderen Seite: Ängste,

Aggression und Ziele des Menschen – das ist

schwer zu fassen. Der Psychologe, der Philosoph,

der Psychiater, der Soziologe, viele

Gurus und nicht zuletzt die Kirche wissen

schon Bescheid. Einen Beleg ihres Könnens

bleiben sie uns schuldig. Eine rethorische

Frage: Warum erbringen sie den Nachweis

ihrer jeweiligen Kenntnis nicht dadurch, dass

sie entgleiste Mitglieder der Gesellschaft

zurück in geregelte Bahn bringen? Weil es

unmöglich ist, in einer dynamischen Entwicklung

mit unzähligen, daran beteiligten

Faktoren und Personen, den exakten Grund

und den dafür direkt verantwortlichen Helfer

zum persönlichen Erfolg und Wegweiser in

das erfüllte Leben zu definieren. Und weil es

nicht einmal möglich ist, erfolgreiches Leben

zu beschreiben.

Das erklärte Ziel der Gesellschaft ist gar

nicht, normalgesundes Verhalten der Erkrankten

dauerhaft zu erreichen. Sie werden

als Gestörte beruhigt, gelten als auffällig,

und wenn der gewohnte Ablauf des Systems

wiederhergestellt ist, genügt es. Wem genügt

das denn? Zwischen den Träumen, was uns

möglich sei, unseren Erwartungen ans Leben

und dem Erreichbaren können ganze Welten

liegen. Andere mussten auch zurückstecken.

Ich konnte nicht dafür kämpfen, meine Träume

wahr zu machen: Ich kannte meine Träume

gar nicht! Ich nahm nur unklare Sehnsucht

wahr. Ich wollte nicht behandelt, wie

an der Hand von jemandem leben. Geduldig

sein, Patient?

Ich bin nun ein Mensch.

Worin besteht Erfolg und was bestimmt

den Wert von Kunst? Ein Kunstsammler sei

(selbst) kein Künstler, sagt David Hockney im

schon erwähnten Buch. Ein bemerkenswerter

Satz, finde ich. Wer sich ein Bild kauft, malt

nicht. Wer ein Bild malt, hat es sich verdient

und muss es nicht bezahlen. Was ist das

wert?

In meinem Fall: Selbstwert. Das Bild, das bin

ich. Es ist mehr, als ein Roman für die Schublade.

Meine Bilder hängen an der Wand. Es gibt

eine Webseite und ich habe ausgestellt, auch

verkauft. Das steht nicht im Vordergrund. Eine

Entwicklung hat stattgefunden: Das primäre

Ziel ist zu malen, fertig zu werden mit der

selbst gestellten Aufgabe. So wie ich arbeite,

ist das eine langwierige, verzwickte Tätigkeit,

bis ich zufrieden bin. Es kommt nicht (mehr)

darauf an, von wem auch immer gelobt zu

werden oder gut bezahlt. Ich möchte einem

ästhetischen und inhaltlichen Problem in der

vollen Qualität meiner erlernten Fähigkeit

gerecht werden.

Es gibt kein Medikament, das klug macht. Es

ist Methode, junge Menschen die nicht klar

kommen, in lebenslange Abhängigkeit binden

zu wollen, als hätten sie Diabetes. Ich

habe nach Unabhängigkeit gesucht. Zwei

Menschen fallen mir ein, denen es ähnlich

ergangen ist wie mir, die mutmaßlich dem

Rat der Umgebung bis heute folgen. Der eine

wollte ein „saugeiler“ Saxophonist werden

(oder Tischler). Hat er gesagt. Der andere

wurde in seiner Ausbildung zum Landschaftsgärtner

aus dem normalen Leben gerissen, es

ging nicht mehr. Diagnose? Das heißt nicht

elegant: Burnout. Wir sind Rohrkrepierer, die

nie abgehoben sind.

Um eine attraktive Position in der Gesellschaft

auszufüllen, benötigt man das nötige

Selbstbewusstsein, dorthin zu gelangen. Als

ich jung war, hatte ich das kaum, wusste es

aber nicht. Das liegt ja in der Natur der Sache.

Selbstbewusstsein ist zunächst ein Wort,

etwa wie Intelligenz; das sind abstrakte

Verständigungshilfen und weniger zuverlässig

als Dingworte in einem Satz: Das blaue

Auto fährt auf einen Berg. Hätte jemand zu

mir gesagt: „Was machst du?“ Meine Antwort

damals möglicherweise: „Ich habe ein Boot“

– leicht ist es, in ein anderes Thema hinüber

zu segeln ...

Jede Erkrankung verläuft anders. Es gibt keine

Definition von Normalität. Behandelt wird,

wenn die Fähigkeit eigenverantwortlichen

Handelns in Frage gestellt werden kann. Wer

sich nicht ums Selbst kümmern kann oder

Gefahr ist im Verzug, wem wir die Macht

der Gesellschaft aufzwingen können, der ist

krank? Ein Kind kann ich zwingen, einen Erwachsenen

nur, wenn derjenige das mit sich

machen lässt – oder ich sicher sein kann,

leicht unterstützt zu werden, wenn Hilfe nötig

scheint: Das Gesetz unterstützt die Ordnung.

Hier soll nicht diskutiert werden, dass

Menschen zu Unrecht untergebracht sind.

Die Klinik ist definitiv ein Schutzraum, und

moderne Medikamente sind gut wirksam.

Notsituationen können in der strukturiert

vernetzten Zivilisation gut entspannt werden,

und in diesem Text geht es weniger darum,

dass die moderne Welt vermehrt psychisch

kranke Menschen behandelt, möglicherweise

erst hervorbringt.

Viele gehen aus eigenem Antrieb in eine Klinik,

zu einem Therapeuten. Sie stören sich

nicht daran, medikamentöse Unterstützung

und therapeutische Hilfe anzunehmen, wie

sie z.B. eine Brille oder die Verwendung von

orthopädischen Einlagen in Schuhen gern

tolerieren und mit der Vorstellung modernen

Menschseins vereinbaren können. Der Rollator

ist heute ein vertrautes Alltagsgerät. Die

Ausstattung eines aktuell typischen Fahrradfahrers?

Für einen Zeitreisenden aus der

nahen Vergangenheit gewöhnungsbedürftig!

Freiheit und Unabhängigkeit werden weniger

verlangt als gleichmäßige Umgebung. Das

mag daran liegen, dass Kontrollverlust mehr

gefürchtet ist, als individuelle Lebensgestaltung,

dem damit verbundenen Risiko. Auch

viele moderne gut integrierte Menschen sind

mit einer Existenz wie aus dem Baukasten

nicht unzufrieden, solange sie nicht isoliert

sind und ähnliche und andere Gruppen, in

wirtschaftlicher Stellung ober- und unterhalb

ihrer eigenen Position erkennbar sind.

Ein gesamtgesellschaftlich zufriedenes Irrenhaus

mit unmündigen Menschen – wenn eine

feste Machtstruktur besonnen regiert, wie in

Orwells Roman? Es ist schon vorstellbar.

Einige sind froh, dass man ihnen zuhört. Mich

irritiert, wie standardisiert dem Kranken die

Hilfe gegeben wird, wenn keine Akutsituation

zum Handeln zwingt. Sich die Arme ritzen?

Der Trott durch die Einrichtungen: „Wenn ich

mit der Therapie fertig bin und anschließend

zu Hause, wird alles wie vorher. Mama ist

wieder immer da, und es beginnt ja doch von

vorn“, so etwa hat es mir eine junge Frau in

der Klinik anvertraut. Resignation und intelligentes

Begreifen gleichzeitig; das konterkariert

jede hochqualifizierte Behandlung mit

wenigen lakonischen Sätzen, deprimierend.

Polizeibekannt? Natürlich werden Menschen

vom sozialpsychiatrischen Dienst ungefragt

helfend an die Hand genommen (wie eine

Seniorin, die gar nicht über die Straße möchte).

Das passiert, wenn der Staat glaubt, vorausschauend

sein zu müssen. Es ist dieser

Begriff der „Auffälligkeit“, an dem ich mich

störe. Wenn es einfach wäre, Probleme vorauszusehen,

so wie wir sagen können: „Dieses

Kind hat die Masern“, dann könnten die

nötigen Schritte effektiv getan werden. Auf

der anderen Seite beschreibt die erschreckend

oft wiederkehrende Einordnung: „Der

Täter war zuvor unauffällig“, wenn ein Amoklauf

stattgefunden hat, dass es uns nicht gelingt,

Menschen in Gesellschaft zu sehen und

Beteiligte vor einem Rätsel (wie vor einem

Ausserirdischen) flüchten, wenn es passiert.

Es ist immer Aggression im Spiel, die sich

letztlich gegen den Kranken selbst richtet.

Es spielt keine Rolle, wie wir die Erkrankung

nennen. Sie ist sozial motiviert. Sie beschädigt

den Betroffenen. Sie kann die Umgebung

verletzen, zusätzlich, das hängt ja vor

allem von der Festigkeit des jeweiligen Außen

ab. Bei einer Explosion im Volksfest begreifen

die Besucher nicht, dass sie für ihre

gesunde Fröhlichkeit bezahlen. Sie kennen

den Täter und seinen Neid auf ihr Dasein gar

nicht, dem nichts gesünderes zur Verfügung

steht, seine Gefühle auszuleben. Eine starke

Motivation ist nötig, um gewalttätig zu sein.

Wir sollten nie vergessen, dass man es nicht

mal so eben fertigbringt. Die breite Spanne

des momentanen Lebensgefühls, zwischen

dem Glühwein trinkenden Mitglied einer feiernden

Gruppe und dem zum gleichen Zeitpunkt

seinen Lkw in den Markt lenkenden

Attentäter, schockiert besonders, wenn wir

uns vorstellen, wie die Rollen der Menschen

getauscht werden könnten. Das ist der Moment,

wo sich der Normale für menschlich

hält und den Amokläufer für außerhalb jeder

Vorstellung. Eine gruppenweise organisierte

terroristische Tat, ein religiös motivierter Anschlag;

in jedem Fall ist der Amokläufer bereit

zu sterben! Das ist krank, wie auch immer

es anschließend eingeordnet wird. Das ist in

der Regel ein Mann, er ist bereit zu intensiver

Aggression. Wir sollten annehmen, dass Motive

sich Geltung zu verschaffen, wesentlich

sind. Zu realisieren ist, dass wir im Fall von

Amok auf kurzem Wege die Todesstrafe als

Teil unserer Gesetzgebung akzeptieren.

Okt 16, 2019 - Nachgeschenkt 22 [Seite 21 bis 26]


Bei Depression geht es nicht um Traurigkeit,

sondern darum, eine ganze Familie unter

Dampf und in vermeintlicher Schuld zu halten;

das ist aggressiv. Wenn eine junge Frau

sich die Arme ritzt, sucht sie ihre Grenze

wahrzunehmen und ist aggressiv, zunächst

gegen sich selbst. Das übt aber auch Druck

auf Eltern und Freunde aus, man fühlt sich

zum Mitleid gezwungen. In jedem Fall wird

Angst und die Unfähigkeit, sie aktiv gesund

einzuordnen, der Grund sein. Statt kanalisierter

Risikobereitschaft mit einem taktischen

Ziel, das uns gerade deswegen voranbringt,

bahnt sich unklare Aggression den Weg.

Was mich zum Nachdenken brachte, war

seinerzeit der Fehler in der Argumentation

des behandelnden Arztes, ich wäre außerhalb

meiner Krankheitsschübe gesund. Es

ist anzunehmen, dass damit mein Selbstbewusstsein

gestärkt werden sollte. Diese Zeit

könne genutzt werden, neue Erkrankungen

zu verhindern. Das ist uns aber regelmäßig

misslungen. Krank macht, was eindringt wie

ein Virus. Auch verbalisierte oder fantasierte

Risiken. Es geht uns im Kopf rum, Angst fährt

in die Glieder, und einige merken nicht einmal,

wie Angst sich anfühlt. Und zwar, weil

die das Selbst verletzende Angriffe anderer

durch unbewusste und individuell verdrehte

Denkweise geradezu in die eigene Psyche

hineingebeten werden. Abgrenzung heißt

also Abwehr. Dass im Versuch nicht krank zu

werden, Aggression das letzte, aber letztlich

nachvollziehbare Mittel wird, ist für mich nur

zu verständlich. Wem also das Vermeiden

jeder heftigen Reaktion wie in das Gehirn

geschrieben wurde, ein Gebunden sein im

Grundsatz des Ichs, dem wird sich diese Kraft,

wie das Leben selbst, einen Weg bahnen,

ohne nach Verletzlichkeit zu fragen.

Es gibt den ganzen Tag über Handlungen

sich im Lebensweg überkreuzender Personen.

Aus großer Entfernung betrachtet, wären das

nur wuselnde, rempelnde Teilchen. Dass wir

in diesem Prozess noch denken, fühlen und

etwas erwarten, wäre aus der Distanz ganz

unwesentlich. So betrachtet ist hier nur eine

einzige Kraft aktiv. Wie beim Blick auf die

Strudel und Schäume im Schraubenwasser

eines ablegenden Fährschiffs, würden wir

keinem Tropfen im Wasser das Selbst zusprechen.

Jeder einzelne Schluck Wasser müsste

sich allein darum kümmern, seine Individualität

(buchstäblich) nicht zu verwässern. Die eigene

Grenze zu definieren, ist unumgänglich

und ein individueller Lernprozess, wenn wir

nicht die Identität an das Allgemeine verlieren

wollen. Ohne eine eindeutige Definition

des Selbst, kann sich unser Organismus nicht

gesund entwickeln und wird verkümmern.

Ich begann riskanter und mutiger zu werden,

wollte bewusst angreifbar werden, mich dabei

beobachten, wie ich mich individuell in

Schwierigkeiten brachte! Provokation wurde

Methode – das fing schon damit an, die Erkrankung

zuzugeben. Wer nur freundlich tat,

musste ins eigene Messer seines inszenierten

Rufmordes laufen, wenn ich zuverlässig blieb

und die Spekulationen, was ich in Wahrheit

für einer sei, nicht eintrafen. Falsche Freunde

raus! Was habe ich dabei gelernt? Zunächst

den jeweils eigenen Anteil meiner Angst,

also die vielen möglichen Schwierigkeiten,

die sich aus einer Aktivität von mir und dem

gewünschten Ergebnis ergeben können,

wenn etwas nicht klappt. Ich musste mich

mit meinen Erwartungen auseinandersetzen.

Die Erfahrungen waren ernüchternd. Erst allmählich

fand ich einen persönlichen Stil, damit

umzugehen, dass ein von mir erwartetes

Verhalten anderer sich oft nicht erfüllte. Mir

war also nie klar gewesen, wie unzuverlässig

nicht nur das Wetter, sondern eigentlich jede

Wirklichkeitsvorstellung ist. (Malen hilft).

Ausländer kennen Probleme bei der Wohnungssuche

und in anderen Lebensbereichen.

Weniger angesehene Mitglieder der

Gesellschaft werden ebenfalls ausgegrenzt.

Ausgegrenzt sein kränkt, es braucht keine

bessere Erklärung, keine Diagnose oder den

Spezialisten, um zu begreifen, dass einzig die

Fähigkeit innerer Stärke gegen diese Mechanismen

hilft. Die Alternative wäre, die krank

machende Umgebung zu wechseln, aber wohin?

Oder eine Art Schutz zwischen mich und

die angreifenden Belastungen durch andere:

Medikament, Beichtvater, die individuelle

Rüstung? Gut möglich, dass die Pharma so

denkt. Psychische Krankheiten sind traumatisch.

Wenn Selbstbewusstsein zunächst aus

dem Meistern von Schwierigkeiten hergeleitet

werden kann – ich spüre meine Körperlichkeit,

weiß um meinen Verstand, kenne

meine Fähigkeiten, Schwächen, und meistens

gelingt es mir, ein Ziel zu erreichen – dann

wird schnell klar, wie sehr ein unvermeidbarer

Aufenthalt in der Klinik runterzieht.

Ein Teufelskreis, den ich letztendlich nur

ohne die Hilfe der Ärzte durchbrechen kann.

Mit jedem weiteren Tag der Unterstützung

akzeptiere ich eine abhängige Lebenssituation,

und die Krankheit ist die Folge von Unselbstständigkeit.

Innere Stärke kann durch

nichts als den eigenen Lernprozess erworben

werden. Das kann natürlich durch eine Art

coaching unterstützt werden, und selbstverständlich

können Medikamente zeitweise

sinnvoll unterstützen. Gefühle und Sensibilität

medikamentös zu dämpfen, verhindert jedoch

Risiken wahrzunehmen und verlängert

den Weg in die Unabhängigkeit. Wie lange

und wie bindend soll das sein? Aus diesen

Angeboten und Überlegungen ein eigenes

Konzept zu formen, ist der nötige Anteil auf

dem Weg zum gesunden Selbst.

Jede ausgegrenzte Gruppe kann sich untereinander

solidarisieren und daraus Stärke

für den einzelnen formen. Das funktioniert

aber nur, wenn diese Gruppe sich untereinander

sozial verhalten und erkennen kann.

Es liegt auf der Hand, dass Menschen mit

psychischen Krankheiten kaum so effizient

zusammenhalten, wie etwa die afrikanischen

Sklaven, die in Amerika noch heute diesen

Prozess ihrer Befreiung weiter und weiter gehen.

Die Schuld liegt in der Hautfarbe? Da ist

klar, dass die Farbe der Schuldigen weiß ist.

Es wird schwieriger, wenn der Unterschied

nur ein wenig größer ist als die Farbe der

Haut, das liegt auf der Hand.

Wenn Männer mit Männern Liebe machen,

Männer mit Kindern Liebe machen; die Gesellschaft

mobbt nicht grundlos. Es geht um

den Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt.

Inzucht wurde als Problem erkannt

und verboten. Gleichgeschlechtliche Liebe

haben Generationen als krank empfunden,

und das sehen wir heute anders! Wir konnten

uns dazu durchringen, ein drittes Geschlecht:

„Divers“ mit einem Wort zu benennen, diese

Menschen gibt es in großer Zahl, überfällig.

Wir können Sex mit Kindern weiter nicht zulassen

– und in der Skizze dieser Aufzählung,

sollte ein flexibel denkender Mensch die

wahren Errungenschaften unserer Zivilisation

begreifen. Es ist nicht einfach, tolerant zu

sein. Unterscheidungsfähigkeit muss gelehrt

und diskutiert werden: Wir geben dem Bettler,

aber wir verschließen unsere Haustür.

Das Problem der psychisch Kranken ist, dass

sie durchaus zu Recht ausgegrenzt werden

und zudem nicht fähig sind, sich zu solidarisieren,

Gefahr ist im Verzug. Helfen bedeutet

in jedem Fall sich einzulassen, bestimmt

mehr als auf eine andere Hautfarbe. Missbrauch

der Helfer kann problematisch sein:

Ärztepfusch wird in Zahlen belegt. Soundso

viele wurden falsch operiert, am Darm, am

Rücken, am Auge – wer wurde falsch therapiert?

Wer sich nicht wehrt, wird unter den

Tisch gekehrt. Darüber steht nichts in den

Statistiken am Jahresende. Die besten Chancen

hat ein psychisch Kranker, wenn er nicht

mehr krank wird. Dann bleibt weiter die nicht

änderbare Vergangenheit, die unter Umständen

unvermeidlich bekannt ist, und das ist

eine Herausforderung! (Ich nehme sie täglich

an).

Heute gibt es nicht selten als Antwort auf die

Frage, die Jungs früher mit: „Lokomotivführer“

und Mädchen mit: „Verkäuferin“ beantwortet

haben: „Erst ein soziales Jahr und dann studieren.“

Seitdem wir einen Job suchen, mit

dem Partner zusammen und ein Arbeitsplatz

für uns geschaffen wird, gibt es die Welt von

gestern nicht mehr. Ein Buchtitel von Stefan

Zweig, ich habe das gelesen: Berufen und

verheiratet war man.

Meine Mutter verwendete noch die Anrede

„Fräulein“ selbstverständlich, wie die Engländer

„Miss“ sagen. Niemand möchte zurück

in eine Zeit, die nur von Menschen verklärt

wird, die darüber den verbalen Beschiss, den

jede Epoche auf ihre Art hatte, ausblenden.

Immer wieder werden junge Menschen von

Erwachsenen getäuscht, auch wenn es gar

nicht beabsichtigt ist. Erwachsene verstehen

die Realität genau so wenig. Gerade ältere

Leute können oft nicht nachvollziehen, dass

Jugendliche sich Fragen stellen, ob sie überhaupt

eine Zukunft haben. Eine Wirklichkeitsauffassung

ist ein Instrument zur Navigation.

Sie ist nur so gut wie die Seekarte, nach der

das Schiff gesteuert wird. Das Unglück, ein

psychisch krankes Wesen heranzubilden beginnt,

wenn das Kind die Dinge genau wissen

möchte, die seine Umgebung mit einer

Erklärung befriedigt, die nur dem nützt der

sie verbalisiert. Die Eltern reiten ein Pferd

durch die bekannten Wiesen, schenken ihrem

Kind gleich ein Flugzeug, drücken ihm die

Flurkarte vom Gelände neben dem Hof in die

Hand – und der Lütte hebt ab – fliegt, allein

im Cockpit, hinter dem Wald über das offene

Meer in die Nacht; so etwa.

Manche finden sich zurecht, andere weniger.

Opa wird noch stutzig, wenn die Enkeltochter

antwortet: „Ich möchte studieren.“ Er hakt

nach: „Was denn?“ Eltern, Freunde und das

Mädchen selbst, sie schieben den Zeitpunkt

selbstverantwortlicher Existenz gern auf. Die

Welt lebt davon, Schulden zu machen. Die

Absichtserklärung ist salonfähig geworden.

Die Wahrheit wird durch „Fake-News“ ersetzt,

wir haben ein neues Wort dafür – und müssen

deswegen nichts mehr tun? Das macht

die künstliche Intelligenz für uns, und Elon

Musk fliegt zum Mars. Senkrechtstarter wie

er, ziehen an der Masse typischer Schulabgänger

vorbei, das ist nicht neu, und wir können

annehmen, dass der entspannte Weg in

das Leben seine guten Seiten hat. Aus gutem

Okt 16, 2019 - Nachgeschenkt 23 [Seite 21 bis 26]


Grund möchte ich trotzdem davor warnen,

emotional auf Pump zu leben und der Angst,

vor Entscheidungen davonzulaufen.

Der Frisör, zu dem mein Vater und ich gingen,

als ich ein Kind und später Jugendlicher war,

beurteilte meinen Vater: „Bassi kann ja schon

austeilen, einen spöttischen Witz machen,

dein alter Herr. Aber, kann der auch einstecken?“

Ich erinnere mich an diesen Moment,

ich habe das nämlich nicht begriffen, war ich

fünfzehn? Auch später, mit vielleicht gut 20

Jahren, hätte ich ein Gespräch über Gefühle

und Selbstbewusstsein nicht wirklich führen

können: ich habe mein Unvermögen überspielt,

mich in jedem Fall für normal wie jedermann

gehalten und bin sicher, die Mehrzahl

meiner Zeitgenossen hätte auch nichts

an mir irritiert. Ich störte nicht.

Neulich: Ich hörte vor nicht allzu langer Zeit

im Bus das Telefonat einer Frau mit (es war

aufgrund von Lautstärke und Drang in ihrer

Stimme unvermeidlich), die sich ausgiebig

ins Zeug legte, einen Mann zu beschreiben:

„Er hat kein eigenes Standing“, sagte sie unter

anderem (und möglicherweise hörten wir

unbeteiligten Mitfahrer ein Gespräch unter

Kollegen, dann wäre die Frau Psychologin

gewesen). Es kann natürlich auch um den

Ex gegangen sein. Er kam nicht gut weg, das

merkte man.

Hier soll nicht erörtert werden, was sich im

Bus gehört. Ich kann etwas zu meiner Freundin

sagen und es ist gut möglich, dass sie mich

so versteht, wie ich es meine. Was passierte

wohl, wenn ein Arzt mir sagt: „Sie haben kein

eigenes Standing“, oder dergleichen? Der

Sinn und Zweck, die Zuverlässigkeit, Besserung

zu erzielen, die verschiedenen Ansätze

von Therapie in Relation zur Form einer Erkrankung,

das kann diskutiert werden. Bevor

jemand selbstbewusster und damit gesünder

leben kann, muss er den Ist-Zustand wahrnehmen.

Dann folgt eine für Betroffene, wie

diejenigen, die sich berufen fühlen zu helfen,

interessante Frage, wie etwas besser werden

soll, das zunächst eindeutig scheint, bei näherer

Betrachtung aber ein Wort ist, das nur

unter „Insidern“ begriffen wird? Ein selbstbewusster

Mensch verfügt über eine normalgesunde

Fähigkeit, aber in der Regel so normal,

dass es ihm kaum möglich ist, sein Tun zu

erklären. „Brust raus, Schultern zurück!“ oder

„Reiß dich zusammen“, Tipps die Haltung betreffend

sind bekannte aber hilflose Versuche,

offensichtlich durchsetztungsunfähige

Zeitgenossen zu bessern.

In eine Castingshow gelangen immer wieder

junge Menschen, die gar nicht singen können.

Eigentlich kann das gar nicht sein, wer singt,

wird doch unweigerlich gehört und kritisch

bewertet, die Eltern, die Freunde, ein Musiklehrer:

Wie kommt es, dass niemand korrigierend

eingegriffen hat? Und sich weiter junge

Menschen blamieren? Das ist ein wesentlicher

Grund für den Erfolg dieser Formate. Es

sollte uns zu denken geben. Es ist nicht, dass

Dieter Bohlen böse ist, es ist vielmehr so,

dass er verlässlich ist. Die Umgebung mancher

Kinder ist unzuverlässig. Das Problem

ist nicht der harte Juror, es ist auch nicht, dass

zu singen schwierig ist oder es nur ums Geld

ginge. Es ist so, dass da immer Menschen

sind, die sich selbst nicht wahrnehmen.

Ich war sehr gut im Zeichnen. Hätte es eine

Castingshow gegeben, in der die Bewerber

etwas zeichnen, da hätte ich gute Chance auf

einen Recall gehabt! Es gibt auch Talentierte

im Casting, die werden nicht vorgeführt, aber

sie gewinnen die Show nicht. Da spielen ja

einige Faktoren eine Rolle. Zunächst einmal

wird, wer singen kann, schon deswegen ein

besseres Körpergefühl mitbringen oder umgekehrt,

freies Atmen wird Singen als natürliche

Ausdrucksform gratis mitliefern. Eine

gute Verfügbarkeit der Muskulatur, eine flexible,

sportliche Körperhaltung; Musik machen

und Selbstbewusstsein bedingen einander.

In gewisser Weise ist auch das eine eigene

Erfahrung. Heute kann ich akzeptabel singen,

sagen wir mal: für den Hausgebrauch, verstehe

in welchem Takt ich bin, wann der Chorus

von vorn beginnt und kann auch bemerken,

wenn ich falsch liege und mich anpassen.

Ich weiß, was ich mache und kann besser

werden. Es kommt darauf an, wieviel ich übe.

Als ich jung war, liebte ich schon Musik, ging

aber der Auseinandersetzung (mit mir selbst)

gut zu sein, dass ich mit anderen zusammen

hätte musizieren können, aus dem Weg. Nicht

nur, weil es keinen guten Unterricht in der

normalen Schule gab, ich organisierte nicht

diesen Traum, Musik zu machen. Das ist keine

Frage von Talent, das war ein Problem

mangelnder sozialer Kompetenz. Insofern

fühle ich mich berufen, über diese Dinge

zu schreiben und die Defizite meiner Erziehung

anzusprechen: als meine wesentliche

Leistung herauszuarbeiten, wie meine Kunst

mich dorthin führte, wo ich hin musste, ohne

es zu wissen. Da sind ja immer neue junge

Menschen, denen es ähnlich geht.

Erwachsene sollten weniger die vergangene

Zeit beschuldigen oder versuchen, sich selbst

in einem möglichst guten Licht glänzen zu

lassen, sondern Wege zeigen, die gelungen

sind und Irrtümer nicht verschweigen. Ich

hätte weiß Gott gern anders gelebt und

schneller und effektiver sein können, dorthin

zu gelangen, wo ich heute gern bin. Damit

wären auch Sehnsüchte erfüllbar gewesen,

die jetzt nicht nachholbar sind. Die Kunst besteht

in der Fähigkeit, die eigene Realität zu

erkennen, zu tun was heute möglich ist. Es

sei nie zu spät, sagt man. Aber das ist nur relativ

wahr. Auf jeden Topf passe ein Deckel, ist

genauso Unfug. Niemand bleibt der Topf, der

er einmal gewesen ist. Dass sich hingegen

stets neue Türen öffnen und

wir, klüger geworden, nicht

anderswo sinnlos gegenan

rennen? Das stimmt.

Natürlich verdanken einige ihr

erfülltes Leben einer gesunden

Familie, für die sie nichts

konnten, als sie dorthinein

geboren wurden. Es ist einfach,

rückblickend den Eltern

für unser Versagen die Schuld

zu geben, und es stimmt, dass

viele Schwierigkeiten in der

Kindheit beginnen. Gleichwohl

gibt es erstaunliche Lebenswege, die

in armseligen Verhältnissen ihren Anfang

genommen haben. Ich hätte mehr erreichen

können, aber niemand hätte es so machen

können wie gerade ich. Mein Leben in seiner

Einzigartigkeit (wie das von jedem einzig ist),

das gefällt mir doch!

Ich muss nicht Musik machen, aber ich hätte

gern früher mit der Trompete angefangen!

Ich verstand nicht, warum ich damit nicht zurecht

kam und heute, wo es mir als Fähigkeit

zur Verfügung steht, kann ich alternativ ein

wenig unter der Dusche singen und mich auf

das Malen konzentrieren. Ebenfalls andere

Wünsche, die nicht wahr wurden: Selbstbewusstsein

bedeutet gleichermaßen zufrieden

zu sein, mal passiv zu bleiben, wie über den

nötigen (sogar aggressiv) voran treibenden

Antrieb zu verfügen, wenn es wichtig ist. Sich

verteidigen zu können, im Falle man vorgeführt

wird – und anschließend unproblematisch

auszuschlafen, die Fähigkeit, sich von

Stress zu erholen, ich kann das heute: tun

und lassen.

Der Grund dafür, dass Bilder zu malen so

wertvoll ist? Der Wert für das Selbst, ungestört

von anderen und doch im Widerstreit

mit der Welt fertig werden, ich kann das erklären:

Ein Gesetz der Fläche, weit mehr als

der Geschmack der ungeübten Betrachter,

eine Art inneres Raster. Der Mensch findet

sich selbst, im Erforschen der Natur. Unser

Gehirn erkennt Ordnung, wo keine ist, und

das mag darin liegen, dass jedes Wesen darauf

angewiesen ist, Wege zu finden. In einem

Urwald Sinn zu sehen? Für eine Pflanze

besteht der Sinn darin, inmitten anderer das

Sonnenlicht zu finden und Wasser. Sie wird

ihre Wurzeln dorthin treiben, wo diese die

Feuchtigkeit nutzen können, ihre Äste und

Blätter dem Licht zuwenden. Der Mensch

wird sich im Gestrüpp einen Pfad bahnen, der

ihn auch morgen sicher nach Hause führt,

wie der Wurm, das Wildschwein, der Vogel

das jeweilige existentielle üben, gerade diese

Umgebung zu nutzen.

Eine leere weiße Leinwand ist eine Wiese,

und der Maler findet darauf den Garten Eden

oder eine chaotische Struktur. Wer das Bild

schließlich anschaut, sollte genauso Wege

finden können, die ein Mensch nachvollziehen

kann, weil er genauso Mensch ist. In

einer Abbildung Raum zu erkennen, wir müssen

das lernen. Die Kunst der Perspektive in

einer Darstellung der Natur anzuwenden, als

eine Technik menschliches Sehen zu imitieren,

wurde studiert wie die Mathematik. Wir

können durchaus diskutieren, ob hier etwas

gefunden wurde, das die Wirklichkeit ist –

oder ob es die menschliche Interpretation

der Welt ist. Aus dem Bereich realer Strukturen,

kann das menschliche Auge seinen Teil

der sichtbaren Farben abbilden, unser Ohr

über einen Abschnitt in

der Skala möglicher Töne

verfügen. Die Wissenschaft

konnte belegen, dass die

existierende Realität größer

ist. Tiere sehen spektral

anderes, können Dinge

hören, die uns verborgen

bleiben. Die Gläubigen

der verschiedenen Religionen

suchen zu akzeptieren,

dass unser irdisches

Dasein größer ist, als wir

erkennen können.

In jedem Fall wird ein Mensch nach längerer

Beschäftigung mit Kunst Methoden finden,

die ansprechende Arbeiten hervorbringen.

Richtig von falsch zu unterscheiden, kann

individuell begriffen werden: Mit wachsender

Erfahrung erkenne ich, was mich am Gemälde

(noch) stört. Ich kann mein Bild nun

genau so lange verbessern, bis es mir selbst

als gelungen erscheint. In sofern kann ein erfahrener

Maler auf die Bewertung einer Jury

verzichten und zufrieden sein: alle inneren

Kritiker wurden zu Freunden, haben gemeinsam

gemalt. Das genau ist der innere Frieden

real erlebt.

Okt 16, 2019 - Nachgeschenkt 24 [Seite 21 bis 26]


Bis mein Bild fertig ist, müssen viele den Weg

weisende Stimmen darum ringen. Meine Frau

und mein Sohn wissen, wie laut und unflätig

ausfallend ich werden kann, wenn ich wieder

einmal mit den Umständen verwechsle, was

ich in Wahrheit selbst verbocke. Damit ein

gesundes System von innen handlungsfähig

wird, müssen die vielgesichtigen Motive außen

in eine geschlossene Form zu eindeutiger

Aktivität gebunden werden.

Das Gesicht der guten Jazztrompeter beim

Vortrag zeigt die Intensität innerer Kräfte

und den Einsatz der Muskulatur in einer

Weise, die niemand mit dem Gesicht zuwege

bringt, der es nicht so gekonnt gelernt hat.

Youtube zeigt Freddie Hubbard in Großaufnahme,

und keiner der nie spielte, könnte

ihn imitieren. Auch die anderen Stars dieser

Musik, einzigartig sind sie, unverwechselbar.

Das ist der Mensch. Was ist die Gage des

Abends oder der Preis eines Bildes dagegen?

Das muss jeder für sich einschätzen. Für mich

zählt einzig Erfahrung, die ich durch das Machen

weiter fortführen kann. Es geht mir viel

weniger darum, wie gekonnt ein Künstler

ist. Es geht um den eigenen Fortschritt, und

das kann vom ersten zum zweiten Bild, das

überhaupt begonnen wurde, Ziel sein. Musik:

Louis Armstrong sagt in einem Buch: „Ich studierte

die Akkorde und Harmonien und begriff

anschließend, dass ich sie schon vorher

die ganze Zeit gespielt hatte.“

Wir entdecken die Welt, wir finden uns

selbst.

Natürlich entwickeln die Künste sich weiter.

Dinge werden gemacht, die früher nicht akzeptiert

wurden. Ehrlicherweise sollten wir

zugeben, dass inzwischen viel erfunden wurde

und die Kunst nicht nur darin besteht, insgesamt

neu zu werden sondern auch darin,

Varianten innerhalb bekannter Ausdrucksformen

zu finden. Kreativ zu schaffen, innerhalb

eines Rahmens, ist immer individuell neu. In

der Malerei können wir das wörtlich nehmen.

Die Bilder sind in der Regel rechteckig, haben

einen Abschluss der Fläche an Kanten, und

innerhalb der vier Seiten besteht die Kunst

darin, ein eigenes Motiv zu schaffen. Es muss

das Malen nicht abgeschafft werden als keine

Kunst, weil es ja von früher schon da ist. Auf

der anderen Seite ist es eine unendliche Folge

von Entdeckungen, die ein Maler macht,

im Probieren was gut aussieht, zielführend

einer Idee und was nicht.

Entwicklungsmöglichkeiten sind bessere

Heilung. Ein Mensch ist kein zu flickender

Stuhl. Leben ist ein Prozess, ein Körper bewegt

sich in der Zeit, und unser Gehirn passt

sich gern lernend an neue Gegebenheiten

an, wenn wir ein Feld neuer Erfahrungen

betreten können. Um sich auf sich selbst zurück

zu werfen, wie Robinson auf die Insel;

es nützt mehr, aktiv etwas zu tun, ohne dass

jemand stört, als auszuschlafen und sich zu

entspannen. Die Erholung vom unvermeidbaren

Stress geschieht im erfüllten Spiel, mehr

noch im Erschaffen der eigenen Spielwiese!

Beim Ausfüllen eines Kreuzworträtsels oder

beim Spiel mit einer gekauften Einrichtung,

eine App oder dergleichen, würde es nicht so

gut wirken.

Nein, zu Beginn einer künstlerischen Entwicklung

werden wir unweigerlich darüber

nachsinnen, wie die Betrachter, die wir uns

während der Arbeit zunächst nur vorstellen,

reagieren. Das muss ja auch so sein, denn ein

Bild transportiert einen Inhalt in die Öffentlichkeit,

und zu malen und nicht an die zu

denken, die wir erreichen wollen; das wird es

nicht geben. Es wäre unehrlich zu behaupten,

dass es ganz egal sei. Die Freiheit des Denkens

besteht gerade darin, genau zu sein.

Unselbstständigkeit ist vorausschauend gehorsame

Anpassung an andere. Das kommt

nicht von ungefähr. Abfällig wird ein kranker

Mensch als „gestört“ bezeichnet: Im Ausdruck

kommt die Wahrheit seiner Macke durch, die

anderen waren schuld. Wenn ein Kind oft unterbrochen

wird, etwas zu tun das nicht ganz

einfach ist, wird das Denken dieses späteren

Erwachsenen geprägt von inneren Stimmen

der Einmischung sein, auch wenn niemand

im Raum ist.

Unzuverlässige Liebe: überraschend, nicht

nachvollziehbar alleingelassen. Dazu Überforderung

nach dem Motto: „Du schaffst das,

mein Kind ist etwas ganz Besonderes!“, von

Bezugspersonen, wenn wir als Kind unänderlich

von ihnen abhängig sind, ist der Anfang.

So entwickelt ein Kind seine Selbst-Störung.

Es handelt nur, um von anderen dafür gelobt

zu werden. Aus der Gewohnheit, immer

unterbrochen zu werden, lernt der kindliche

Organismus, die in seine Tätigkeit einbrechende

Stimme schon vorher zu ahnen. Daraus

entwickelt sich das abhängige Denken.

Eine Stimme im Kopf spricht. Umgangssprachlich

das Gegenteil wäre Bauchgefühl

oder Intuition, dieses beherzte, risikofreudige

Entscheiden – kein psychisch Kranker kann

das. Allenfalls zwanghafte, heftige Aggressivität

stehen zur Verfügung, der böse Rest der

Freiheit. Gesunde wägen noch ab, ob sie dem

Verstand folgen oder sich mal machen lassen.

Sie können wählen.

Die Eltern: Lob im Übermaß? Das schadet

nicht weniger, als vernichtende Kritik. Es ist

das Zuviel an Einmischung, im Wechsel mit

völligem Alleingelassen sein, in einem Alter,

wo Kinder abhängig sind. Ernährer haben die

Macht. Wie beim Haustier: Der böse Hund ist

das Ergebnis falscher Haltung.

Das Kind: Wir begeben uns außerhalb unsres

Selbst – als wäre die Regierung des Landes

ins Exil gegangen, bedrängt vom Chaos im

heimischen System – im Beobachten anderer,

wie wir auf sie wirken könnten. Statt

innerhalb unsrer Person mit effektiven Maßnahmen

Vertrauen zu schaffen, ist das eine

Flucht (die unnötig wird, wenn ein Erwachsener

gelernt hat, Körper und Geist zu einen).

Ich war in vielem früh überfordert, schon

deswegen, weil ich einen schlechten Start im

örtlichen Kindergarten hatte, sozialer Druck

andauerte, als ich aus heutiger Einschätzung

verfrüht die Grundschule beginnen musste.

Ein unnötiger Versuch, anschließend das

Gymnasium zu besuchen, erscheint mir heute

mehr von meiner Mutter aufgezwungen, als

selbst gewollt oder von Lehrern empfohlen.

Im Gegenteil. Natürlich blieb ich krachend

sitzen und ging ab. Realschule. Später dann

doch noch Fachhochschulreife. Meine Methode

nun: einschleimen beim Lehrer, ich

habe mich angebiedert, wo es ging. Eine erste

Freundin findet man so in Schule oder Studium

nicht. Wer mag Jungs, die nicht wissen

was sie wollen, wer sie sind und sich freuen,

wenn eine gute Note ihr braves Verhalten

stärkt? Meine Leistungen waren nur durchschnittlich.

Ich war dünn und unsportlich.

Blieb doch die leicht zu erreichende Anerkennung

im ansonsten wenig respektierten

Fach Kunst. Mein Talent war bereits im Kleinkindalter

gut entwickelt, ein Geschenk!

Gelobt zu werden, stand an erster Stelle. Ich

hatte mein Fortkommen einer Umgebung

anvertraut, die sich mit dem Ende der Schulund

Studienzeit radikal bösartig änderte: Ein

in Freiheit orientierungsloses Tier aus dem

Zoo wurde in den Dschungel gegangen.

Unsere Geschwindigkeit ist zunächst das

Tempo der Erde. Unser großer blauer Planet.

Das Fahrzeug für uns kleine Menschen. Wir

reden von Zeit, und das ist wieder ein Wort,

ein Begriff. Was ist Zeit? Selbst Fachleute diskutieren

noch. Es scheint, als könne nur das

eine auf’s andere folgen. Kausalität, das Auto

fährt, es biegt auf die Fernstraße, beschleunigt,

und nach einiger Zeit kommt’s an. Ohne

ein Ding in seinem jeweiligen Tempo, fällt

es schwer Zeit zu beschreiben. Der Zeiger

einer Uhr, die aufeinanderfolgenden Ziffern

im Display, das sind alles Elemente, deren

Bewegung uns zum Begriff Zeit angeregt hat.

Ein Stein liegt in der Wüste rum, er verwittert,

wird Risse bekommen. Der Zahn der Zeit nagt

an ihm? Ein Stein lebt ja nicht, und es ist ihm

wohl egal, ob er leidet? Um Geschwindigkeit

zu verstehen, interessieren wir uns für etwas,

das sich bewegt. Ich winke mit meiner Hand,

winke schneller. Was ist Entschleunigung?

Um langsamer zu sein, muss ich fragen, was

gebremst wird? Es ist doch immer gut, die

Dinge beim Namen zu nennen: Eine Hand

bewegt sich, ein Auto fährt und John braucht

lange dafür. Wofür? Ohne die Dinge, die wir

bewegen, fällt es schwer, Zeit zu verstehen.

Wie lange benötigt „ein“ Künstler für ein

gutes Bild? (Was ist gut)? Keine Ahnung. Ich

habe „Malen hilft“ in nur drei Wochen gemalt.

Ich war extrem verstört, enttäuscht und wütend.

Eine Abrechnung. War das gut, war das

richtig? Ich habe so gut und realistisch gemalt,

wie ich es gerade konnte. Dieses Bild,

was war meine Intention? Gewaltporno, Persönlichkeitsrechte

wurden verletzt, es steht

nun in einer Ecke meines Ateliers, ein kleines

Loch ist in der Leinwand dort, wo die Signatur

war. Im Internet sollte es nicht mehr zu

sehen sein. Dark ist die Nacht. Drei Wochen

Malerei können nicht rückgängig gemacht

werden. Mein Tempo, ich habe Vollgas gefahren

in meinem Zorn und war dann schließlich

genau dort, wo ich hinwollte! Meine Kunst

bestand darin, erst nachzudenken und anschließend

zu schauen, ob der Versuch zum

erwarteten Ergebnis führt. Einige haben es

begriffen. Danke. Drei Wochen, das Format ist

120 x 100 cm, und an „Gurken und Rosen“ im

gleichen Format arbeite ich inzwischen seit

Mitte März (wir haben Oktober).

Ich habe eine Zeitlang als Briefträger gearbeitet.

Dort war die korrekte Erfassung der

Arbeitszeit ein wichtiges Instrument, nicht

nur der Abrechnung. Der Ablauf der gesamten

Arbeit war in Menge der Sendungen, verwendetem

Fahrrad und Tour in direktem Bezug

zur Zeiterfassung, die wir als Zusteller nie

aus dem Auge verlieren durften. Das gesamte

zweckmäßige Berufsleben ist ein Netz ineinandergreifender

Abläufe. Und Leistung ist

die Definition, wieviel in welcher Zeit bewegt

wurde. (Ein städtischer Linienbus fährt nach

Plan). Arbeit an sich wäre, den Stein auf den

Berg zu schaffen. Eine Leistung wird daraus,

wenn ich sage, wie lange es dauerte. Bleibt

noch die Frage, ob es individuell mir gut

Okt 16, 2019 - Nachgeschenkt 25 [Seite 21 bis 26]


getan hat, eine sportliche Herausforderung

oder eine zwanghafte Qual, ein existentieller

Kampf?

Kunst ist anders, jedenfalls nach meinem Verständnis.

In der Ansprache einer Vernissage

sprechen wir gern von Arbeiten, die gezeigt

würden. Noch nie hörte ich, dass jemand

Leistungen an die Wand hängte. Hier geht es

also um das Wohlbefinden bei gelungener

Bewegung! Ein Künstler schafft im eigenen

Tempo ein eigenes Motiv. Alles andere wäre

Illustration: Deko für die allgemeine Gesellschaft,

malen eines Themas, ausgerufen

vom Aussteller zum Termin einer Präsentation.

Das geschieht dennoch ständig, und die

Akteure solcher Veranstaltungen betreiben

Selbst- und Gesellschaftsbeschiss. Das ist

keine Kunst, obwohl es so heißt.

Selbstwert ist Haltung, und das ist genauso

Aktion wie standhalten. Auch im negativen

Gefühl. Kunst bedeutet nicht, rosarot glückstaumelnd

bei softer Musik vor sich hin zu

pinseln, obwohl es das mal sein kann. Insgesamt

wird aber der Mensch John Bassiner bewegt,

wenn ich mich dazu entschließe, Maler

zu sein. Nun kommt die Eigenverantwortung

an erster Stelle, und da können wir diese

Künstler, die Unmengen Alkohol trinken oder

Drogen nehmen sehen, die pedantischen, die

alles ganz genau planen und die anderen,

die sich ganz der Spiritualität und spontaner

Schaffensenergie hingeben. Eigenverantwortlich

heißt, dass es meine Sache ist, wie

ich’s mache.

Theater des Lebens. Die Kunst ist meine Physik:

„Der Kopf ist dein Spielzeug“, sagt Charlie

Chaplin dem Kind – das Geld hat wieder

einmal nicht gereicht, ein Geschenk zu kaufen

– als gealterter Clown. Es kostet nichts

zu denken! (Das ist der Film, in dem er zum

Schluss von der Bühne rückwärts in die große

Trommel stürzt, sie ihn dort drin steckend

raustragen). Es sind die unvergesslichen Momente

der Kunst, die berühren.

Was interessiert mich, wieviel Geld wohin

geflossen ist bei einem Werk das mich zum

Lachen, zum Weinen oder Träumen brachte?

Geschenkt: Das will ich auch machen, habe

ich gedacht als ich ein Bilderbuch von AOF

bekam oder „Nordkap“ von Schnars-Alquist

im Original anschauen konnte.

Nachgeschenkt: Die umfangreichen raffinierten

Einfälle kreativ zu erleben, über die ein

Künstler nach Jahren der Selbsterforschung

verfügt, übersteigen emotional den materiellen

Wert, wieviel „Meyer“ für ein Bild zahlt. Es

wird sich niemandem auf diese Weise offenbaren,

als dem Maler selbst: in seinen starken

Motivationen, Zweifeln und Irrwegen während

der Herstellung. Eine Reise jedes Mal.

Oktober 2019, geschrieben im Zug nach

Backnang

Auf eigenen Füßen stehen. Ich stelle mir vor:

Nicht die Schwerkraft gibt mir Gewicht, zieht

runter. Stelle mir vor, der Apfel fällt nicht vom

Baum zu Boden. Ich stelle mir das so vor, der

Boden ist der große Schieber. Meine Rakete

ist die runde Platte, dieser vertraute Kreis der

Erde, mit dem ich voran gebracht werde. Die

große Kraft. Die Drehung der Erde bemerke

ich dabei gar nicht. Es ist doch die Sonne und

der Mond die oben herumfahren! Das Himmelszelt,

der Hintergrund ist vorn. Dahin fliegen

wir, und Han Solo ist wohl gerade im Begriff,

den Hebel im Cockpit bis zum Anschlag

zu reißen und alle Sterne werden perspektivisch

fluchtend weiße Striche – Fantasie!

Dass ich mich gegen eine Platte stemme,

die wie die Spitze einer rasenden Rakete beschleunigt,

und ich, nachdem ich die Balance

darauf zu stehen lernte, auch gehen kann –

zunächst als Kleinkind noch wacklig wie betrunken

– ich halte mir den Boden vom Leib,

pariere sein Drängen mit Ausfallschritten?

Das ist mein Bild der Welt.

Auf diese Weise kann ich mir ins Bewusstsein

rufen, wie schnell ich Tag für Tag reise. Das

ist elegantes Denken, warum? Es bedeutet,

stets zu wissen wie unbedeutend klein der

Mensch ist, wie schwach jeder Schlag, Tritt

und Schritt, wenn wir den Schwung der Welt

davon abziehen. Zum anderen ist es selbstbewusste

Größe, ich bin stets in der Mitte

meiner Welt, für die ich hauptverantwortlich

bin. Mein Leib, mein Ich. Was auch kommt, sogar

der Fußboden geht mich an, und ich halte

nur dagegen. Meine Gesundheit beginnt im

Bett, wenn ich mich in eine bequeme Lage

drehe. Die Zukunft der Erde, ihr Tempo ist die

Kraft von allem: Der Motor läuft, wir sind unterwegs!

Okt 16, 2019 - Nachgeschenkt 26 [Seite 21 bis 26]


Als ich klein war

Okt 19, 2019

Als ich klein war, wohnten

wir im alten Haus. 1976

ließen meine Eltern es

abreißen, bauten dort ein

modernes Geschäftshaus. So groß bauten sie

(und die Bank), dass sie es sich gerade noch

trauten. Sie haben sich viel Geld geliehen,

und mehr Geld noch haben sie zurückgezahlt,

wegen der Zinsen. Unser Haus ist Teil einer

belebten Straße mit Geschäften. Natürlich

haben sich Straße und Städtchen seit damals

verändert.

Als mein Vater klein war, war Krieg. Das alte

Haus wurde von einer Brandbombe getroffen.

Aber mein Papa war nicht in Gefahr. Es war

ja damals das Haus von einem Opa. Er war

als Kind Schafe hüten in Friedrichskoog, auf

dem Bauernhof eines Onkels. Sein

Wohnhaus stand in Hamburg, direkt

am Michel. Es wurde total weggebommt,

und weil man das schon

kommen sah, war Erich rechtzeitig

an die Nordsee verfrachtet worden.

Unser altes Haus war also das

Haus von Opa Werner. Damit ist ein

Großvater von meinem Vater gemeint,

und der war im Keller, als die

Ölfabrik angegriffen wurde.

Eine englische Brandbombe

traf nicht die Mobil-Oil,

sondern die Badewanne von

Opa Werner. Dort ist sie ertrunken!

So kam es nicht zur

Zündung. Werner kam aus

dem Keller, räumte auf und

flickte nach dem Krieg das

Dach. Dieses reparierte Dach, wie ich

es als kleiner Junge im Hintergrund

unsrer Spiele im Garten noch immer in

Erinnerungen vor mir sehe, war rot, fast

orange. Es leuchtet wie damals in der

Sonne für mich, wenn ich nur kurz die

Augen schließe. Ja, es geht mit offenen

Augen, dann aber weine ich.

Ein Drittel vom Dach war schwarz. Dort

schlug damals die böse Bombe hin. Eingeschlagen

hat 1976 auch die große Betonkugel,

die an eine Kette des noch größeren

Menck-Bagger-Kranauslegers angetakelt war.

Die hat gleich das Ganze umgehauen:

Unser Küchenfenster,

den Dachüberstand darüber,

mit den Nestern der vielen

kleinen Schwalben, deren Wiederkommen

ich im Frühjahr

stets so sehnlich erwartet hatte.

Die weiß gekalkten Mauern

mit ihrem kleinstädtischen

Charme, alles weg, ab, runter.

Immer wieder ließ der unbarmherzige

Baggerführer das

Ding, diese riesengroße Kugel,

wie ein Mörderpendel in die

Wände schlagen, bis nur noch

ein großer Haufen Schutt lag. Er hat sicher

Geld dafür bekommen. Baggerfahrer ist ein

Beruf.

Nachbar Frank, nur zwei Jahre älter, hat alles

mit Kamera festgehalten, auf Super-8-Film.

Ich war sechs Wochen in Berchtesgaden.

Angeblich wog ich zu leicht. Sie haben dort

einen Berg mit zwei Spitzen, Watzmann heißt

er, und einen Königssee mit einer kleinen

Kirche. In Sicht unsres Barmer-Ersatzkasse-

Kinderheims war der Unterberg, er ist lang

dahin gestreckt, eckig. Ich stehe wohl immer

noch an der Schaukel im Garten des Kinderheims

und schaue hinauf zum Berg: Weiße

Wolken ziehen langsam und ganz weit oben

entlang seiner

grauen Kanten,

Vorsprünge –

und der Himmel

darüber ist tief

dunkelblau.

Ich sollte, um

vor den anderen

Kindern in

einer Mutprobe

zu bestehen,

ein Mädchen

küssen. Da ich bis zu diesem Tag noch keine

Freundin gefunden hatte, an diesem Ort für

verschickte Kinder (elf Jahre war ich alt), überredete

ich just vor diesem Abend (eindringlich,

beschwörend, wie nötig es sei, dabei zu

sein) ein noch etwas jüngeres, schüchternes

und sehr blondes Mädchen, der das Ganze

recht suspekt war. Sie hat aber mitgemacht,

und dafür bin ich ihr bis heute dankbar.

Ich überstand das Heim, aber als ich nach

Haus kam, war dort kein Haus mehr. Auch

kein Garten. Der Birnbaum, der große Birnenbaum,

der mir immer

der Baum vom Kalle

Blomquist gewesen war,

war weg. Ich lag nicht

detektivisch kombinierend

drunter, wie Kalle

– aber unter seinen

Zweigen stand doch

immer der hellgrüne

Kadett von Herrn von

Holt. Seine Frau war

bei uns Verkäuferin. Wo

würde der nun parken?

Wo der Garten gewesen

war, lag Sand aus dem Loch der Baugrube. Ein

großer Berg, gelber Sand, Lehm und Schutt.

Und ein zweiter Berg dahinter, schwarzer

Mutterboden – zusammen unser eigener

kleiner Watzmann? Drum herum glotzend wir

vier: Meine Eltern freuten sich wie närrisch,

so Großes taten sie doch wohl gerade!

# Als ich klein war, zweiter Teil

Als ich ungefähr drei Jahre alt war, trugen

von meinen Eltern beauftragte Tischler zwei

große weiß lackierte Holztüren durch unser

gewundenes Treppenhaus nach oben in die

Wohnung. Wie diese Männer, die Türen tragend,

den Bogen der Treppe aufwärts neh-

Okt 19, 2019 - Als ich klein war 27 [Seite 27 bis 31]


men und schnaufend damit von

unten aus näher kommen, das ist meine früheste

Erinnerung. So bekam ich ein Kinderzimmer.

Diese Türen wurden zu einer Doppeltür

montiert, damit konnte das Wohnzimmer

abends gegen meins geschlossen werden, ich

ungestört schlafen, die Eltern noch reden.

Dann lag ich heimlich lauschend an der Ritze

unter der Tür. Dort, wo so interessant gelblich

golden auf den alten lackierten Holzdielen

das Licht schimmerte und ein Gemurmel von

Stimmen später Besucher zu mir drang. Vorher

war der Durchbruch zwischen den beiden

Räumen einfach offen

gewesen. Große

Fenster blickten auf

die Bahnhofstraße.

Über den Flur, der

eine eigene Tür jeweils

zu meinem

und dem Wohnzimmer

hatte, kam man

geradeaus in das

kleine Bad, wo mein

Vater in Eigenarbeit

viel verändert hatte.

Rosa war es gekachelt, schweinchenrosa – mit

weißen Fugen. An die Dusche mauerte mein

Vater einen kleinen Deich gegen das Zimmer

hin, eine selbst gemachte Duschwanne entstand,

und darin wurde ich gebadet.

Bog man am Ende

des Flurs links,

war dort das Elternschlafzimmer

mit dem Ehebett.

Es gab auch einem

kleinen Balkon.

Die Fenster

der Balkontür

trugen im Winter

die schönsten

Eisblumen auf

ihrem Glas. Das

sehe ich heute nie

mehr. Ein weiteres

Fenster ging zur Gartenseite. Da konnte

man leicht auf das Dach des Anbaus klettern.

Dieser Anbau hatte Flachdach mit Teerpappe

und ging über die volle Breite vom Haus.

Rechte Seite Flurende: hier war die Küche,

eine Speisekammer ging noch ab.

An der Tür zur Speisekammer habe ich immer

gepumpelt. Was das ist? Wenn morgens

das große Müllauto kam, sprangen an jedem

Haus die auf dem Tritt mitfahrenden Männer

ab und hängten die Tonnen in die Vorrichtung

des Fahrzeugs. Sie schwangen die Mülleimer

schwungvoll mit der am Auto eingebauten

Mechanik halbkreisförmig aufwärts, ließen

sie dann einige Male auf und ab und gegen

den Anschlag dengeln, bis sie vollständig

leer waren. Das machte ich mit unsren Milchkannen

an der Tür zur Speisekammer nach,

und das ist pumpeln.

In der Küche

wurde auch

gegessen. Ich

bin mir unsicher,

wie das

bei uns (meinen

Eltern) mit dem

Herd war. Nachher

hatten wir

eventuell schon

einen Gasherd,

heizten aber

zu Beginn noch

mit Kohlen, Koks- und Eierbrikett. Im Kachelofen

im Wohnzimmer nahm man die Koks, die

kleinen eiförmig gerundeten Kohlen wurden

in der Küche verwendet, auch Brikett dort.

Alles lagerte in Kisten im Keller, (wo es auch

eine Kartoffelkiste gab) und wurde immer

hoch getragen.

Aber auf jeden Fall dort ganz oben, in der

Wohnung unter dem Dach, direkt über unsrer,

mit schrägen Wänden, wo Oma Lina wohnte,

war ein Küchenherd mit diesen Eisenringen

in den Feuerlöchern. Je nach

Bedarf wurde hier die Hitze

angepasst. Durch Herausangeln

eines Rings mit dem Eisenhaken

konnte man die flammende

Öffnung jeweils um den entsprechenden

Radius erweitern.

War es zu heiß, legte man einen

oder zwei Eisenringe passgenau

in die Mitte, bis es wieder

stimmte.

Bei Oma auf dem Klo oben, wo

alles ganz eng und dachspitzig

war, gab es überall bis in die hintersten

verwinkelten Schrägen hintapezierte Katalogseiten,

mit Abbildungen von Dampf- und

Diesellokomotiven oder den modernen elektrisch

betriebenen Loks, mit ihren hochgestellten

Stromabnehmern, in originaler Bemalung

der damaligen Zeit. Da waren auch

die grünen und blauen D-Zugwagen, wie ich

sie kannte, wenn wir mit der Eisenbahn nach

Büsum an die Nordsee fuhren. Tankwagen

und alle möglichen Güterwagen hatte jemand

zu ganzen Zügen aneinandergereiht an

die Wände geklebt. Ausgeschnitten vielleicht

aus Märklin-Modellbahn-Katalogen, ersetzten

sie eine nicht vorhandene Tapete. Oder

sollten auch Lücken gegen den Wind verteidigt

werden? Manchmal schneite im Winter

dünner Pulverschnee hauchfein durch die

Dachritzen. Auf dem Klo war es dann buchstäblich

arschkalt.

# Als ich klein war, dritter Teil

Vom Kinderzimmer aus sah man auf die Straße,

oft stand ich dort, ja! Noch heute male

und zeichne ich aus dem Fenster meines

Ateliers schauend. Meine ersten Kinderbilder

waren Straßenbilder. Mein Vater bestand darauf,

stets unsren Laden mit einzumalen, ganz

schön egoistisch und eingebildet, nicht wahr?

Ich sah so viel: Die Bogenlampe schwang im

Sturm! Bei Fenske wurde das Schaufenster

dekoriert. Der Schnee vor der Bücherei, die

mal das Kino war, wurde mit dem großen

Schiebebagger von Körner weggeräumt. Ich

hatte ihn von SIKU selbst auch in klein, als

Modell. Er war grün und rot, mit gelber Hydraulik.

Die großen orangen Sauber-Autos, Kehrmaschinen,

mit dem gerundeten Tank für den

Dreck, die im Sommer die Straße beesten

(mein Kinderwort: kommt von Besen), wurden

im Winter zu Schieberautos. Auf diese Art

vorn umgebaut, schoben sie mit leicht schräg

gestelltem Schieber den Schnee an den Straßenrand

in Richtung der Parkstreifen, die wir

ganzseitig längs der Fahrbahn hatten. (Anfangs

war es keine Einbahnstraße).

Vor Weihnachten bauten die Männer in geringen

Abständen die hölzernen Tannenbäume

auf, als Straßenschmuck. Sie stellten sie in

die Löcher, die im Sommer mit Metallplatte

verschlossen wurden. Ganz früher nahmen

die Arbeiter einfach eine passende Gehwegplatte

auf und gruben mit Spaten und Schaufel

ein Loch für den Lampenbaum. Dann

schraubten sie

normale Glühbirnen

in das

Metall-Dreieck

oben, machten

Lichttest,

tauschten eventuell

schlechte

Birnen mit Hilfe

einer Leiter aus.

Zum Schluss

Okt 19, 2019 - Als ich klein war 28 [Seite 27 bis 31]


wurden echte Tannenzweige

spiralförmig um den

Mast gewickelt, Baum für

Baum, die ganze Straße

entlang. In das dreieckige

Gitter der Spitze kam ein

passender die dreieckige

Form ausfüllender Tannenzweig.

„Die Kastanien blühten, die Hauptstraße lag

im tiefsten Frieden, und man hörte den Pfiff

der Lokomotive vom Sechsuhrzug.“ So ähnlich

beginnt wohl ein Buch von Astrid Lindgren

mit Kalle aus Kleinköping in Schweden. Ja,

wir haben das hier probiert,

anstelle eines Pakets,

wo Onkel Einar (im

Buch) alles durchschauend

schnell seinen Fuß

drauf setzt: Wir nahmen

ein altes Portemonnaie

vom Großvater, versahen

es mit dünner Schnur

zum schnellen Wegziehen,

wenn ein gieriger

Passant käme und versteckten uns unten

an der Auffahrt. Mark, Franziska,

Frank und ich – aber es klappte

nicht.

Zirkus machten wir tatsächlich

auch, in unsrem großen Garten,

hatten jedoch nicht das Pferd,

hatten nicht den Krieg der weißen

Rose – aber Regina von

Schlachter Heins. Sie war dünn

wie Eva Lotte, damals.

# Als ich klein war, vierter Teil

Im Wohnzimmer war in der hinteren

Ecke der große beinahe zimmerhohe

gemauerte Kachelofen.

Die quadratisch sandfarbenen

Kacheln hatten fast die Abmessungen von

großen Schallplattenhüllen, größer jedenfalls

als Topflappen. In der anderen Ecke war

die Tür zum Flur, dann kam etwas Wand, Platz

der Musiktruhe, die später näher an den Ofen

rückte, zum neuen Schrank.

Die Südwand, dem Durchbruch

mit den beiden

weißen Türen gegenüber,

war fensterlos. Dort stand

das graue Sofa, darüber

ein selbst gemaltes Ölgemälde

meines Vaters;

Segelschiff, Dreimaster. Er

hatte ein Johannes-Holst-

Originalgemälde vom

Buchtitel „Spiegel der See“

Joseph Conrads kopiert.

Aber (nicht nur) die Webeleinen

waren von ihm vergessen

worden; schlampig

gemalte Striche auch

die nackten Wanten.

Weitere Fehler: Die See des Ozeans

war ihm zu steil und kurz geraten, wie

Schwell eines Bugsier-Schleppers, der

an das Ufer schlägt. Und das habe ich

ihm schon damals vorgehalten.

Als meine Eltern den Laden eröffneten,

bekamen wir diesen Büroschrank, der

sogar einen Safe für die „Bombe“ hatte.

Diese Bombe war ein kleiner abgerundeter

silberner Container aus Metall. Er

kam nach Einwurf seines vollen baugleichen

Vorgängers, der die Kasseneinnahmen

des Ladens enthielt, aus

dem Apparat der Volksbank oder der

Stadtsparkasse geschossen, mit einem

polternden Geräusch. Vorher hatte man

unauffällig, die „Bombe“ mit dem Geld

im Mantel verborgen, noch einen Spaziergang

zur Bankfiliale

zu machen.

In der Ecke, in der unser

Kachelofen nicht war

oder auf der Sofaseite

am Fenster, jedenfalls

nicht beim Flur, stand im

Winter der Tannenbaum

mit den Geschenken. Ich

verlangte stets einen

deckenhohen Baum. Da

kam meinen Eltern ein

Hocker gerade recht: der

hatte in die Oberseite so

weiße Kacheln eingelassen

und geschwungene

Beine. Das war schon

mehr ein kleiner Tisch, als ein Hocker;

aus dunklem Holz, beinahe schwarz. Im

Sommer standen Blumen darauf.

Wir gingen Heiligabend nicht in die

Kirche. Der Laden wurde bis mittags

geöffnet. Die Leute holten eingetütete

schon bestellte Karpfen ab, die von uns

in der voran gegangenen Blutnacht erschlagen

wurden. Mit mir gaben Tante

Käthe und Peter (vom Segeln) die Fische

hinter der grünen halb geöffneten

Garagentür den Leuten aus.

Bei Frau Herchenhan durfte ich mich

keinesfalls mit dem Wechselgeld vertun:

Meine liebe alte Klassenlehrerin.

Man muss immer weiterzählen; kostet

es zwölf Mark und siebzig Pfennig,

denkt man gar nicht. Man beginnt automatisch

Geld aus dem Fach zu nehmen. Man

nimmt drei Zehn-Pfennig-Stücke, ähnlich den

heutigen Zehn-Cent-Stücken, dann ist man

bei dreizehn Mark. Jetzt nimmt man ein Zwei-

Mark-Stück oder wahlweise zwei Eine-Mark-

Stücke, erreicht so fünfzehn Mark. Wenn man

jetzt noch ein Fünf-Mark-Stück aus der Kasse

fischt, kann man gleich auf zwanzig rausgeben.

Gibt die Kundin aber vielleicht fünfzig,

kommen noch dreißig dazu.

Abends nach dem Essen (alles, aber nie Karpfen

am heiligen Abend), eventuell Ente oder

Gans (manchmal hatten wir Streit mit dem

Schlachter, wegen falschem Gewicht oder

Geruch des Vogels), kam die „Geschenke-

Schlacht“ bei uns. Sie artete ab 1971 mit

meiner Schwester noch aus. Wir Kinder der

Kinder des Wirtschaftswunders!

Am Schlimmsten jedoch war es einmal früher,

noch so ganz am Anfang. Ich hatte mir

einen zweiteiligen Fernlaster-Sattelzug mit

Anhänger gewünscht und bekam ihn! Er war

so groß, ein Kind konnte reiten darauf. Es war

so toll! Ich war super aufgeregt. Alle lachten,

wir freuten uns ja so, ich weiß noch. Überall

Okt 19, 2019 - Als ich klein war 29 [Seite 27 bis 31]


lagen Papierhaufen

der ausgepackten Geschenke,

und die Kerzenflammen

des Tannenbaums

flackerten

in der aufsteigenden

Wärme.

Ein gelber mit Wasser

gefüllter Zehnlitereimer stand drunter. Ich

schob das Auto herum, kuppelte den Anhänger

ab und wieder an, rangierte rückwärts

damit. Der Lastwagen war in großen braunen

Pappkartons gewesen, wie so Umzugkartons

etwa. Spät am Weihnachtsabend machte ich

diese Kartons, die ja nur die Geschenkverpackung

gewesen waren, in einem irren Hüpfen,

Springen, Trampeln, Treten und Reißen und

unter dem Beifall der lachenden vor Glück

strotzenden Eltern restlos kaputt. Wem von

uns dreien war die Idee gekommen?

Absolut unerwartet (auch für mich selbst)

geschah es dann; mein Stimmungswechsel

überraschte

alle. Ganz

p l ö t z l i c h

nun, schlugen

mir

mein Toben

und Lachen,

das Trampeln

und

Freuen um:

in allerheftigstes

Weinen

und Schluchzen! Die Kartons hätte man

ja noch zu Häusern für den Laster (auch Garagen

oder so was) machen können, war es

das? Ich weiß heute nicht mehr. Versuche

meiner Eltern, mich tröstend wieder zu beruhigen,

begannen verstört. Sie lösten den

Abend schließlich so: „Lieber nun ab ins Bett

mit dir, ist ja auch wirklich spät geworden.“ Es

schüttelt mich noch heute, daran zu denken.

# Als ich klein war, fünfter Teil

Ich liebte Louis Armstrong, liebe diese Musik

bis heute. Mein Vater bevorzugte ja vielleicht

die spätere (und neuere Schallplatten

Aufnahme) von zum Beispiel dem originellen

Jazz Stück: „Ory’s Creole Trombone“ von Kid

Ory’s eigener New Orleans Jazzband aus den

Fünfzigern, ohne Louis, der inzwischen eigene

Wege ging, Weltstar geworden war; das

konnte ich nie begreifen. Die Hot Five- und

Seven Aufnahmen von Louis

liebe ich wie ein Schatz Goldstücke,

bis heute. Goldene Töne,

dazu blaue Töne der Klarinette

von Johnny Dodds, später Ed

Hall bei den All Stars, Teagarden,

Trummy Young – ich konnte

Stunden mit diesen Aufnahmen

zubringen.

Und natürlich: Gerd Vohwinkel

in „King of the Zulus“ – die Aufnahme

vom Zehnjährigen der

Old Merry Tale Jazzband! Meine

Eltern sind wirklich Teil des applaudierenden

Publikums auf der

Schallplatte, waren vor Ort dabei.

Die mitreißende „Bourbon Street

Parade“ mit allen vier Trompetern

der Merrytale, die aufeinander

folgenden Soli von Sputnik und

Gerd! Ein wenig wie bei Ory ist

„Opel Super Fünf“; Vohwinkel hat

viele Stücke geschrieben.

Es ist auf der Fünfzehn-Jahre-Doppel-LP.

Das ist die, bei der die Titel vertauscht gedruckt

sind. Die Band imitiert das Auto des

Orchesters. Man war damit unterwegs zu verschiedenen

Gigs durch das Deutschland der

fünfziger und sechziger Jahre. Der Motor lief

fehlerhaft auf fünf Zylindern. Die Band interpretiert

das: Bis zu dem Moment nun endlich,

auch nach musikalischem Stottern und

immer wieder noch einmal Anlauf nehmen,

alle sechs Zylinder zusammen arbeiten und

die schönste wohlklingende und dahingleitende

Musik uns entführt: in fließende Fahrt

voll Harmonie. Abrundend stottert der Motor

am Schluss noch einmal, alles wie echt von

den Musikern intoniert!

Wir hatten eine Musiktruhe mit Radio und

Plattenspieler, Plattenhalter (wie Teller in der

Spülmaschine). Meine Lieblingsaufnahme

war eine Instrumental-Schnulze, kein Jazz. Sie

war tatsächlich auf einer Postkarte in Rillen

gepresst worden. Die Karte hatte ein kitschiges

Bild: Sonnenuntergang, Passagierdampfer.

Die konnte man ganz normal auflegen

und abspielen: Daaa Dada Dadadie immmdadadideda,

und später kommt dies: Didadadidadadidadadi

– di – bitte nicht lachen! Wenn

die blöden (Name geändert)-Kinder bei uns

waren, deren Mutter bei uns verkaufte, sie

nicht wusste wohin mit ihren Kindern, musste

ich mit ihnen in unsrer Wohnung oben zusammen

auskommen, spielen. Sie wollten

immer nur Musik mit Gitarren und mit Gesang.

Gesang musste sein, und sie lachten

mich aus für meinen Geschmack.

Später hatten wir einen kleinen weißen

Fernseher. Die Mondlandung haben wir

noch beim Opa gesehen. Den wichtigen

Boxkampf von Cassius Clay, dem Boxer, der

sich später in Muhammad Ali umbenannte,

sahen wir bei Onkel Berend. (Als ich in

den Neunzigern, im Versuch, Uli nun doch

für mich und von mir zu überzeugen, nach

Chicago über den Ozean flog, war eine Mutter

mit Kind im Flugzeug meine Begleitung.

Fremde, aber nett: „Zeig ihm was du hast“,

sagte die Mutter, und das Kind zeigte mir

einen Zettel mit einem Autogramm. Ein

einfacher karierter Zettel aus einem Schulheft.

„Das ist die Unterschrift von Muhammed

Ali im Original“, sagten sie. „Auf dem

Hinflug war er mit uns im Flugzeug.“ Ich

habe das geglaubt).

Dass es mit Uli klappt, glaubte ich auch lange.

Der Fernseher zog mit in die Übergangswohnung

um, sie war für die Bauphase. Er zog

um in das neue

Haus, und er

hatte nur drei

Knöpfe für nur

drei Programme

in schwarz,

weiß und nötigenfalls

grau.

So war das. Am

Boden, im alten

Wohnzimmer,

lag dieser grüne

Teppich. Er hatte

so ein Muster

aus gelb/blauen Quadraten, tat viel Gutes als

Spielgrund, war Straßenboden und so. Er zog

auch um, aber nicht mehr in den Neubau. Ich

vermisse ihn.

# Als ich klein war, sechster Teil

Mein Vater war kreativ. Er malte die Dekound

Bühnenbilder für Feste des Segelvereins.

Er hatte das Treppenhaus mit Leuchttürmen

der Elbe bemalt und eben auch den Dreimaster

bei uns im Wohnzimmer. Ich bekam

eine Schultafel für zu Haus, malte ebenfalls

Dreimaster, mit Kreide. Meine Mutter hatte

technische Zeichnerin gelernt und konnte

durchaus zeichnen, auch künstlerisch. Mein

Vater lobte mein Talent auf vielfältige Weise,

er bastelte, sägte, schraubte und spielte oft

mit mir. Er war so stolz und glücklich ein Familienvater

zu sein, einen Sohn zu haben.

Mein Erich baute für mich Schiffe aus Holz.

Wir bauten auch zusammen an einem Hapag-

Dampfer, im Hinterraum des Ladens. Wir alberten

über die deutsche Sprache, sagten:

„Der Mast, die Mäste“ statt korrekt „Masten“,

wir „beölten“ uns vor Lachen – sagt man

das heute noch? Der Hapag-Dampfer wurde,

da zunächst unvollendet, von mir später

allein, als ich etwas älter und geschickter

war, schließlich als grüner Kümo (Küstenmotorschiff)

fertig zu Ende gebaut. Das passte

Okt 19, 2019 - Als ich klein war 30 [Seite 27 bis 31]


vom Maßstab her besser zu Schlepper und

Schute.

Mein Vater baute einen blauen Metall-Tunnel

für die Holzbahn, die heute Brio-Bahn heißt.

„De Wihnachtsmann hätt’ wat los“ lobte Jan,

der Arbeitskollege in der Schlosserei, denn

Erich baute auch diesen tollen Magnus-

Hebekran und sogar ein Wrack zum Bergen

gleich mit! Er baute fehlende Diesellokomotiven

aus Holz. Er baute mir Dampfer aus

Elbsand mit dickem Schornstein, Masten aus

Zweigen oder Schilf der nahen Schlickbänke,

wo wir etwa die Jolle an den Strand gezogen

hatten: Damit segelten wir

am Wochenende. Ich war, in

der Plicht stehend und vor

mich hinsummend, vielleicht

das Radio für alle an Bord?

Ich war Aussenbordmotor,

wenn ich, Beine strampelnd

und Wasser verspritzend,

achtern an Deck versuchte,

uns Fahrt zu geben, während

wir doch ankerten! Das Elbwasser

hatte „Schaumiche“ –

ein weiteres Kinderwort, das

wir hatten. Gemeint waren diese Gruppen

von Blasen (in vertraut schmutzigem Weiß),

die sich im strudelnden Wasser bilden, in

dem wir stets bedenkenlos badeten.

Wir waren alle rund um den Tisch im Wohnzimmer

versammelt (über dem Sofa dahinter

der in Öl gemalte Dreimaster), als schweren

Herzens die Jolle verkauft wurde. Die Käufer

zahlten mit braunen Tausend-Mark-Scheinen.

Das neue Boot hatte eine Kajüte. Meine

Schwester wurde geboren, wir waren nun zu

viert. Alles wurde noch einmal ganz anders.

Ein einziges Mal nur zeichnete auch meine

Mutter mit mir gemeinsam, etwa eine Stunde

lang. Ich hatte ein Heimatbuch geschenkt

bekommen, darin ein Foto vom Riedemannschen

Haus. Meine Mutter wusste von einem

Baum, der auf dem Foto bereits fehlte. Er hatte

vor dem Giebel gestanden. Wir zeichneten

jeweils beide für uns ein eigenes Bild, und

meine Mutter schlug mir vor, aus der Fantasie

den Baum mit in die Abbildung zu nehmen.

Es ist dann sehr schön geworden. Ob es noch

irgendwo in einer Mappe ist, dieses Bild (und

das andere von Greta) – wo sind sie geblieben?

Sie hatte diese kleinen Quadrate der mehrfach

unterteilten Fenster als dunkle mit

Bleistift geschummerte Vierecke gemacht.

Es entstanden so (nun nachbleibend dazwischen)

helle weiße Streben, wie im Original

(zwischen dem Fensterglas), das konnte ich

damals noch nicht, habe es an diesem Tag

wie einen Trick von ihr gelernt und nie mehr

vergessen.

Das ist ein Text aus meinem Heft für Emily:

„Geschichten für Mal- und Zeichenunterricht“,

2012

Okt 19, 2019 - Als ich klein war 31 [Seite 27 bis 31]


Mein Bild: Reform Your Life

Okt 31, 2019

Das ist wohl in „Der Schatz Rackhams des Roten“,

als Haddock an Deck, den Sextanten in

der Hand, bedeutungsschwer beginnt: „Hier

stehen wir …“, sagt der Kapitän. Er schaut gerade

hinaus, auf das weite blaugrüne Meer,

begreift. Der Kapitän vollendet den Satz nicht,

wirkt gedankenverloren – und Bienlein, Tim

und die Schulzes blicken ihn einigermaßen

verständnislos an. Er macht diese Pause, um

anschließend um so heftiger loszubrechen,

schnauzt einen der Umstehenden an! So ungefähr

… es ist lang her, dass ich das gelesen

habe. Was meint Haddock, wo ist diese Insel?

Genau weiß ich’s nicht mehr. (Das Heft ist

im Keller verschollen). Der Kapitän steht an

Deck, aber der Sextant in seiner Hand weist

schon darauf hin: Es geht um die genaue Position

des Schiffes.

Kapitän Haddock, eine glaubwürdige Figur

meiner Jugend. Die Comics waren bunt. Zu

farbig für einige, sie ernst zu nehmen – John

Wayne verkörperte noch regelmäßig einen

alten Haudegen, wenn wir Fernsehen schauten.

Die Eltern meiner Eltern haben in einer

Welt gelebt, die schwarz-weiß gewesen ist.

Fragen sind erlaubt. Wer hat anschließend

die Bäume grün übergestrichen, nun rote

Dächer auf die Gebäude gepinselt, was ist:

„Technicolor?“ Meine Familie, beide Großväter

hatten Patent. Einer war im Hafen Kapitän

gewesen, der andere auf großer Fahrt. Hugo

Schnars-Alquist malte als erster das Meer so

blau, wie es in den Passatregionen der Ozeane

wirklich ist. Er ging selbst an Bord. Die

alten Holländer malten, ohne je die heimatlichen

schlickig-braunen Brackwasser zu verlassen,

einer beim anderen ab.

Die See ist nicht dein Freund: „Alle Mann an

Deck, Klar zur Wende!“ Eine Hand für dich,

eine für das Schiff. Festhalten! Schlechtwetter,

es gibt Augenblicke (nicht nur an Bord, wo

Navigation wesentlich ist), auch sonst Wendepunkte

des Lebens, die eine klare Ansage

benötigen, was gerade nun zu tun ist! Das

große Schiff. Jeder kennt Situationen in denen

es darauf ankommt auch im übertragenen

Sinn, fest an Deck zu stehen: „Hier stehe

ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir“ – so

ähnlich soll Martin Luther gesprochen haben,

und dann hat er den Kurs einer ganzen Kirche

geändert. Heute ist Reformationstag.

Inzwischen ist die Welt bunt! Da ist kein Kind

mehr, das sich fragt: „Hatten sie damals noch

keine Farbe?“ Ein Weltbild ist eine Wirklichkeitsauffassung.

Damit ist ein Weltbild weniger

ein gemaltes Bild, es ist ein Bild, das wir

von uns und unserem Platz in der Welt haben,

eine Vorstellung, eine Annahme. Paul Watzlawick

weist in mehreren Publikationen nach,

dass der Mensch die Wirklichkeit nicht kennt

und jede Auffassung und das Wahrnehmen

der Realität das Ergebnis von Kommunikation

ist. Wir kommunizieren durch unsere Sinnesorgane

mit der Umgebung und entwickeln

Annahmen. Was wir wie Wissen einordnen,

ist nur zu oft etwas, das wir selbst nie nachprüften.

Wir können Licht machen, betätigen

den Schalter und erklären: „Da fließt Strom.“

Das muss nicht bedeuten, dass wir die Sache

insgesamt verstehen und ein Kraftwerk bauen

könnten. Wir können einen Lichtschalter

betätigen, wir sagen: „Auf dem Mond gibt es

keine Lufthülle“, aber wir waren nicht dort,

und nur wenige wissen, wie Elektrizität im

einzelnen funktioniert. Verbalisierte Informationen

und Sinneseindrücke prägen unser

Denken. Wie die Welt beschaffen ist, davon

sehen wir nur soviel, als das Spektrum der

gesamten Strahlung dem menschlichen Auge

zugänglich ist. Im Bereich der Schallwellen

ebenso; wir hören nur, was Menschen hören,

und die Vielzahl der Schwingungen um uns

herum ist wesentlich größer.

Nicht jeder war im Ausland, hat aber Informationen

darüber. Zu wissen, wie es beispielsweise

in China ist, kann darauf beruhen, ein

Buch gelesen zu haben, einen Film gesehen,

oder ein Freund hat uns vom Urlaub erzählt.

Wenn jemand schon dort war, wird das sein

Wissen was es heißt in China zu sein, um diese

Erfahrung reicher machen, und wer viele

Jahre in Peking gelebt hat, wird noch intensiver

beantworten können, was „China“ ihm

bedeutet. Insgesamt kennt aber nicht einmal

ein dort geborener Chinese das Ganze, was

wir leichthin mit einem Wort bezeichnen.

Ein Wort, in die Suchmaschine eingegeben,

bringt sofort ein Ergebnis.

„Peru, Land in Südamerika, Beschreibung:

Peru ist ein Land in Südamerika. Hier befinden

sich ein Teil des Amazonas-Regenwalds sowie

Machu Picchu, eine alte Inka-Stadt hoch

oben in den Anden. Die Gegend rund um Machu

Picchu, einschließlich des Heiligen Tals,

des Inka-Pfads und der Kolonialstadt Cusco,

verfügt über zahlreiche Ausgrabungsstätten.

An der trockenen Pazifikküste Perus liegt die

Hauptstadt Lima mit einem gut erhaltenen

Zentrum aus der Kolonialzeit und wichtigen

Sammlungen präkolumbianischer Kunst.“

Die Welt an sich: Wir kennen sie nicht. Wir arbeiten

mit dem, was wir darüber wissen. Wir

machen uns ein Bild, um planen zu können.

Es bleibt eine persönliche Auffassung, subjektiv

und perspektivisch, wie ein Gemälde

vom Garten aus dem Fenster gesehen anders

ist, als eine Abbildung von unten im Gras herumliegend.

Das zu verstehen, ist nicht nur

für den Maler wichtig. Begreifen kann dazu

führen, mit eigenem Kartenmaterial das Lebensschiff

vor Strandung zu bewahren. „Die

Wissenschaft hat festgestellt“, heißt es in einem

Kinderlied, und dann kommt der ganze

bekannte Unsinn. Es gibt Menschen, die essen

Sachen, die andere nie zu sich nehmen würden,

weil sie meinen, es täte ihnen gut. Kunst

ist meine Wissenschaft: Ich konnte nicht aufhören

damit, jedes fertige Bild ist die Antwort

auf eine Frage. Ein Bild ist ein Ausschnitt der

Welt, eine Geschichte, wie ein Roman einen

Lebensabschnitt definiert. Der Autor greift

solange in das Geschehen ein, korrigiert seinen

Stoff, bis eine insgesamt sinnvolle Struktur

geschaffen ist. Dann schreibt er, und so

malen Künstler, so wird Musik erfunden.

Wie wäre eine Welt, in der ein göttliches Strafgericht

eins zu eins eingreift, wenn die Sache

aus dem Ruder läuft? Da baut ein „Führer“ ein

„Konzentrationslager“ – aber eine übergeordnete

Macht stoppt dieses menschenverachtende

Tun rechtzeitig: Ein Blitz soll vom Himmel

fahren und die Bösen töten! Atheisten

führen bekannte Argumente: „Wenn es Gott

gäbe, dann würde er nicht zulassen, dass“ –

usw. gern an, wenn man sie missioniert, wie

wichtig Glaube sei. Sie wollen in Ruhe gelassen

werden. Es stimmt aber: Der direkte

kausale Bezug göttlicher Leitungsfähigkeit

zum Guten der Welt ist nicht recht erkennbar.

Wir müssen das zugeben: Der Mensch muss

noch selbst handeln, um das Schlimmste zu

richten und einzudämmen. Böse sein ist das

eine, Böses zulassen das andere.

Was schlimm und was gut sei, das ist genauso

eine Auffassung, die wir immer wieder neu

definieren. Zusammengefasst können wir

sagen, dass der gegenseitige Druck, den die

einzelnen Mitglieder der Gesellschaft aufeinander

ausüben, ein Regelwerk hervorgebracht

hat, das beständig modifiziert wird. Von den

einfachen und elementaren zehn Geboten

bis in die Jetzt-Zeit war es ein langer Weg mit

vielen Erfahrungsberichten, den die Menschheit

bis zur heutigen Gesetzgebung gegangen

ist. Erfahrungsberichte sind Kommunikation,

und unser Denken bedeutet, daraus

Schlüsse für neue Entscheidungen zu ziehen.

Das führt dazu, sie wieder zu kommunizieren.

Aktive Handlungen, die sich daraus ergeben,

werden von anderen kommuniziert. Und sei

es, dass jemand zusieht und seine Augen ihn

anregen, unser Tun zu begreifen. Zuschauen

ist nicht machen. Bis ich zeichnen konnte, wie

ich es nun kann, musste ich das sehr oft tun.

Aus Wahrnehmung erwächst das Bild der Realität.

Es bleibt eine Ansicht. Der auf die Person

beschränkte subjektive Ausschnitt des

einzelnen. Niemand anderes als der Mörder

selbst weiß, wie es sich anfühlte, seine Tat zu

tun und kann genau das Motiv angeben. Jede

Realitätsschau bleibt eine Einschätzung aus

der eigenen Perspektive. Selbst meine Reflexion

von dem, was ich gestern machte, bleibt

eine Erinnerung. Die Aktion selbst verfliegt

mit dem Moment ihrer Umsetzung.

Mit flexiblen Denken ist es leicht, weiter zu

gehen. „Man muss die Welt nicht verstehen,

man muss sich nur darin zurechtfinden“, Albert

Einstein oder scheinbar widersprüchlich

dazu: „Man braucht nichts im Leben zu fürchten,

man muss nur alles verstehen“, Marie

Curie. Physiker erklären uns die Welt. Beide

Sinnsprüche zeugen von der Suche nach

der Realität und bringen eine Antwort. Das

Ergebnis der Forschung ist: Entweder bist

du zufrieden damit, das Licht einzuschalten,

merkst dir wo der Schalter ist und gut ist –

oder du verstehst deine Furcht im bewussten

Selbst in jeder Lebenslage, kennst dich gut

genug, siehst die Welt von innen, um verlässlich

einzuschätzen, wie die beste Reaktion

auf alles ist. Was auch immer kommt. Das

ist dasselbe Ergebnis auf gegenteilige Weise

formuliert. Interessant ist hier das „alles verstehen“,

weil verstehen nicht „alles gelesen

haben“ bedeutet. Verstehen kann nur heißen,

selbst zum Mond zu fliegen oder einzusehen,

nicht zu wissen was ein Mond ist. Vier Buchstaben

sind nicht der Mond. Die Beruhigung

der Emotionen kann nur im Begreifen eigener

Unzulänglichkeiten gelingen.

In einem Schulbuch sah ich als Kind die zeitgenössische

Abbildung eines Textes aus dem

Mittelalter, ein Wanderer ist bis zu dem Ort

gelangt, wo Himmel und Erde sich berühren.

Das ist eine flache Welt, und wie eine Käseglocke

ist ein Himmel darüber gestülpt. Der

Wanderer ist am unteren Rand der Himmelskuppel

und hebt den Saum des Himmelszeltes

ein wenig an, steckt seinen Kopf auf die

Seite hinter der bekannten Welt durch und

erblickt eine Art kosmisches Räderwerk. Ich

habe diesen Text gefunden:

„Flammarions Holzstich, auch Wanderer am

Weltenrand oder im Französischen au pèlerin

(„auf Pilgerschaft“) genannt, ist das Werk eines

unbekannten Künstlers. Der Holzstich er-

Okt 31, 2019 - Mein Bild: Reform Your Life 32 [Seite 32 bis 34]


schien erstmals 1888 als Illustration in dem

Unterkapitel La forme du ciel („Die Form des

Himmels“) des populärwissenschaftlichen

Bandes L’atmosphère. (…) Die Darstellung

zeigt einen Menschen, der am Horizont als

dem Rande seiner Welt mit den Schultern

in der Himmelssphäre steckt und dahinter

Befindliches erblickt. Das Bild wurde im 20.

Jahrhundert häufig für die authentische Darstellung

eines mittelalterlichen Weltbildes

gehalten und oft reproduziert.“

Wir haben das so skizzierte mittelalterliche

Weltbild verworfen. Die Weltumsegelungen

der ersten grundlegenden großen Entdecker

haben mit der Vorstellung eines Himmels,

den ich am Horizont wie einen Mantel anheben

kann aufgeräumt. Die Idee, dass da etwas

noch hinter der Welt ist, ist alt. In der Predigt

unserer Pastorin, die vor nicht so langer

Zeit neu in die Stephanskirche hier im Dorf

gekommen ist, erfuhren wir vom Leben und

Ende des Namensgebers. Ein Zeitgenosse von

Jesus Christus und Märtyrer. Der Tod des Stephanus

wird so beschrieben:

„Als sie das hörten, ging’s ihnen durchs Herz

und sie knirschten mit den Zähnen über ihn.

Er aber, voll Heiligen Geistes, sah auf zum

Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und

Jesus stehen zur Rechten Gottes und sprach:

Siehe, ich sehe den Himmel offen und den

Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.

Sie schrien aber laut und hielten sich ihre

Ohren zu und stürmten einmütig auf ihn ein,

stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten

ihn. Und die Zeugen legten ihre Kleider ab

zu den Füßen eines jungen Mannes, der hieß

Saulus, und sie steinigten Stephanus; der rief

den Herrn an und sprach: Herr Jesus, nimm

meinen Geist auf! Er fiel auf die Knie und

schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde

nicht an! Und als er das gesagt hatte, verschied

er.“

„Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn

zur Rechten Gottes stehen“, wen

diese Textstelle nicht berührt, dem ist nicht

zu helfen. (Das habe ich gedacht, als ich’s

in der Predigt hörte). Dann fiel mir „Truman“

wieder ein, und so bin ich auf die Idee gekommen,

etwas zum Thema zu schreiben. Wikipedia

fasst den Film zusammen:

„Die zentrale Figur des Films ist der Versicherungsangestellte

Truman Burbank, der – ohne

davon zu wissen – der Hauptdarsteller einer

Fernsehserie ist, die sich zum Ziel gesetzt hat,

das Leben eines Menschen von Geburt an zu

dokumentieren und per Liveübertragung im

Fernsehen zu präsentieren. Zu diesem Zweck

hat Christof, der Produzent der Serie, Truman

als Baby von seiner Firma adoptieren lassen

und eigens Seahaven, eine von Wasser umgebene

Küstenstadt unter einer riesigen Kuppel

(…) bauen lassen. Seahaven ist eine idyllischharmlose

Kleinstadt im Stile der 1950er Jahre

mit simuliertem Wetter, Sternenhimmel,

Sonne und Mond. (…) Hier wächst Truman

auf, umgeben von Schauspielern, täglich beobachtet

von über 5.000 Kameras. Finanziert

wird (…) hauptsächlich durch Produktplatzierung.

(…) wird Truman langsam misstrauisch, als

versehentlich ein Scheinwerfer (…) direkt

vor ihm zu Boden fällt. In der Folge erwecken

verschiedene andere Missgeschicke

zusätzlich sein Misstrauen, worauf er sich

aus Sicht der Produzenten irregulär verhält.

So erkennt er plötzlich seinen Vater in einem

Obdachlosen auf der Straße wieder, was ihn

sehr irritiert und verwirrt, da sein Vater in

seiner Kindheit bei einem Bootsunfall ums

Leben gekommen sein soll. In Rückblenden

erfährt der Zuschauer mehr über den Anfang

der Serie, die Trumans Leben praktisch lückenlos

dokumentiert hat. Man erfährt von

Zwischenfällen, bei denen Außenstehende

eindrangen, um Truman mitzuteilen, dass er

in einer künstlichen Welt lebt. So wird Lauren

vorgestellt, eine Frau, die Truman immer noch

liebt, obwohl er eine andere Frau geheiratet

hat. Lauren wurde nach einem Versuch, Truman

die Wahrheit über seine Welt zu sagen,

aus der Serie entfernt. (…)

Es wird deutlich, dass die Produzenten (…)

schon in Trumans Kindheit mit allen Mitteln

versuchen mussten, ihn vom Fortgehen abzuhalten.

Dies wurde dadurch erreicht, dass

Truman (…) dazu gebracht wurde, eine starke

Angst (…) zu entwickeln (…) eine Seebrücke

zu überqueren. Truman versucht, aus dieser

Welt, deren künstlichen Charakter er mehr

und mehr erkennt, auszubrechen. (…) Schließlich

flieht er aus der eigens für ihn gebauten

Stadt, indem er ein Segelboot entwendet.

Christof (…) erscheint als eine gottähnliche

Figur, die über das Schicksal von Truman

wacht, ihn beobachtet (…) und manipuliert.

Nachdem er vergeblich versucht hat, Truman

durch einen künstlich erzeugten Sturm zum

Kentern zu bringen (…) beschwört er ihn, in

Seahaven zu bleiben, da die Welt außerhalb

(…) grausam und hart sei. Doch Truman wählt

den Ausgang. (…)“

Als dieser Film im Fernsehen lief und ich die

„Truman Story“ gesehen habe, war einige Zeit

seit der Premiere im Kino vergangen und der

Begriff „Fake News“, der heute gern verwendet

wird, untypisch. Als ich „Wie wirklich ist

die Wirklichkeit“ oder „Anleitung zum Unglücklichsein“

von Paul Watzlawick gelesen

habe, vor etwa zwanzig oder sogar dreißig

Jahren, habe ich diese Lektüre genauso gelesen

und nicht verstanden, wie ich den Film

gesehen, aber nicht begriffen habe. Ein Erlebnis

ist noch keine Erfahrung. Mir fällt abrundend

noch Tenzin Gyatso ein, der 14. Dalai

Lama, mit diesem Statement: „Die Physik

sucht das Weltall zu erklären, wir aber wollen

wissen, was dahinter ist“, und als das damals

im Fernsehen lief, dachte ich, wie leicht er es

sich mit so einem Spruch macht. Einstein und

Hawking arbeiteten ein Leben lang, mussten

alles was ihnen einfiel den Kollegen zum

Fraß vorwerfen, und wenn sich’s nicht beweisen

ließ oder ein anderer Physiker die

jeweilige Theorie widerlegen konnte, fingen

sie von vorn an. Ein Mönch, der sagt er schaue

hinter die Welt, lebt hinter dem Mond.

Hinter dem Mond, wer war schon dort? Kunst,

Wissenschaft und Glaube sind hier vereint:

„Sie ist klein und unscheinbar, diese Figur auf

dem Mond. Aus Aluminium gefertigt, nur 8,5

Zentimeter groß, ist das kleine Kunstwerk das

einzige seiner Art auf dem Erdtrabanten. Am

2. August 1971 wurde es dort von der Crew

der amerikanischen Apollo-15-Mission hinterlegt.

So winzig sie ist, so groß ist die Geste.

Denn die Statuette ist zugleich ein Denkmal

für die Astronauten und Kosmonauten, die

bis zu diesem Zeitpunkt ihr Leben verloren

haben. Kosmonauten? Ganz richtig, auch der

verstorbenen sowjetischen Raumfahrer wird

dort mitten im kalten Krieg gedacht, ihre

Namen stehen neben denen der Amerikaner

auf der hinteren Plakette. Als berühmtester

natürlich Juri Gagarin, der 1968 bei einem

Flug starb. Entworfen und gefertigt wurde

die Figur, die „Fallen Astronaut“ genannt wurde,

von dem Künstler Paul Van Hoeydonck

aus Belgien. Bei seiner Arbeit leitete ihn eine

Bedingung: Die Figur durfte weder als männlich

oder weiblich erscheinen, auch keine

bestimmte Ethnie verkörpern. Sie sollte vielmehr

die ganze Menschheit darstellen. Und

klein musste sie sein, um sie überhaupt auf

den Mond schaffen zu können. Und dort ist

der „Fallen Astronaut“ noch immer.“

Ein Text, aktuell kopiert aus t-online.de – Rubrik:

„Historisches Bild“ – ein Foto vom Mond,

sieht aus, wie ein Bierdeckel, der schief im

grauen Mondschotter steckt, davor liegt der

kleine Blechastronaut, wie lang dahin gestolpert

im groben Mondsand. Verschwörungstheoretiker

glauben, dass die Mondlandung

ein Fake ist. Wikipedia schreibt an anderer

Stelle: „Edward Joseph „Ed“ Snowden ist ein

US-amerikanischer Whistleblower und ehemaliger

CIA-Mitarbeiter. Seine Enthüllungen

gaben Einblicke in das Ausmaß der weltweiten

Überwachungs- und Spionagepraktiken

von Geheimdiensten – überwiegend jenen

der Vereinigten Staaten und Großbritanniens.“

Wenn wir das glauben, müssen wir die

Mondlandung ebenfalls glauben. Es gibt keinen

überzeugenden Whistleblower, der uns

detailiert etwa von dem „großen Mondfake“

berichtet hätte; und es hätte einen gegeben,

bei so vielen Beteiligten.

Wenn ich ein Gott wäre und wollte Menschen

machen, würde ich dieser „künstlichen Intelligenz“

alles geben, mein ganzes eigenes

Wissen und dazu noch die Befähigung, selbst

über Leben und Tod zu entscheiden? Möglicherweise

nicht. Ich würde mir vorbehalten,

den Stecker zu ziehen, würde mir einen privaten

Teil größerer Wirklichkeit behalten, schon

deswegen, damit das mit dem Leben das ich

machte nicht vollends aus dem Ruder läuft.

(Kann natürlich auch sein, dass wir Menschen

so eine Art Tschernobyl sind; es ist bereits

passiert). Ich glaube nun wiederum daran,

dass der einzelne Mensch, als eine Art Spielball

der umgebenden Natur und den vielfachen

Motiven seiner Mitmenschen, ebenfalls

bestimmen zu wollen, umher gestoßen wird,

angerempelt die ganze Zeit. Ich glaube fest

daran, dass die Kraft des einzelnen vielfältig

beschränkt ist, durch sein Unvermögen, das

Ganze zu sehen und durch die Behinderung

unumgänglicher Widerstände, die sich aus

dem Ort und der Zeit seines jeweiligen Daseins

ergeben. Im Positiven sehe ich viele

Chancen, mutig einen eigenen Weg zu finden,

wenn die innerste Angst etwas könne schiefgehen,

verstanden ist. Was das heißt?

Dazu fällt mir noch eine Geschichte ein, und

diesmal ist es eine eigene. Das war vor einigen

Jahren. Wir fingen an, im Sommer den

Urlaub auf der Insel Fehmarn zu verbringen.

Davor waren wir nach Dänemark gefahren.

Das fing an mit dem Boot: Wenn nicht auf

der Elbe unterwegs, ließen meine Freunde

und ich uns durch den Nord-Ostsee-Kanal

schleppen (unsere Jollen haben keinen Motor),

sind in der „Dänischen-Südsee“, rund Fünen

oder rund Seeland gesegelt. Eine langvertraute

Mitseglerin und beste Freundin

hat „nach Dänemark geheiratet“, und meine

Frau und ich sind in den Sommern, als unser

Sohn klein war, gern dort gewesen. Auch

in der Umgebung im Ferienhaus, nicht weit

entfernt, machten wir Urlaub. Wir fuhren mit

dem Auto hin. Fehmarn war für uns nichts

weiter, als ein Stück Straße auf dem Weg in

Okt 31, 2019 - Mein Bild: Reform Your Life 33 [Seite 32 bis 34]


das jeweilige Ferienhaus. Auf der Insel ist

schließlich Puttgarden, das ist das Ende vom

Land, und man wartet auf die Fähre. So haben

wir das gesehen. Das war bevor die Debatte

um Brücke oder Tunnel in Gang gekommen

ist. Ich kann nicht genau sagen, warum wir

die Insel für uns entdeckten. Ich finde es dort

ganz wunderbar. Das ist schön wie Dänemark,

aber nicht so weit entfernt. Wir haben anfangs

„Urlaub auf dem Bauernhof“ gemacht.

Eine feine Sache (wenn man ein kleines Kind

hat).

In dieser Zeit fand auch die Begebenheit

statt, an die ich mich erinnere, weil sie so

wichtig wurde und ich das nicht geahnt habe.

Damals spielte das Städtchen Burg oder der

touristische Südstrand mit den drei prägnanten

Hotel-Häusern keine Rolle in unserem

Urlaub. Wir waren im Norden „auf dem Dorf“

und kamen allenfalls bis Landkirchen

zurück in Richtung einer belebten

Ortschaft. Landkirchen als belebt

zu beschreiben, ist mutig. Dort fand

ein Bläserabend bei schönem Wetter

stand. Der Turm der großen Kirche

steht wohl neben dem Gebäude, und

ein Friedhof geht längs dem langen

Kirchendach im roten Ziegelgewand

hin, weg von der Hauptstraße. Ein

kleiner Weg begrenzt die Gräber,

und auf der anderen Seite ist eine

von alten Bäumen beschützte Wiese,

die vor dem Gemeindehaus einen

Abstand zur Straße schafft. Ein

guter Platz für einen lauen Abend

mit allmählich tiefstehender Sonne

und dem blitzenden Blech! Mehr

als hundert sommerlich-fröhlich gekleidete

Eingeborene und kultivierte Touristen waren

als Publikum des hervorragenden Orchesters

zusammengekommen. An Details erinnere

ich mich nicht wirklich, aber dass ich nach

der Aufführung noch mit einem Trompeter

ins Gespräch kam. Ich habe ihn nach seiner

Lesart der B-Noten gefragt, weil Kirchenmusik

das gern anders auffasst als die populäre

Musik.

Nachdem einige Stücke gespielt waren und

wir ein Glas Weißwein oder etwas zu knabbern

bekommen konnten, war die Stimmung

wunderbar sommerabendlich verklärt. Fremde

Menschen gerieten unverhofft miteinander

ins Gespräch. Zarte und doch schwungvolle

Melodien erklangen, vornehmlich kirchlicher

Natur. Jetzt kam der musikalische Leiter ins

Erzählen. Ich erinnere mich nicht genau, aber

es ging drum, jazzige Elemente in die klassische-

und kirchenmusikalische Bläserwelt zu

integrieren. Die Musik muss swingen, damit

sie gut ist, das wusste schon Bach.

Der Titel eines neuen Kirchenliedes wurde

uns anschaulich erklärt. Ein wenig modisch

hatte da jemand getextet. So in der Art: „Swingin’

God“; und das war der Titel eines Originals

vom Komponisten aus einem Orchester,

mit dem der musikalische Leiter befreundet

war. Ein Stück das sie jetzt nicht spielen würden,

stattdessen ein eigenes Werk. Wie gesagt,

es ist lang her und es kann sein, dass

ich alles nicht ganz richtig wiedergebe. Nun

wurde uns dieses andere Stück und die Entstehungsgeschichte

dazu vorab beschrieben,

warum und wieso – das sollte wohl swingen,

im besten Sinne des Musizierens – aber hier

ging es nicht um populäre Kirchenmusik, die

mit verstaubter Steife mancher Kompositionen

aufräumen wollte. Man hatte weniger

die Absicht, Menschen in die Gotteshäuser zu

locken, weil fetzig (wie mit Whoopi Goldberg

in Sister Act) gejazzt würde; hier ging das um

eine ebenso feinsinnige wie originell betitelte

Musik.

„Zwinge Deinen Gott“, hieß die eigenwillige

Komposition.

Das ist bei mir hängen geblieben. Was sollte

das? Zwinge „deinen“ Gott. Da ist ein persönliches

Element, eine Art Zweikampf? Welche

Person ist gemeint? Gott ist für uns alle da,

und es gibt nur einen einzigen, heißt es. Der

große Gott. Den nun zwingen? Eine Herausforderung.

„Klopfe an, und dir wird aufgetan“,

das kam mir auch in den Sinn. Da muss ich

an jemanden denken, der die Tür zum Gotteshaus

eingetreten hat und brüllt: „Komm da

raus aus deiner Hütte, Mann!“ Die Musik, ich

erinnere es nicht, war sie heftig? Inzwischen

habe ich mir ein eigenes Bild gemacht, und

das soll man ja nicht. Aber, als Maler – hier

stehe ich mit meinem Pinsel – ich kann nicht

anders. Luther war auch nicht frei, handelte

unter Zwang. Er musste. Muss Gott tun, was

ich erzwingen kann?

Gleichauf sein. Mein Sohn ist achtzehn Jahre

alt, und ich muss daran denken, dass ich

ihn jetzt frei gebe, von meiner Macht der

Erziehung. Ein Vater kann das Kind zwingen

zu gehorchen, und manchmal muss man das

tun. Ich überlege, wann hat mich mein Sohn

gezwungen zu handeln? Mir fällt da etwas

ein, das kann ich hier unmöglich erzählen.

„Zwinge deinen Gott“, da muss ich schließlich

an Katrin denken, das ist auch so eine beste

Freundin, die für mich einmal falsche Stimmen,

als Ratgeber von göttlicher Weisung, so

trennte: „Das war er dann wohl nicht“, meinte

sie, als es drum ging, dem Bauchgefühl zu folgen

(wenn der Verstand versagt).

Frei werden von Zwang: „Jetzt könnt ich’s

tun“, überlegend wie Hamlet – sich schließlich

anders entscheiden: Zweifel oder Klugheit?

Zweifel ist nicht Feigheit. „Wenn du im

Zweifel bist, tue nichts“, sagt uns Napoleon,

und der war nicht feige. Die Macht über das

eigene Ich; abwarten können, ist Freiheit.

Keine Wahl zu haben, macht Angst. Nicht

ausweichen: Der Angst direkt ins Gesicht zu

sehen, das ist Mut – kann bedeuten, keine

Wahl mehr zu haben und wie ein Automat zu

reagieren, wissend, nur so in die Freiheit zu

gelangen.

Und die Welt hinter der Welt, was hat das

damit zu tun? Ich glaube nicht, dass man im

Mittelalter dumm war, die Erde den Menschen

deswegen eine Scheibe oder die Welt früher

nur schwarz und weiß, weil die Farbfotografie

oder die Digitalkamera noch nicht erfunden

war. Ich glaube, dass zu jeder Zeit der Geschichte

der einzelne Mensch klug werden

konnte, so klug es eben geht, (und dass ist

nicht wiedergeben können, wie Einsteins

Formel lautet oder ein Lexikon aufsagen bei

Günther Jauch). Da stelle man sich nur mal

so einen neunmalklugen Roboter vor, wie wir

vielleicht bald einen erfinden, der mehr kann,

als den Rasen nach Programm mähen oder

Rollläden ablassen, während wir im Urlaub

sind. Was wird der von uns einfordern?

:)

Reformation – nun ist es ein Feiertag.

Okt 31, 2019 - Mein Bild: Reform Your Life 34 [Seite 32 bis 34]


Motivation, von Oelke bis Teufel

Nov 9, 2019

Er könne nur infizieren – seit sich das Wort

„Motivation“ als wichtige Komponente im

Unterricht etabliert habe, sei die Vorstellung

präsent, es ließe sich auch Lust lehren

– meinte Siegfried Oelke in einem kleinen

Aufsatz. Oelke war damals Professor für Illustration

an der Armgartstraße, der Fachhochschule

für Gestaltung in Hamburg. Er selbst

hatte seinerzeit bei Alfred Mahlau studiert.

Einige, die später bekannt wurden, Horst

Janssen oder Loriot (Vicco von Bülow), waren

bei Mahlau gewesen.

Ich kam nicht dazu, bei Oelke Illustration zu

studieren. Er starb, bevor ich den ersten Studienabschnitt

beendet hatte. Er unterrichtete

ausschließlich im zweiten Teil des Studiums.

Dafür musste man die Zwischenprüfung bestanden

haben und ungefähr vier Semester

dort gewesen sein. Dazu kam, ich wusste gar

nicht, wer das ist. Siegfried Oelke war ein geschätzter

Lehrer und Kollege, der zu meiner

Zeit an der Armgartstraße bereits viele Jahre

lang unterrichtet hatte. Mit Gero Flurschütz

und Otto Ruths, dem langjährigem Sprecher

der Schule und ihrem gemeinsamen Freund

Martin Andersch, gaben diese Dozenten der

Fachhochschule maßgeblich die Form, die sie

hatte, als ich dort studierte. Flurschütz war

auch Student bei Mahlau gewesen, zeitlich

etwas nach Horst Janssen, und ich erinnere

Anekdoten. Gero hat gern von früher erzählt,

wir haben viel Zeit miteinander verbracht.

(Bei Gero Flurschütz habe ich schließlich Informative

Illustration studiert).

Bei Mahlau war es besonders, der war nicht

irgendwer. Janssen, der fertige Student und

beeindruckende Zeichner, kam noch gelegentlich

zum Unterricht, besuchte seinen

alten Lehrer und verbliebene Kommilitonen

– kam möglicherweise auch, um eine Freundin

zu treffen oder eine neue dort an der

Hochschule zu finden, in der nachwachsenden

Generation – und ich habe auch eine Beschreibung

davon, wie Mahlau unterrichtete.

Die Studenten kamen einmal in der Woche

zusammen. Die neu angefertigten Arbeiten

wurden an die Wand gepinnt, so dass alle sie

sehen konnten. Mahlau sagte nichts dazu. Er

zeigte nur wortlos auf einige Bilder, hängte

diese möglicherweise um, an eine exponierte

Position abseits der anderen, und die Schüler

mussten sich selbst einen Reim drauf machen,

was das zu bedeuten hatte. Waren diese

Entwürfe gut? Sie mussten sich an Hand der

sparsamen (Belehrung kann man ja eigentlich

gar nicht sagen) selbst ein Urteil bilden.

Ich kann nicht beschreiben, wie der Unterricht

bei Oelke, dem inzwischen selbst bekannten

Mahlau-Zögling, ablief. Ich habe ihn nur ein

einziges Mal getroffen, und ich wusste nicht,

dass er ein von vielen bewunderter Professor

war. Von Mahlau und den erwähnten Geschichten

wusste ich anfangs genauso wenig,

woher auch. Ich war neu bei Martin Andersch

angefangen. Das muss zu einer Zeit gewesen

sein, wo ich „Sie“ und „Herr Andersch“ oder

„Professor“ zu ihm sagte, das war eine Respektsperson

(und alt); der Bruder von Alfred

Andersch, dem Schriftsteller. Martin ist schon

viele Jahre tot, starb gleich nach der Pensionierung

und ich denke noch oft an gemeinsame

Momente dieser Zeit zurück. Er wurde ein

Freund; und das kam, weil ich seinen Sohn

schon vorher vom Segeln kannte, aber nicht

wusste, dass der Vater Professor für Schrift

und Buch war.

Bei Martin Andersch lernten wir „Humanistische

Kursive“ mit Feder und Tinte schreiben.

Wir nahmen auch Aquarellfarbe aus der Tube,

die wir mit Wasser entsprechend verdünnten.

Wir mischten die Farbe, bis sie eine gute

Fließkraft hatte: satte Farbtiefe, aber leichte

Gleitfähigkeit der Feder auf dem Papier. Martin:

„Scriptol ist Schlamm, und mit Schlamm

kann man nicht schreiben.“ Die Federn schliffen

wir auf einem Arkansa-Splitter, brannten

sie ab vor der ersten Benutzung und lernten

so einiges. Wir schnitten Schilf zu Rohrfedern.

Der Professor: „Das Rohr schneidet man von

November bis März.“ Wir schrieben mit Material

das wir uns selbst erst dafür suchen

mussten: Glasscherben, Steinsplitter, Äste

aus dem Garten der Wartenau oder steife

Pappschnipsel: „Schriftzeichen ohne Bedeutungsinhalt“;

und das sah aus wie chinesisch.

Ein ganzes Buch habe ich layoutet und einen

Dummy davon gebastelt. Ich beschrieb ein

riesiges Blatt edles Papier mit einem Kapitel

aus „Spiegel der See“ von Conrad. Martin: „Eines

der schönsten Bücher, die es gibt“, und so

haben wir uns näher kennen gelernt.

Er holte ein Foto von einer Jolle aus seiner

Tasche. Das Boot kannte ich, es war der alte

Holzpirat von einem Freund, der war gerade

verkauft, und ich wusste an wen, aber nur den

Vornamen. Das war Martins Sohn, nur wenig

jünger als ich selbst. Als ich das große Papier,

meine Semesterarbeit beschrieben hatte,

wollte ich das ganz besonders gut machen.

Ich konnte nicht ahnen, dass der Professor

Ahnung von Schiffen hatte, aber es sollte

ein schöner Text sein. In der Mitte vom Blatt

sparte ich die Worte aus und zeichnete einen

Dreimaster hinein. Ich schrieb exakt Wort für

Wort nach Conrad über das Ankern und den

Unsinn, den die Journalisten mit der Seemannssprache

machen. „Fallen Anker!“ oder

englisch einfach: „Let go!“ heißt es. (Da wird

nicht geworfen). Danach tat mir ein ganzes

Jahr lang der Handwurzelbereich

meiner guten rechten Mal- und

Zeichenhand weh. (Dreimal habe

ich das Papier beschrieben, und

erst mit der dritten Fassung war

ich leidlich zufrieden, so dass ich

mich traute, diese dem Prof. zu präsentieren).

Einmal war Siegfried Oelke zu Besuch

beim Kollegen Andersch und

beklagte sich bitterlich über irgendwelche

Idioten, die etwas nicht

begriffen hatten, was er im Auftrag

gezeichnet hatte. Dazu zeigte er

seinem Freund einen Druck und

wies auf Stellen hin, an denen er

Konturen mit der Umgebung hatte

verschmelzen lassen, und jemand

hatte etwas in der Art: „Was soll das

sein?“ dazu gesagt. Das war mein

einziges Treffen mit Oelke, und ich

habe erst später begriffen, dass er

das war. Ich dachte naseweis: ich

kann’s auch nicht erkennen; sagte

aber nichts. Später habe ich alles

verschlungen, was ich von Oelke

bekommen konnte, Publikationen

und Drucke, Illustrationen. Ich habe

mich stets von seinem Stil, mit dem Bleistift

zu zeichnen, leiten lassen. Natürlich habe ich

die ganze Zeit bei Otto Ruths gehört, wie es

zu machen sei, aber der optische Selbstunterricht,

wie ich gern wollte, dass es bei mir

werden sollte ist von Oelkes Zeichnungen

geprägt.

Busch. Das war auch einer, den alle kannten,

aber der war zu meiner Zeit bereits nicht

mehr an der Armgartstraße. Er starb, kurz

nach dem ich zu studieren begonnen hatte.

Den habe ich auch nur einmal gesehen.

Er kam, alt und angeschlagen, auf Krücken

vorbei, am Flurende oben zum Raum dreihundertirgendwas,

wo wir immer zeichneten,

seinen Freund Otto zu besuchen. Später

begriff ich, dass ich den bekannten Grafiker

Wilhelm Busch „in echt“ gesehen hatte. Der

zeichnete mit Kugelschreiber als sein liebstes

Werkzeug. Das ist nicht jedermanns Ding.

(Ich habe jetzt mehrere Skizzenbücher damit

gemacht, als Herausforderung nicht korrigierbar

klarzukommen; Busch illustrierte

aus der Vorstellung mit Kugelschreiber, wo

es eigentlich weniger nutzt und ein Bleistift

gute Möglichkeiten bietet, sich einer Idee an-

Nov 9, 2019 - Motivation, von Oelke bis Teufel 35 [Seite 35 bis 39]


zunähern. Meine Skizzen sind direkt nach der

Natur. Eine schwarze farbechte Kugelschreiberlinie

mag zu einem guten Druckbild in der

Reproduktion beigetragen haben).

Wilhelm M. Busch, Illustrator zahlreicher Bücher,

Namensvetter von dem mit Max und

Moritz und bitte nicht mit ihm zu verwechseln.

Zur Einordnung: Ich bin 1964 geboren,

habe von 1985 bis 1991 an der Armgartstraße

studiert. Wir machten ein Diplom.

Die Fachhochschule wollte bessere Grafiker

machen, keine Künstler. Die sollten am Lerchenfeld

studieren. Dazu benötigte man das

ganze Abitur, und das habe ich ja bekanntlich

nicht geschafft. Der „echte“ Busch mit

seiner Witwe Bolte ist genau hundert Jahre

vor meinem Vater zur Welt gekommen. Mein

Professor Ruths, in den zwanzigern des vorigen

Jahrhunderts geboren, war noch im Krieg

gewesen, während mein Vater als „weißer

Jahrgang“ weder bei den Nationalsozialisten

noch in der späteren Bundeswehr Soldat

wurde. Wilhelm M. Busch, der sich einen

Namen in der Romanillustration (wie es sie

nicht mehr gibt) gemacht hatte, war älter als

Ruths. Sie waren Künstlerfreunde, gingen

gemeinsam auf einige Studienreisen. Zum

Stierkampf in Pamplona fuhren sie, und ich

kenne Geschichten. Otto Ruths wurde mein

wichtigster Professor und Freund, und Busch

war sein engster Kollege an der Fachhochschule.

Ich habe diesen Text mit Oelke begonnen,

weil ich mich besinnen musste, warum ich

motiviert bin zu malen. Ich wurde gefragt.

Wir waren auf einem Geburtstag eingeladen,

und ich habe dort eine Kollegin gesprochen,

die ich lange nicht gesehen habe. Sie bildet

Kunstdozenten aus und kommt nicht mehr

dazu, selbst zu malen, sagt sie. Sie findet

Gründe: liest noch die Mails, bringt den Müll

raus und hängt Vorhänge auf, nachdem die

mal wieder gewaschen wurden. Es gibt immer

zu tun. Sie ist nicht recht glücklich. Das

Geld stimmt, die Zukunft scheint gesichert,

aber die eigene Kreativität droht einzuschlafen

oder für immer zu versiegen, was tun?

Es ist wenig wahrscheinlich, anderen helfen

zu können, die in dieser Lage sind.

Motivationstraining? Das Buch was am

wenigsten zu meiner selbstständigen

Malerei beitrug, war ganz bestimmt „Der

Weg des Künstlers“ von Cameron. Meine

Bekannte hat mir bei unserem Wiedersehen

von einem inspirierenden Workshop

erzählt. Ein Partner und sie haben Karten

mit Themen angefertigt und einen

zweiten Stapel mit grafischen Techniken.

In der Mischung zogen sie nun unerwartete

Kombinationen, in etwa: Einsamkeit/Bleistift

oder Populismus/Aquarell,

um dann für eine festgelegte Zeitspanne

in jeweils einem Studierzimmer zu verschwinden

und die Aufgabe umzusetzen;

das sei ja so genial gewesen und

anregend. Ich will das gern glauben,

aber für mich wäre es nichts. Warum

sollte ich diese starke soziale Komponente in

meine selbstständig entwickelte Kreativität

einbringen? Die Begeisterung meiner Kollegin

auf diese Art endlich kraftvoll motiviert,

per Losverfahren zu einer Aufgabe zu kommen,

eine untypische Technik unter Zeitbeschränkung

für ein aufgegebenes Thema anzuwenden,

kann ich nicht wirklich teilen. Ich

blieb diplomatisch, verstand, dass sie dabei

kreatives Glück empfunden hat. Das ist Kindergarten,

angeleitet wie in der Schule; wenn

jemand eigenständig Kunst machen möchte,

reine Zeitverschwendung. Ein Trend, das Arbeiten

in einer Gruppe. Ein gemeinsames

Thema, einen Termin zu dem „geliefert“ wird

und dann endet alles in einer Präsentation.

Gemeinsames Skizzieren: „Urban Sketching“,

kollektiv draußen unterwegs. Wenn die anderen

nicht dabei sind, beginnt keine „KünstlerIn“

zu zeichnen. Eine modische Bezeichnung,

sozial vernetzt – dabei sein.

Ich habe nur Geschichten zu bieten, intime

Momente meines Lebens, wenn ich versuche

zu sagen, was mich dabeibleiben lässt,

hat anfangen lassen. Ich war froh nach dem

Studium in freier Mitarbeit eines Verlags, maritime

Auftragsarbeit zu machen. Nun konnte

ich soviel Geld für ein selbstständiges Leben

verdienen, dass ich eine Wohnung und das

Essen, Kleidung allein erwirtschaften konnte.

Immerhin dauerte diese erfolgreiche Phase

als Illustrator einige Jahre an. Ich fand zu

Frau, Heirat und Kind, wir nahmen uns eine

gemeinsame Wohnung; ich war beinahe normal.

Als aus Deutschlands führender Yacht-Zeitschrift

Europas größtes Segelmagazin wurde,

war das für mich ein ungewolltes Ende

regelmäßiger Auftragsarbeit in freier Mitarbeit

dort und der Anfang meiner Malerei.

Das erste eigene Bild nach dem Studium,

ohne dass ein Lehrer oder Kunde es so haben

wollte, malte ich im überschaubaren

Format eines Zeichenblocks auf Acrylmalpapier.

Motiv: Ein kleiner Leuchtturm. Er steht

bei Glückstadt am Deich. Ich fuhr nicht etwa

hin, malte vor Ort. Ich fand den vertrauten

Freund vieler Segeltage in einem Buch. Dort

habe ich abgemalt. Ich zeichnete vor, malte

aus (wie in der Grundschule), und dann habe

ich’s auf Tischlerplatte geklebt, Aluleisten

drum montiert. Ich fand das toll, war stolz auf

mich. Es ist allenfalls Naive-Malerei. Das Bild

hängt im Kinderzimmer meines Sohnes. Er

ist inzwischen achtzehn Jahre alt und zieht

vernünftigerweise bald aus. Das Bild ist etwa

genauso alt.

Ich war keineswegs mit einem klaren Plan

oder dem studiert ausgebildeten Talent unterwegs.

Ich machte

ein dilettantisches

Bildchen und

hielt mich für wer

weiß wie genial.

Heute arbeite ich

viele Wochen oder

Monate, und wenn

ein anspruchsvolles

Thema fertig

ist, bin ich sehr

zufrieden, mir aber

bewusst, wie unbedeutend

meine

Bilder insgesamt

sind.

Ich kann Eckpunkte

im Leben benennen,

die mich motivierten. Ich liebe maritime

Malerei. Da war zunächst ein Buch mit

Bildern von Anton Otto Fischer das ich von

meinem Großvater geschenkt bekam, der ja

zur See gefahren ist. Schon als Jugendlicher

habe ich mich für dieses Genre interessiert,

habe einiges im Bücherschrank. Ich schaute

mir zahlreiche Gemälde von bekannten Marinemalern

im Original an.

Ich habe im Studium viel Zeit mit Otto Ruths

verbracht, kenne und schätze seine Malerei

und Auffassung von Komposition und Farbe,

aber ich malte nie bei ihm. Gemalt habe ich

bei Almut Heise. Wichtig wurde alles, was

ich von Edward Hopper, David Hockney, und

William Kurelek bekommen konnte. In Bologna

auf der Kinderbuchmesse hatte ich das

unglaubliche Glück, kanadische Originale anschauen

zu können, und ich habe einige Bücher.

Kurelek ist ein wunderbarer Erzähler.

Auf dieser Messe hat meine Freundin Ute

Martens einen kleinen Band mit Gemälden

von Menzel gekauft, das ist aus dem „Albogen“,

(und meine Frau war später so lieb, mir

dieses Buch in Berlin antiquarisch zu kaufen).

Ich habe gezeichnete Bücher von Tomi Ungerer,

einen Band mit Porträtzeichnungen von

Hockney. Ich habe Petterson und Findus, Tim

und Struppi, Asterix – unverzichtbar! Storm,

Flash Gordon und jede Menge Prinz Eisenherz.

Ich habe mir, wen wundert das, einen dicken

Band mit den verschiedensten Pin-Up-

Künstlern antiquarisch auf einem Flohmarkt

gekauft und ein Buch mit den unglaublichen

Aktgemälden von Freud habe ich natürlich

auch. Jetzt habe ich Bo Bartlet durch Zufall

ergoogelt, bewundere das unendlich.

Deswegen beginne ich aber nicht zu malen.

Andere sammeln auch Bücher und Bilder,

und allein davon, dass man etwas mag,

macht man’s ja noch nicht. Sicher haben

mich Biografien voran gebracht, für die ich

mich interessierte. Ich habe über Louis Armstrong,

Dizzy, Miles und Chet Baker gelesen,

besonders gern autobiografische Texte. Keine

Maler, aber Individualisten in ihrem Fach. Sie

konnten nicht beliebig sein, Musik ist nicht

irgendwas. Ich kenne zudem zahlreiche Musiker

persönlich. Lebensläufe faszinieren mich,

die Ansichten kreativer Publizisten: Der klassische

Pianist Horowitz, Filmemacher Charlie

Chaplin, Walt Disney und natürlich die

Bücher von Moshe Feldenkrais, Popper und

Watzlawick; ich habe verinnerlicht, was sie

aufgeschrieben haben.

Als Jugendlicher habe ich die Hornblower-

Romane gelesen. Eine gute Beschreibung

von C. S. Forester, wie er kreativ vorgegangen

ist, findet man im Aufsatz: „Meine Bücher

und ich.“ Von treibenden Quallen im Meer

und Muscheln am Holz erzählend beginnt

der Text. Der Schriftsteller führt aus, wie er

zunächst zulässt, nicht so genau zu planen.

Kreatives Denken bedeutet ihm, nicht exakt

hinzuschauen was ihn umtreibt, bis die Dinge

deutlich hervortreten. Das hat den Vorteil,

dort anzufangen, wo es lohnend ist. Einen

Stoff zu finden, der nach einiger Zeit als

unterbewusst bereits entwickeltes Element

immer hartnäckiger selbst für sich spricht. Er

macht anschaulich, wie eine neue Idee erst

allmählich Form annimmt. Beschreibt, wie

Einfälle im Dämmerdunkel eines versunkenen

Bereichs vom Gehirn, als eine Art vollgesogenes

Treibholz unter Wasser herumgondeln

und Ableger des Themas wie Bewuchs,

Kraut und Seepocken hinzukommen, bis man

sich vernünftigerweise ernsthaft der Sache

annimmt.

Im Text steht auch der bemerkenswerte Satz:

„Nichtstun macht mich nicht produktiv.“ Der

Schriftsteller geht nicht in das Studierzimmer

und wartet auf den Kuss der Muse. Den

Schreibraum betritt er erst, wenn er fertig mit

der Idee seiner Geschichte ist und dann wird

Nov 9, 2019 - Motivation, von Oelke bis Teufel 36 [Seite 35 bis 39]


diszipliniert geschrieben. Der Autor setzt

sich einem selbstgeschaffenen Zeitplan aus,

schreibt ein immer gleiches Pensum am Tag.

Würde er sich hinreißen lassen und mehr fabrizieren,

könne er am darauffolgenden Tag

nichts zu Papier bringen, meint er. Das kennt

er schon aus Erfahrung mit sich selbst. Setzt

er hingegen einen Tag lang mit dem Schreiben

aus, empfindet er gleich belastenden

Zeitdruck, da sein Verleger vorab in Kenntnis

gesetzt ist, was Forester thematisch und wie

viele Seiten stark zu einem bekannten Termin

ungefähr abliefern wird.

Von John Irving wird erzählt, dass er typischerweise

einige Sätze oder eine Seite vom

Schluss der Geschichte zu Beginn notiert.

Auch dieser Schriftsteller entwickelt sein

Thema im Kopf, fängt nicht mal so an, was

aufzuschreiben. Zu wissen, wo man hin will,

ist von Vorteil. Genauso Edward Hopper, der

sagt: „Wenn ich mich an die Staffelei setze,

ist schon alles erledigt.“ Das sind Künstler, die

innere Disziplin zu schätzen wissen. Es gibt

andere Wege zu einem Ergebnis zu kommen:

Der „Herr der Ringe“ hat sich als Trilogie von

Weltrang während der Schreibarbeit verselbstständigt,

wie auch der Film „Casablanca“,

wo die Macher nicht recht wussten, wie

die Sache enden sollte. Das erfolgreiche Duo

aus Hans Albers und Heinz Rühmann behakte

sich in der Umsetzung der Szenen, die Albers

gern frei heraus anging und Rühmann auf

den Schritt genau plante. Charlie Chaplin im

Film und Artie Shaw in der Musik, sie waren

Perfektionisten und kein studierter Psychologe

würde ihr Arbeitsverhalten empfehlen.

Ich war ja nicht dabei, aber Anekdoten haben

mich immer interessiert. Meiner Auffassung

nach ist Kunst absolut persönlich, also gerade

nicht sozial; auch in einer Band muss

der einzelne seinen Teil für sich beherrschen.

Sich kennen lernen: Was mag gerade ich, was

kann ich – wo kann ich drauf aufbauen, dabei

bleiben und besser werden?

Ich kann aus eigener Erfahrung nachempfinden,

in welche Panik und Wut man über sich

selbst gerät, wenn in weit vorangeschrittener

Arbeit ein unerwartetes Problem auftaucht.

Das Bild steht auf der Staffelei. Angetan von

der täglichen Arbeit, bist du gut voran gekommen

und voll motiviert, weil du dich auf

den Tag freust, an dem die Sache irgendwann

fertig ist. Und dann kommt ein Moment, wo

eine bislang unbemerkte kompositorische

oder thematische Schwäche der gesamten

Konstruktion den Boden unter den Füßen

wegzuziehen scheint. Das kann einige Tage

Panik bedeuten, ob das Bild überhaupt zu

retten ist.

Forester beschreibt so eine Situation: „Ich

hatte mir einfach gesagt, hier entfliehen sie“,

gibt er zu, als ein entscheidender Moment

ihn beim Schreiben kalt erwischt hat und

der professionelle Schriftsteller nun grundsätzlich

an seiner Befähigung zweifelt, ob

er überhaupt zu diesem Beruf geeignet ist.

Er spürt womöglich die gleiche Angst seiner

im feindlichen Frankreich gefangenen

Freunde am eigenen Leibe: Wie komme ich

da raus? Jedes Projekt wird zu einer Art Reise,

niemand möchte vor dem Ziel abbrechen. Ich

glaube, es war Menzel, der ein monumentales

Gemälde halbfertig (ein Leben lang) im Atelier

ausgehalten hat.

Von Beethoven ist bekannt, dass er lange

Kompositionen im Kopf entwickelte, bevor er

Noten zu Papier gebracht hat. Wissenschaftler

und erfolgreiche Geschäftsleute betonen, wie

kreativ sie denken (müssen). Von Einstein ist

überliefert, wie es sich mit der Relativitätstheorie

im Ursprung zugetragen haben soll:

„Mir ist etwas ganz Wunderbares eingefallen,

nun muss ich es (aber) noch aufschreiben“,

soll er zu seiner Frau gesagt haben – und anschließend

grummelnd lang daran gesessen

haben, genau festzuhalten,

was er

eigentlich bereits

fertig erdacht hatte.

Worte für etwas

zu finden, ist extra

Arbeit, kreatives

Denken ist anders.

Ich habe einen

Mann gesehen, der

konnte anspruchsvolle

Rechenaufgaben

schneller

als eine Maschine oder doch zumindest genauso

exakt lösen. Das war Teil einer Show.

Dem Mathe-Genie wurde eine große Schultafel

hingestellt, und er bekam seine Aufgabe.

Die Lösung bestand in einer vielstelligen

Zahl, so lang, dass die Ziffernkombination die

volle Breite der Tafel benötigte. Der Mann

rechnete aufeinanderfolgende Kommastellen

für die Zuschauer in Echtzeit vor, schrieb

mit Kreide in lockerem Tempo Zahlen hintereinander

weg, dass man nur staunte; dabei

redete er die ganze Zeit. Er sagte nicht etwa:

„Jetzt kommt eine Drei, dann eine Sieben“,

er brabbelte: „Nun kommt das Ding hier,

jetzt kommt da sowas … und nun machen

wir eine von diesen.“ Dabei schrieb er (bzw.

seine Hand schrieb, sollte ich wohl genauer

sagen) in etwa: vier, acht und zwei – (nur als

Beispiel).

„Hornblower“ (Der Kapitän) wurde während

einer Schiffsreise in Gesellschaft mit einigen

Passagieren erdacht. Spiele an Deck, gemeinsamer

Landgang, Essen mit den anderen, Forester

war damals leicht beschäftigt und gut

unterhalten unterwegs. Er hat seinen neuen

Helden in die Küstenformationen und Meere

hinein erfunden, in denen er selbst gerade

Kreuzfahrt machte. In der Heimat angekommen,

konnte er aufschreiben, was er jeden

Tag an Bord im Geiste durchgespielt hatte.

Als ihm die neue Figur gut vertraut vor dem

inneren Auge stand, nach dem veröffentlichten

ersten Roman „Der Kapitän“, entwickelte

er weitere Episoden mit dem eigenwilligen

Helden. (Es ist mit Gregory Peck verfilmt).

Sein Thema ist der auf sich gestellte Mann.

Im Kapitän auf stürmischen Meer, bedroht

von unvorhersehbaren Feindaktionen, kommunikativ

abgeschnitten und entfernt von

der Admiralität, die ihn mit einer Aufgabe

betraut hat, findet der Schriftsteller das Modell

dieser Idee, die er in immer neuen Geschichten

erzählt. Sein Horatio Hornblower,

der den eigenen Namen als sperrig hasst, ist

in Ausnahmesituationen extrem mutig, empfindet

jedoch würgende Angst dabei. Selbst

hält er sich für feig, nimmt an, dass andere

bedenkenloser durchs Leben gehen. Das ist

ein schöner Mann, der sich steif und linkisch

bewegt. Hornblower ist unfähig, Musik zu begreifen,

ein Ton ist ihm wie der andere, aber er

ist mathematisch brillant und ein guter Kartenspieler.

Es gibt albtraumhafte Beschreibungen

des mörderischen Krieges und große

Liebe! Hornblower findet sich in persönlicher

Gegnerschaft zu Napoleon, dem er zeitlebens

als britischer Kommandant bekämpfen muss

aber nie persönlich trifft. Er hat einen Freund

in Bush, mit dem er viele Reisen zusammen

segelt der aber schlichten Gemüts ist (und

nie seekrank wird). Bush habe einen gusseisernen

Magen, heißt es, und der von der

Mannschaft bewunderte Kapitän Hornblower

verkriecht sich zu jedem Reisebeginn in seine

Kajüte, weil niemand bemerken soll, wie er

sich übergibt. Er möchte zudem

als „der große Schweiger“ gelten

und beißt sich geradezu auf die

Zunge, wenn es um taktische

Kommunikation geht, damit er

intellektuell Sieger bleibt.

Hornblowers Freund (und untergebener

Offizier) Bush beschreibt

Lady Barbara, der von

Forester erfundenen Schwester

von Lord Wellington (den es

wirklich gab) seinen Kapitän,

der es bevorzugt, zum Nachdenken

auf der Luvseite des Achterdecks auf und

ab zu gehen und dabei keinesfalls gestört

werden darf: „Er denkt in einem fort.“ Dann

unterbricht er, seine Offenheit korrigierend:

„Verzeihung Mylady, bei Ihnen ist es natürlich

genauso.“ Hornblower hat eine Angewohnheit,

er macht im Gespräch: „Ha – Hm“, räuspert

sich ohne Not.

Das machte mein Großvater ganz genauso.

Manchmal denke ich dran, wie vertraut es

war.

Forester beschreibt auch eine Marotte, die

einiges über seine eigene Denkweise verrät.

Der Autor erzählt in „Meine Bücher und ich“

davon, in Gesellschaft mit anderen zu essen.

Typischerweise bekommt man eine Suppe,

und es gehört sich, gepflegte Unterhaltung

mit Tischnachbarn zu führen, während

gemeinsam gegessen wird. Der bekannte

Schriftsteller gibt hier zu, dass er, während

die Suppe serviert wird, die Angewohnheit

entwickelt habe, vor Beginn des Essens abzuschätzen,

wie viele Löffel er zum Mund führen

muss bis der Teller leer ist. Alles heimlich,

versteht sich. Der höfliche Engländer lässt

kein Sterbenswörtchen davon verlauten, derweil

halblauter Smalltalk untereinander gepflegt

wird, alle Suppe essen und er im Geiste

mitzählt, wie nahe seine Schätzung dem tatsächlich

ausgelöffelten entspricht.

Forester berichtet, wie eine Erkrankung sein

Leben verändert und er jedes Buch in der

Vorstellung schreibt, das könne sein letztes

sein. Er machte, wenn möglich, keine Aufzeichnungen:

„Das Geschreibsel das dabei

heraus kommen könnte, wenn ein anderer

die Geschichte zu ende bringt“, für den Fall er

während der Arbeit stirbt, ist ihm unerträglich.

Natürlich ist meine Motivation, ein neues

Bild zu beginnen heute anders, als zu Beginn

meiner Arbeit. Das liegt in der Entwicklung

meiner kreativen Persönlichkeit, die unausweichlich

voranschreitet, je länger man dabei

ist. Auf jeden Fall ist ein Künstler immer auch

davon bedroht, seine Motivation generell zu

verlieren. Dazu kann ich nichts sagen, weil es

mir bislang nicht passierte, und zur aktuellen

Motivlage habe ich schon publiziert. An

dieser Stelle fällt mir vor allem ein Moment

ein, der mein Leben grundsätzlich veränderte,

und das möchte ich noch erzählen.

Nov 9, 2019 - Motivation, von Oelke bis Teufel 37 [Seite 35 bis 39]


Als es mit der Illustration noch lief, machten

wir einmal mit der ganzen Redaktion einen

Tagesausflug mit dem Reisebus und zwar

nach irgendwo hinter der Oste (aber vor

Bremen). Wir steuerten verschiedene Aktionspunkte

an, tranken Kaffee im Restaurant,

fuhren paarweise rudernd in kleinen Booten

über einen Binnensee und alberten in einer

Art ehemaliger Kiesgrube bei verschiedenen

Rallye-Aufgaben herum. Matze und ich

sägten mit einer Riesensäge eine Scheibe

von einem Baumstamm, und die anderen

mussten es besser machen. Als es dämmerte,

bestiegen wir endgültig wieder den Bus und

nahmen Hamburg, die Heimat, zum Ziel.

Diesmal ergab sich eine andere Sitzordnung,

und da waren Ausflugsteilnehmer, die ich

gar nicht kannte. Ich kam neben einen im

Vergleich zu mir schon älteren freien Mitarbeiter

zu sitzen. Das schien vielversprechend

zu werden, schon beim Einsteigen. Der Mann

hatte Humor. Ich glaube, er war mit einem

bereits leicht angegrauten Schnurrbart bestückt,

wie es seinerzeit nicht mehr modern

war. Der trug wohl eine kurze dunkelbraune

Lederjacke und hatte die vitale Sportlichkeit

eines gestandenen Mannes mit eigenen Ansichten

im „besten“ Alter.

Im Bus dudelte Musik, und mein neuer Nachbar

erklärte eine kategorische Ablehnung

von Country-Music zugunsten von Jazz. Ein

guter Anfang! Er war offenbar Fotograf. Damals

begann der Siegeszug der Digitalfotografie

über den Film. Ich bekam zunächst

eine fachlich qualifizierte Argumentation

für oder gegen die jeweilige Technik. Der

Computer hatte den Alltag bereits erreicht.

Aber E-Mail und mobiles Telefon kamen nur

zögerlich in der Gesellschaft an. Dateien

schickte ich mit dem „Leonardo“, und vorher

rief ich bei Helmut in der Grafik an, dass ich

die Absicht hätte, ihm jetzt zum Beispiel eine

neue Karte mit Törntipps-Mittelmeer zu schicken.

Die wäre für eine Soundso-Geschichte,

sagte ich vielleicht, von diesem oder jenem

Autoren für das aktuelle- oder nächste Heft.

Wir sprachen noch regelmäßig miteinander.

Das machte man so. Und dann schalteten wir

beide diesen grauen Kasten an, und die Datei

ging auf den Weg in die Redaktion.

Das Fotografieren, wir kauften Filme, die waren

von Kodak, Agfa oder modern bunt: Fuji

– und die hatten 36 Bilder oder auch weniger,

das waren bekannte Produkte in bekannten

Verpackungen. Auch wie diese Filme in den

jeweiligen Kameratyp einzulegen waren, was

man beim Zurückspulen vernünftigerweise

zu machen hatte, das wusste man. Das blieb

jahrelang gleich. Das war so wie Schöllerhammerkarton,

den hatte es seit Erfindung

der Erde und des Weltalls und dem ganzen

Rest gegeben und würde es bis an das Ende

aller Tage weiter geben.

Meine berufliche Laufbahn hatte nach dem

Praktikum bei Werner Harders in der Grafik

von Markenfilm ihre Fortsetzung bei Schlotfeldt

in der Hansastraße genommen, und

dort war es Peter Plasberg der mir zur OM-2

verhalf. Die habe ich noch immer. Ich fotografiere

nur nicht mehr. Diese Spiegelreflexkamera

hat gegenüber der Nikon den Vorteil,

dass sie klein und leicht ist. Ich habe nicht so

große Hände. Es ist eine Kunst, eine Kamera

so festzuhalten, dass die Bilder unverwackelt

scharf werden. Ich lernte, so abzudrücken,

dass nur das vorderste Fingerglied den

Auslöser drückt (wie man auch lernen muss,

beim Schießen mit einem Gewehr zügig aber

entspannt über den Druckpunkt durchzuziehen).

Peter brachte mir zudem bei, den Film

behutsam einzulegen. Man muss darauf achten,

dass beim späteren Weitertransport nach

jedem Bild alles klar geht, da man ja nicht

mal eben aufmachen kann und nachsehen.

War der Film voll, spulten wir mit einer kleinen

Kurbel zurück, und da fand Plasberg es

gut, wenn ich mir angewöhnen würde, den

Film exakt so weit in seine Dose zurückzuschrauben,

dass noch einige Zentimeter

rausschauten. Dafür musste man Gefühl entwickeln.

Er war der Auffassung, dass man auf

diese Art dem Labor eine Freude machte, da

die Leute dort einen Anfasser fänden, um den

Film in der Dunkelheit wieder zur Entwicklung

herauszuziehen. Nur „Lieschen Müller“

würde stumpf „bis Ende“ in die Dose spulen,

der professionelle Fotograf müsse immer

mitdenken. Ich habe aber von anderer Seite

gehört: „Die schlachten die Dose sowieso,

das ist ganz egal.“ Ich kannte mich allmählich

aus. Nicht nur in der Fotografie. Eine Zeitlang

änderte sich kaum etwas, so ist es mir immer

vorgekommen.

Dann kam eine unerwartete Dynamik in die

Welt. Alle machten Airbrush. Einen Kompressor,

wie mein späterer Arbeitgeber, Lehrer und

Freund Uwe Jarchow sich seinen aus Lkwund

ähnlichem Zubehör selbst zusammengebastelt

hatte, mit eigens dafür zusammen gelöteten

Geschläuch, für teilweise im Ausland

langwierig zu bestellende Spezialpistolen,

gab es nun an jeder Ecke serienmäßig. Farbkopierer

wurden Standard. Man konnte die

Kopien locker bezahlen, und überall gab es

neuerdings entsprechende „Copy“-Shops. Die

englische Sprache mussten wir können. Man

sagte: „shit“ statt: „So’n Schiet!“ (oder Chance

statt Schanx und mehr davon). Fotoläden

schossen wie Pilze aus dem Boden. Es wurde

direkt im Laden entwickelt, und du konntest

deine Bilder nach nur einer Stunde schon bekommen!

Filmentwicklung hatte so etwa eine Woche

mindestens gedauert, Agfa und Kodak waren

allein zuständig, bis Porst „mit der runden

Ecke“ auftauchte, und die Sofortbildkamera

gab es bald auch. Viele lernten schwarz-weiß

Bilder selbst zu entwickeln, einige hatten ein

kleines Farblabor im Keller, ich konnte das!

Dann kam der Boom, wie oben beschrieben

– der Siegeszug der Compact Disk und vieles

mehr – und bald darauf verschwand der ganze

Zauber schneller, als er aufgetaucht war.

Dann wurde noch einmal alles ganz anders.

Es wurde so, wie es jetzt immer ist.

Im Bus: Mein Sitznachbar erzählte von seiner

Arbeit als Fotograf, und nun kam Leben

in unser Gespräch. Ich wollte auch was zum

Besten geben, fing an, eine Porträtfotografie

zu loben. Ich erinnerte mich: vor kurzem

wäre doch Erdmann auf Doppelseite im Heft

gewesen. Ich war einigermaßen im Thema,

hatte eine Karte beigesteuert. Wilfried

Erdmann stand kurz vor seiner „Gegen-den-

Wind-Reise“, wollte ganz allein an Bord um

die Welt segeln. Das Schiff ohne Hilfs-Motor

(da bin ich mir nicht sicher), der Trip geplant,

ohne je wo anzulegen. Alles, auch das Essen

für die lange Weltreise, musste von Beginn an

Bord komplett dabei sein. Um es noch extremer

auszugestalten, war die Reise „verkehrt

herum“ geplant. Statt so zu segeln, dass wie

üblich gute Winde mitschieben, Schlechtwetterzonen

und Jahreszeiten mit bekannten

Unwettern vermieden würden, den Kurs etwa

durch den Panama-Kanal abzukürzen, statt

um Kap Horn zu gehen (wie die Kochs es gemacht

hatten), wollte Erdmann alle Schikane

(und sich selbst) auf einmal bezwingen.

Allein.

In der Redaktion hatte er eine Weltkarte mit

der geplanten Route hinterlassen, das war

die Vorlage für mich. Meine Aufgabe bestand

darin, sie einzuscannen und eine Infografik

daraus zu kreieren. Mit grünem Filzstift hatte

er vorgemalt, wo es längs gehen sollte.

Und es ist möglich, dass diese Fotokopie mit

der von seiner Hand eingemalten Linie hier

noch irgendwo bei mir in einer Mappe mit

alten Arbeiten liegt. Ein Erdmann im Keller

ist eventuell mehr wert als ein Bassiner an

der Wand? Vielleicht sollte ich danach suchen,

ein Bankschließfach anmieten, besser

ist das.

Der kommende Held war vor Abfahrt an Bord

fotografiert worden. Er saß in seiner Kajüte,

dem zukünftigen Zuhause für lange, gefährliche

und einsame Zeit. Er entwickelte die

Reise in der Vorstellung, exklusiv für die staunenden

Reporter vom allergrößten Segelmagazin

Europas. Den Blick hatte der Extreme

vergeistigt in die Ferne gerichtet, die nur er

schon so sehen konnte, im Halbdunkel seiner

Erdmannhöhle. Mann in der Tonne. (Kathena

ist aus Alu).

Und das hatte einer fotografiert. So gut, dass

es eine Doppelseite mitten im Heft wurde.

Das Gesicht des Abenteurers in Lebensgröße,

der Blick männlich klug und ernst. Er schaut

besser, als von jedem nur denkbaren Schauspieler

darstellbar, sinniger als jeder Cameloder

Marlboromann; und du konntest jeden

Bartstoppel oder Sonnenfleck gestochen

scharf sehen, ein feiner Reflex im glänzenden

Auge. Das war eine fotografische Meisterleistung

der Porträtkunst. Der Fotograf hatte

keinen Blitz verwendet, um sich gegen das

tückische Halbdunkel zu helfen. Hier hatte

einer auf das unmöglichste Filmmaterial mit

dem feinsten Korn und der besten schwarzweiß

Zeichnung vertraut. Hatte in Kauf genommen,

deswegen extra lang belichten zu

müssen – und ganz ruhig hin gehalten und

dann abgedrückt. Dieser Moment! Das hatte

ich gesehen, und wollte erzählen, wie geil

dieses Foto war, wollte mich als Kenner der

Materie beim älteren Nachbarn beliebt machen;

und da sitzt ein echter Heinz Teufel neben

mir! Der war das nämlich, und ich kannte

den gar nicht.

Ein wirklicher Künstler.

Nun redeten und redeten wir, es wurde dunkel,

und der Bus fuhr in Richtung Hamburg.

Und wir hörten Country dabei. Das war dann

egal. Schließlich kam es zu einer Sonderrunde

durch den Freihafen. Wir überquerten

den Köhlbrand auf der schönen Brücke, keine

Ahnung, warum es nötig war. Die Fahrt sollte

wohl in der Nähe vom Hauptbahnhof enden,

und dem Busfahrer gefiel die Route. Es war

inzwischen Nacht geworden, später Abend,

und alle Lichter des emsigen Hafenbetriebs

funkelten, wie extra für uns zum Abschluss

des Ausflugs angeschaltet. Ein alltägliches

Feuerwerk der Ästhetik krönte unsern lustig

kollektiven Kurzurlaub für einen Tag. Die fleißigen

Krane rotierten in unermüdlicher Ladearbeit,

beleuchtete Schubverbände waren

ruhelos im Kanal unter uns unterwegs. Aus

der Höhe gesehen kleine Lastwagen (wie Wi-

Nov 9, 2019 - Motivation, von Oelke bis Teufel 38 [Seite 35 bis 39]


king Autos) schlichen da rum, mit Containern

beladen, das bunteste, geschäftigste Gewusel

draußen, während wir über den mutig geschwungenen

Himmelsbogen der schönen

Brücke sausten. In unermüdlicher Bewegung

rauschte alles in seine jeweilige Richtung.

Entgegenkommende weiße Augen der anderen

Autos links, rote Lichter der Fahrzeuge

vor uns, in langer Kette. Die dunklen Haltetrossen,

an der Seite ins Nichts der Nacht verschwindend,

sind noch über uns fluchtend in

den Himmel gemalt, wie sie dabei diese ganze

großartig filigrane Konstruktion tragen.

Ein unvergesslicher Fahrtrausch. Wir fliegen

durch die bunte Hafennacht.

Warum weiß ich das noch?

Das war dieser Heinz Teufel. Wir hatten, inzwischen

müde vom Reden, in Gedanken eigenen

Welten nachhängend, dösend im Bus

gesessen, als diese brillante Szene das bisher

eher konturlose Dunkel ablöste. Da schaut

dieser Teufel an mir vorbei in die Nacht und

sagt leise, fast zu sich selbst: „Das sind ja alles

noch Bilder. Die müssen ja alle noch fotografiert

werden.“ Das war wie ein Auftrag

vor Gott, vor der Welt – eine Verpflichtung für

jemanden, der es hinbekommen kann. Unerledigte

Pflichten.

Das hat mich dann nicht mehr los gelassen.

:)

Schenefeld, Anfang November 2019 – heute

beim Arzt. Diagnose: Mein Meniskus innen

rechtes Knie ist möglicherweise abgerissen,

Operation wahrscheinlich. Es tut beschissen

weh, aber das macht nix.

Es gibt ja immer zu tun.

Nov 9, 2019 - Motivation, von Oelke bis Teufel 39 [Seite 35 bis 39]


Ankern oder auf der Tonne

Dez 15, 2019

Zu Beginn dieser Elbe- und Segelgeschichte

kommen mir die Schulzes in den Sinn. Schulze

und Schultze, der eine mit „t“ – der andere

ohne. Die Detektive aus „Tim und Struppi“,

Reise zum Mond: Ich denke an den Moment,

wo sich beide fest aneinander klammern. Jeder

hält sich am andren fest – aber eben nur

Mensch an Mensch – und nicht an der Rakete,

wie es nötig gewesen wäre.

Das versteht nur, wer das Heft kennt. Anders,

als es mit der Saturn V wirklich war, erzählt

Hergé die Geschichte vom Mondflug auf seine

Art. Der Professor Bienlein erfindet die

passende Atomrakete und Tim, der weiße

Hund und viele Figuren der bekannten Geschichten,

fliegen zum Mond. An Bord gibt

es viel Platz und künstliche Schwerkraft. Der

Raketenmotor selbst erzeugt Bodenhaftung.

Bienlein erklärt seine Physik: Der Antrieb

muss ständig in Betrieb sein,

damit das funktioniert. Etwa, als

würden wir auf eine Autobahn

einbiegen und Gas geben, um

im rasenden Verkehr mithalten

zu können und dabei fest in den

Sitz gedrückt.

An Bord ist es komfortabel. Kein

Vergleich mit der sardinenengen

Apollo-Kapsel. Die Reisenden

bewegen sich vertikal

in einem mächtigen Turm, der

am unteren Ende von einem

Reaktor angetrieben wird. Eine

große Düse zwischen den drei

Standbeinen für die Landung auf dem Mond

erzeugt einen breiten Feuerstrahl. Dafür wird

die Rakete bei der Ankunft am Erdtrabanten

umgedreht. Die Raumfahrer wenden und lassen

sich, gebremst vom Düsenstrahl, auf den

Mond sacken, bis die Rakete schließlich in

einem Krater aufsetzt. Auf dem Flug dahin

passiert einiges. Wie für eine Puppenstube,

hat Hergé eine kleine Architektur erfunden

und perfekt gezeichnet. Übereinander angeordnete

Ebenen sind durch Leitern und

runde Verschlussdeckel im jeweiligen Boden

verbunden. Die Kammern dienen verschiedenen

Aufgaben. Vom Maschinen- über einen

Schlafraum bis zur Kommandozentrale ist alles

durchdacht strukturiert, als wäre das ein

Schiff. Oder wie Zimmer in einem rot-weißen

Leuchtturm: Das ist die Mondrakete.

Als einige Male unerwartet der Antrieb

ausfällt, fliegen alle schwerelos herum.

Der Whisky von Kapitän Haddock schwebt

als orange Kugel aus dem Glas! Haddock

und seine schweren Schuhe mit den Magnetsohlen,

Ingenieur Wolff, ein Mitarbeiter

von Bienlein, der Professor selbst und die

Schulzes, ein Spazierstock; alles taumelt im

geräumigen Kommandoraum der Mondrakete

herum. Schließlich erreicht Tim einen

Steuerhebel, kann den Motor erneut starten:

„Achtung, Festhalten!“, ruft noch jemand, weil

die Schwerkraft wieder einsetzt. Die Reisenden

erlangen ihr Körpergewicht zurück, und

der Flug wird fortgesetzt. Nur die Schulzes

stürzen ab: „Eigenartig, wir hielten uns doch

ganz fest!“

„Ja, aber woran?“, fragt Wolff die verbeulten

und verdutzten Detektive.

(Sie hatten sich brüderlich umklammert).

Das hier ist keine Mondgeschichte.

Vielleicht tue ich mich schwer, da

ich eine Dummheit erzählen möchte.

Eine eigene. Da muss ich mich erst

warm schreiben. Noch ein weiterer

Umweg, bitte: Joseph Conrad schrieb

in seinen Romanen kunstvoll konstruierte

Sätze in englischer Sprache.

Er arbeitete gründlich am jeweiligen

Buch. Schreibend konnte er sich elegant

ausdrücken. Nicht so im Alltag: Er sprach mit

stark polnischem Akzent. Die mit ihm zur See

gefahrenen Kameraden und Offiziere an Bord

berichteten, er sei oft kaum zu verstehen

gewesen. Wenn er Zeit zum Überlegen hatte,

gelangen ihm die wunderbarsten Worte.

Er schrieb sehr langsam. Es dauerte, bis ein

Buch von ihm fertig wurde. In „Spiegel der

See“ ist ein Kapitel über Schönheit, Sinn und

Zweck der Seemannssprache. Genau und zuverlässig

sollten Conrads Worte sein, warum,

das hatte er auf See erfahren.

In alter Tradition ist es eine Berufssprache.

Sie ist aus handwerklichen Notwendigkeiten

und Gefahren an Bord entstanden, dient der

Sicherheit und Schnelligkeit in schwerem

Wetter. Kein Gerede welches gleich „dem

Tratsch gelangweilter Landratten“ mal so

oder nach Belieben verwendet werden darf!

Eine Berufssprache? Mein Zeitung lesender

Vater, gelernter Maschinenschlosser, ärgerte

sich jedesmal, wenn nach einem Autounfall

der Verletzte „heraus geschweißt“ wird. Was

ist falsch daran?

Joseph Conrad wendet sich gegen die Unsitte

der Journalisten, den „Anker zu werfen“. Das

Schiff „warf“ Anker – ein Unding für Conrad.

Warum schriebe man nicht einfach: „Die Flotte

ankerte vor der Küste“, oder: „Matrosen

bargen die Segel – das Schiff ging vor Anker.“

Nein, immer würde mit diesem so wichtig

schweren und unentbehrlichen Schiffshalter

in Not- und Alltag „herumgeworfen“. Zudem

bekämen Landratten den Eindruck, es mit

einem fachmännischen Ausdruck zu tun zu

haben. „Let go!“ oder in schönem Seemannsdeutsch:

„Fallen Anker“, muss das Kommando

an Bord heißen.

Mein Vater erklärte: Schweißen verbindet.

„Schneiden“ macht frei; (Schneidbrenner).

Wir hatten ein kleines Boot. Eine offene Jolle

aus Holz, mit der auch Regatten gesegelt

wurden. Die Elb-H-Jolle bildet hier bei uns

eine bekannte Klasse, wie etwa der Pirat oder

das Folkeboot. Damit fuhren meine Eltern

Urlaube in die Ostsee und als ich geboren

war, Badeausflüge an den Sand gegenüber

von Schulau. Danach segelten wir ein etwas

größeres Schiff, einen eisernen Jollenkreuzer,

weil meine Schwester dazu gekommen war

und schließlich den Delphin (aus Kunststoff),

einen Kielschwerter. Als richtige Yacht war er

noch ein wenig komfortabler; alle Boote hießen

„Globetrotter“. Als ich ungefähr fünfzehn

Jahre alt war, begann ich bei einem Freund

mitzusegeln. Nach den vielen Jahren mit unseren

Eltern, glaubten wir es allein mit der

Elbe aufnehmen zu können. Das Boot meines

neuen Kapitäns: Ich kannte die Jolle bereits

aus Kindertagen. Bernd hatte die 561 von einem

Freund der Eltern gerade gekauft. Hier

kennt jeder jeden. Nur durch segeln selbst

lernt man gute Seemannschaft, nicht durch

die Teilnahme an einem Kurs und den Abschluss

einer Prüfung, so wichtig das sein

mag.

Später habe ich die 331 „zurück in die Familie“

gekauft. Die Elbe ist anspruchsvoll. Nun

konnte ich eigene Fehler machen! Erfahrungsbericht

der anderen: „Jetzt ist John gegen

die Tonne gefahren“, sagt die Mannschaft

zu Steuermann Piet (der vor zehn Minuten

selbst eine große, rote Fahrwassertonne abgerammt

hat)! Und mit Petroleum der Bordlampe

und einem Lappen (weitersegelnd) die

Schiffsseite reinigt. Piet zu Kocki: „Nun hängt

er mit den Reffleinen an der Tonne fest!“

„Nein!“ „Doch – Wahnsinn, jetzt klettert er auf

die Tonne!“

Ja, das war schon bitter. Vor allem, als ich

dann, auf der Tonne stehend, mein Boot an

den Reffleinen des Großbaums festhielt, das

mit prallen Segeln im kräftigen Ebbstrom

gurgelte. Jetzt war der Abstand von mir (auf

der Tonne) bis zum Achterdeck nicht eben

klein. Reffleinen am schwingenden Großbaum

sind nicht gerade die typische Art, ein

Boot zu halten. Ein feiner Satz, den ich dann

noch machen musste. Aber wenigstens das

gelang, an diesem Frühlings-Sonnabend, an

dem wir Helden der Unterelbe das Segeln

erst wieder neu erfinden mussten. Auch mein

lieber Peter (Piet), der gleich seinem Vater

jede Welle duzt – (schreibt: Die Yacht!).

Wir fanden es attraktiv, diese Boote zu segeln,

mit denen schon unsere Eltern so glücklich

waren. Die H-Jolle ist in harten Wettkämpfen

ein anspruchsvolles Sportgerät. Sie ist ein

Zuhause und ein Abenteuerboot auf langen

Reisen ohne Motor. Nicht nur, dass wir jedes

Wochenende unterwegs waren, auch die

Sommer während des Studiums und noch

viele weitere Jahre danach, war ich in den

Ferien wochenlang in Dänemark auf Tour. Im

Laufe dieser Zeit lernten wir geschickt das

Wetter und die speziellen Feinheiten dieser

Schiffe zu nutzen und begriffen allmählich,

unsere Fehler von denen zu unterscheiden,

die Leute machen, die keine Ahnung haben.

Wahrscheinlich haben wir während langer

Dez 15, 2019 - Ankern oder auf der Tonne 40 [Seite 40 bis 41]


Jahre einfach zu viele Dummheiten gemacht.

Zu wissen, worin genau ein Fehler besteht, ist

der Unterschied der den Profi vom Amateur

unterscheidet.

Schon damals, als Bernd und ich anfingen,

machten wir Mist. (Auch: Wir krachten im Regattaeifer

auf die Steine eines Stacks). Vielleicht

erklären die zahlreichen Blödheiten

unseren überheblichen Humor, den wir gern

zum Besten geben, wenn ein ungeübter Skipper

seine Frau mit Worten traktiert, die verloren

am Bug eines Mega-Kreuzers Dummheiten

ausbaden muss: „Er“ rauscht (mit der

potenzierten Kraft seines Motor-Gashebels)

in den Hafen, „sie“ steht mit einem Plastikfender

hilflos am Steven, ratlos. Unmittelbar

Betroffene auf den anderen längsseits im

Päckchen festgemachten Schiffen beginnen

hektisch zu werden …

Eine Extra-Dummheit zum Schluss, allein

meine, leider. Jetzt kommt die Geschichte.

Das Leben. Ich fange jetzt wirklich an: Während

der Pause zwischen den Wettfahrten vor

Blankenese schossen wir mit unseren Jollen

im frischen Westwind herum, aßen mitgenommene

Brote und versuchten, „trocken“ zu

segeln. Ein böse blauschwarzes Gewitter zog

auf. Mein Kapitän beschloss, angesichts des

feinen Böenkragens, der nun immer besser

herauskam, die kommende Regatta sausen

zu lassen. Wir wollten das alles vor Anker

abwettern. Eine gute Idee, finde ich bis heute.

Über der Wand stand ein schnee-weißer

Amboss. Und unten, über Schweinesand und

den niedrigen Büschen dort, auch südlicher,

über dem Este-Sperrwerk, war nichts helles

– überhaupt nicht. Das dunkle Blauschwarz

reichte ganz runter bis auf die Kimm. Mutmaßlich

kein Entrinnen vor einer starken Bö!

mein Gewicht an Deck der schmalen Jolle,

haute das Boot noch fester in das aufgewühlte

Kabbelwasser des Mühlenberger-Lochs.

Eine Ladung Wasser nach der andren klatschte

mir in den Oelzeugkragen. Ehrgeizig warf

ich, schmiss – ja schleuderte! ich, Conrads

Worten und dem Wetter trotzend, unseren

kleinen Eisendraggen in die schaumig verwehten

Wellen vor Blankenese.

Es gab kein Kommando „Let go!“ oder so. Nur

den brüllenden Kapitän: „Mach auch am Mast

fest, mach das Ende fest!“ Die Fock knatterte

laut schlagend über mir, da

Bernd gute Höhe steuerte, um

Neigung nach Lee zu vermeiden.

Ein umsichtiger Kapitän

– ja! Sonst wär’ ich gleich bestimmt

schon Backbord abgeglitten.

Nein, es lässt sich nicht

leugnen, trotz Knatterfock, ich

hörte sein wiederholtes Mahnen:

„Mach das Ende am Mast

fest!“ er brüllte so heiser und

so oft – das kann man nicht

vergessen.

Auch nicht vergesse ich, wie

mir Stück für Stück die Leine

durch die Finger geht! Die Bö setzt ein, ich

liege da auf meinem Bauch, nur knapp über

dem Wasser. Blicke voraus in jede Welle,

klatsch, klatsch – und dann gleiten mir die

letzten Zentimeter durch die Hände, weit

ausgestreckt, über den Bug hinaus, sind wohl

meine Arme.

Text für Emily, 2012

Und es wehte ohnehin fest aus Nordwest.

Fieberhaft, während das Boot im frischen

Wind in jede Welle stob, Gischt mich eindeckte,

knotete ich unsre lange Leine an den

grauen Klappdraggen. Dann faltete ich den

Anker klar, steckte den kleinen Splint zur

Sicherung in die Bohrung und kontrollierte

meinen schönen Palstek. Ein feiner Knoten.

Bis in die heutigen Tage, seit beinahe vierzig

Jahren nun, wird er halten, bestimmt.

Wo immer auch diese beiden treuen Kameraden

der „Lütt Seemann“, Anker und Leine,

noch herummodern, dieser Knoten gibt nicht

nach, todsicher – und ich habe ihn selbst gemacht!

Es war das andere Ende, wo es zu Versäumnissen

kam.

Bäuchlings robbte ich, überkommenden Wellen

trotzend, mit dem Anker in der Hand, auf

unsrem kleinen dreieckigen Vorschiff zur

Spitze nach ganz da vorn. Durch mich und

Dez 15, 2019 - Ankern oder auf der Tonne 41 [Seite 40 bis 41]


Es fühlt sich gut an

Dez 19, 2019

Symmetrie sei die Kunst der Primitiven, sagt

man das noch? Vielleicht hat sich schon eine

Organisation gebildet, die das Wort als herabwürdigend

brandmarkt. In vielen Kursen bei

Ruths habe ich seine Ästhetik verinnerlicht.

Otto war Maler, die Komposition sein liebstes

Thema. Auch beim Zeichnen. „Wenn ich das

hier zu halte“, meinte er, wenn er anschaulich

machen wollte, wieviel besser unser Bild sein

könnte. Die Armgartstraße, Fachhochschule

für Gestaltung in Hamburg. Unser alter Professor

deckte den Bereich mit der Hand oder

Papier ab, sagte: „So nimmt das Gehirn des

Betrachters an, dass es hier wie dort ist. Wir

können uns vorstellen, wie die Zeichnung

ohne diese Stelle wäre.“

In die Mitte vom Blatt durften wir nichts wichtiges

zeichnen. „Dahin schaut man sowieso“,

fand Otto. Im Prinzip vom „Goldenen Schnitt“

hatte mir schon Gerd Kröger, Zeichenlehrer

an der Realschule in Wedel, Grundsätzliches

beigebracht. (Ohne Kröger wäre mein Leben

vollends misslungen, da bin ich mir ganz sicher).

Die Arbeit von Moshe Feldenkrais zeigt,

dass die Symmetrie auch ihre guten Seiten

hat. Das ist ein Training, sich selbst besser zu

verwenden. Da geht es nicht um Kunst. „Auswuchten“,

stand früher auf Plakaten mancher

Autowerkstatt, und man wusste was gemeint

ist. Der Mensch bewegt sich fließender, wenn

er das linke- wie rechte Bein auf den Gehweg

setzt; aber viele sind sich gar nicht bewusst,

dass sie eigentlich humpeln.

Mehr noch als eine Bewegungslehre, ist

„Feldenkrais“ eine Denkschule. Jede Zeit

entwickelt ihre eigenen Worte, die Bausteine

unseres Denkens. Gesundheit bedeutet,

mit ihnen spielen zu können, nicht selbst

zum Spielball der intellektuellen Realität zu

werden. Die Primitiven heißen heute Indigene,

jedenfalls wenn wir korrekt reden: einen

„Schoko“- kuss verspeisen. „Ich soll Afrikaner

oder Schwarzer zu dir sagen?“, frage ich Siaquiyah

– aber er lacht nur und hält seinen

bloßen Arm parallel zu meinem schwarzen

Hemdärmel. „Ist nicht schwarz“, sagt mein

Freund, „ist braun!“ Dann lachen wir. Die

Deutsche Bahn fühlt sich angegriffen, als

Greta Thunberg im überfüllten Zug vom Boden

sitzend postet und kontert, die Aktivistin

hätte „von-bis“ einen Sitzplatz gehabt. In der

folgenden Debatte ruft dies den Datenschutz

auf den Plan (der sich auch noch profilieren

will) die Bahn hätte Reisedaten öffentlich

gemacht? Das Land der Ankläger. Gut ist anders.

„Das starke Selbst“ heißt ein Buch von

Feldenkrais, und es wurde erst nach dem Tod

des Autors veröffentlicht. Darin geht es um

Grundsätzliches. Moshe stellt seine Methode

vor, und „Body and Mature Behavior“ entspricht

dem Manuskript des anderen Buches

in vielem. Feldenkrais hat sein Hauptwerk

zweimal aufgeschrieben und nur eine Fassung

veröffentlicht. Er liebte die Alternative.

Auswählen können, ist Freiheit. Moshe hatte

sein beschädigtes Knie, aber er hatte den

Schaden auf einer Seite und nicht am selben

Tag schon beide Beine kaputt. Das brachte ihn

schließlich auf die Idee, aus seinen Schmerzen

klug zu werden. Er ging die Blessur mit

dem Verstand des Wissenschaftlers an, aber

anders als ein Arzt. Er beschreibt, wie er mit

dem schlechten Bein nach Hause humpelte,

auf einem Ölflecken ausrutschte. Das gab

dem guten Bein, das ja ohnehin schon schwer

arbeiten musste, weil das andere zu einer Art

Hilfsbein degradiert war, den Rest. Mit zwei

geschwollenen Knien kroch der Physiker ins

Bett, zu keiner weiteren Tätigkeit fähig und

froh, die Wohnung überhaupt erreicht zu haben.

Im Buch wird dann erzählt, wie die Sache

weiter ging.

Mir ist gerade

in den letzten

Wochen klar

geworden, wie

genial Moshe

Feldenkrais seinerzeit

dachte,

Schlüsse gezogen

hat; ich

habe einen lädierten

Meniskus

rechts, und

das ist neu für

mich. Das MRT

brachte zu Tage:

„Das haben Sie

wohl schon länger“,

meinte der Arzt. Zusätzlich zum beschädigten

Bereich war gekommen, dass ich den

Meniskus „eingeklemmt“ hatte. „Es ist schon

viel besser geworden“, sagte ich optimistisch,

weil ich nach einigen Tagen kaum Schmerzen

hatte, aber der Arzt entgegnete: „Ein rothaariges

Mädchen, Bassiner. Sie drehen den

Kopf nach ihr um – eine spontane Bewegung

– und dann haben Sie es wieder.“

Nun laufe ich behutsam, vermeide es, die

Rothaarigen anzusehen – und es geht; mal

gut, mal nicht so gut. Manche Tage bin ich

humpelnd unterwegs. An guten Tagen sieht

man es mir kaum an, dass ich ein schlechtes

Bein habe – ein Hilfsbein. Das andere macht

die Arbeit, und wem ich es erzähle: ich werde

gewarnt, es würde nicht gut enden, weil ich

einseitig belaste. Es stimmt schon, das Aua-

Bein ist steif. Ich stehe auf dem anderen. Das

schlechte Bein, ich kann es nicht ganz durchdrücken,

wie früher. Die Wade hält immer etwas

Spannung, damit mir das Bein gerade zu

machen kaum möglich ist. Meine Wade ist ja

nicht beschädigt. Sie hält nur die Wacht. Man

kann nie wissen, ob eine rotharige Studentin

drüben (ganz weit weg) erkennbar ist. Zum

Schneidersitz oder für eine Hocke knicken,

kann ich das Bein ebenfalls nicht.

Ein Nachbar hat auch Probleme. Seine Frau

hat mir erzählt, er bekäme nun Spritzen. Damit

er nicht mehr so abbeldwatsch ginge,

hätte der Arzt gesagt. Das ist ein Wort, wie

ich es aus der Kindheit kenne. Das wurde

noch nicht verboten. Ich habe eine Erfahrung

gemacht: Wenn ich aus dem Haus gehe,

benötige ich ein wenig Strecke, so etwa bis

zum „Lindos“ – und dann gehe ich ganz gut.

Dasselbe beim Busfahren. Ich nehme einen

Sitzplatz, bei dem ich das Bein nicht so stark

beugen muss. Ich steige aus, indem ich mich

am Handlauf der Tür festhalte wie eine Oma

(korrekt: Seniorin), und dann brauche ich einige

Meter und gehe schließlich gar nicht so

schlecht. Es tut nicht weh, und ich muss nicht

humpeln. An guten Tagen jedenfalls. „Man

kann das operieren“, hat der Arzt gemeint.

„Die Hälfte der Operierten sagt aber, es sei

nicht besser, als vor der Operation“, gestand

er mir anschließend. „Dann warte ich ab“,

habe ich gesagt, und ich kenne nun schon einige

Namen von Fachleuten, die die OP ganz

gut machen können.

Meine neue Erfahrung ist beeindruckend. Ich

versuche zu beschreiben. Ich gehe also los,

und dann humpel’ ich erst einmal. Ich könnte

nun so weiter machen, aber ich habe nachgedacht.

Wenn ich bis zum Griechen gekommen

bin, hatte ich genügend Zeit dafür, um es hinzubekommen.

Ich gehe dann so, wie ich gehen

muss, damit

es nicht weh tut

und ich nicht abbeldwatsch

gehe.

Ich glaube, es

ist etwa so: Zunächst

wird gehumpelt,

weil ich

wohl annehme,

wenn ich wie immer

ginge, würde

es zu Schmerzen

führen. Das ist

vermutlich der

Grund für’s Humpeln.

Schmerzen

sollen vorausschauend

vermieden

werden.

Ein komischer Gang schont das beschädigte

Bein. Das heißt im Klartext, zwei Arten zu gehen

stehen mir zur Verfügung, und ich wähle

anstelle der gewohnten Methode die mutmaßlich

weh tun würde, den abbeldwatschen

Humpelgang.

Übertriebene Schonhaltung, jeder sieht, was

für ein behinderter Krüppel ich bin. Das geht

gar nicht: Ich habe einmal bei der Hängung

gesagt, ein Bild müsste an einen anderen

Platz, denn so sähe das doch „behindert“ aus.

Eine der Frauen dabei (die bei den Mahlzeiten

nicht bemerkt, wann sie genügend Nahrung

zu sich genommen hat, um ihre Ernährung sicherzustellen

und dann offensichtlich weiter

Lebensmittel in sich hinein stopft) hat mich

sofort zurecht gewiesen, das dürfe man nicht

sagen! Sie sei in der Hilfe für Menschen mit

Handikap aktiv und herabwürdigende Äusserungen

gehörten sich einfach nicht. Bessere

Menschen drängen, schauen hin, passen auf.

(Noch nicht einmal ignorieren hilft in so einem

Fall angeblich).

Ich habe nun eine dritte Methode gefunden

zu gehen. Ich kann humpeln. Ich kann nicht

mehr so gehen wie früher, mein gewohnter

Gang wird irgendwie im System-John

unterbunden; aber ich kann ganz hübsch

schmerzfrei gehen ohne zu humpeln. Ich

muss zunächst auf die Hüfte rechts achten.

Dort müssen neue Bewegungen sein, die es

an dieser Stelle bisher nicht gab. Ich wusste

nicht, dass diese Hüfte so dusselig steif

ist! Ich habe nie darauf geachtet. Nun gehe

ich auf die neue Art schon gar nicht mal so

schlecht. Nicht so schnell, aber es fühlt sich

gut an.

Schaun’ wir mal, denke ich: Nach vorn. (Zurück

darf kein Seemann schaun! – Hans Albers).

Und ich meide die Rothaarigen.

:)

Dez 19, 2019 - Es fühlt sich gut an 42 [Seite 42 bis 42]


Die Angst ist ein Tiger

Dez 23, 2019

Als ich Kind war, Jugendlicher und junger Erwachsener,

spielten Dinge in meinem Leben

keine Rolle, die heute Themen für alle (und

damals nicht weniger wichtig für die Gesellschaft

gewesen) sind; an mir ging ganz viel

vorbei. Mir selbst und meiner Umgebung gelang

auszublenden, was heute unübersehbar

ist. Gefühle, Zwischenmenschliches, Sex: Es

wird beklagt, dass junge Menschen zu früh

mit Sexualität konfrontiert würden, und dass

im Internet ein Zerrbild der Realität vermittelt

würde. Ich glaube das nicht.

Der Spiegel schreibt, Zitat: Die

„Umpolung“ von Homosexuellen

soll künftig verboten werden. (…).

Jens Spahn (CDU), Bundesgesundheitsminister:

„Homosexualität ist

keine Krankheit“ (…) „Wir haben

das Verbot noch schärfer gefasst“,

sagte Spahn (…) „Vorher gab es Ausnahmen

für Heranwachsende. Das

wurde gestrichen, denn gerade in

dieser Altersphase finden die meisten

Therapieversuche statt. Daher

wird auch bei 16- bis 18-Jährigen

die Konversionstherapie künftig

verboten.“ (…) Mit Konversionstherapien

sind Methoden gemeint, die

das Ziel haben, Homosexualität zu

„heilen“. Gesundheitsminister Spahn sagte,

mit dem Gesetzesentwurf werde ein gesellschaftliches

Zeichen an alle gesetzt, die mit

ihrer sexuellen Orientierung haderten: „Außerdem

(…) ist (…) Konversionstherapie eine

Gefahr für die Betroffenen. Dadurch entsteht

oft schweres körperliches und seelisches

Leid.“ Jeder Arzt, jede Ärztin, der oder die diese

Therapie anbiete, müsse sich den Vorwurf

der Körperverletzung gefallen lassen.

DPA/Fabian Sommer/Jens Spahn (CDU), Bundesgesundheitsminister:

„Homosexualität ist

keine Krankheit“/Dienstag, 17.12.2019 SPIE-

GEL ONLINE, Politik –

Zitat Ende.

Diese Nachricht hat mich gefreut. (Mir könnte

man die Liebe zum Jazz nicht nehmen. Wenn

ich gezwungen wäre, die Musik von „Heino“

ausschließlich zu hören, weil es die richtige

sei? Ich glaube kaum, dass eine Therapie das

schaffen könnte). Hier spricht sich ein handlungsfähiger

Minister gegen pseudo-wissenschaftlichen

Unfug aus. Das gefällt mir.

Zu meiner Jugend waren Krankenhäuser

staatliche Einrichtungen, und das Telefon

bekamen wir von der Post. Es gab die drei

Schulwege: Hauptschule, Mittel- oder Realschule

und das Gymnasium – es wurde noch

oft Oberschule genannt. Und einige sagten:

„Doofenschule“, wenn von der Hauptschule

die Rede war. Wir kannten drei Fernsehsender,

anfangs ohne Farbe. Dann wurde die Welt

bunter, nicht allen hat es gepasst. Auch in der

Medizin hat das Leistungsprinzip Einzug gehalten.

Es gibt Krankenhäuser, die nur Mainstream-Medizin

anbieten. Mit einer untypischen

Erkrankung ist man nicht willkommen.

Die Ausrichtung am wirtschaftlichen Aspekt

wird auch kritisch gesehen. Wenn Konkurrenz

die Basis ist, gewinnt das stärkere Interesse.

Der Wettbewerb schuf eine umfangreiche

Kommunikationswelt; wer möchte zurück

zur guten alten Post? Es gibt kein Zurück.

Fernsehen wird in vielen Formaten gesendet,

zusätzlich die Streaming-Angebote im

Netz. Info, Unterhaltung, Buchung und Kauf,

Porno und Wissenschaft, Musik – immer neue

Geschäftsideen probieren sich aus. Internet:

rund um die Uhr, weltweit verfügbar. Das moderne

Leben. Wir folgen Stars oder lehnen sie

ab und schreiben Kommentare. Jemand verdient

daran, dass wir die Ströme nutzen.

Die Grünen kritisieren, wie kurzlebig die moderne

Technik ist? Ein wirtschaftlicher Schaden

wird von ihren Ökonomen errechnet,

weil die Waschmaschine von heute kurz nach

der Garantiezeit kaputt geht. Aber unser unverwüstliches

Telefon von damals, wollen sie

nicht smart dabeihaben. Zu unhandlich, das

mit dem Kabel. Niemand möchte einen Funkmast

auf dem Dach. Unser Denken ist nicht

logisch – aber was der Mensch nicht gebrauchen

kann, wird er durch etwas ersetzen, das

besser in die Zeit passt. Wir sind dekadent

aber effizient. Niemand kann ein Geschäft

mit etwas machen das nicht in die Welt passt

oder an falscher Stelle umständlich produziert

und angeboten wird.

Das Bessere kann gewinnen. Wir können

schlechtes Denken durch kluges ersetzen.

Mit dem Verbot unsinniger und menschenverachtender

Pseudomedizin, ist das gerade

getan worden. Wir können dumme Denkweisen

wie Unkraut mit der Wurzel ziehen.

Ein umerzogenes Gehirn von dieser Gehirnwäsche

und der belastenden Orientierungsfindung

zu reinigen, ist viel schwieriger. Unnützes

wird nicht mehr gebraucht, und das

ist auch gut so! Schwierig zu verstehen: Die

Wirtschaft lebt vom Wachstum und dafür

muss einiges zeitnah zu Schrott werden, sogar

das Kriegsgerät. Wir beginnen den Kampf,

um neue Waffen herzustellen, das ist unser

Geschäft. Wenn eine Kaserne mangels Bedarf

geschlossen wird, stöhnt die ganze Region

auf. Die Soldaten waren auch Kunden in der

Nachbarschaft. Was ist wichtig? Natürlich

sind wir mit dem Schulsystem unzufrieden,

aber dass der Apparat bewertet werden kann,

ist ein Vorteil. Die Kontrolle, die Wahlmöglichkeit,

wir können das Bessere nehmen. Das

ist unser Fortschritt.

„Ärztepfusch“ ist ein Schlagwort. Wir haben

Angst davor. Auch deswegen wollen wir uns

vergewissern, ob wir eine gute Behandlung

bekommen. Schon damals, meine Eltern erzählten:

Ein Bekannter, mit dramatischer

Blinddarmentzündung auf dem Weg in den

OP, bemerkt, dass der Arzt im Begriff ist,

sein Bein zu amputieren. Eine Verwechslung.

„Nicht das Bein!“, soll er gerufen haben –

dann ist es gut ausgegangen. Eine Geschichte

meiner Jugend. Wir haben gelernt: Wir wissen

heute, dass Ärzte bezahlt werden und nicht

vom lieben Gott an den OP-Tisch gestellt

wurden oder von Kaiser Wilhelm.

Der Lehrerberuf ist kein Fluchtort für welche

die meinen, mit Kindern zu arbeiten sei

einfacher, weil sie klein sind und gehorchen

müssen. Die Unterhaltungsbranche kämpft

um Kunden, sendet ununterbrochen. Die gute

Versorgung mit Nachrichten muss gewährleistet

sein, damit eine Demokratie funktioniert,

und Nachrichten sind auch eine Ware.

Die Qualität der Leistung zu prüfen, ist eine

Verbesserung zur Wahrheit. Darum ist es so

gekommen. Der Kommunismus in der Sowjetunion

kam zu Fall, weil die „bessere“ Demokratie

die Planwirtschaft besiegte. Die

Freiheit der einzelnen, erbrachte die Gesamtleistung

der westlichen Staaten und zwang

das schlechtere System, sich zu ändern. Die

Welt ist nicht stehen geblieben. Etwas zu

schaffen, nach Verbesserung zu streben und

sich anschließend zu erholen, ist Leben.

Die kraftvollen Jahre der jungen Bundesrepublik,

die Begeisterung meiner Eltern für das

Wirtschaftswunder und die engagierten Lehrer

meiner Jugend, machten mich zum überzeugten

Demokraten. Heute bin ich frustriert,

in der Entzauberung meiner Werte, habe den

Glauben an die Politik verloren! Eine bedenkliche

Entwicklung: Die Sehnsucht nach Führung.

Altersgemäßer Pessimismus? Es war

früher nicht besser. Keine Institution hält,

was sie verspricht. Eine Partei mit sozialem

Anspruch muss Gutes bewirken. Es ist offensichtlich,

dass sie ohne Anführer gut gemeinte

Ideen nicht umsetzen kann.

Eine Regierung, die einzelnen Härten abverlangt,

hat das Ganze im Blick. Wer sozial umverteilen

möchte wird unehrlich, wenn wir

später bezahlen müssen, was als Geschenk

deklariert wird. Die gute neue Zeit: Insofern

eine Verbesserung, dass sich Lehrer, Politiker

und Ärzte an ihrer Leistung messen lassen.

Einige aktuelle Behandlungsfehler in der

Medizin statistisch: (MDK) – 31 Prozent aller

Vorwürfe beziehen sich auf Orthopädie und

Unfallchirurgie, 13 Prozent auf Innere und

Allgemeinmedizin und jeweils 9 Prozent auf

die allgemeine Chirurgie und die Frauenheilkunde

– Zahlen aus der nahen Vergangenheit

illustrieren: kritisiert wird, was kritisiert werden

kann.

Die Psychologen und psychiatrischen Krankenhäuser

kann man nur im Ganzen kritisieren.

Den einzelnen Arzt stellt höchstens die

Presse zur Rede, wenn eine Sexualstraftat im

Nachhinein als vorhersehbar eingestuft wird.

Das Problem der Therapie ist grundsätzlich:

Ihre Wirksamkeit kann nicht gemessen werden.

In der Liste der Behandlungsfehler klagt

kein Geisteskranker, dass ihm nicht geholfen

wurde.

Im Verbot der speziellen Konversionstherapie,

kann der erforderliche Schritt über die

Qualität therapeutischer Arbeit allgemein

neu nachzudenken, einen Anfang finden.

Ein erfolgreicher Manager mit sattem Einkommen

bricht im Burn-Out unerwartet zusammen

und muss pausieren? Natürlich ist

so jemand krank, und man kann ihm helfen.

Ein noch mehr erfolgreicher und vermögender

Mann, der seinen Freunden Sexpartys

mit Minderjährigen anbietet, ist nicht krank.

Kein psychisch kranker Mann steigt in der

Gesellschaft auf, diese Menschen nutzen

ihre Machtposition. Sie sind Menschen, die

Dez 23, 2019 - Die Angst ist ein Tiger 43 [Seite 43 bis 44]


andere abhängig machen und manipulieren

können. Wenn es kein Milliardär mit Macht

und Einfluss ist, sondern ein Lehrer, der sich

an seinen Schülern vergeht oder ein Pfarrer

an den anvertrauten Kindern, nehmen wir an,

diese Männer seien krank: Weil sie ein „normales“

Einkommen haben, sind sie krank? So

fragt man nicht. Wie kommen wir überhaupt

darauf, dass sexuelle Unterdrückung krank

ist? Für die misshandelten jungen Menschen

spielt das keine Rolle. Für so jemand ist es

nur scheiße.

Therapie, die das Sexualverhalten ändern

möchte, ist immer fragwürdig: Funktioniert

das überhaupt? Wenn wir ehrlich wären,

die Porno-Flut zeigt es doch, jede Milf-Oma

möchte optisch mit kleinen Mädchen mithalten

und ist unten shaved, weil das irgendwie

besser ankommt. Männer wollen junge

Frauen, das ist nicht krank. Nicht neu. Frauen

müssen auf sich aufpassen. Wer vergewaltigt,

ist ein Verbrecher im Sinne des Bösen, nicht

krank.

Beziehungen von älteren Männern zu jungen

Frauen werden von der Gesellschaft nicht

deswegen angefeindet, weil diese Männer

krank sind, sondern weil Neid eine Rolle

spielt. Die Häme, mit der das Scheitern solcher

Beziehungen einhergeht, spricht Bände.

Und dass diese Beziehungen scheitern, ist

nicht unwahrscheinlich. Ganz viele Beziehungen

halten ja nicht, auch dann, wenn

die Partner gleich alt sind. Die Beziehungen

scheitern gar nicht primär am auseinanderliegenden

Alter. Wir wollen das so sehen, um

lästern zu können und uns über die anderen

erheben. Wenn Minderjährige ausgenutzt

werden, in dem Moment, wo viel Geld im

Spiel ist, reden wir von Machtmissbrauch und

sind noch neidisch auf die Millionen obendrein.

Wenn es der böse Onkel im asozialen

Wohnwagencamp war, nennen wir den krank.

Ich halte das für Quatsch. Auf einen unauffälligen

Nachbarn schauen wir herab, den

Milliardär beneiden wir insgeheim, so kommt

das. Genau so wenig, wie wir Homosexualität

heilen werden, versagen wir beim Therapieren

der anderen sexuellen Abnormitäten.

Oft zahlen wir drauf, wenn der vermeintliche

Therapie-Erfolg ein Trick des „Kranken“ war,

alles von Neuem beginnt.

Psychische Krankheit ist nicht fassbar wie die

Masern. Wir hofieren einen Berufsstand, der

nur zu oft gar nicht weiß, was er tut. Das psychiatrische

Gutachten an sich, ist eine äusserst

fragwürdige Expertise. Wir arbeiten nur

damit, weil es uns wie den alten Seefahrern

mit ihren schlechten Karten geht, den unterentwickelten

Navigationsinstrumenten. Zeit,

besser zu werden!

Ich habe nie damit hinter den Berg gehalten,

dass ich nach meiner Ausbildung an der

Fachhochschule nicht klar gekommen bin

und viel Zeit mit Therapeuten verbrachte,

weil es nicht anders ging. Für mich war Therapie

keine Laune, sondern die Hoffnung auf

Besserung. Heute: Ohne Arzt, ohne Therapie

und ohne Medikamente, ist mein Leben befriedigend,

dass ich überzeugt sage: Ich bin

gesund.

Von einer psychischen Erkrankung wird

niemand geheilt. Das kann man umgangssprachlich

machen, aber fachtheoretisch von

Heilung zu reden, finde ich bedenklich. Bei

einem Knochenbruch mag es noch angehen,

bei einer Grippe ist es nachvollziehbar, weil

die Krankheit so greifbar ist. Die Definition

der psychischen Erkrankungen ist diffus und

der dynamische Prozess der Besserung wird

mit dem Wort Heilung auf eine Art fixiert,

die eine Entwicklung der Betroffenen nicht

darstellt. Wir bemühen dafür das Wort „Heilungsprozess“,

und das geht in die richtige

Richtung.

Die Psychiater, Psychologen und die Pharma

haben seit Freud Fortschritte gemacht. Wer

vor allem dazulernen muss, ist der normale

Mensch: unser direkter Nachbar. Die Gesellschaft

muss sich ihrer stigmatisierenden

Doofheit bewusst werden. Warum? Weil jeder

so krank werden kann, dass es ihn selbst

betrifft oder ein nahes Familienmitglied und

wir uns Unwissen schlicht nicht leisten können.

Soziale Probleme beherrschen uns mehr.

Wir können nicht wegschauen. Psychische

Erkrankungen bedrohen die Gesellschaft wie

die Klimakatastrophe. Der Grund ist derselbe.

Ein Freund sagt lapidar: „Das ist ja auch viel

zu voll hier.“ Die Erde, er meint das Ganze.

Eine Therapie für das Gehirn? Es ist so abwegig,

an eine Heilung psychisch kranker

Menschen zu glauben, wie anzunehmen,

ein bestimmter Arzt könne gut Siamesische

Zwillinge trennen, weil es ihm mal bei zweien

gelungen ist, deren Füße verbunden waren.

Das kommt wohl darauf an, wo genau

die beiden zusammenhängen. Eine Therapie

operiert nicht das Gehirn. Es wird geredet,

was heißt das schon? Der Psychologe macht

nichts heil. Er möchte auf das Verhalten des

Menschen einwirken, den er Patient nennt.

Therapie betrifft den Menschen, nicht nur

das Gehirn. Wenn wir das Gehirn umprogrammieren

möchten, müssen wir auch prüfen, ob

es gelingt. Bevor inflationär mit dem Begriff

Krankheit in unterschiedlichster Form argumentiert

wird, die Zuständigkeit eines passenden

Arztes vernünftig erscheint, darf nie

vergessen werden, wie unscharf jede psychologische

Behandlung (gemessen am Erfolg)

bleibt. Wenn es gelänge, den direkten Nachweis

vom Hilfeansatz im Verhältnis zur erfolgten

Leistung zu belegen, wären wir auf dem

richtigen Weg. Eine gute Behandlung spricht

sich rum. Jeder kennt einen guten Urologen,

Augenarzt oder Chirurg. Solange die Rolle

des Psychiaters im Film treffend mit einem

Sonderling, der selbst seine Probleme nicht

in den Griff bekommt, besetzt wird, hat die

Welt kaum einen Fortschritt gemacht. Einen

„Heiler“, der wirklich etwas wieder gut macht,

würden wir liken. Den würden alle kennen.

Spätestens bei der Diagnose, dem Namen der

psychischen Erkrankung, muss man aufhorchen.

Das ist der Moment, wo etwas wie ein

greifbares Ding erscheint das abgetrennt gar

nicht existiert. Es gibt keine „Depression“. Was

ist ein Minderwertigkeitskomplex? Das kann

eine kleine Titte links oder ein unbedeutender

Penis sein; ein Mann oder eine Frau ist

unglücklich und das diagnostizierte Problem

nicht austauschbar. Es gibt viele Menschen,

die mit ähnlichen Problemen kommen und

behandelt werden, als hätten sie dieselbe

Jacke gekauft. Es werden Menschen behandelt,

nicht Begriffe. Eine Jacke kann ich in die

Hand nehmen, heil machen oder mir eine

neue mit einer anderen Farbe kaufen. Es ist

möglich, dass der Psychologe das weiß und

qualifiziert denkt; der Patient kann das in der

Regel nicht verstehen.

„Die Angst ist ein Tiger, und den musst du

reiten.“ Die Probleme sind altbekannt, auch

wenn die Palette der Diagnosen immer vielfältiger

wird. Ich habe viel gemalt, das hilft.

Ich bekomme mein Leben nicht zurück. Wie

das Mädchen ohne Beine im Rollstuhl, das ich

wirklich gesehen habe, bei „Junge“ in Wedel.

Darum habe ich das gemalt. Einige Sekunden

nur, ein kurzer Film für mich, unauslöschlich.

Ein Stich in mein Herz und eine Träne

in meinem Auge, als ich begriff; dann waren

sie vorbei. Was ist geblieben? Eine Person in

meinem Bild. Wer Beine hat, der nutze sie.

Lauft weg! Ich reite den Tiger – und er frisst

mich nicht.

Weihnachten, die Erinnerung an einen Geburtstag

Dez 23, 2019 - Die Angst ist ein Tiger 44 [Seite 43 bis 44]


Obama hat die Hand gewechselt

Dez 31, 2019

Das Bild der Lemminge, die sich in den Abgrund

stürzen: So ist der Mensch, der nicht

für sich allein entscheidet. In den Abgrund

fallen auch Menschen, die integriert sind.

Gemeint ist ein emotionaler Abgrund. Der

simple Glaube, nur wie die anderen handeln

zu müssen, damit alles richtig sei: Job, Partner,

Auto und Urlaub wie man einen macht

– das ist der Weg der Normalen. Dass Ehen

scheitern, einige Menschen den bösen Krebs

bekommen, der Job verloren gehen kann und

viele Befürchtungen mehr; sie werden ausgeblendet.

Dass das Übel einen selbst trifft?

Die Angst wird dadurch in Schach gehalten,

dass der eigene Weg normal

(und deswegen korrekt) ist.

Dabei ist die Chance, dass ein

normales Leben gelingt rechnerisch

so groß nicht? Ausblenden.

Ein individuelles und damit

weniger normales Ego, scheint

noch schwieriger zu sein.

Das Leben fordert seinen Preis.

Der Mensch hat keinen Knopf

hinter dem Ohr, den wir, genug

vom Leben, einfach drücken

könnten: uns für immer abschalten.

Die Szene im Kino, Gewalt-

Attacke, Selbstmord – im Film

entsteht ein Bild der Welt, eine

eigene Logik. Kaum jemandem

scheint klar zu sein, dass es in

der Realität nicht mal so eben verfügbar ist:

der Schlag in das Gesicht des Widersachers

oder der Sprung vom Dach in den eigenen

Tod. Manche konsumieren Serienkrimis wie

Schokolade, für sie bleibt alles der Film da

draußen. Konsequent über die Kreativität ins

Selbst zu gehen, wird dazu führen, in diese

Handlung einzutreten. Es heißt, von nun an

aufzupassen. Die Abgründe in den Geschichten

werden reale Löcher in das unergründliche

Nichts.

Wer sich aus dem Verbund der Lemminge

gelöst hat, den normalen Weg verlassen hat,

dem geht es wie Mose und seinen Leuten in

der Wüste. Es ist die Suche nach einer besseren

Welt und wenn diese ganz weit weg

ist; ein gelobtes Land. Das Verlassen der

Konventionen ist der Weg in ein unwirtliches

Terrain. Eine Gegend, in der vertraute Beziehungen

nicht funktionieren, und hier muss

der Mensch kämpfen, sich behaupten oder

tatsächlich aufgeben. Das eigene Selbst zu

suchen, bedeutet Teil des Films zu werden,

Schauspieler einer eigenen Rolle, über entsprechend

starke Motivation zu verfügen. Der

Zuschauer ist überrascht, was passiert! Der

Mensch kann nun tun, was ein Mensch tun

kann, wenn er sich nicht an normales Verhalten

gebunden empfindet.

Das ist der Beginn der inneren Freiheit. Und

ein Leben mit Risiken. Der Preis ist hoch. Da

ist kein Halt mehr an vertrauten Landmarken.

Das neue Ideal ist ein zukunftsloses Leben, es

findet in der Gegenwart statt. Wer weiß, was

morgen ist? Wenn wir die Normalität verlassen,

betreten wir die reale Welt. Und niemand

weiß, wie diese beschaffen ist. Unser Ideal ist

nun die feste Überzeugung, dass das Leben

der anderen eins hinter der Maske ist. Dazu

dürfen wir annehmen, dass viele sich dieser

Tarnung nicht bewusst sind. Wir benötigen

keinen Sonntags-Mord mit Kommissar Soundso

oder Soko-Dingsbums im TV – wir

fürchten den realen Kommissar genauso wie

den leibhaftigen Einbrecher. In der echten

Welt können wir ihnen jederzeit begegnen.

Und wir wissen nicht, welche Rolle wir in

ihren Augen spielen. Die Normalität ist die

Normalität der anderen.

Ich glaube, dass es keine Normalität gibt und

insofern die Menschen der Gesellschaft auch

keine Lemminge sind, die geschlossen dekadent

in den Abgrund gehen. Für mich sieht es

nur so aus. Ich halte das für meinen subjektiven

Eindruck, gebe mich dem in deprimierenden

Augenblicken auch ganz hin. Meine

Vermutung ist trotzdem, dass die anderen Leben

ihre Höhen und Tiefen haben wie meins

auch. Insofern ist der Begriff der Normalität

ein eng beschränkendes Wort und keinesfalls

die breite Wirklichkeit dessen, was die meisten

von uns tun oder sind. Normalität kann

die Fessel sein, die ich mir auferlege, wenn

ich mich schäme oder ein schlechtes Gewissen

habe: Das darf man nicht. Normalität

kann verbales Kampfargument sein: Das tut

man nicht!

Kreatives Leben befreit vom Zwang, einer

Norm zu folgen, die es in Wahrheit gar nicht

gibt. Wir sind so uniform nicht, als dass wir

geschlossen untergehen. Angepasst an das

imaginär Normale verkümmert man auf seine

Art, im Glauben, wie alle anderen handeln zu

müssen. Aber „alle anderen“ – das gibt es so

gar nicht. Ein Selbstbeschiss. Er wird genährt

durch das, was wir lesen, ansehen oder mit

den Freunden teilen, die doch nicht so sind

wie wir selbst. Wir reden uns das nur ein. Um

einen sicheren Rahmen zu schaffen, suchen

wir die Ordnung unserer Gruppe.

Wer gehört zu wem oder bleibt außen vor

und was gehört sich, was nicht? Ich spreche

eine junge Frau in einer Bar an, die ich

wiedererkenne. Ich habe sie vor einem Jahr

schon einmal dort gesehen, mich ein wenig

mit ihr unterhalten (sie ist sehr hübsch). Mir

ist aufgefallen, dass sie im Jahr davor dort

gekellnert hat. Inzwischen ist sie Gast und

redet mit Freunden; jünger, es könnten Kinder

von mir sein. Ich kann es nun nicht lassen,

quatsche sie an und versuche einen Anfang

zu finden. Ich erinnere mich dran, dass sie

Linkshänder ist.

Ich zähle Persönlichkeiten auf: Chaplin, Leonardo

da Vinci, Barack Obama. Um mich

beliebt zu machen, finde ich eine Reihe von

sympathischen Prominenten, die alle Linkshänder

sind. Da kommt es zum Missverständnis:

„Obama nicht“, sagt sie. Für mich klingt

das, was sie nun sagt, als wäre der ehemalige

Präsident mit einem Mal kein Linkshänder

mehr – weil er bei ihr und ihren Freunden

gerade aussortiert wurde, als einer, der nicht

authentisch sei? Wir reden aneinander vorbei:

Obama. Man hätte ja gedacht, dass – er

habe aber zuletzt wiederholt enttäuscht. Sie

erzählt auf meine Nachfrage, dass sie singt

und eine CD produziert hat, die ab der nächsten

Woche zu kaufen ist – und ich verpasse

es, diesem Gespräch noch eine gute Wendung

zu geben.

Geblieben ist dieser skurrile Moment: Wir folgen

Obama nicht mehr. Wir waren Linkshänder

– und er ist nun bei den anderen? Klar,

das war ein Missverständnis, dem Geräuschpegel

der Umgebung geschuldet, und was

habe ich auch eine Studentin anzuquatschen.

Peinlich genug ist es ja.

Obama hat die Hand gewechselt.

:)

Jahreswechsel, und ich denke: Jeden Tag beginnt

eine neue Welt.

Dez 31, 2019 - Obama hat die Hand gewechselt © 2021 I John Bassiner, 22869 Schenefeld bei Hamburg

45 [Seite 45 bis 45]

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