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Blogtexte2020

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Blog 2020

Meine Blogtexte auf johnbassiner.de | 15. Januar bis 30. Dezember 2020


Blogtexte 2020 / Inhaltsverzeichnis - Datum, Titel der Publikation auf https://johnbassiner.de

# Seite

Jan ........................................................................................................................................................................................................................

17, 2021 - Inhalt: Blogtexte vom 15. Januar bis zum 30. Dezember 2020

2

Jan ........................................................................................................................................................................................................................

15, 2020 - Die Macht der Lüge 3

Jan ........................................................................................................................................................................................................................

18, 2020 - Tarzan lebt

6

Jan ........................................................................................................................................................................................................................

24, 2020 - Die Antwort ist das Bild

7

Feb ........................................................................................................................................................................................................................

3, 2020 - Kröger

10

Feb ........................................................................................................................................................................................................................

8, Aber genützt hat’s ihm nix 13

Feb ........................................................................................................................................................................................................................

13, 2020 - Ein Ideal ist unerreichbar

15

Feb ........................................................................................................................................................................................................................

19, 2020 - Ein Stern ist immer nah

21

Mrz ........................................................................................................................................................................................................................

30, 2020 - Corona?

24

Apr ........................................................................................................................................................................................................................

26, 2020 - Mehr tun 29

Mai ........................................................................................................................................................................................................................

2, 2020 - In alter Freundschaft

30

Mai ........................................................................................................................................................................................................................

5, 2020 - Das Spiel

31

Mai ........................................................................................................................................................................................................................

8, 2020 - Ich weiß noch Kunst

33

Mai ........................................................................................................................................................................................................................

10, 2020 - Fernsehgarten heute, anders früher

34

Mai ........................................................................................................................................................................................................................

14, 2020 - Grüneres Gras

36

Mai ........................................................................................................................................................................................................................

25, 2020 - Jeder kennt das Rumpsteak

37

Mai ........................................................................................................................................................................................................................

28, 2020 - Lernen müssen

39

Jun ........................................................................................................................................................................................................................

4, 2020 - Der schwarze Peter ist wieder tot

41

Jun ........................................................................................................................................................................................................................

9, 2020 - Das wirsche Getüm

44

Jun ........................................................................................................................................................................................................................

14, 2020 - So wie es war

46

Jun ........................................................................................................................................................................................................................

21, 2020 - Party bei Greta

48

Jun ........................................................................................................................................................................................................................

26, 2020 - Zuschauen geht immer 50

Jun ........................................................................................................................................................................................................................

28, 2020 - Peng passiert halt mal

52

Jul ........................................................................................................................................................................................................................

3, 2020 - Und du begreifst nicht einmal, warum

54

Jul ........................................................................................................................................................................................................................

10, 2020 - Europa reitet den Zeus

56

Aug ........................................................................................................................................................................................................................

2, 2020 - Nicht weglaufen!

60

Aug ........................................................................................................................................................................................................................

8, 2020 - Wir lachen Affen, die gaffen, einfach aus

62

Aug ........................................................................................................................................................................................................................

10, 2020 - Nie wieder.

65

Aug ........................................................................................................................................................................................................................

13, 2020 - Die Gipfel der Freiheit

66

Aug ........................................................................................................................................................................................................................

24, 2020 - Mein Russland

67

Aug ........................................................................................................................................................................................................................

27, 2020 - Mehr als nur wahr ist der eigene Himmel

71

Sep ........................................................................................................................................................................................................................

13, 2020 - Ocean Cancel Culture

73

Sep ........................................................................................................................................................................................................................

25, 2020 - Mehr gute Sachen machen

82

Okt ........................................................................................................................................................................................................................

1, 2020 - Wie diese Texte entstehen

85

Okt ........................................................................................................................................................................................................................

27, 2020 - Die Entdeckung der Angst

89

Nov ........................................................................................................................................................................................................................

4, 2020 - Die Wendlertreppe

95

Nov ........................................................................................................................................................................................................................

26, 2020 - Jimmy und andere Helden

98

Dez ........................................................................................................................................................................................................................

12, 2020 - Querdenken

104

Dez ........................................................................................................................................................................................................................

18, 2020 - Weihnachten ist eine alte Mail

108

Dez ........................................................................................................................................................................................................................

25, 2020 - Frohe Weihnachten!

109

Dez ........................................................................................................................................................................................................................

27, 2020 - Der „Nackedei-Künstler“, das bin ich?

111

Dez 30, 2020 - Fassade für Alex

113

Blogtexte 2020 / Inhaltsverzeichnis - Datum, Titel der Publikation auf https://johnbassiner.de 2 [Seite 2 bis 2]


Die Macht der Lüge …

Jan 15, 2020

… ist begrenzt. Und das ist auch gut so. „Lügen

haben kurze Beine“, heißt es. Eine Lüge

ist verbale Gewalt. Schon das Weglassen von

Information geht in die Nähe davon. Wer angelogen

wurde, kann das kaum verzeihen.

Während schnell klar wird, dass ein Faustschlag

im Zorn sogar der Wahrheit dienen

kann, ist es schwer, der Lüge etwas Gutes abzugewinnen.

Eine Flucht aus finsterem Verlies

gelingt, weil wir den Wächter belügen?

Dann dürfen wir es. Zwei Kindheitserinnerungen

kommen mir in den Sinn. Die erste zum

Thema die mir einfällt, ist eine Begebenheit

aus der Schule. „Dies ist eine wahre Aussage“,

lautete die richtige Antwort einer Aufgabe

in der Mathearbeit. Wir schrieben nicht etwa

eine Zahl auf, die wir errechnet hatten. Wir

schrieben einen Test, nachdem wir mit den

Grundlagen der Mengenlehre vertraut waren.

Eine Arbeitsgruppe, eine Art Kurs, der

das bisherige starre Modell der Schulklassen

veränderte.

Nicht nur für „Kunst“ trug ich mich in die

Liste ein, „Logik“ hatte ich ebenfalls gewählt.

Und wurde erfolgreich mit in die Gruppe

aufgenommen; es war gar nicht sicher, dass

man bekam, was man gewählt hatte. Wählen

mussten wir: Das war Pflicht. Es waren

die neuen „Wahl-Pflicht-Kurse“, kurz: „WPK“

– nichts machen ging nicht. Wir amüsierten

uns: Wenn es nicht klappte, in den Wunschkurs

zu kommen, waren wir gezwungen, etwas

vollkommen Bescheuertes zu tun. Die

„Freiheit zum Zwang“, so in etwa verspotteten

wir die entsprechenden Lehrer. Sie wollten

uns weismachen, wie gut wir es hätten

– und dann wurde gelost! Insgesamt bestand

die Verbesserung darin, dass wir ein individuelles

Profil des Unterrichts zusammenstellen

durften. Das ist heute ganz normal und war

damals neu. Die Mengenlehre erklärt die Mathematik

anders, als wir es bis dahin kannten.

In der Mathematik spielt die Wahrheit eine

wichtige Rolle! Es gibt falsche Antworten,

das haben wir gelernt. Man kann nicht mit

dem Lehrer diskutieren, was falsch gerechnet

wurde. Nicht für die Schule lernen wir, für

das Leben heißt es? Mich interessiert, wie

aus den Geschichten meiner Jugend, den Büchern,

die ich las und Filmen, die ich sah, den

vielen Ratschlägen, die man mir gab, wurde,

was heute mein Leben ist. Der eigene Film,

die eigene Geschichte. Was war, blieb und ist

– und wurde deswegen wahr?

Eine Forschung beginnt: Die andere Erinnerung,

mit der ich in diesen Text finden möchte,

ist eine Bildfolge in einem Comic. Über Pollischansky

konnten wir Prinz Eisenherz und

Flash Gordon in Österreich bestellen. Bezahlt

wurde mit Briefmarken. Das ist nicht sonderlich

kunstgerecht koloriert. Diese Hefte mit

den wunderbaren Zeichnungen von Hal Foster

oder Alex Raymond; mich hat das geprägt.

Prinz-Eisenherz ist gut strukturiert. Der Prinz,

in die Artussage hineinerfunden, kämpft an

der Seite vom Freund Gawain, findet seine

große Liebe Aleta – eine glaubwürdige Lebensgeschichte

mit Höhen und Tiefen. Der

beim Anfang der künstlerischen Laufbahn

von Alex Raymond beginnende Flash Gordon

ist eine Figur die sich weiter entwickelt, aber

das ist ungewollte Dynamik. Eisenherz reift,

und Foster bleibt seinem Helden treu. Der

Prinz sei charakterlich so, sagt der Autor der

unvergleichlichen Geschichten, wie er selbst

gern wäre.

Flash Gordon beginnt holprig, mit kleinen

unscheinbaren Zeichnungen. Während sich

die zeichnerischen Fähigkeiten Raymonds

schnell verbessern, bleibt der Serie dieser

von Beginn anhaftende Duktus einer Erzählung

die sich täglich selbst weiter erzählt

– ohne Plan, wo alles hinführen wird. Superman

führt auch nicht unbedingt irgendwo

hin, aber die Geschichten folgen einem Muster.

Flash Gordon hingegen führt irgendwo

hin, das spürt der Leser. Es ist wie eine wahre

Geschichte die immer weiter fortschreitet

und nicht: „Katastrophe bahnt sich an, Kent

springt in eine Telefonzelle, zieht sich schnell

um: Der blau-rote Blitz schießt in den Himmel

– Kampf, alles wird gut! Schließlich war

Lex Luthor schuld. Gordon hat wiederkehrende

Themen, aber es scheint eine Story zu sein

– mit Tiefe. Die Geschichte selbst sucht sich

einen Weg. Diese Szene erinnere ich, da sitzt

der Held recht seltsam in einer Einöde auf

Mongo und man ahnt: Genauso ratlos, wie

der verloren wirkende Flash in dieser Wüste,

ist zeitgleich auch der Autor – dann kommt

nicht mehr viel vom Erfinder. Andere haben

die Serie fortgesetzt.

Alte Zeitungscomics, besonders: Flash Gordon

– ich habe das so geliebt. Der Held! Wunderbar

gezeichnet. Nie stereotyp, wie etwa nach

Schablone. Raymond ist ein wahrer Künstler.

Er probierte sich aus und wurde immer besser.

In einer Szene stehen sich Gordon und

(der grausame) Ming vis-à-vis gegenüber. Das

habe ich seinerzeit nicht verstanden, Ming

spottet: „Du kannst nichts machen – weil du

mich nicht schlagen kannst.“ Flash Gordon,

der Ming körperlich überlegen ist, steht seitlich

im Bild. Flash sagt nichts. Seine muskulösen

Arme hängen. Er hat eine Haltung die

deutlich macht: Du hast recht, ich kann nichts

tun; sagt es aber nicht. Er schaut ihn nur an:

den verhassten Widersacher. Ein Ausdruck

wie Charlton Heston, der (als Pilot) gerade

ein Flugzeug landet und weiß, dass es eine

Bruchlandung wird. Er muss es hinnehmen,

wie es eben wird. Aber er ist verantwortlich.

Weil die Geschichte auf dem fernen Planeten

unmittelbar aktionsgeladen weiter geht,

ist es wie ein Film, der kurz zur Ruhe kommt.

Darum erinnere ich mich daran. Die Sequenz

ist am Beginn der Erzählung (die bekanntlich

unausgegoren ist). Eventuell ein zweiter Besuch

der Freunde auf Mongo? Zwischendurch

waren Dale, Zarkov und Gordon zuhause auf

der Erde aktiv, um anschließend erneut in

die Welt von Aura, Barin und den anderen

vorzustoßen. Also bevor Raymond mit der

Detektivserie „Rip Kirby“ weitermachte, neue

Zeichner die interessante Science-Fiction

fortsetzten. Dan Barry fand mit seinen dramatischen

Schatten in den Zeichnungen eine

wunderbare Form. Obwohl inhaltlich anders

und Flash seine unverwechselbaren Züge, so

eine Mischung aus John Wayne und Paul Newman,

verlor. Barry setzte dem Helden fette,

schwarze Augenbrauen und gab ihm auch

sonst eine andere Identität.

Über Wahrheit und Lüge nachzudenken,

wird dazu führen dem Antrieb des Lebens

schlechthin auf der Spur zu sein. Solange

man Filme nur anschaut, Romane liest wie

ein Jugendlicher ohne Erfahrung, kann man

an den freien Willen als unbedingt glauben.

Mit eigenen Situationen konfrontiert, bildet

sich das größere Verständnis grundsätzlicher

Beziehung zur Umgebung heraus. Nun

wird sich zeigen, dass die Energie kraftvoll

vorzugehen, aus dem Bild erwächst, das der

Mensch von allem hat. Eine Annahme, niemand

weiß was wirklich ist. Und auch was

war, kann nicht zuverlässig rekonstruiert werden.

Der aktive Moment in dem wir handeln,

ist die Gegenwart. Hier wird sich unser Zorn

entladen, wenn wir dazu motiviert sind. Einfach

mal so passiert gar nichts. Ohne Motiv

handelt nicht einmal ein Geisteskranker, auch

wenn es schwerer ist, das zu verstehen.

Ich habe in einen alten Zirkusfilm hinein

gezappt, und zwar mit Burt Lancaster. Ich

kannte den Film nicht, der Moment war so

spannend. Ein interessantes Pendant zu der

Szene im Comic, aber hier wird sich gehauen.

Der jüngere Artist hat gerade etwas begriffen

und schlägt dem kräftigeren Lancaster fest

in das ausdrucksstarke Männer- und Schauspielergesicht

(mit dem wunderbaren Gebiss).

Mehrere Male haut der ganz offensichtlich

verarschte Kollege den gestandenen Artisten

fest an. Und dieser, sich gar nicht zur Wehr

setzend, sackt zurückgedrängt in einen Sessel

und erträgt das Übel! Der Zornige brüllt,

schimpft – dann taucht noch das Mädchen

auf, um das es sich dreht – hier wird klar, der

jüngere Akrobat hat gerade einen direkten

Beschiss verstanden.

Als ich damals Flash Gordon las, konnte ich

nicht nachvollziehen, warum der Held, dem

Bösen direkt gegenüber stehend, diesen doch

nicht besiegen konnte. Ming verspottet Flash.

Der Vater von Prinzessin Aura kann böse sein,

töten, versklaven – alles was ein diabolisch

anmutender Herrscher tut, und der Gute – er

kann nichts machen? Flash Gordon fehlt die

Motivation, seinen Widersacher auszuschalten.

Er muss erkennen, dass er mit seinen

kraftvollen Armen nichts ausrichten kann,

gegen die bereits voranschreitende gut geplante

Heimtücke des Gegenspielers. Voller

Kraft und auf der Seite der Wahrheit und bei

den Guten – resigniert er im Begreifen seiner

Machtlosigkeit.

Anders im erwähnten Kinofilm. Auch wenn

man den Film nicht kennt, der Zuschauer

kann sich sofort einfühlen: Hier wird etwas

gerade gerückt. Nichts bindet die Hände

oder die Kraft des Schlagenden, jeder kann

nachvollziehen, dass ein Kampf Mann gegen

Mann mit der entsprechenden Energie auch

anders ausgehen könnte. Der alte Lancaster

ist ein Mann in den besten Jahren, stark und

gereift – und sicher kein schlechter Kämpfer

– wehrt sich aber nicht. Er gewinnt unsere

Sympathie (genauso wie der jüngere Mann in

seinem Zorn), gerade weil er sich einfach umhauen

lässt und deswegen geht das Ganze

auch nicht ewig. Ein kurzer Schlagabtausch,

dann kommen noch Anschuldigungen, und

Lancaster sagt nicht viel. Die Szene: Es geht

um Lüge und Wahrheit. Und ich glaube auch:

Die Macht zu tun oder es gerade nicht zu

können. Das liegt wohl daran, dass eine Lüge

wahrhaftig ist wie ein Gegenstand. Mehr als

ein Wort. Das Gegenteil von einem Tatbestand

und damit gleichermaßen konkret. Lügen

bedeutet, wissentlich aktiv anders darzustellen

– und das steht ja zunächst jedem frei,

als ein Mittel zum Zweck. Deswegen nützt es

nicht, die Welt verbessern zu wollen und das

Lügen an sich zu verdammen. Lügen zu können,

ist eine Fähigkeit. Wir können es nicht

abschaffen, wie wir die Aggression an sich,

als Teil menschlichen Verhaltens, ebenfalls

akzeptieren müssen. Wer lügt, muss sich über

mögliche Konsequenzen klar sein. Da unterscheidet

sich der Profi vom Amateur. Wer

Jan 15, 2020 - Die Macht der Lüge ... 3 [Seite 3 bis 5]


leichthin lügt, nach dem Motto, nun bin ich’s

los das Problem, bekommt „die Haue dafür“ –

irgendwann. Es gibt so viele abstrakte Worte,

jeder kann intellektuelle Begriffe interpretieren.

Aber wer je angelogen wurde und es begriffen

hat, vergisst es nie wieder: Das weiß

man in dem Moment, wo diese Lüge ausgesprochen

wird, oder später im Erinnern, weil

derjenige, so perfekt er oder sie auch dabei

ist, einen wirklichen Fehler macht, und zwar

einen, den der oder diejenige nicht kennt.

Darum ist das ja so faszinierend zu erfahren

(und böse verletzend und kann in der Regel

nie wieder gut gemacht werden).

Eine Geschichte fällt mir ein, das ist einige

Jahre her. Unter dem Titel „So finde ich mein

Bild“ hatte ich das veröffentlicht und kann es

hier recyceln. Das Motiv, etwas zu tun, findet

der Mensch in sich und außerhalb. Wenn wir

Hunger haben (innen) gehen wir dorthin (außen)

wo wir Essen vermuten. Was wir vorzufinden

glauben: „Hinter der Kreuzung sehen

Sie dann ein italienisches Restaurant“, gibt

uns die nötige Energie uns in genau diese

Richtung in Bewegung zu setzen. Eine Aussage,

ist sie wahr? Es entsteht ein Bild im Kopf.

Und so beginnt auch meine Erinnerung damit,

wie eine Szene allein durch das Hören

zu einer Vorstellung, zum inneren Bild wird.

Das führt mich dazu, darüber nachzudenken,

wie ich die Umgebung erlebe. Film und Realität

vermengen sich zum eigenen Motiv. Vor

einigen Jahren hatte Disney den Star-Wars-

Zyklus weitergeführt, der siebte Teil der Saga

war herausgekommen. „Wann gehen diese

Leute mal auf das Klo“, haben wir uns gefragt,

noch voll mit den Bildern der Kampfszenen,

als wir das Kino verließen. Es ist immer Krieg!

Da bleibt keine Zeit für die Toilette oder ein

gemütliches Sitzen mit Freunden? Eine ganz

große Geschichte um die gute und die böse

Seite der Macht, Wahrheit und Lüge und die

Energie, die daraus erwächst.

Vielleicht beginnt meine Geschichte deswegen,

gerade weil das Thema so groß ist, kleiner

und privat, vom stillen Örtchen aus – so

war das vor einigen Jahren: Ich bin unterwegs

in einem Einkaufszentrum, in der Nähe verabredet,

ein bisschen Zeit ist noch bis dahin.

Wo war hier die Toilette? Ach ja, Treppe hoch,

da beim Parkdeck auf dem Dach. Ich erinnere,

dass ich schon mal das WC draußen auf

dem Dachparkplatz suchte. Diesmal auf Anhieb

gefunden. Ein Flurende, zwei mit den

bekannten Symbolen bezeichnete Türen im

nur mäßig ausgeleuchteten Gang, unspektakulär.

Niemand, der hier einen Teller für Geld

hingestellt hat. Ein menschenleerer Ort unter

dem Dach, das Nötigste für das, was Not tut.

Ich gehe durch die Tür mit dem Männchen,

vorbei an Waschbecken in weiß, Pinkelbecken,

weiter in eine Kabine, da ich eine Hose

mit Knöpfen anhabe. Da ist es sonst immer

so ein Gewurschtel. Wie ich so sitze, allein in

meinem Kämmerlein und allein im ganzen

WC (nun dauert es doch länger, wo ich erst

sitze), kommen Stimmen auf. Ein Mann sagt:

„Weil ich nicht bei den Frauen rein kann.“ Eine

Kinderstimme antwortet: „Und ich nicht bei

den Männern.“„Doch“, sagt der Mann kurz, „du

ja.“

Geräusche direkt neben mir, wie die beiden

zum Klo in die Kabine gehen. „Zieh die

Hose runter“, sagt der Mann. „Warum ist Nancy

dahinten?“„Vielleicht, weil sie gewickelt

werden muss. Kommt was?“ „Ja.“ Der Mann

spricht leicht ungehalten mit kurzen, deutlichen

Worten, hart und anweisend, will voran

machen, ist aber praktisch, pragmatisch, nicht

wirklich unfreundlich. Bestimmt ist es der Vater.

Für mich, der ich selbst mich gerade daran

erinnere, wie es war, als mein Sohn klein

war, klingt es o.k. „Bist du fertig?“ fragt der

Erwachsene. „Ja.“ Das Mädchen scheint aufzustehen.

„Daneben“, sagt es leise. „Du hast doch

gesagt, dass du fertig bist“, herrscht der Vater

sie an. „War ich auch.“ „Dann kann es nicht daneben

gehen.“ „Du hast zu schnell gemacht.“

„Stell dich da in die Ecke, fass nichts an!“ Der

Vater spricht scharf und etwas lauter. Kind:

„Wir haben nicht abgezogen.“

Der Vater kommentiert nicht, sie verlassen die

Kabine, scheinbar muss der Mann jetzt selbst

noch pinkeln. Wahrscheinlich steht er nun am

Urinal vor den Kabinen. „Bleib da in der Ecke

und fass nichts an. Fass nichts an.“ Er wiederholt

es. „Ja“, sagt das Kind. „Du sollst nichts

anfassen!“ „Habe ich nicht.“ Es gibt noch die

Geräusche von Schritten, das Rascheln ihrer

Kleidung, während die beiden das WC verlassen,

und noch einmal herrscht der Vater das

Kind an: „Nichts anfassen.“

Jetzt bin ich selbst fertig, ziehe meine Hose

hoch, spüle und verlasse meinen Kasten. In

beiden Urinalen steht kräftig dunkelgelb der

männliche Saft. Dass im Klo nebenan nicht

gespült wurde, weiß ich ja bereits. Wie ich

mir nun vorn die Hände mit Seife wasche,

kann ich aber weiter keine Fehler an der

Sauberkeit des Toilettenraums finden. Der

Papierspender funktioniert, Seife geht auch,

und der Mülleimer ist nur halb gefüllt. Alles

bestens.

Januar 2016, nur wenige Wochen danach. Wir

sehen nun tatsächlich Star-Wars-Sieben. Mit

dem irgendwie nur leicht gealterten Harrison

Ford als Han Solo. Ein Film aus den

Walt-Disney-Studios. Mit 3D-Brille. „Episch“,

mein Sohn hat uns vorbereitet. Er war schon

ein paar Tage vorher dort. Ja, es hat mich berührt.

Sehr sogar. Leia mit ihrer neuen Frisur.

Im Alter einer Oma ist sie, aber ohne Enkel,

dafür mit einem missratenem Sohn. So böse.

Schließlich ist der Film aus, wir lesen noch.

Wenn man jetzt die 3D-Brille abnimmt, kann

man die Namen genau so gut lesen, hat aber

doppelt so viele Sterne im Hintergrund! Zum

Abspann hin wird langsam etwas Licht angedimmt,

viele gehen bereits.

Als alles ganz zu Ende ist, das volle Licht

eingeschaltet wird, verlassen wir mit den

letzten Genießern den Saal in Richtung Ausgang

durch unsere Sitzreihe. Rote, bequeme

Polstersessel. Das größte Kino, die Nummer

eins, leicht gebogene Mega-Leinwand, stark

ansteigende Sitzplätze mit bester Aussicht,

hier kann jeder was erleben. Wir gehen durch

eine Müllhalde aus Popcorn und weißen

Pappbechern überall. Während meine Frau

zügig in Richtung Klo voran macht, steure ich

das Kinomädchen an, das allein leicht verloren

dort still am Rand steht, während alle anderen

durch die Tür in den Vorraum strömen.

Sie sieht so verloren aus.

Dünn, jung, vielleicht noch Schülerin, herab

hängende Arme, ein weißes Hemd oder eine

Bluse, Krawatte, dunkle Hose, irgendetwas an

ihr war rot wie die Sitze – die Haare, die Lippen?

Sie steht einfach da. „Ich war seit zehn

Jahren nicht mehr im Kino“, sage ich: „Titanic –

das war auch hier in Kino eins.“ „Kommt wohl

hin“, meint sie (was die zehn Jahre betrifft).

Wir schauen beide in den Dreck. „Ist das jetzt

immer so?“ frage ich. Sie hat so einen leeren,

sich in eine andere Welt fort träumenden

Blick, als sie sagt: „Die leben hier aus,

was zuhause nicht geht. Wir haben jetzt gar

nicht viel Zeit bis zur nächsten Vorstellung.“

Sie seufzt dabei und schaut mich nun direkt

an. „Einen schönen Tag“, oder etwas Ähnliches

sage ich, denn wir waren ja in der Mittagsvorstellung

am Sonntag.

Ich gehe nun die Treppe hinab zum Vorraum,

lasse den roten Saal über rote Teppichstufen

hinter mir und gehe in die hellweiß leuchtende

Mega-Halle, durch verstreute, teils

dichte Menschenhaufen zur Toilette. Bei den

Männern trete ich ein, da gibt es hier eine

ganze Menge in dem kleinen Raum. Sie waschen

sich die Hände an vor Wasser und Seife

schwimmenden Becken. Man drängt mir entgegen

zur Tür. Volles Haus. Die Handtrocknergebläse

lärmen. Der Boden um die Pinkelbecken

steht unter Wasser. Oder ist es Urin?

Große Pfützen. Eine kräftige Oberflächenspannung

der ekligen Flüssigkeit scheint zu

machen, dass die Lachen räumlich begrenzt

bleiben und nicht den gesamten Fußboden

überschwemmen.

So als wäre es Gelée, steigt der Rand dieser

großen Seen scheinbar einen vollen Zentimeter

an, wie Glibber. Noch will ich gerne pinkeln.

Ich suche eine Kabine die frei ist, da ich

wieder diese Hose mit der Knopfleiste anhabe.

Die Türen der hinteren Kabinen scheinen

auf rot verriegelt. Die rückwärtigen Ärsche

der dichtgedrängten Männer direkt vor den

Türen machen es aber unmöglich, genau zu

prüfen. Doch die erste Tür lässt sich ja gleich

leicht nach innen hin aufdrücken, prima! Ich

schrecke zurück. Wieder so eine Glibberpfütze

am Boden, rund um das Klo, eigentlich in der

gesamten Kabine. Der Klodeckel geöffnet, ich

schaue schon nicht mehr hinein. „Fass nichts

an“, denke ich.

Ich gehe zügig, ohne noch irgend etwas zu

tun, was man hier tut, dränge durch die engen

Mannen wieder raus, kollidiere beinahe

mit der Gattung Mensch. Meine Begleitung

ist hier noch nicht sichtbar. Auch vor den Toiletten

sind sie, die Menschen. Es drängt mich

weiter, es zieht mich magisch zurück zum

leeren Kino eins. Fünf kleine Minuten mögen

wohl vergangen sein. Wieder die kurze rote

Treppe hinauf, durch die Tür in den Saal des

größten Kinos. Tatsächlich, wie wartend ganz

allein, steht sie da noch immer dort am Rand

und schaut – das Kino-Mädchen.

Ich sage ihr das mit dem Klo. „Schon wieder?“

meint sie lakonisch. Es ist ein bekanntes

Problem. Ich kann mich auf einmal gar nicht

zurückhalten. Wie ermuntert, wie eingeladen,

sprudele ich sie mit eigener Geschichte

förmlich an, weil mir Gefühle scheinbar nie

genug Reflexion finden können? Ihr stilles

Gesicht scheint mir eine See unter dunklen

Wolken existentieller Not. Angst und Wut gehen

gleich Regen im Meer mühelos darin auf.

Zwei, drei Sätze nur fallen mir ein, aber das

ist mehr als ich hoffen kann. Wie isoliert unter

maskierten Lemmingen, fühle ich als einziger

von allen nur mit dem eigenen Leib?

Hier ist wieder etwas spürbar. Eine Landmarke,

an der ich weiter in die Zukunft navigiere.

Wo ist vorn? Kurz ein Austausch uns verbindender

Gedanken, beinahe fröhlich, gleite ich

nun ein weiteres Mal die Treppe hinab. Dabei

kommt es mir vor, als springe ich mir selbst

entgegen. Schon in dem Moment auf der

Jan 15, 2020 - Die Macht der Lüge ... 4 [Seite 3 bis 5]


Treppe, stärker noch, wenn ich erinnere, sehe

ich irgendwie gleichzeitig auch anders herum,

von unten hoch. Voyeur im Foyer, schaue

ich hinauf zu der kleinen roten Treppe, während

ich dabei doch auf mich zu komme. Hinter

mir, grad in der oben geöffneten Tür, steht

sie – und schaut doch so fern. Davor fliege

ich mit den dunkelblauen Flügeln meines geöffneten

Kulani die Stufen abwärts, wie auf

mich selbst zu.

Zwischen den Ein- und Ausströmlingen steht

eine 3D-Brillen-Recycel-Tonne. Ich werfe

meine Brille weg. Fantasie ist, was manche

sich gar nicht vorstellen können. Zeit vergeht.

Bei den Mädels ist das Klo fein sauber … Wir

bummeln in die Colonnaden, Jungfernstieg,

Hanse-Viertel, weiter zum Großneumarkt,

haben noch Pläne für den Abend. Andere

erleben es genauso. „Sie sind wie Geister“,

sagt ein Freund; und daran denke ich jetzt:

„Manchmal scheinen sie gar nicht da zu sein.“

Er erzählt: „Introvertiert, wie entrückt – sie

sind wie Geister“, sagt er. Auch Gregor Meyle

kommt mir in den Sinn: „Hüte dich vor dem

Entschluss, zu dem du dich zwingen musst

– sonst kriegst du ’nen kalten Kuss.“ So erinnere

ich mich daran zu lächeln, wie ich es

versprochen habe. Wer reicht wem das Leben

weiter?

Sie steht oben auf der Treppe,

scheint durchsichtig.

Jetzt ist es aus – erst einmal.

„Der Aufstieg Skywalkers“,

das haben wir nun auch gesehen.

Gleiches Kino, gleiches

Rot, gleiches Popcorn,

wenig Müll – kein Mädchen,

sauberes Klo – unauffällig

das Drumherum. Spektakulär

ist der Film. Januar 2020 –

Jahre später! Der letzte Film

von neun, und irgendwie

reicht es nun. Nie war die Illusion

und Bildgewalt besser,

allein dieses Meer, diese Wellen

und der Kampf davor und

so viel andere unglaubliche

Weltenschau. „Wann gehen

die eigentlich mal was essen

oder sitzen rum?“, haben wir

uns gefragt: „Wir müssen los“,

ruft Rey, und dann fliegt wieder

was in Stücke. Insgesamt

bleibt ein ernüchternder

Nachklang, alles schon gesehen

zu haben. Eine wunderbare Szene ist

ganz zum Schluss: Rey schaut in den Sonnenuntergang.

Es sind zwei (!) Sonnen im flimmernden

Licht, eine rot, eine heller – und es

sieht ganz real aus.

In diesem allerletzten (hoffentlich) Star-

Wars-Film wiederholt Rey eine Szene gegenüber

feindlichen Wächtern, die ich für eine

der Besten der ganzen Reihe halte. Natürlich

ist die Macht spektakulär, wenn ein Jedi mit

konzentriertem Gesicht und ausgestrecktem

Arm ein Raumschiff vom Himmel holt oder

Luke seinen x-Flügler aus dem Schlamm

zwingt, nachdem er von Yoda lernte, seine

Gedanken zu sammeln. Ich finde aber eine

andere, scheinbar banale Machtdemonstration

so bemerkenswert.

Das ist in einem der Filme, die für uns ältere

den Beginn darstellten. Luke ist mit Obi-Wan

Kenobi (Alec Guinness) auf seinem Wüstenplanet

Tatooine unterwegs und zwei dieser

weiß gerüsteten Wächter, die wie Roboter

daherkommen, halten die Freunde auf. Eine

Szene, so alltäglich wie Türsteher vor einer

Diskothek. Man kommt da nicht rein. Ganz

einfach gelingt es dem alten Mann, die

Schergen umzustimmen. Seine entspannte

Autorität beherrscht die Situation. Das finstere:

„Ihr könnt hier nicht hindurch“ der Soldaten

verdreht Obi-Wan ihnen noch im Munde

zum: „Ihr dürft passieren“, und wie ein Echo

bestärken sich die zwei uniformen Automaten

gegenseitig wiederholend, was Kenobi

ihnen in den Mund legt. Als wäre es ganz

normal, Anweisungen vorab zu soufflieren:

„Sie dürfen passieren, die Fremden dürfen

passieren“ – sie plappern sich wie im Chor

hinein – in einen Singsang, der das Gegenteil

ihres Auftrages ist.

Eigentlich eine böse Macht, die Manipulation.

Das ist Gehirnwäsche. Die Macht ist hier so

nachvollziehbar real, wir sind nicht mehr auf

dem fiktiven Tatooine – das könnte John Silver

sein, wie er Jim einflüstert, was zu tun sei.

Genauso Wolf Larsen, der Seewolf, er manipuliert

den Schöngeist Humphrey van Weyden

oder: Eine junge Frau macht, was ein reicher

Mann möchte, obwohl sie es eklig findet. Es

gibt zahlreiche Bilder, die mir in den Sinn

kommen, wenn ich überlege, wie dominante

Menschen suggestiv andere umdrehen, das

Gegenteil von dem zu tun, was diese eigentlich

vorhaben. Hier bekommt die Lüge eine

Macht zum Guten, sie wird so überhöht, dass

sie der Ausweis der Freunde wird, damit das

Böse selbst zu passieren. Macht bedeutet

dem Wort nach, Einfluss zu nehmen. Nicht

angenehm für Menschen, die gehorchen

müssen. Und doch lassen wir uns gern darauf

ein: Die Vorstellung von der „guten“ Seite der

Macht.

Das sind Geschichten. Ich bin nun über die

Mitte des Lebens hinaus und denke an mein

Bild „Lüge“ das ich vor einigen Jahren gemalt

habe. Inzwischen habe ich konkrete Erfahrungen

gemacht, kann mitreden, was Lüge

bedeutet und die Enttäuschung deswegen.

Im grundsätzlich Großen des Lebens, wie im

banalen Geschehen. Jede nebensächliche,

kleine Geschichte, wie die folgende, lässt

mich Erinnerungen merken: Ich war heute in

einem Geschäft, und eine Freundin hat mir

von einer Kollegin erzählt, der das Vertrauen

entzogen wurde. Da geht es um Kassenbetrug

im Einzelhandel, passend zur neu eingeführten

Bonpflicht. Ein aufgeflogener Betrug

ist nicht zu diskutieren. Ein Beleg ist ein Beweis.

Ich habe meiner Freundin von der Ladenkasse

mit den vier einzelnen Schubladen

erzählt, die meine Eltern vor vielen Jahren

anschafften, um jeder Verkäuferin in unserem

Laden ein eigenes System zuzuweisen. Sie

hatten das Problem mutmaßlichen Betrug

nicht nachweisen zu können und kauften die

damals moderne und mechanisch trennende

Kasse. Von da an hatte jede Angestellte eigenes

Geld, konnte nicht mit: „Ich war das nicht“

davon kommen.

Ein Film ist ein Film, und das Gute siegt bis

zum Happy End. Warum ist das so? Ein frommer

Wunsch. Kommt das auch wirklich vor?

Eine Dokumentation vor einigen Jahren, im

Fernsehen ausgestrahlt, mit der These der

Kommunismus in der Sowjetunion wäre

durch die Gläubigen der katholischen Kirche

und ihren Papst Johannes Paul besiegt worden,

hat mich aufmerken lassen. Das ist kein

Film, habe ich gedacht, und diese Geschichte

macht Sinn. Lech Walesa, der polnische

Gewerkschafter und der zeitgleich in Rom

predigende Papst, ein Landsmann

von ihnen – das gab den Polen die

Kraft zum Widerstand. Das war der

Anfang vom Ende der Sowjetunion,

dem Unrechtsstaat. Es gibt überall

weltweit Gläubige, sie können mobilisiert

werden! Diese Doku zeigte

anschaulich, wie sich ein neues

Netz gebildet hatte, das mit dem

bösen Bund verwobener Macht und

nachbarschaftlicher Bespitzelung

mit- und gegenhalten konnte.

Es gibt nur wenig Presse über meine

Malerei. Ein schöner einfühlsamer

Text porträtiert meine Dauerausstellung

im Obdachlosencafé

Pino – und mich selbst. Dafür wurde

ich von Alexandra auch fotografiert.

Ich stehe vor dem erwähnten Bild

„Lüge“, und mein Oberkörper verdeckt

die Figuren am unteren Bildrand

so zwanglos und zufällig, als

gäbe es die gar nicht auf dem Gemälde.

„Die gute Nachricht“ nennt

der Christ das Neue Testament. Die

„falsche“ Nachricht ist moderne,

etablierte Realität heute. Ein Mittel

zum Zweck. Wir reden nun elegant englisch:

Ein „Fake“ ist eine Fälschung, eine Lüge. Die

Lüge ist einfach, wenn das Individuelle der

Handschrift, der unverwechselbare Klang einer

vertrauten Stimme fehlt. Wir haben die

Wirklichkeit abgeschafft. Wir reden noch

darüber, mehr nicht. Eine Person ist nur real,

wenn ich sie selbst sehen (und eventuell berühren)

kann? Dieses Foto überhöht, ob nun

beabsichtigt oder zufällig, die Aussage, das

hier vertuscht wurde, gelogen nämlich – und

ist als Fotografie etwa so wunderbar schlicht,

beinahe nebensächlich dahingemalt, wie die

beiden Sonnen am Himmel der Skywalker –

ganz weit weg.

:)

Jan 15, 2020 - Die Macht der Lüge ... 5 [Seite 3 bis 5]


Tarzan lebt

Jan 18, 2020

Die Zukunft kommt. Das lässt sich nicht ändern,

und die Gegenwart ist unangenehmer,

je fremdbestimmter das Leben mutmaßlich

sein wird. Die Vergangenheit belastet den, der

gegen sich selbst gehandelt hat und deswegen

annehmen darf, gewohnheitsmäßig auf

diese Weise fortzufahren. Aktiv Kompromisse

einzugehen und Fremdbestimmung eigenverantwortlich

herbeigeführt zu haben, ist

bedrückender, als kompromisslos handelnd

in diese Lage zu gelangen. Als Bestrafter

Freiheit einzubüßen oder Ziele aufgeben zu

müssen, dafür die Umgebung zu beschuldigen,

scheint erträglicher.

Wenn ein lohnendes Ziel nur gemeinsam mit

anderen in einer Beziehung erreicht werden

kann, gehe ich gern einen Kompromiss ein,

solange meine Existenz oder meine Person

davon abgegrenzt bleiben. Was direkt weh

tut oder nur Luxus ist, auf den ich verzichten

kann, unterscheidet mich vom allgemeinen

Wertgefüge. In dem Moment, wo mir diese

Abgrenzung aus individuellen Befindlichkeiten

gefährdet scheint, werde ich keine Zugeständnisse

mehr machen und das gemeinsame

Ziel aufgeben. Es kommt zum Bruch der

Beziehung.

Das ist für den Partner überraschend, wenn

seine Menschenkenntnis auf die eigene Sicht

beschränkt ist, sein Verständnis der Regeln

missachtet und schließlich ausgehebelt wird.

Auf dem Weg zum gemeinsamen Ziel, gibt

jede Partei Standpunkte auf. Wie wichtig diese

empfunden werden, also wie groß jeweils

geopfert wird, kann dem Partner verborgen

bleiben. Das Bild vom Fass welches durch

einen letzten Tropfen überläuft, beinhaltet

auch das Unwissen darüber, von wem dieses

Zuviel kommt und ob derjenige selbst sich

um die bessere Zukunft bringt, weil die eigene

Bewusstheit des Handelns gering ist.

Wenn wir genau spüren, wie weit wir bereits

unser Selbst eingebracht haben, also

Türen der Persönlichkeit eigenhändig öffneten,

können wir bewusst eine nur für uns

als letzte offen stehend definierte Pforte der

inneren Burg unseres Individuums zuschlagen

und aus einem Projekt aussteigen. Wenn

ein Partner es gewohnt ist, durch sukzessive

nachgeschobene Forderungen das Beste für

die eigene Partei zu erreichen, funktioniert

das nur, wenn die jeweiligen Gegenüber aus

dem selben Milieu kommen und sich die

Muster der Verhandlung deswegen wiederholen

oder der Fordernde grundsätzlich manipulativ

erfolgreich ist.

Das gemeinsame Ziel kann unterschiedlich

interpretiert sein. Obwohl einem Partner Geschwindigkeit

oder Geld das Wichtigste am

Projekt sind, bedeutet das dem anderen unter

Umständen nichts, wenn dasselbe Ziel auch

Werte enthält, die dem erstgenannten außerhalb

vom eigenen Verständnis bleiben. In

dessem wirtschaftlich ökonomisch geprägten

Leben, spielen die emotionalen Befindlichkeiten

des anderen bislang keine Rolle, können

aber unerwartet Dynamik in das Ganze

bringen. Der am Geschäft orientierte Partner

steht vor einer Herausforderung, wenn dem

anderen persönliche Motive wichtig sind, die

er nicht nachvollziehen kann.

Eine Beziehung unter solchen Voraussetzungen

kann nur befristet funktionieren, weil

die gegenseitige Wertschätzung unmöglich

ist, wenn der Wert des Gegenübers für den

anderen Partner ausserhalb des Begreifens

liegt. Die Befristung muss unbedingt zuverlässig

konstante Bedingungen garantieren,

als unverhandelbares Element dieser Partnerschaft.

Wenn ein Vogel einen Fisch durch die Luft

trägt, muss der Fisch sicher sein, im fremden

Element weder gefressen zu werden, noch

auf einen Acker fallen gelassen oder ab vom

Ziel verschleppt. Sich in die Werte anderer

einzufühlen, ist also die Grundbedingung, die

oft und gern beschworene Wertschätzung, als

Basis gelungener Beziehungen anwenden zu

können. Der Denkfehler einer zunehmend

detailliert geregelten Gesellschaft besteht

darin, dass individuelle Befindlichkeiten von

allgemeinen Leitsätzen nicht erfasst werden.

„Tarzan“ scheitert als einzelner an der uniformen

Zivilisation. Dasselbe Motiv verwendet

„Schöne Neue Welt“ von Huxley. Diese Romane

wurden auch aus dem Grund geschrieben,

dass jeder sich bei missverständlichen

Werten fremd fühlt. Also

muss Tarzan oder der Wilde

im Huxley-Roman gar

nicht wild im Sinne eines

primitiven Waldschrat

verstanden werden. Der

Leser fühlt sich durch die

Motivierung des Autors

automatisch auf der Gegenseite

zur Zivilisation

– obschon ein Buch zu

lesen Kultur bedeutet.

Als ich „Zeitgeister“ gemalt

habe, wollte ich so etwas

beschreiben, habe kaum

verstanden, dass ich laienhaft

kopierte. Den Nerv

der Gesellschaft habe ich

nicht getroffen. Schließlich

war dieser Eigenversuch die Eingangstür

besseren Begreifens. Das ist vielleicht der

Grund, warum zu Malen, selbst in der Kopie

eines Meisterwerks oder unbewusstem Nacherleben

dessen was andere vor uns spürten,

erfüllend ist. So wie es heißt, Schreiben sei

das Sichtbar machen von Gedanken und bedeutet,

sich nun „selbst“ lesen zu können, gilt

das für Kunst insgesamt. Malerei schafft ein

eigenes Wertgefüge und isoliert damit. Das

ist sogar sehr gut, warum?

Ohne Beziehungen ist die Gesellschaft nicht

denkbar. Dickfellig oder dünnhäutig, was ist

besser? Im übertragenen Sinn: Beziehungen

unter Blechdosen funktionieren nur, wenn

die Inhalte identisch sind. Andernfalls müssen

Unterschiede erkennbar sein. Dann funktionieren

die unvermeidbaren Abhängigkeiten.

Die Alternative wäre, Individualität durch

uniform-inneres Empfinden auszuschalten.

Wenn alle gleichermaßen „Coca Cola sind“,

können wir uns eine Haut aus Metall anfertigen

und gehören in ein- und dieselbe Kiste.

Das ist bislang nicht gelungen. Besser sind

Beziehungen zwischen Personen, die sich flexibel

abgrenzen.

Das digitale Kommunizieren ist intellektuelles

Blech. Aus vielfältiger Handschrift wurde

eine Typo, die verbirgt, wer tippte. Wir bieten

dem Sexualstraftäter die Methode, als Kind

aufzutreten – und halten per Lockvogelprinzip

mit gleicher Waffe dagegen. Die Polizei

wartet nicht: „Hinschauen!“ Sie fährt auf breiter

Front mit großem Treibnetz, greift selbst

als Zuerst-Täter kollektiv an. Wir haben ein

Schlachtfeld geschaffen, weil unser Wort aus

der Hand abgefeuert wird. Statt flüchtiger

Mimik, dem vergänglichen Klang der Stimme,

nutzen wir genau so oft das fixierte Medium.

Kommunikation, wie die gesellschaftliche

Rückkehr in die Zeit der Ritter, blind durch

Schlitze blinzelnd. Die Gesellschaft bewegt

sich kollektiv absichernd dorthin. Die im

Straßenverkehr beklagte Aggressivität, ist

der geschlossenen Karosserie geschuldet.

Das wird auch anderswo zunehmen, wenn

der einzelne, aufgefordert sich zu rüsten, es

nicht schafft. Konstruierte Sicherungen machen

authentische Kommunikation schließlich

unmöglich.

Isolation wird mit dem Wort Abkapselung

psychologisch negativ bewertet. Das ist ein

Denkfehler. In einer mehr sozialisierten Welt

ist es dem gesunden Menschen umso wesentlicher,

genau das hinzubekommen. Eine

individuelle Form eigenen Empfindens, von

einer imaginären Kapsel gegen die Werte

anderer zuverlässig umschlossen, um gerade

deswegen Unterschiede zu merken.

Sonst wird das Individuum

nur mitgerissen. Die Membran um

unser Selbst muss durchsichtig

sein. Statt die vermeintlich primitiven

Formate zu beklagen in denen

mäßig bekannte Prominente die

Hosen runter lassen, sollten wir

begreifen warum diese Serien erfolgreich

sind.

Eigene Werte zu kennen, bedeutet

nicht, diese für sich zu behalten.

Eine untypische Meinung zu vertreten,

wird Widerspruch auslösen

der nicht durch die verriegelte

Haustür oder eine dunkle Sonnenbrille

abgewiesen werden kann.

Mit einer imaginären Tüte über

dem Kopf, vergleichbar mit dem

Kind das annimmt unsichtbar zu sein wenn

es die Hände vor die Augen hält, soll das Sicherheitsgefühl

erhöht werden: real umgesetzt

etwa mit einer gelben Plane auf dem

Fahrradhelm.

Der technische Dschungel ist breit aufgestellt:

Uniforme, durch automatische Zentralverriegelung

gesicherte Blechpanzer, werden

vom Navi gelenkt. Im Abgas-Norm-Verkehr

auf verstopften Straßen, findet der komplett

schwarz gekleidete Fahrrad-Rüpel – rasend

unterwegs, im schumrigen Licht bei Nieselregen

(der trotz roter Ampel diagonal die Kreuzung

beansprucht) – noch seinen Platz. Er beweist

frech, wie relativ Sicherheit ist. Durch

Gruppierung möchte der einzelne sicher sein,

gewinnen – und verliert (sich). Der individuelle

Mensch kann bei allen Versuchen, seine

Daten und Persönlichkeitsrechte zu schützen,

niemals erfolgreich sein. Wie soll das gehen:

Ein Tarzan mitten in der Stadt, aber niemand

schaut hin?

:)

Jan 18, 2020 - Tarzan lebt 6 [Seite 6 bis 6]


Die Antwort ist das Bild

Jan 24, 2020

Wikipedia: Der Roman „Per Anhalter durch

die Galaxis“ avancierte innerhalb kurzer

Zeit zu einem Klassiker der Science-Fiction-

Literatur. Ich habe das gelesen. Das sind ja

mehrere Bücher. Die habe ich auch mehrmals

gelesen. Färbt was ab? Heute lese ich

wenig, fast nichts – außer der Zeitung zum

Frühstück. Mein über neunzigjähriger Freund

Hans-Jürgen irritierte mich vor fast dreißig

Jahren, an Bord seiner Yacht Capella, als wir

einige Monate in der Karibik herumgondelten,

er sagte: „Ich lese nie ein Buch, mein

Leben selbst ist ein Roman, das genügt.“ Ich

verstehe das jetzt. Es befriedigt, sich Fragen

zu stellen, selbst nach Antworten zu suchen.

Wikipedia weiter: Im Roman wird ein Computer

(…) gebaut, die Antwort auf die Frage aller

Fragen, nämlich die „nach dem Leben, dem

Universum und dem ganzen Rest“ zu errechnen.

(…) und verkündet dann, sie laute „Zweiundvierzig“

und sei mit absoluter Sicherheit

korrekt. (…) „I think the problem, to be quite

honest with you, is that you’ve never actually

known what the question is.“ Zitat Ende.

Wir suchen, ohne zu wissen wer wir sind. Wir

kennen die Frage nicht, die uns motiviert, auf

den Weg zu gehen. Der Frage nach dem Sinn

von allem und dem ganzen Rest nachzugehen,

wird dazu führen den persönlichen Herzenswunsch

herauszufinden und die Bereitschaft

dafür zu entwickeln, auf seine Erfüllung zu

verzichten. Verantwortung zu übernehmen,

ist die Grundlage von Bewusstheit. Ein gesundes

Selbst und entschiedene Motivation

bedeutet (anstelle starken Willens), innerhalb

von allem und dem ganzen Rest, einen individuellen

Platz auszufüllen.

Wie lautet die Antwort auf die Frage: „Woran

liegt es, dass ein Mensch die Umgebung

für etwas verantwortlich macht, das er selbst

verschuldet hat?“

Sollte ich hier schreiben: 23 – das wäre

nicht falsch, aber wer versteht mich dann?

Auf manche Fragen gibt es nur individuelle

Antworten. Nicht nur einmal für immer beantwortet,

nicht für alle anderen gleichermaßen

gültig. Insofern ist diese Frage ein

Instrument. Bereit zur täglichen Anwendung

in verschiedenen Lebenslagen. Verschiedene

Aspekte eines aktuellen Problems können

wie an einer Schablone abgeglichen werden.

Frühere Fehler werden

sichtbar, weil jedesmal, wenn

ich mich ärgere klar ist, dass

ich gerade versuche, es „allen“

recht zu machen. Pauschale

Schuldzuweisungen sind eine

Verwechslung innerer Mutmaßungen

mit dem was wirklich

passiert. Meine persönliche

Formel: Ich kann mir dabei zusehen,

wie ich mich momentan

verwende und korrigieren.

Für mich ist das mein Selbstbild,

meine innere Vorstellung,

die Nähe oder Ferne zum Ideal.

Das ist bei weitem nicht, was gleich einer

moralischen Instanz für einen zivilisierten

Menschen Gültigkeit hat oder haben sollte.

Mein Ideal ist, was ich gelten lasse, mehr

nicht. Ich bin unkorrekt wie jedermann und

bilde mir kaum noch was ein, auf das, was ich

sei. Das hoffe ich zumindest! Künstler? Ausgebildet

statt eingebildet. Ich möchte Bilder

machen, und dafür ist es von Vorteil, wenig

von sich zu halten – in Bezug darauf, richtig

zu liegen. Für mich muss es sich richtig anfühlen.

Das ist etwas ganz anderes.

Mir war diese Frage gar nicht klar, als ich

sie stellte. Sie kommt mir heute wie eine

Antwort auf eine längere Suche vor. Wie

kann das sein? Ich werde probieren, es zu

beschreiben. Am besten fange ich bei dem

Bild „Begegnung“ an, das ist ja auch auf der

Webseite. Es ist das mit dem schwarzen Trauerrand

und der Eisenbahn, vorn das Mädchen.

Makaber ist es? Es entstand zu der Zeit, als

ich aufhörte, kompatibel für das Dorf-Café zu

malen. Das Bild „Fenster“ wurde auch gemalt,

und mehr und mehr begann ich auszuloten,

was ich mit Farbe und Leinwand tun kann.

Ich fand einen Weg, persönliche Motive zu

kreieren. Ich wusste nun wie das geht.

„Begegnung“ – damals gab es noch die

„Schleswig-Holstein-am-Sonntag“, eine Zeitung,

die inzwischen nicht mehr rentabel produziert

werden kann, schade! Dort wurde ein

Lokführer porträtiert, verschiedene Aspekte

des Berufs beleuchtet, so genau erinnere ich

mich nicht. Das beherrschende Thema für

mich war: „Suizid am Gleis“, dafür war der

Lokomotivführer qualifiziert zu antworten,

er hatte in seinem langen Berufsleben sechs

Personen überfahren (und getötet). Immer

noch stellte er sich die für ihn wichtigste

Frage: Was kann ich, was kann der Lokführer

dafür? Warum bestimmt jemand, todunglücklich,

mich zum Henker? Warum muss „ich“ das

tun? Ich weiß doch nichts vom Leben dieser

Leute, habe keine Schuld an ihrer Misere.

Damals, als ich das gelesen habe, war mein

Sohn noch Kind, und typische Bücher lagen

bei uns rum. Sie illustrierten auf bekannte

Weise bunt die Berufe Polizist, Bäcker, Lokführer

– heiter und rein. Ich muss an den

Maler Edward Hopper denken, er wird zitiert:

„Ich illustrierte für Prospekte mit Neubauten.

Für Architektur habe ich mich schon immer

interessiert. Aber die Leute wollten winkende

Menschen und Familien mit einem neuen

Auto im Vordergrund.“ Das ist Werbung, und

Hopper war nicht länger dafür geeignet. Er

hat dann malend ja gezeigt, was er meint. Wie

findet jemand seinen Stil, was ihn schließlich

ausmacht? Darauf gibt es nur die individuelle

Antwort.

Insofern muss man das Bücherlesen aufgeben,

selbst loslegen etwas tun! Verträumt in

einen Roman eintauchen? Ich kann das nicht

mehr. Ich gehe nicht ins Kino. Ich ertrage es

nicht, wenn Fernsehfilme billig produziert

sind und die Charaktere nicht überzeugen.

Ich ertrage genauso keine guten Filme. Gerade

weil sie gut sind und ich die Geschichten

glaube, das ist noch viel schlimmer. Ich kann

keine Liebesgeschichte aushalten, es reißt

mich weg. Jedesmal. Nie wieder Kino! (Ich

lese Kritik, wenn ein neuer Film in der Zeitung

bewertet wird, bin informiert). Ich liebe

das Kino. Aber ich gehe nicht mehr hin.

Ich war politisch interessiert. Ich schaue

noch immer drei Nachrichtensendungen am

Tag, verfolge jede politische Debatte, aber ich

gehe nicht mehr zur Wahl. Ich verabscheue

die guten, sozialen oder grünen, christlichen

das Gute proklamierenden Parteien, weil

sie nicht umsetzen was sie versprechen? Ja,

auch. Ich bin menschlich gekränkt hier im

Ort. Nicht wegen der Politik, nein es ist ganz

persönlich; das Amt nur Nebensache (Männer

und Frauen) und übertrage meinen Frust auf

die Staatenlenker, die ich selbst nicht kenne.

Ich trage die Demokratie lustvoll mit zu

Grabe. Man kann hören, wie ich die extremen

Idioten links- oder rechtsextrem gutheiße,

als wenigstens ehrlich. Ich schäme mich kein

Stück. Die kann ich deswegen genauso nicht

wählen. Ich muss mich enthalten! Natürlich,

ich kann sehr freundlich und sozial sein. Bin

das jederzeit, aber nicht im Verein. Nicht in

einer Partei. Ich habe jedes Vertrauen verloren,

aber nicht das in meine eigene Kraft. Das

tue ich alles nur für mich. Es befriedigt mich,

Geld zu spenden, zu helfen. Es macht mich

froh. Ich tue das ganz allein dafür, damit ich

selbst mich gut fühle. Meine Motivation ist

durch und durch narzisstisch, egoistisch und

was es sonst noch für böse Wörter dieser Art

gibt welche die anderen, die „Gutmenschen“

(das sollen wir auch nicht sagen) wie eine

Waffe und ein Schild gleichermaßen vor sich

her tragen.

Was mag es sein, dass „eine“ den Lokführer

wählt, ihr den Kopf vom Rumpf zu säbeln?

„Ich erinnere mich genau an das erste Mal“,

schreibt der Eisenbahner in der Sonntagszeitung

dem achtlos blätternden Leser zum

Frühstücksbrötchen (mit in Scheiben geschnittenem,

goldig blond gedottert darauf

gelegtem Ei) leicht lesbar hin.

„Später habe ich immer weggeschaut. Ein

blondes Mädchen mit langem Haar. Lächelnd

legt sie ihren Kopf auf das Gleis. In dem Moment,

wo jede Bremsung zu spät ist.“

Der Eisenbahner fühlt sich verantwortlich,

weil sein Berufsbild ins Absurde geführt

wird, fragt nach dem direkten Bezug, kann

ihn nicht erkennen. Wenn ein Selbstmordattentäter

einen öffentlichen Platz mit für ihn

irgendwelchen Leuten sprengt – die Ange-

Jan 24, 2020 - Die Antwort ist das Bild 7 [Seite 7 bis 9]


hörigen fragen sich genauso: warum unsere

Familie? Eine starke Motivation ist unumgänglich

für jeden Gewaltakt. Wie ist das

möglich? Ich habe gelesen, dass ein Soldat

oder Polizist erst lernen muss, auf einen anderen

Menschen zu schießen, weil es gerade

nicht leicht ist.

Pastor Paul fragt: „Wie müssen wir uns eine

gottlose Gesellschaft vorstellen? Wie ist eine

Welt, in der kein Gott ist? Ist das so, wie bei

dem IS in Syrien?“ (Der Pastor nimmt an, dass

die Bundesrepublik Deutschland nicht gottlos

ist. Sein Gott ist zivilisiert, die Gebote und so).

Ein Gott hat die Welt gemacht, gut und böse.

Weil er es so wollte? Weil es ihm nicht besser

gelungen ist? Weil das Leben selbst ein Fehler

ist und das Ganze ein Missgeschick? Und

wenn da kein Gott ist, warum gibt es Gewalt,

Tod, Krieg – warum? Es gibt Augenblicke, da

schreist du nur noch: Warum?

Ein Mann begeht einen Suizidversuch, scheitert,

liegt verletzt im Krankenhaus. Es stellt

sich heraus, er ist abgewiesener Asylbewerber,

steht vor der Abschiebung. Anschließend

seiner Gesundung im Notfallbereich der Klinik,

verlegt man ihn in eine psychiatrische

Einrichtung. Wann wird die Behandlung dort

zu Ende sein? Was wird danach geschehen?

Es ist anzunehmen, dass er schließlich in sein

Heimatland zurückkehren muss. Ein kausaler

Zusammenhang von emotionaler Not des

Fremden, aufgrund der bevorstehenden Abschiebung

und dem Versuch, deswegen seinem

Leben ein Ende zu bereiten, drängt sich

auf. Leicht malen wir uns den ganzen Horror

aus, fühlen mit: Was soll die Psychiatrie

schon bringen? Am Ende gehts doch in den

Flieger nach Hause.

Nach Hause? Auch hier in unserem gut zivilisierten

Heimatland gibt es Verzweifelte,

denen ihr inneres Zuhause so zerbombt ist,

dass sie nur noch weg möchten: Ganz weit

weg, dorthin, wo sie selbst nicht mehr sind.

Da fehlt jedes Vertrauen. Es gibt gute Gründe,

anderen zu misstrauen. Aber selbst in Krisenregionen

leben Menschen, die sind nicht

krank. In sofern ist es nachdenkenswert, ob

im Bereich des Islamischen Staat unser Gott

keinen Zutritt hat oder unser kreatives Denken

für die Breite der möglichen Form funktionierender

Gruppen zu schmal gebaut ist.

Ohne ein Mindestmaß an Vertrauen können

wir nicht existieren. Vertrauen bedeutet eine

Hierarchie. Erst ich, dann die um mich herum

und schließlich das Vertrauen in den Fortbestand

der Welt. Luther, der Apfelbaum.

Wir können annehmen, dass jede psychische

Krankheit, wie auch immer wir sie benennen,

eine soziale Störung ist. Wir fürchten uns,

sind in Folge vernünftigerweise aggressiv,

aber wir kämpfen nicht gegen schlechtes

Wetter (in einer Überschwemmung helfen

die Nachbarn einander). Wir fürchten die anderen

Menschen. Und im Begreifen, dass wir

selbst genauso ein Mensch sind, hakt es bei

uns aus. Wir nehmen an, von Feinden umzingelt

zu sein, auch wenn es objektiv so nicht

ist. Das kann jeden treffen, überall, und dann

sind das nicht nur Worte. Wir diskutieren

nicht, dass Menschen verfolgt werden, das ist

ein Fakt – aber nur ein Aspekt. Wer überhaupt

niemanden gegen sich hat? Es sollte uns die

gleiche Sorge bereiten, wie ein von Feinden

in die Enge getriebener Mensch. Mobbing,

politisch verfolgt; hier wird weniger erörtert,

wie groß die reale Bedrohung ist, sondern in

wie weit wir unser Übel selbst fantasievoll

erschaffen. Als Künstler fühle ich mich durchaus

berufen, dazu Stellung zu beziehen. (Ich

habe Fantasie).

Ein Trauma ist eine wiederholte Kränkung,

die seit der Kindheit ihre eigene Logik entwickelt.

Die Ursache psychischer Instabilität.

Wir müssen in der Abhängigkeit einen verlässlichen

Rahmen bekommen, dass wir ihn

als Erwachsene sehen können, wenn die Eltern

uns nicht mehr an die Hand nehmen und

dieser Rahmen nach Tag und Ort ein neues

Gesicht trägt: das Gesicht der Fremden. Niemand

geht vorbei, der nicht irgendwie schaut,

als wären da Gedanken, die ihn gerade antreiben.

Leicht ist es anderen zu trauen, Empathie

zu empfinden, wenn sie Fremde sind.

Enttäuschend sind die, denen wir vertrauten

und von denen wir uns im Stich gelassen

fühlen. Insofern können wir nur bei uns

selbst anfangen. Wer fiel noch nicht herein,

was erwartest du denn? Das Selbstvertrauen

kann nur dort beginnen, wo unsre Hand

sich rührt, unser Fuß einen Schritt setzt und

unser Gehirn eine Richtung kreiert, in die es

gehen soll. Wie ich’s mache, darüber kann ich

verfügen. Warum ich lebe? Denken Sie sich

eine Zahl.

Nun bist du Opfer, und du schreist: warum?

Oder Mörder und fragst dich auch: Ich habe

es getan, warum? Ich möchte mich der Antwort

annähern. Meine Frage ist die nach Verantwortung

und Verwechslung der Schuld.

„Sie hätten“, sagt die Richterin und zeigt auf,

wo der Beschuldigte hätte innehalten können.

Es nicht tun. Noch einmal zur Besinnung

kommen. Ein Raunen im Saal. Der Angeklagte

verbirgt sein Gesicht, schweigt.

Was weißt du schon, mag er denken.

Mein Vater ging, als er alt war, auch nicht

mehr wählen. „Du kennst die Merkel doch gar

nicht“, habe ich gesagt, „was hat sie dir getan?“

Er machte die Politik dafür verantwortlich,

dass die Dinge, die ihm früher gefallen

hatten nicht ihm zuliebe geblieben waren.

Das war so pauschal, dass man es nicht ernst

nehmen konnte. Was geht in uns vor, wenn

wir pauschal werden? Da ist doch eigentlich

ein Unterschied: Es fängt an zu regnen, unabänderlich

hinzunehmen – oder der Nachbar

baut über die Grenze, dagegen können wir

etwas tun. Ich spanne einen Regenschirm auf,

bleibe trocken. Es regnet weiter, trotzdem.

Der Nachbar bricht eine Regel, und ich ändere

den Nachbarn per Anwaltschreiben, das geht.

Der Unterschied: Einen anderen Menschen

kann ich zwingen, bezwingen. Die Natur kann

ich mir vom Leibe halten, das ist aber etwas

anderes. Gegen den Nachbarn hilft, wir haben

Gesetze gemacht. Ein angebrülltes Gewitter?

Hau ab, du Scheiß Regen! Was ist in

meiner Verantwortung? Jedes Kind lernt, bis

es erwachsen ist. So wird dem Erwachsenen

Schuldfähigkeit bescheinigt, wenn er bei Verstand

war, als er schlug, raubte, tötete. Wenn

diese Logik umgekehrt als Theorie angewendet

würde, könnten wir postulieren:

Wer die Umgebung für seine Tat beschuldigt

ist krank.

Wenn es einfach ist, eine Formel wie die bekannte

von Albert Einstein, so eine Art gültige

Antwort, wie die im Anhalter oder „dreiundzwanzig“

(in meinem Fall), dann bleibt

das Problem, die Theorie anzuwenden. Wenn

der Gesunde (als Erkennungszeichen seiner

Gesundheit) Verantwortung übernimmt für

jeden Schritt, jeden Tritt und Schlag, jede

Bewegung, der Kranke hingegen anderen die

Schuld gibt für seine Aktionen, können wir

Krankheit klar erkennen und von Gesundheit

unterscheiden wie schwarz von weiß.

„Ich suche mich!“, hat Hopper (schon beinahe

zornig) gesagt, wiederholt zum Bild „Leeres

Zimmer“ gefragt, was er damit wohl bezweckt

habe? Kurz mal weit weg.

Aus dem Zimmer gehen?

Wenn es einfach wäre mit

der Verantwortung, niemand

würde fluchen, wenn ein

Brötchen auf die Butterseite

fällt. Hopper wollte dem

allgegenwärtigen Zweck

seine Perfektion entgegensetzen.

Das ist durch viele

Textstellen belegt. Perfektion

wird von Psychologen

oft negativ bewertet, aber

nicht nur Sportler, eben

auch viele Künstler sind geradezu

besessen davon. Im

zweckgebundenen Arbeiten

mit Kollegen in einer Firma

kann es schwierig werden,

im Fußball bist du Teil eines

Teams – das ist aber immerhin ein Spiel.

Musiker spielen: „Heute abend arbeitet Herr

Soundso auf dem Saxophon für Sie, meine

Damen und Herren, viel Spaß?!“

Sonnenlicht in einem Zimmer, auf dem oberen

Geschoss eines Hauses? Das hinzubekommen,

war ein Ideal von Edward Hopper.

Er schuf eine amerikanische Kunst, wie Louis

Armstrong eine neue Musik begründete. Es

gibt Künstler, deren Namen mit dem Wendepunkt

der kulturellen Geschichte untrennbar

verbunden sind. Sie werden unsere Vorbilder.

Die traditionelle Musik der sich allmählich

befreienden Sklaven wäre Lokalkolorit

in Louisiana geblieben, ohne Satchmo. Die

Szene-Malerei der amerikanische Realisten?

Besseres Abmalen der Natur; ein Handwerk.

Edward Hopper gelang es zu sehen, sichtbar

zu machen, was das „Amerikanische“ ist. Das

war neu. Hoppers ganz persönliches Kunststück:

Das Neue daran war seine Fähigkeit,

Amerika auf eine „amerikanische“ Weise zu

malen. Die anderen malten einfach nur die

Gegend ab.

Hoppers Perfektion, die er nur meistern konnte,

wenn er frei war: Zeit und Ort des Motivs,

Beginn und Abschluss der Arbeit, und z.B. die

Größe der Leinwand selbst zu bestimmen. Als

der vordringliche Zweck, die Verkaufszahlen

einer mit seinem Bild beworbenen Sache

Jan 24, 2020 - Die Antwort ist das Bild 8 [Seite 7 bis 9]


gewesen war oder seine Beschäftigung darin

bestanden hatte, fremde untalentierte Kinder

vermögender Eltern zu beschäftigen – nach

der Ausbildung hatte er, wie es an der Schule

geraten wird, Illustrationen im Auftrag gemalt

oder Unterricht gegeben – sah er seinen

Sinn, schaffend zu werden, verfehlt. Wer kann

den Mut nachempfinden und seinen Fleiß,

seine Ausdauer, bis er sich seinen Platz in der

Kunst erarbeitet hat! Ein Spiel mit

Farbe, aber eine Arbeit, dahin zu

gelangen.

Gute Tage gehen leicht, da fällt

nichts verkehrt herum. An anderen

ist es wie verhext? Ich kann mich

noch gut an eine Quincy-Folge

erinnern, eine typische Situation

die jeder nachvollziehen kann, der

schon einmal ein Plakat mit einem

Edding beschriftet hat. (Quincy ist

Gerichtsmediziner, übernimmt auch

Detektivarbeit außerhalb vom Seziertisch,

amerikanisches Serien-

Fernsehen, einige werden sich erinnern).

Der vom bekannten Schauspieler

Jack Klugmann dargestellte befragt eine

Frau, die in einem Ladengeschäft mit großer

Schaufensterscheibe arbeitet. Schnell verstehen

wir, dass sie ein wenig einfach gestrickt

ist. Sie beschreibt dem geduldigen Detektiv,

wie es an einem bestimmten Tag war, als

etwas für die Geschichte wesentliches passierte.

Sie sollte ein Schild für das Fenster

machen. Man hatte ihr einen dicken Filzstift

gegeben, einen großen Kartonbogen. Sie beschreibt

dem Gerichtsmediziner, wie sie mehrere

Pappen versaut hat und ganz verzweifelt

war, weil sie den Fehler wiederholte: Die

blöden Buchstaben, sie wollten nicht passen.

In mehreren Anläufen scheitert die Frau, weil

ein bestimmtes Wort, links von ihr begonnen,

zu lang wird, um passend zu enden. Das hat

sie nicht in den Griff bekommen, und es wird

schnell klar, dass einfache Überlegungen,

eventuell auf einem Schmierpapier vorab

zu skizzieren, ihr nicht vermittelbar sind. Die

blöden Buchstaben wollten nicht passen.

Wieder und wieder ist sie gescheitert.

In der Wiederholung des Fehlers wird uns klar,

dass die Frau einfältig oder krank ist. Mitleid

kommt auf. Trotzdem, ich zähle die Finger

und Zehen an Händen und Füßen tatsächlich

nach, wenn ich einen Menschen zeichne! Ich

beginne Schrift auf einem Schild (wenn es

Teil vom Gemälde ist) von links und! rechts,

ende in der Mitte. Ich kontrolliere, wo sich

andere Buchstaben über und unter der Zeile,

die ich gerade schreibe, befinden. Man kann

sich täuschen. Der Musiker zählt Taktschläge,

während er eine Ballade vorträgt. Wenn ich

mit Kugelschreiber zeichne, muss ich mich

konzentrieren. Je nach Tagesform gelingen

erstaunliche Zeichnungen oder eben nicht.

Fang’ am besten ganz klein an, mit dem Giebel,

sage ich mir, und dann klappt es doch

nicht. An guten Tagen sage ich mir nichts. Ich

tu’s einfach. Meine Hand gleitet über das Papier

und ich denke die ganze Zeit wie doof,

das merke ich schon, aber es ist ganz still in

meinem Kopf dabei. Vielleicht meine Definition

von Glück.

Schenefeld, 1. Oktober 2019 (überarbeitet im

Januar 2020)

Jan 24, 2020 - Die Antwort ist das Bild 9 [Seite 7 bis 9]


Kröger

Feb 3, 2020

Im Sommer 1981 habe ich meinen Realschulabschluss

gemacht. Und zwar in Wedel an der

EBS. Das ist eine Abkürzung: Ernst-Barlach-

Schule. Der berühmte Künstler wurde in Wedel

geboren. Sein Geburtshaus ist heute ein

Museum. Es steht oben am Roland, wo Wedel

sein ursprüngliches Zentrum hat. Wedel entstand

aus dem Zusammenschluss von drei

Dörfern. Schulau an der Elbe hat seinen Namen

von dem geschützten Naturhafen in der

Aumündung. Die Wedeler Au (an

der Wassermühle ein Teich) erreicht

durch flaches Marschland

die Elbe. Dort hatte seinerzeit der

unter hohen Bäumen geschützte

Liegeplatz für die Lastensegler

dazu angeregt, einen befestigten

Hafen zu bauen. Der Wind schulte

um die Bäume, das nahm ihm

die Kraft, bot den Ewern Schutz.

Auf halbem Wege von Schulau,

hoch auf die Geest nach Wedel,

lag das kleine Spitzerdorf.

Zunächst ging ich vier Jahre lang

jeden Morgen von der Bahnhofstraße,

wo unser Haus stand, rauf

in die Altstadt (die ein wenig

höher liegt) in die Grundschule.

Der Rektor hieß damals Bauer. Es ist heute

noch immer eine Schule für kleine Kinder.

Ich wurde zu früh eingeschult. Schon den

Verhältnissen im Kindergarten (in der Hafenstraße)

war ich nicht gewachsen. Jahre ständiger

Überforderung. Erst in der EBS wurde

es besser. Der Kindergarten, ich habe nur negative

Erinnerungen daran. Die Grundschule

in der Altstadt war nicht angenehm. Der

Einschulungstest enthielt die Aufgabe, eine

Zeichnung anzufertigen. Das war eigentlich

das, was ich konnte. Ich zeichnete unter den

prüfenden Augen von Herrn Bauer und meiner

Mutter einen Mann. Eine stehende Figur.

„Fehlt da nicht noch etwas?“, wollte der Rektor

wissen, als ich das Ergebnis präsentierte.

Ich dachte nach. Mir fiel auf, dass ich noch

eine Reihe Knöpfe auf den Pullover malen

konnte. Ich zeichnete behutsam drei oder vier

schwarze Punkte senkrecht übereinander auf

den Leib, als wäre das eine Strickjacke: „Knöpfe“,

sagte ich, „jetzt ist es aber fertig.“ Sie waren

nicht zufrieden. Meine Mutter, der Rektor

Herr Bauer: Sie schauten so, dass ich etwas

merken sollte, das begriff ich. Es war unangenehm.

Sie hofften, dass ich von selbst darauf

kommen würde. Da war etwas falsch an meiner

Zeichnung, aber sie sagten nicht was? Sie

fingen an zu drängen, und dann sagte meine

Mutter oder der Rektor, dass ich die Arme vergessen

hätte: Es stimmte! Ich erinnere mich

genau, wie es sich angefühlt hat, als ich das

begriff. Ich hatte es nicht bemerkt.

Ich fügte die gewünschten Arme noch an, und

bald begann die erste Klasse in der Altstadt.

Ich war gerade sechs Jahre alt geworden und

das jüngste Kind. Die Einschulung war im

Sommer, und ich habe Ende August Geburtstag.

Wechselnde Lehrer, Schulstress, keinen

wirklichen Freund habe ich in vier harten

Jahren in dieser Klasse gefunden. Kapitalversagen

in „Rechnen“ (so hieß das damals noch)

– war das Resultat dieser Grundschule. Dass

ich später mal zwei Jahre lang anschließend

der Realschule auf dem Weg zum Fachabitur

immer eine „eins“ in Mathe haben würde,

hätte niemand erwartet. Im Segelschein-Kurs

bei Fiete in Blankenese gab ich den Mädels

Nachhilfe in Navigation. Aber mit dem

Wechselgeld beim Bäcker und überhaupt

beim Kopfrechnen, habe ich bis heute Mühe.

Schwimmunterricht war der Horror selbst.

Das fiel auch in diese Zeit. Ich schluckte Wasser

ohne Ende. Ich fror, weil ich so dünn war,

ständig. Wenn ich konnte, versteckte ich mich

Ewigkeiten auf der Toilette. Der Mathelehrer

schikanierte mich, bis nichts mehr ging.

Meine Mutter übte das Einmaleins mit mir,

wenn wir am Wochenende segeln waren, bis

überhaupt gar nichts mehr ging. Mein Vater

nötigte mich, ich müsse einen Freund in der

Schule finden, man hätte einen – sonst wäre

etwas falsch. Ich zwang mich dazu, Roland

hieß der glaube ich, deswegen zu fragen.

Aber es wurde nicht recht was draus. Dann

setzte meine Mutter gegen die Empfehlung

durch, dass ich am Gymnasium bei Donnhauser

eingeschult wurde. Nach nur einem

Jahr ging ich mit drei fünfen ab und begann

schräg versetzt und sitzen geblieben erneut

eine fünfte Klasse an der EBS.

Nach nicht allzu langer Zeit kam Steffen

auch in die „e“ zu uns, der war schon mit mir

in der Klasse am Rist gewesen. Mit Steffen,

Lenzus, Holger (der schon gestorben ist) und

Jens gelangen dann gute Realschuljahre. Wir

sehen uns heute nie. Wir passen nicht mehr

zusammen, wie damals in der Schule, und

Jens hat unsere Gruppe dominiert. Ich habe

aber wunderbare Zeit auf dem Bauernhof der

Eltern verbracht und vor nicht so langer Zeit

habe ich meinen alten Schulfreund getroffen.

Wir waren ausgiebig griechisch essen, und

das war wirklich fein. Jens ist Bauer und Banker,

und irgendwie war sich zu treffen besser

als früher. Er hat sich nicht verändert, ist

stark und selbstbewusst. Ein wenig frech, ein

handfester Kumpel – wie damals – aber ich,

ich bin heute anders. Ich habe Sven getroffen,

bei Bäckerei-Junge. Man kann direkt am

Strom der vorbei gehenden Menschen sitzen.

„Ich habe meinen Weg gemacht“, sagte er –

das glaube ich ihm aufs Wort. In der Schule

sah es nicht danach aus. Ich bin Maren begegnet,

das ist schon länger her, und sie hat

den Kopf weggedreht, als wüsste sie nicht.

Ich habe Stefan auf dem Fahrrad gesehen,

oft, man kennt sich in Wedel. Der kennt mich

auch nicht? (Ich bin nie zu Klassentreffen gegangen).

Trotzdem, die Realschule war gar nicht mal

so schlecht: Ich hatte Freunde. Natürlich waren

diese Zeiten nicht unproblematisch. Den

typischen körperlichen und psychischen Entwicklungen

vom Kind über die Jugend zum

Erwachsenen folgte ich bei weitem nicht so

gut strukturiert, wie es hätte sein können.

Niemand hat das bemerkt. Ich schreibe wegen

Gerd Kröger. Das muss ich einfach tun. Es

ist so lange her, und ich muss daran erinnern,

dass dieser Lehrer gut war.

Wir hatten (Name geändert), Schwarze und

Kröger. Mit (Name geändert) war es Mist, ein

Lehrer der dem Amt des Klassenlehrers nicht

gewachsen war. Meine Mutter erlaubte ihm,

mich im Falle von Ungehorsam zu ohrfeigen,

und er hat das tatsächlich einmal getan. Im

Sportunterricht, ich erinnere mich genau,

weil es so peinlich war. Ich fand das sogar

gut, weil ich meiner Mutter in allem Recht

gegeben habe. Die Eltern der anderen Kinder

begriffen schnell, was zu tun sei, diesen unfähigen

Mann loszuwerden und mobbten den

Klassenlehrer nach Kräften. Meine Mutter

versagte auf allen Positionen, in der Rolle der

vermittelnden Elternsprecherin und als Mutter

sowieso. Das ist leider nicht zu ändern.

Meine Mutter korrigierte die Vergangenheit

ständig. Die Szene mit der Einschulung und

den vergessenen Armen in der Testzeichnung

erinnere ich so plastisch; aber meine Mutter

hat später immer versucht, mich davon zu

überzeugen, es stimme nicht, was ich erzähle

und die Arme hätte ich nicht vergessen. Und

dass die anderen Kinder älter und kräftiger

waren? Ich selbst hätte es gewollt, mit dem

Nachbarkind Mark zur gleichen Zeit eingeschult

zu werden, und es gäbe ja auch das

Gesetz, wann ein Kind zur Schule müsse. Ich

habe nur diese eine Mutter und liebte sie natürlich;

wie ich sie gleichwohl beschuldigte

für ihre Fehler. Sie ist tot und möge den Frieden

finden, den ich weiter suche.

Von (Name geändert) hieß es, er wäre später

mit einem Auto suizidal in die Elbe gefahren,

keine Ahnung, ob das stimmt. Thomas

Schwarze war ein feiner Lehrer, der wurde auf

der Welle euphorischer Eltern nach vorn an

die Stelle des Klassenlehrers bugsiert, und es

gab Gartenpartys bei den Eltern der hübschen

Inga zum Beispiel. Die hatten einen orangen

Hüpfball zum drauf sitzen für Kinder mit einem

Teufelsgesicht und Hörnern zum festhalten.

Jemand hatte „Herr (Name geändert)“ mit

Edding auf den dicken Leib geschrieben. Wir

hüpften durch das Gras, während die Eltern

grillten. Meine Mutter gehörte nicht dazu. Sie

saß zwischen allen Stühlen der Netzwerker

und verstand es nicht.

Mit Schwarze begann ich die Klassenzeitung,

wir hatten einen Umdrucker im Keller

der EBS. Dieser sympathische Lehrer verließ

die Schule und Wedel. Weit, bis ganz nach

Konstanz, ist er fortgezogen. Keine Ahnung,

warum das nötig war. Ich habe dem noch

geschrieben und er auch zurück. Es tat gut,

endlich respektiert zu werden. Er unterrichtete

Deutsch. Ich schrieb gute Aufsätze. Ich

kreierte die Klassenzeitung, das war eine

Verbesserung. Dann wurde Gerhard Kröger

unser Klassenlehrer, und dabei blieb es

bis zum Ende. Das war nicht nur ein guter

Deutschlehrer, er kam mit der Klasse zurecht.

Es war dieser Kunstlehrer, dem ich eigentlich

alles verdanke, was ich schließlich noch aus

meinem Leben machen konnte, als die Sache

nach dem Abschluss des Studiums ziemlich

in die Binsen ging.

Kröger und ich sahen uns, nachdem ich die

Realschule geschafft hatte, noch regelmäßig.

Mein ehemaliger Lehrer wohnte im Zentrum

von Wedel. Er war mit vielen künstlerischund

kulturell Interessierten befreundet. Ich

Feb 3, 2020 - Kröger 10 [Seite 10 bis 12]


sagte später „Du“ zu ihm und war stolz darauf.

Dieser Kunstlehrer konnte selbst sehr

gut zeichnen und aquarellierte gekonnt. Ich

genoss es, von ihm gemocht zu werden. Ich

malte im Kunstunterricht im Stehen und

wurde für mein Einschleimen beim Lehrer

angefeindet. Ich stand aber, weil man aus

der Distanz das Bild besser beurteilen kann.

Wir machten auch Tages-Ausflüge mit der

Schulklasse: Am Ufer der Este im Gras sitzend,

zeichneten mein Lehrer und ich Seite

an Seite die gegenüber idyllisch gelegene

verschrobene Werft in unsere kleinen Skizzenblöcke

und verglichen anschließend, wer

es besser hinbekommen hatte.

Einmal fuhren wir mit dem Fahrrad alle nach

Hetlingen und lagen eine Stunde am Strand

herum. Wir zogen uns einigermaßen sommerlich

und elbstrandgemäß um. Kröger präsentierte

sich in einer überraschend knalligen

und extra glänzenden, orangen Badehose.

Ein Klassenlehrer so privat, die Mädchen

machten sich lustig, er habe keine Muskeln

und tuschelten Sachen, die ich gar nicht verstanden

habe. Wir waren in der Pubertät, aber

bei mir fand die gar nicht statt. Ich vermute,

dass mein Lehrer Männer liebte, und das war

zu der Zeit noch viel weniger normal. Später

wurde immer sonst was angedeutet, und ich

habe alles von mir abgehalten. Ich verdanke

diesem Mann so unendlich viel. Persönliche

Anerkennung als kreativer und aufgeweckter

Schüler, das hatte es vorher nicht gegeben.

Kröger unterstützte meine Versuche, ein

Praktikum bei Markenfilm zu machen. Das

gelang und wurde mein Weg in die grafische

Ausbildung.

Die große Abschlussklassenreise, mit Gerd

Kröger und weiteren Lehrern nach Ipswich:

Wir fuhren mit dem Hamlet über die Nordsee!

Ich tanzte bei starkem Seegang unter

Deck mit den anderen in der Schiffsdisko. Die

hatte zwei Säulen in der Mitte der kleinen

Tanzfläche, und wenn das Schiff überholte,

hielten wir uns daran fest. Ich trank Whisky-

Cola. In Ipswich habe ich den zweiten Star-

Wars-Film gesehen. Der war brandneu. Ich

habe wenig verstanden, bis heute nicht gut

Englisch gelernt. Steffen und ich wohnten

außerhalb, mussten gelegentlich auf Little

Justin aufpassen, ein kleines Kind. Ich erinnere

mich, dass wir mit unseren Gasteltern eine

Fabrikhalle besuchten. Darin stand ein riesiger

Bagger, möglicherweise zur Reparatur.

Das war dort, wo unser Gastpapa arbeitete.

Die Klassenfahrt dauerte so zehn Tage und es

gab viele Ausflüge, auch nach London.

Wir ruderten mit Mietbooten. Eine Parkanlage

im grünen englischen Rasen, und ein

Schüler hatte eine Super-8-Kamera dabei. Es

gab eine ausufernde Wasserschlacht. Einige

wollten filmen, weil es damals ungewöhnlich

war. Auch ich bekam die Kamera für einen

Moment. Wieder zurück in Wedel, schauten

wir mit der ganzen Klasse die

Aufnahmen an. Natürlich wurde

kommentiert, wer jeweils was

gut festgehalten hatte. Meine

kurze Sequenz war für die

anderen kaum von Interesse,

angesichts der lustigen Ruderund

Badestunde. Ein Tag voll

mit Aktion: Ein Boot war gekentert!

Schüler hatten wie doof

andere mit Wasser bespritzt,

und einige waren baden gegangen.

Ich hatte einen langsamen

Schwenk über die gesamte

Szenerie beigesteuert. Das war

professionell gefilmt. Langsam,

gleichmäßig und nicht verwackelt,

hatte ich mit ungeübter

Hand dennoch einen gekonnten

Bogen durch die englische Natur und das

muntere Treiben gezogen. Unser Lehrer lobte

genau das. Respekt? Das hat mir in diesem

Moment nicht genützt, im Gegenteil. Es ist

nicht gut, der Lieblingsschüler zu sein. Es hat

aber meine Liebe zum Film mitbegründet,

und es ist ein Jammer, dass ich heute, was Filme

betrifft, so grundsätzlich frustriert bin. Ich

ertrage die romantische Liebe im Film nicht!

Wenn die Produktionen gut sind, die Charaktere

faszinierend, ist es am Schlimmsten.

Vor kurzem lief „Zirkus“ von Chaplin im Fernsehen.

Das traf mitten ins Herz: Die wunderbare

Sequenz am Ende, wo der Tramp allein

im Rund der Manege zurückbleibt, die sich

noch im verlassenen Grasplatz abzeichnet!

Ein milchiges Licht des Spätnachmittages

über niedrigen Büschen rahmt die Szene ein.

Im Hintergrund ist fern die Silhouette der

Stadt erkennbar. Wie der ganze Tross staubend

abrauscht, ist so unglaublich gelungen!

Stummfilm, in schwarz-weiß gedreht. Und

man ist als Zuschauer

dabei, als wäre es

gerade heute im Hier

und Jetzt. Der Zirkus

macht sich auf den

Weg! Alte schaukelnde

Kästen sind diese

Wohnwagen, schnaubende

Pferde ziehen

an. Die vielen Darsteller,

mit Krempel

und Hausstand des

täglichen Lebens als

fahrendes Volk, reihen

sich in die Spur

ein. Große Wagenräder,

mit ihren hölzernen

Speichen, malen

neue Furchen wie Eisenbahnwege

noch tiefer in den Boden. Trüb

vom aufgewirbelten Sandnebel ist das Licht,

wenn kurz die Sonne in einer Lücke zwischen

den altertümlichen Fahrzeugen blendet.

Habe ich dies wirklich gesehen oder erinnere

mehr dazu? Wie im Buch, wenn der Autor nur

andeutet: Ein Artist sitzt, in Gedanken versunken,

ganz hinten auf seinem Gefährt, lässt

die Beine baumeln, muss selbst nicht lenken.

Er wird im Ruck der anziehenden Gäule, den

Blick rückwärts gewandt, durch die Szene

befördert – und ein Eimer (zum Pinkeln?)

schaukelt lustig herum, unter der Plattform

angebunden. Wagen für Wagen rollt der zum

neuen Spielort aufgebrochene Zirkus durch

das Bild! Die Kamera fängt viele Details ein.

Einige kurze Schnitte komprimieren das behäbige

Tempo der alten Kutschen und verstärken

den Effekt, wir wären selbst mitten

drin im Geschehen.

Und dann bleibt Charles allein zurück: The

End.

Die allerwunderbarste Szene, die man sich

vorstellen kann! Ich habe wieder daran denken

müssen, wie sehr ich die Kunst, etwas gut

und berührend darzustellen, einmal geliebt

habe – und immer allein geblieben bin, mit

diesen Empfindungen – wer sieht heute noch

Chaplin?

Kröger war in Schleswig-Holstein aufgewachsen,

im Norden, vielleicht in Husum? Er

liebte Nolde und aquarellierte ebenfalls. Wir

sollten Schneebilder machen. „Das ist ganz

einfach“, sagte der Kunstlehrer: „Ihr braucht

kein Deckweiß dafür. Wo Schnee im Bild ist,

macht ihr nichts. Das Papier ist ja weiß.“ Wir

zeichneten mit Sepia Knicklandschaften hinein.

Das ging so: Wir bereiteten eine imaginäre

Ackergegend vor, indem wir einige

bläuliche Schlieren quer hin aquarellierten,

das sollten Schatten sein. Wenn wir dann

einen Knick mit Gebüsch und Bäumen wollten,

nutzen wir die Feuchtigkeit, die noch im

Blatt war oder zogen mit Wasser einen Streifen

in das Papierweiß. Dann setzen wir die

mit Sepia gut gefüllte Zeichenfeder an und

platzierten die Spitze in die feuchte Stelle:

Ein ausufernder brauner Fleck wuchs wie ein

Busch von selbst im Bild, wenn das dunkle

Braun mit dem Wasser in Berührung kam.

Dunkler Himmel macht es „schnee-iger“,

meinte Kröger. Ich habe noch eines der Aquarelle

aus dieser Zeit und kann hier verraten,

dass die schöne Wolke oben im Bild mit sicherer

Hand vom Lehrer hineingesetzt wurde.

Ich war verzweifelt. Mir gefiel mein Bild,

mit dem an einer kompositorisch günstigen

Stelle platzierten Baum, gar nicht. Ich traute

mich nicht an den Himmel ran. Kröger nahm

den Marderhaar-Aquarell-Pinsel, den ich mir

gegönnt hatte, in die Hand. Der Pinsel: fett,

aber mit feiner Spitze, wie es sein soll. Ich

hatte ihn bei Jutta Schwartau gekauft, im

Schreibwaren- und Spielzeuggeschäft nebenan,

wo mein Taschengeld blieb und ich

Stammkunde war. Mein guter Lehrer erkannte

die Möglichkeit, mit leichter Hand das Bild zu

retten. Er mischte im Seitenfach des Tuschkastens

ein farbiges Grau an, fragte (nur mit

den Augen), ob er mir ins Bild hineinmalen

dürfe? Er hat es einfach gemacht, und dann

sah es so toll aus!

Feb 3, 2020 - Kröger 11 [Seite 10 bis 12]


Es gab einen Malwettbewerb: „So schön ist

Wedel“ oder ähnlich, von der Dresdner-Bank

und einigen Wedeler Kunstbeflissenen. Ich

malte das Fährhaus (Willkomm-Höft) und

reichte das Bild ein. Das hing dann mehrere

Wochen im Fenster der Filiale. Alle, die es

dort gesehen hatten, sagten zu meinem Vater:

„Toll, ihr Sohn hat bestimmt gewonnen.“

Nein, es gab nur einen Trostpreis für mich.

Gewonnen hatte ein Mädchen vom Gymnasium.

Der Vater war Lehrer. Mein Vater war

empört. Warum denn gerade mein Bild so

lang im Fenster hing? Das hätten die Bankleute

vor Ort entschieden (weil es so plakativ

war). Bewertet für den Preis, hatte eine kunstverständige

Jury. Nicht die Geldleute aus der

Filiale. Lehrer und Hobby-Kreative der kulturellen

Szene aus Schulen und Kunstvereinen

bewerten, was Kunst ist. Bankmitarbeiter

wissen, was wirkt.

Kröger hat es mir gesteckt: „Sie haben gesagt,

du hättest einen Bildwerfer genommen, aber

ich weiß ja, dass du alles zeichnen kannst. Sie

haben mir nicht geglaubt. Sie haben gesagt,

du hättest eine Postkarte in einen Bildwerfer

eingelegt und abgepaust und dann mit Pelikan

ausgemalt. Das wäre keine Kunst, so etwa

wie gemogelt.“ Ich habe es seinerzeit nicht

zugegeben; wir hatten einen „Paximat“, mit

dem mein Vater Plakate für den Laden pauste,

ja – ich hatte einen Bildwerfer genommen.

Das habe ich meinem lieben Kunstlehrer nie

verraten!

:)

Feb 3, 2020 - Kröger 12 [Seite 10 bis 12]


Aber genützt hat’s ihm nix …

Feb 8, 2020

„Mach’ dich nützlich“, gibt Ziehvater Wilbur

Larch seinem Sprössling Homer mit auf den

Weg, warum? „Gottes Werk und Teufels Beitrag“,

ein bekanntes Buch von John Irving.

Der einzelne nutzt dem System. Beziehungen

werden belastet, wenn ein Partner sich

nicht wie gewünscht für den gemeinsamen

Zweck engagiert. Teamfähigkeit: Ein Mitglied

mit mangelnder Bereitschaft zur Zusammenarbeit

behindert die Gruppe. Die Familie,

Kollegen, Freunde – eine Hand wäscht die

andere, heißt es. Ein Mitarbeiter erfüllt seine

Aufgabe. Nur vom Arzt bestätigte Krankheit

oder geregelter Urlaub erlauben längere

Unterbrechung zweckgebundener Tätigkeit.

Kurze Pausen werden von Chef und Kollegen

aufmerksam registriert. Die gegenseitig geforderte

Leistung kann dazu führen, die Aufgabe

über die Gesundheit zu stellen. Es stellt

sich die Frage, wie frei und unabhängig wir

uns dabei selbst nutzen können und ob das

Wort so noch Sinn macht. Wie viel bleibt von

mir, wenn ich mich dem Projekt unterordne?

Wer in der Gastronomie arbeitet, geht nie

„leer“ durch die Gaststube. Auf dem Weg zur

Küche nimmt die Servierkraft benutzte Gläser

und Teller von den Tischen mit, nachdem bei

den hungrigen Gästen das Essen serviert wurde.

In jeder Branche: Zeit ist Geld. Aus einer

Arbeit wird durch ihren Bezug zur benötigten

Zeit eine Leistung. Der Wettbewerb schafft

das nötige Wirtschaftswachstum. Wenn die

Wirtschaft nicht wächst, bricht unser System

zusammen. Kreativität ist gefragt, weil die

Geschäftsstrukturen zwingend immer weiter

optimiert werden müssen. Das Modewort

„Entschleunigung“ skizziert nur scheinbar ein

neues Problem. Wir müssen schneller werden,

damit wir wirtschaftlich wachsen. So wurde

das Rad erfunden. Der Kutscher gammelt auf

seinem Bock herum, doch die angespannten

Pferde beschleunigen ihn mehr, als den konkurrierenden

Nachbarn, der noch auf Schusters

Rappen unterwegs ist. Die Schwierigkeit,

eine Produktion weiter steigern zu können,

wird durch die menschliche Arbeitskraft begrenzt:

Die unteilbare und nicht erweiterbare

kleinste Einheit im System. Deswegen erfinden

wir neue Maschinen, neue Firmenstrukturen.

Wir schulen Mitarbeiter, versuchen sie

zu optimieren oder wir vereinfachen Abläufe,

um austauschbare, wenig qualifizierte Angestellte,

bei niedrigem Lohn einsetzen zu

können.

Als ich zu illustrieren lernte, zeichnete ich

ein großes Segelschiff, das hoch auf einem

Werftgelände an Land gezogen stand. Ich erfand

einige Arbeiter im Vordergrund. Aus der

entfernten Ansicht meiner Zeichnung hatte

das ganze Schiff Platz. Die Menschen stellten

nur kleine Elemente dar, die das Bild mit

Leben füllen sollten. „Die müssen alle etwas

machen“, meinte Uwe Jarchow zu mir. Ich war

im Praktikum bei ihm, etwa zu der Zeit, als ich

mein Studium begonnen habe. Die Arbeiter

auf der Werft sollten arbeiten, und ich musste

lernen, es glaubwürdig hinzubekommen.

Es gab keine Vorlage dafür. Arbeiter? Einer

sägt ein Brett durch, das auf zwei Böcken

liegt. Jemand trägt eine Leiter. Niemand steht

„nutzlos“ rum.

Rentner leiden darunter, „nicht gebraucht“

zu werden. Sie waren es gewohnt, etwas zu

leisten und die Anerkennung dafür selbstverständlich

anzunehmen. Den Sinn ihres

Lebens hinterfragten sie nicht, solange sie im

Beruf waren, Ernährer der Familie. Für einige

steht der Nutzen ihrer Tätigkeit über der natürlichen

Selbstverständlichkeit ihres Seins.

„Ist das Leben eigentlich ein Zweck?“ (oder

jemandes Fehler) – fragt Verhaltenstrainer

Moshe Feldenkrais einmal und bringt dieses

Beispiel: Eine Uhr bleibt eine Uhr, auch wenn

sie nicht mehr geht. Eine stehen gebliebene

Uhr verfehlt ihren Zweck. Sie zeigt nicht mehr

an, wie spät es ist. Aber sie ist immer noch

eine Uhr. Nachdenklich: Das Leben wird wohl

nur durch etwas erklärt werden können, das

nicht auf Kausalität beruht, meinte er.

Moshe war ausgebildeter Physiker und hervorragender

Mathematiker. Er beherrschte

das Judo so gut, dass er als erster Europäer

einen „Schwarzen Gürtel“ tragen durfte, heißt

es – bevor er Menschen darin unterrichtet

hat, sich gesünder zu bewegen. Eine Uhr lebt

ja nicht. Eine stehen gebliebene Uhr ist nicht

tot, sie ist einfach nur kaputt. Keine große Sache.

Feldenkrais schrieb seine Überlegungen

auf, lange bevor das „Burnout“ als Krankheit

benannt wurde. Als dieser Begriff neu war,

mahnten einige, man solle doch die Kirche

im Dorf lassen: Ein anderer Name für „Depression“

sei Augenwischerei.

Über den Nutzen nachzudenken, führt unweigerlich

dazu, über Beziehungen nachzudenken,

über Werte. Wenn ich auf dem Wochenmarkt

unterwegs bin (ich möchte Äpfel

einkaufen), werde ich zunächst den von mir

bevorzugten Obsthändler aufsuchen. Meistens

gibt es mehrere Stände, die mit Obst

und Gemüse handeln, auf einem Markt. Nun

treffe ich noch die Entscheidung, eine bestimmte

Sorte auszuwählen, und schließlich

die benötigte Menge. Dann ziehe ich das

Portemonnaie hervor und tausche mein Geld

gegen die Äpfel ein. Wir haben eine Kurzeitbeziehung

zum Verkäufer, ein Vertragsverhältnis.

Wenn auch der Kauf unspektakulär

abgewickelt wird – schließlich geht es um

den Wert, den diese Ware darstellt und den

Nutzen, den sie für mich hat. Für ein gutes Ergebnis

werde ich mir meiner Auswahlfähigkeit

bewusst. Der Kauf kommt erst zustande,

nachdem ich eine persönliche Entscheidung

getroffen habe.

Dazu fällt mir noch eine Anekdote ein. Als ich

zusammen mit einem (vermögenden) Freund

auf seiner Yacht mehrere Monate in der Karibik

segelte, gab der mir diesen Tipp mit auf

den Weg: „Wenn du in Blankenese etwas kochen

willst, kannst du dir eine Liste machen.

Dann gehst du in den Laden und kaufst die

Sachen nach Rezept ein. Wieder zu Hause,

kochst du das Essen genau nach deinem Plan

– oder wie es das Kochbuch empfiehlt. Wenn

du in Road Town (Tortola, Virgin Islands) in

den Supermarkt gehst, musst du es anders

machen. Du nimmst, was ansprechend aussieht.

Du entwirfst die Idee, was du daraus

zubereiten könntest am Besten gleich im

Laden; damit du eine spontane Kreation entsprechend

weiterer Bestände (an Bord oder

im Geschäft) noch ergänzen kannst.“

Nicht alle Menschen können wählen, und

das nicht nur bezogen auf die Politik. Da sind

wohl einige, die müssen es nehmen, wie’s

kommt. Unsere moderne Welt ermöglicht

untypischen (durch fatale Gene oder Autounfall

oder sonst was demolierten) Wesen ein

weitgehend selbstständiges Existieren. Wir

sehen sie im Einkaufszentrum. Sie steuern einen

hochkomplizierten Apparat, der mit dem

Wort Rollstuhl nur unvollkommen bezeichnet

ist. Wir begegnen auch Tag für Tag Gestalten,

die psychisch auffällig sind, aber sie stören

nicht. Wie Geister, sind sie Teil des Alltags im

Straßenbild, und wir gehen ihnen aus dem

Weg. Auf jeden Topf passe ein Deckel?

Für manche klingt dieser Spruch wie Hohn,

angesichts der tollen (unerreichbaren) Deckel

links und rechts.

Ich habe einer Bekannten gestanden, dass

ich mir den Playboy mit Laura Müller noch

am Erscheinungstag gekauft habe. Das ist die

Freundin vom Michael Wendler, und einige

kennen den gar nicht. Dann habe ich Laura

mit Greta Thunberg in einem Satz genannt

und behauptet, die beiden jungen Frauen

nutzten sich selbst direkt, als wären sie eine

Ware im Laden. Meine Freundin ist Pastorin.

Ich war frech genug, unseren Herrn Jesus zu

zitieren: „Sehet die Vögel unter dem Himmel

an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln

nicht in die Scheunen; und euer himmlischer

Vater nährt sie doch.“ Ich habe zur Diskussion

gestellt, die modernen Plattformen

YouTube, Instagram oder Twitter könnten es

möglich machen, direkt, wie an „Speakers

Corner“ (in London), das Interesse einer breiten

Öffentlichkeit zu gewinnen und über den

Bekanntheitsgrad schließlich Einnahmen

durch Werbung oder neuen, sich ergebenden

Beziehungen, zu erzielen. Eine Fähigkeit Fußball

„wie Ronaldo“ spielen zu können, sei dazu

nicht nötig. Das hat bei meiner Freundin Kritik

hervorgerufen (möglicherweise weil ich

dreist genug gewesen bin, Greta und Laura

in einem Satz zu nennen), ein Mensch wäre

doch hoffentlich mehr als nur eine Ware!

„Aber genützt hat’s ihm nix“, kommentieren

die drei Bier trinkenden Nordlichter in der

Werbung trocken, nachdem sie den sprachgewandten

Stadtmensch auf der Suche nach

guter Küste für sich und das Mädchen haben

abblitzen lassen. Sie verteidigen ihre einfältige,

dröge Tradition. Wir lachen gern darüber.

Wenn wir „Generation Praktikum“ sind,

Menschen, die nach jahrelanger Ausbildung

befristet jobben müssen? Selbstbewusstsein

und gutes Performen schlägt das trockene

Wissen um die Fakten und gibt die Richtung

vor. Nicht jeder und jede von uns kann Menschen

in den Bann ziehen, das stimmt. „Wir

sollen in Panik geraten!“, mahnt Greta Thunberg,

und ich höre mir das an. Ich schaue ihr

in das von Wut oder Angst verzerrte Gesicht

– glaube ihr mehr als Luisa Neubauer, der

„deutschen“ Greta; das ist Persönlichkeit.

Greta ist die Wahrheit selbst: Ihre Angst ist

real; für sie zunächst allein. Und dann sitzt

sie am Zaun ihrer Schule. Das kann ihr niemand

nachmachen, mit dieser Wirkung – wie

geht das?

Da wir nun schon so viele Jahrhunderte lang

auf das Geld als Mittler zwischen uns Menschen

angewiesen sind, müssen wir realistisch

sein! Niemand geht in den Wald und

versorgt sich mit Fellen zur Kleidung und

Nahrung selbst. Bei der Frage, ob ein Mensch

sich dem Konsum prostituiert, sollten wir

ehrlicherweise schauen, bei wem der Nutzen

ist? Vielleicht fehlt uns auch nur das richtige

Wort, wir vergleichen Äpfel mit Birnen; Menschen

– auch Sex gegen Geld ist menschlich.

Ein Leben auf der Plattform ist selbstbestimmter,

als kommentierend mitzulaufen. Da

sind junge Moralistinnen nicht besser dran.

Zur Weltrettung taugt es nicht, wenn ein Um-

Feb 8, Aber genützt hat’s ihm nix ... 13 [Seite 13 bis 14]


weltpreis an die bravste Klassensprecherin

geht. Mit der Erkenntnis der Wissenschaft zu

polarisieren, einfach weil Thunberg sich direkt

betroffen fühlt, ruft Hass hervor – das ist

unglaublich. Gerade deswegen ist jeder Euro,

der in die „Marke“ Greta fließt, ein persönlicher

Gewinn. Und wenn Menschen

nicht einfallsreicher sind, als ihre Zeit

damit zu verbringen, über Klatsch zu

schimpfen, ist auch jede Einnahme

daraus ein vitaler Erfolg.

Die romantische Liebe, das ist auch

so ein Ding. Vor nicht all zu langer

Zeit wurde behauptet, wie einige es

seit je vermuten, sie sei nur eine Erfindung

der Literaten. Ernüchternd,

wenn es, nun wissenschaftlich belegt,

wahr wäre! Die Forscher sind auf die

Suche gegangen. Zur Zeit von Julius

Cäsar wurde schon schriftlich das

eine oder andere festgehalten, aber

zum Thema romantischer Liebe recht wenig.

Die Verbindung aus Mann und Frau hätte,

würden diese alten Dokumente als Quelle

damaliger Befindlichkeiten herangezogen, in

erster Linie praktische Aspekte. Liebesheirat?

Fehlanzeige. Das Ganze mit dem unglücklichen

Schmachten habe erst später, mit der

sich entwickelnden Romankultur, an Fahrt

aufgenommen. Und wir heute seien mit unseren

Hoffnungen das Ergebnis dieser sich

selbst prophezeienden Fake News: das da

etwas sein müsse, wo eigentlich nie etwas

war. „L-i-e-b-e“ – im Deutschen sind das fünf

Buchstaben, was heißt das schon?

Bleibt der Nutzen der Beziehung, der Wert,

den meine Partnerin für mich hat?

Bitter. Vielleicht sind wir auch einfach das

Opfer von Schrift und Wort. Als letzte Hoffnung

auf das Glück, bleibt schließlich die

Erkenntnis, dass auch Glück und Hoffnung

zunächst nur Worte sind. Und was diese bedeuten,

muss ein jeder- (und jede) ja doch für

sich selbst ganz allein herausfinden …

:)

Feb 8, Aber genützt hat’s ihm nix ... 14 [Seite 13 bis 14]


Ein Ideal ist unerreichbar

Feb 13, 2020

# Mutig gegen Extremismus?

„Macht euch die Erde untertan“, heißt es in

der Bibel. Da sind wir doch gut voran gekommen!

Man ist versucht, an die Ausbreitung

einer planetaren Erkrankung zu denken. Als

wären wir Menschen Krebszellen, die in Metropolen

verankerte Netze bilden, das Ganze

schließlich zerstören. Wirtschaftsoptimisten

sehen es anders, aber freitägliche Schülerdemos

reflektieren begründete Ängste. „Klimanotstand“

ist ein neues Wort. Sind wir in

Gefahr? Die reale Gefahr, die ich kommen

sehe: der Mann mit dem Messer vor mir, und

er sieht böse aus. Die Schlammlawine zermalmt

ein Dorf (im Fernsehen) oder einfach

ein Artikel, in dem steht, dass „es“ schlimmer

wird – die imaginäre Gefahr ist die Basis der

Angst. Wie real sind Befürchtungen, wie nah

dran ist eine Gefahr? Worte wecken dahinter

stehende Erwartungen oder Risiken. Was

ist ein „Gefährder“, ist das ein Tornado in der

Schublade? Wir schließen unseren Kopf ab.

Die Kommode auf dem dunklen Dachboden

bei Oma, und du hast dich nie getraut da rauf

zu gehen, nachzusehen. Presse und Netzgemeinde

gehen salopp mit Randfiguren um,

ordnen Menschen pauschal als extrem, krank,

gestört oder terroristisch weg. Es sind „andere“,

und die sind krank.

Besser wäre „Normalität“ als fragwürdige

Definition und ungeeignetes Instrument zur

Behandlung von Aussenseitern zu begreifen.

Da ist eine lange Linie verschiedener Lebensentwürfe:

Minimal soziale Kompetenz

an einem Ende und die idealisierte Spitze

bestmöglicher Entwicklung auf der anderen

Seite. Zwanghaft oder gelassen? Gesundheit

bedeutet auswählen können. Wesentliches

von nicht relevant unterscheiden zu können.

Die Menschen kämpfen, seit sie sich ausbreiten.

Die Tiere kämpfen auch die ganze Zeit. Zu

unterscheiden, was Mensch, was Tier ist, sind

Worte die Menschen sich ausgedacht haben.

Denken und Reden. Dass wir etwas anderes

„sind“, heißt das noch nicht. Das gibt es oft.

Wir verwenden leichthin Abstraktionen, als

wären damit Dinge gemeint. Wir sagen „Gedächtnis“,

aber deswegen ist es ja noch nicht

real. Der Mensch weiß weniger von sich, als

er meint. Worte sind Platzhalter, damit wir

uns in der intellektuellen Welt orientieren

können. Ohne Intellekt könnten wir nicht

denken. Worte ebnen den Weg dafür, Denken

einfach zu machen.

Was ist „Intellekt“ – ? Jeder hat den seinen,

aber das ist wie mit der Intelligenz: Der Test

muss zum Getesteten passen, um annähernd

brauchbar zu sein. Die Intelligenz eines Indigenen,

der abgeschnitten von der modernen

Welt im Urwald lebt, kann mit einem Test, wie

er zum Beispiel einem Schulabgänger bei der

Bewerbung vorgelegt wird, nicht erfasst werden.

Dass jemand frisch vom Studium einen

Job bekommt, ist das Ergebnis von Zielstrebigkeit,

und nur den Besten gelingt es leicht.

Es bedeutet nicht, dass ein hochtrainierter

Sprössling unserer Elite gleichermaßen im

Dschungel klar kommt, und dass ein Indigener

dumm sei, bedeutet es schon gar nicht.

Ein abstrakter Begriff kann unser Denken

widernatürlich verselbstständigen. Gegen die

Natur zu leben, bedeutet schlussendlich an

der Realität zu scheitern. Ein über das Mittelmeer

unter Lebensgefahr nach Deutschland

geflüchteter Afrikaner kann einen Linienbus

lenken, sich eine neue Existenz aufbauen.

Manche hier aufgewachsene Jugendliche

können nicht einmal im Bus mitfahren und

richtig ankommen, wo sie hin wollen, obwohl

sie die ganze Zeit auf das Handy starren.

„Das Gedächtnis des Körpers“ heißt ein Buch.

Es mahnt, dass Erinnerungen auch in den

Armen und Beinen sind und denken nicht

bedeutet, eine Festplatte zu durchstöbern

oder unser Gehirn ein Regal mit Büchern

ist. In „Schlag den Star“ bekommen wir eine

Ahnung davon, wie schwierig es ist, einen

„Besten“ zu ermitteln. Dazu kommt, die Kontrahenten

haben noch ein „echtes“ Leben

außerhalb vom TV und dem Test. Wir sind ja

nicht dabei, wenn sie morgens ihren Alltag

starten. Natürlich agieren Menschen unterschiedlich

klug. Intelligenz kann nur in Reaktion

zur Umgebung verstanden werden.

Damit spielt die individuelle Vergangenheit

eine Rolle und die Erfahrungen des einzelnen.

Intelligenz oder Gedächtnis sind untrennbar

von der Person. Terrorist, Extremist

oder pauschal „Gestörter“ sind Ordnungswörter,

als könnten wir eine Schublade nutzen.

Weder ist das richtig auf die Person bezogen

deren Herkunft und weiteres Verhalten pauschal

vereinfacht wird, noch haben wir selbst

Schubladen im Kopf. Wir können ein Gehirn

als Ding begreifen, mit dem Gedächtnis ist

das so eine Sache. Ich kann einen Teil des Gehirns

isoliert untersuchen und unterscheiden,

was dort passiert. Aber ich kann nicht Meyers

Gedächtnis irgendwo hintun, wie einen Eimer

mit Sachen. Ich kann nicht machen, dass Müller

implantiert bekommt, was Meyer erinnert.

Gibt es Wissenschaftler, die probieren das

hinzubekommen?

Wir können auf ein Wort hereinfallen. Es gibt

gar kein Gedächtnis. Da ist nur ein Mensch,

der sich erinnert und möglicherweise gibt

ihm noch jemand recht: „Das stimmt, so war

das.“ Trügerische Sicherheit. Was ist Beschleunigung?

Da muss doch zunächst etwas sein,

das schon in einem gewissen Tempo unterwegs

ist: ein Rennwagen, eine Putzfrau, und

dann kann sie noch Gas geben. Beschleunigung,

Gedächtnis, Extremismus – was soll

das sein? Ohne den Mensch, der uns erklärt

worum es geht, wenn er diese Worte sagt,

machen sie keinen Sinn.

In der Schule wird ein engagiertes Kind gelobt

und gefördert. Demokratische Ideale

werden gelehrt. Eine gute Sache. Wir füttern

die Gehirne der Aufnahmefähigsten mit dem,

was uns intellektuell gut und teuer ist. Das

hat nur den einen Haken, dass die in der

Schule fleißigsten Nacheiferer der guten

Sache das Böse selbst in der Regel nicht

kennen gelernt haben, weil sie jung sind

und noch Schulkind. Weltretter müssen stark

sein, und manchmal sind sie der Größe ihres

Anspruchs schließlich nicht gewachsen.

Ein sauber gewaschenes Gehirn macht noch

keinen couragierten Staatsbürger. Der jährliche

Putztag aller Wege im Dorf. Oder: Eine

Truppe hochmotivierter AbituranwärterInnen

besprüht nach Anleitung ein öffentliches Gebäude

mit bunten Motiven; das heißt nicht,

dass hier Graffiti verstanden und „Geschmiere“

vermieden würde und die Welt deswegen

besser. Das wird nur so in die Zeitung geschrieben

(und in die Köpfe der fleißigsten

Mädchen auch).

„Mutig gegen Extremismus“, das war der Titel

vom kleinen, illustrierten Aufsatz, mit dem

Alex einen Preis gewonnen hat, und Christian

hat das im Tageblatt veröffentlicht. Sie wurde

vom Bundespräsidenten als Ausnahmeschülerin

gewürdigt, und ich habe das zum

Anlass genommen, eine wunderbare Freundschaft

zu versuchen. Wie ist das nur schief

gegangen! Wollen wir gegen Extremisten

vorgehen, als könnten wir einen Feind des

Lebens wie einen Tumor wegoperieren, darf

ich das fragen? Ist ein Extremist auch mal

ein Mensch gewesen? Was ist eigentlich ein

Kapitalist, ein Wähler, ein Verbraucher, eine

Person – sind das noch ganze Menschen, die

mal was anderes tun, segeln gehen oder Liebe

machen?

# Wir sind nur ein Baum und werden kein

Fisch

Die Gene sind ein Argument für vieles. Aber

auch ein Gen ist uns nur ein Wort. Niemandem,

der nicht eine spezielle Ausbildung hat,

ist so genau klar, was „die Gene“ tun. Jeder

stellt sich nur ungefähr etwas darunter vor.

Aus einer Eiche wird keine Birke und ein

Baum ist kein Fisch. Wohin wächst der nächste

Ast, wie viele Äste bildet ein Baum? Wird

sein Stamm dick mit den Jahren oder geht’s

mehr in die Höhe? Kann der Wind ihn schief

werden lassen, und wohin schwimmt ein

Fisch am Montag? So ungefähr können wir

beschreiben, was festgelegt ist und was wir

auf der anderen Seite nicht gut vorhersagen

können.

Das Durchdringen von Vogelschwärmen.

Durcheinander in einem Schwarm Makrelen,

in die ein großer Raubfisch vorstößt.

Das Gewimmel von Schlittschuhläufern auf

einem zugefrorenen Gewässer. Wohin geht

es als nächstes? Eine Makrele tut, was Makrelen

machen, und ein kleines Mädchen

auf dem Eis ist nicht der starke Typ, der uns

zeigt, wie toll er laufen kann. Auf der Straße:

Im exklusiven Sportwagen, einem einfachen

Pkw, dem Reisebus oder mit dem Lastwagen

sind wir unterwegs. So ist das Leben in einer

Firma, so ist die Gesellschaft. „Du stehst auf

einer Brücke und schaust auf die Autobahn.

Da kommen zwei VW, ein Lastwagen und ein

Luxusauto, ein Sportwagen; das ist das Leben“,

meinte Gudenau, Professor an der Armgartstraße.

Dort habe ich studiert. Freiheit

bedeutet, begrenzt durch den Ort der Absprungrampe

meiner Vergangenheit, weiter

zu hüpfen. Oder humpeln. Wir sollten nicht

überheblich sein.

# Dem Einzelnen ist die Gesellschaft das

Feld, in dem er sich bewähren muss

Das hat Moshe Feldenkrais, Erforscher

menschlicher Bewegung, Reife und Verhalten,

in einem Buch postuliert. Die Gesellschaft,

das ist auch ein Wort. Lauter einzelne

Menschen in einem Topf dürfen dasselbe, das

andere ist ihnen verboten. Da wird ein Rahmen

formuliert: Deutschland. Ein definiertes

System mit Außengrenze innerhalb der alles

gilt. Und Deutschland, das ist noch viel mehr,

als nur ein paar Regeln im Gesetzbuch. Was

ist deutsch? Wenn ich in China aufwachse, ist

anderes richtig als bei uns. Auch im zeitgeschichtlichen

Rückblick: Ist Schwulsein krank,

ist es eine Straftat oder ist es ganz normal?

Essen wir im Liegen, wie die alten Römer,

Feb 13, 2020 - Ein Ideal ist unerreichbar 15 [Seite 15 bis 20]


oder gehört es sich, das Besteck „von Außen“

zu benutzen? Darf ich meinen Cheeseburger

mit den Fingern essen?

Wir werden von unseren Eltern erzogen, wenn

wir Glück haben, sonst machen andere das.

Einige Jahre vergehen, in denen wir nicht frei

von den Erziehern sind. Dann sind wir selbst

erwachsen. Nun sind wir wieder in Abhängigkeiten,

wir machen eine Ausbildung. Wir erleben

Beziehungen, wechseln Bezugspunkte

– aber nie sind wir so frei, dass alles in jedem

Moment uns gehorcht und unser Wille exakt

und wunschgemäß perfekt jede Minute unseres

Lebens gestaltet. Das schafft niemand. Ist

das überhaupt erstrebenswert?

Ein Ideal von Freiheit: Ist Freiheit der unbedingte

Wille? Da denkt man an Astronauten,

die in Schwerelosigkeit herumgondeln.

Schwerkraft ist eine Bindung an Mutter

Erde. Hier fängt die Frage nach dem

Sinn und Zweck von Umgebungen an.

Wir haben sexuelle Lust, Sehnsucht

nach Geborgenheit und Pflichten. Irgendwoher

muss Geld fließen, mit dem

wir unsere Unabhängigkeit finanzieren.

Die Gesellschaft ist ein Gelände, ohne

das wir nicht vorankommen. Selbst

wenn ich heute im Bett bleibe: Zeit vergeht,

mein Herz schlägt, es ist immer

alles in Bewegung. Wenn ich krank bin

und liegen muss? Wer sich nicht umdreht,

liegt sich wund.

# Professioneller Sport ist ein Beispiel für

nicht funktionierende Bewertung

Segeln: Die Elb-H-Jolle ist eine Einheitsklasse.

Ihre Erfinder taten einiges, die Boote

durch Vorschriften einander exakt gleich zu

machen, damit der bessere Segler ermittelt

werden kann. Nicht derjenige mit dem meisten

Geld, der das Boot so optimieren kann,

dass es von allen Schiffen das schnellste ist.

Sport: Meine roten Haare – als ich jung war,

wurde ich gern scherzhaft mit Boris Becker

verwechselt. Wenn ich unterwegs war (einmal

hatte ich einen Sack mit Segelklamotten und

ein hölzernes Paddel bei mir), habe ich diese

Sprüche: „Aber das Geld müsste man haben“,

aufgegriffen und geantwortet: „Ich bin ,Bernd‘

Becker. Er ist mein Bruder.“ Auf das Paddel

deutend sagte ich: „Neu sind diese hölzerne

Schläger.“ Boris machte, dass wir alle Tennis

schauten. Das war so spannend! Jeder hing

am Fernseher, wenn Becker gegen Ivan Lendl

spielte. Wir schauten auch Steffi Graf an. Es

gibt Frauen- und Herrentennis, und die Frauen

spielen nicht gegen Männer, weil dann

immer die Männer gewinnen würden.

Heute ist auch Frauenfußball im Kommen.

Manche sagen, wenn das Feld für die Frauen

kleiner sei, die Tore etwas weniger groß,

würde das Tempo im Spiel dem der Männer

eher gleich kommen, und das wäre doch mal

was. Wir haben viel Regatta gesegelt, ich bin

in der Bezirksmeisterschaft der Elb-H-Jollen

über Jahre ein ernstzunehmender Konkurrent

meiner Freunde auf dem Wasser gewesen.

Aber bei unserem Wochenendsport sind

Jungs und Mädels stets gemischt angetreten.

Neulich habe ich im Fernsehen eine junge

afrikanische Läuferin Alemu gesehen, die

war immer vorneweg. Der Sprecher meinte

irgendetwas von Testosteron, und ich habe

gegoogelt:

„Hyperandrogen zum Sieg. Kommentar von

Herbert Steffny (20.8.2016): Nun zu den Hintergründen

der sehr diffizilen Materie. Nachdem

der internationale Sportgerichtshof (…)

auf Grund einer Klage der hyperandrogenen

indischen Sprinterin Dutee Chand die (…) Regelung

für die nächsten zwei Jahre aufhob,

mussten die betroffenen Athletinnen wie

Caster Semenya keine Testosteron-senkende

Medikamente mehr einnehmen. (…). Eigentlich

ist Semenya der lebende Beweis wie Testosteron

bei Frauen wirkt. Das ist aber kein

Doping, sondern in diesem Jahr ist sie biologisch

wieder so wie sie ist, eben von Natur

aus hyperandrogen (Frau mit höherer männlicher

Sexualhormon-Produktion) und folglich

ungeschlagen. Auch die Zweit- und Drittplatzierte

Niyonsaba und Wambui wirkten

eher wie die „Jungs im Läuferfeld“ und fielen

wie Semenya auch durch burschikose Gesten

wie Muskeln zeigen,

tiefe Stimme

usw. auf. Denkt

man hier nicht

spontan: „Ja, so

sind eben Jungs?“

Hier braucht es

unbedingt eine

zufriedenstellende

IAAF-Regelung. Andererseits

werden

die genetischen

Voraussetzungen

nie gleich sein. Im

Marathonlauf legt

man auch keinen Grenzwert für die maximal

erlaubte Höhe der fettverbrennenden Enzym-

Kapazität fest und im Basketball ist die angeborene

Größe auch von Vorteil. Und trotzdem

tut es mir irgendwie Leid für die hinterher

laufenden „Mädels“ im Frauenfeld …“

Ich möchte mich in meinem kleinen Aufsatz

nicht in den Sport einmischen. Das Beispiel

zeigt, wie die Größe einer Leistung im Vergleich

mit anderen fragwürdig bleibt, die

Höhe einer Marke, die ich im Vergleich zu

meinen früheren Ergebnissen selbst erreichte,

jedoch verlässlich ist. Ich möchte das Haus

von Piet (die Frau möglicherweise) oder genauso

oft die Alsterregatten gewinnen, ich

möchte sein Geld. Aber ich möchte sein Leben

als Ganzes nicht haben, wenn ich meins

dafür aufgeben muss. Es führt in die Irre, sich

vorzustellen, was fehlt. Das ist Neid, selbstzermürbende

Rückschau im Vergleich, was

alles zum Glück hätte sein müssen – weil du

dabei vergisst, wer du bist. So wie ich heute

male, das hat sich erst entwickelt. Wer fällt

vom Himmel?

# Die Umgebung beeinflusst die nächsten

Schritte in unsere Zukunft

Es gibt eine Stelle in „Sherlock Holmes“, wo

der Detektiv seinen Freund verblüfft. Holmes

konfrontiert Watson damit, was dieser seiner

Vermutung nach im Moment gedacht hatte:

„Wir gingen die Treppe runter“, rekapituliert

er. „Sie schauten auf das Bild vom (irgendein

Name) und auf der Straße schließlich

angekommen, fiel Ihr Blick auf“ – (er nennt

etwas). Scharfsinnig beschreibt er, was ihm

am Freund aufgefallen ist, ob der schwer

geatmet hat oder nervös wurde: „Sie gingen

schneller, als Sie bemerkten, dass“ – kombiniert

Holmes mutmaßliche Gedanken von

Watson. Beide verbringen viel Zeit miteinander.

Holmes hat dieselben Bezugspunkte.

Er kennt alle Menschen, denen sie begegnet

sind. Schließlich gipfelt die ganze Deduktion

in einer fulminanten Behauptung: „Und weil

Sie dies grad dachten, sagten Sie schließlich“

– er nennt den ausgesprochenen Gedanken

als Ende einer langen Kette von Folgerungen.

Watson ist vollkommen von den Socken. „Das

stimmt alles ganz genau!“, ruft er aus.

Im Buch „Die zehn dümmsten Fehler kluger

Leute“ (Arthur Freeman/Rose DeWolf) geht

es darum, eigenen Gedankenketten auf die

Spur zu kommen und das Selbst im Bemerken

stereotyper Denkweisen zu korrigieren.

Die Autoren mutmaßen, unser Denken führe

zu daran gekoppelten Emotionen welche

wiederum Gedanken und Handlungen nach

sich ziehen, die gewohnheitsmäßig zu Komplikationen

führen. Das ist für das Begreifen

verschiedener psychischer Erkrankungen von

Bedeutung. Ein Mensch in einer Psychose ist

nicht Herr planvoller Aktivität, kann aggressiv

Schaden bei sich und anderen anrichten.

Er wird aber kaum einen terroristischen Anschlag

nach Überlegung durchziehen, vom

Einkauf bestimmter Materialien, Waffen und

der Zeit, Bomben zu basteln, bis zum Tag der

eigentlichen Aktion. Beide werden von der

Gesellschaft als extrem, krank und gestört

beschrieben. Aber der eine ist ein Psychopath

der plant, der andere ist durch seine Fantasie

traumatisiert und wehrt sich spontan. Er weiß

nicht, was er tut. Der Attentäter plant Rache

oder er ist auf religiöse Weise fanatisch.

Für mich, der ich viel drüber nachdachte warum

dies oder jenes nicht besser lief, ist das

Ganze von Interesse, weil die Frage nach dem

eigenen Willen, den Genen, der Gesundheit

und die Frage nach Talent und was jemand

daraus macht, grundsätzlich in Relation zur

Umgebung gedacht werden muss. Wir können

größer denken. Wir denken, mein Fuß tut

weh und suchen einen Spezialisten auf. Wir

könnten zunächst an uns als ganzen Mensch

denken. Wir können noch überlegen, ob uns

generell ein übergeordnetes Schicksal führt?

So gibt es Menschen, die glauben, sie erlebten

ihr Dasein nur und ihr Alltag sei komplett

vorherbestimmt. Im Gewusel bunter Punkte

auf dem Eis eines gefrorenen Sees herumlaufender

Menschen, die wir von einer Anhöhe

beobachten, denken sie sich wie Treibholz im

Strudel. Wie die durchkreuzenden Vögel oder

Makrelen im Schwarm unter Wasser. Und

wenn der böse Orca hineinschießt und Leben

frisst, kann niemand etwas tun. Der Meteor

fiel vom Himmel, und ich war tot.

# Therapie wird behindert vom gesamtgesellschaftlichen

Interesse der Stabilität

Das Brötchen fällt runter, immer auf die

Butterseite. Eine höhere Macht, was schief

gehen kann, geht schief? Aber wenn dir die

Wurst auf den Boden fällt, und du sagst: „Dafür

kann ich nicht“, kommt Kritik. „Natürlich

warst du das. Da bist du selbst ganz allein

dran schuld!“ In Worten denken, bedeutet innere

Dialoge zu führen. Insofern sind andere

schon am Tun beteiligt. Es kommt darauf an,

wie bewusst uns ist, dass wir nur denken und

nicht wirklich mit anderen Menschen reden.

In „Don Camillo und Peppone“ spricht der

Pfarrer mit Jesus in der Kirche, was geschieht

dort? Im Film „Cast Away“ spricht Hanks auf

der Insel mit dem eiförmigen Ball Wilson wie

mit einem Freund. Was ist das: Schuld? Es

gibt Menschen, die glauben, erst Ruhe finden

zu können, wenn sie wissen, wer ihr Kind getötet

hat und noch besser, wenn er dafür eine

gerechte Strafe erhält. Manche Menschen

Feb 13, 2020 - Ein Ideal ist unerreichbar 16 [Seite 15 bis 20]


schlafen schlecht, auch ohne Verbrechen

gegen sie. Wem sollen die die Schuld geben,

wenn sie keine Ruhe finden?

Da ist eine Schwierigkeit anderen zu helfen,

wenn die Helfer nicht den Hilfesuchenden

primär im Blick haben, weil das Interesse für

Ordnung zu sorgen übergeordnet ist. Das ist

dann der Fall, wenn eine psychische Störung

vorliegt, die das Allgemeinwohl genauso betrifft,

wie das Wohl dessen, der Hilfe benötigt.

Im Gericht wird die Schuldfähigkeit festgestellt.

Fähig bestraft zu werden, oha! Das

muss ich leisten können? In einer geschlossenen

Psychiatrie zu sein ist keine Strafe? Dann

müsste das der Ort sein, den ich frisch und

munter, gesund und geheilt verlassen kann,

nachdem der Arzt meinen kranken Kopf neu

ausgerichtet hat. Das wäre ein Ziel. Wer sich

selbst und andere krankheitsbedingt gefährdet,

wird per richterlichen Beschluss zwangsweise

eingewiesen. Wer freiwillig in die Klinik

geht, kann gehen wann er will. Wer nicht

schuldfähig ist und gegen andere krankhaft

handelte, ist im forensischen Teil der Psychiatrie.

Das ist ein Gefängnis das nicht so heißt.

Die Gesellschaft ist hilflos, angesichts der

nichtkontrollierbaren Aktivität einiger.

Generelle Angst vor psychisch Erkrankten

ist zum Nachteil der Betroffenen, man tut

etwas, ja. Aber in erster Linie versuchen Arzt,

Polizei und Angehörige, die Kontrolle zurückzugewinnen.

Das entspannt. Das Ziel, einen

Erkrankten dauerhaft gesund rezuintegrieren,

wird nicht verlangt. Wenn jemand ein

Medikament nimmt, nach Klinikaufenthalt

Besuche in einer Praxis wahrnimmt, sieht die

Gesellschaft ihre Aufgabe als getan. Das wird

doch dem Menschen nicht gerecht. Das ist

eine Leistung an allen Menschen, das ist eine

Ordnungsfunktion, die der Gesellschaft insgesamt

nutzt. Das ist nicht für den Menschen,

das ist für die Menschen allgemein. Das ist

zu wenig. Wir werfen psychisch Kranke weg!

Wir halten sie für gestört? Wir sind nicht bereit,

in Verantwortung dessen, dass wir diese

Menschen störten bis sie krank wurden, sie zu

entstören. Mit einem Begriff machen wir aus

ihnen eine andere Sorte, keine Menschen wie

wir. Gestörte sind illegale Alien.

Das mag daran liegen, dass es schwierig ist,

ohne Manipulation anderen zu helfen. Der

Teufelskreis besteht darin, dass an der Umgebung

sozial gestörte Menschen nun wiederum

durch diese Umgebung beeinflusst

werden sollen, unabhängig von anderen

gesund zu denken. Wie kann das möglich

werden? Wie helfe ich demjenigen, der sich

nicht helfen kann, dahin zu kommen, wo er

sich selbst nicht nur hilft, sondern tut was er

mag? Vielleicht ist ein Grund dort zu suchen,

wo wir ihn zunächst nicht vermuten: Es gibt

wohl zahlreiche Menschen, die nicht tun, was

sie mögen sondern was sie sollen. Die gelten

aber nicht als krank.

Ich kann als Präsident dafür verantwortlich

gemacht werden, eine Linienmaschine (aus

Versehen) vom Himmel geholt zu haben, im

Streit mit meinem Nachbarland. Beschuldigt,

eine Halbinsel zu mir ans Staatsgebiet rangezogen

zu haben. Ich kann, als ein anderer

Populist, derjenige sein, dem vorgeworfen

wird eine Insel, ja ein ganzes Land, sinnloserweise

aus einer Union hinaus auf das Meer

getrieben zu haben, in einen Brexit gelabert

– und habe getan, was mir gefällt! Dafür gibt

es keine Strafe. Ein (grüner) Politiker (mit

mädchenhaft süß gescheitelt langem Haar)

fordert im TV-Interview die Bundeskanzlerin

auf, dieses oder jenes (endlich) zu tun, um

Druck! auf Putin zu machen. Die Realität ist:

Er übt nicht einmal Druck auf die Frau M. aus.

Das ist seine Ohnmacht. Es scheint ihm nicht

bewusst zu sein.

Ich kann der andere Präsident sein, der in

den Medien als krank beschrieben wird, und

ich mache (als der Präsident, der ich geworden

bin) was ich mag. Als Präsident bin ich

im Recht. Wenn andere Präsidenten zu mir

sagen: „Das darfst du nicht.“ Gewöhnliche

Menschen auf der Straße: „Der ist krank.“ Der

amerikanische Präsident, ihn ficht das nicht

an: „Ich bin ein stabiles Genie.“ Im Land drinnen,

als einfacher Mitbürger, werde ich nicht

gegen andere Menschen so selbstbestimmt

oder selbstherrlich etwas vergleichbar

machtorientiertes zum narzisstischen Lustgewinn

tun können. Ich würde bestraft, als

„krank“ therapiert: „Was sind Sie, stabiles Genie?

Oha! – dann bin ich der Kaiser von China“

– und ab in die Zelle. Als Abteilungsleiter

oder selbstständiger Unternehmer, kann ich

vergleichsweise mehr tun, von dem was ich

mag, als ein untergeordneter Angestellter.

Das kann ausgefallen sein, was ich mir so erlauben

kann, als kreativer Zeitgenosse – oder

öde und fremdbestimmt, als Mitarbeiter in

armseliger Jobsituation.

Insofern führt der Weg vom psychisch Kranken

in dauerhaft geistige Gesundheit nicht direkt

vom Klinik- oder Arztbesuch in das sozial

gut angepasste Verhalten, wie man es immer

probiert. Der Weg vom psychisch Kranken

zum Gesunden, ist ohne selbst erlebte und

erfahrene Aggression kaum möglich. Durchsetzungskraft

bedeutet, mit dosierter Gewalt

ein Ziel zu erreichen. Gewalt? Das möchte

man ja gern vermeiden, aber ohne Aggression

zu erleben, kann niemand drauf verzichten.

Ich kann nicht auf Gewalt verzichten, wenn

sie mir nicht zur Verfügung steht. Gewalt zu

vermeiden, ist nicht Verzicht. Vermeiden kann

man Gewalt unter Beruhigungsmitteln. Normale

Menschen wenden ständig Gewalt an,

mal mehr mal weniger. Verbale Gewalt, Intrigen,

scharfe Abgrenzung, wenn zuviel verlangt

wird. Länder führen Kriege. Waffen werden

gebaut, verkauft und eingesetzt – das ist

Wirtschaft, Krieg, gesunder Alltag. Es ist ein

Geschäft. Kein Leben ohne bösartige Gewalt

auf dieser Erde.

Die Gesundheit besteht im Kalkül: „Das kann

ich mir erlauben.“ Ein Polizist darf von Berufs

wegen Macht ausüben, kann ein Gesetz

machtvoll anwenden. Jeder kann Rechte einfordern.

Das ist beliebig rauf- und runter auf

der Messlatte von Gewalt durch- und nachzudenken.

Eine deutliche verbale Forderung,

und komme ich weiter damit? Muss ich in

das Gefängnis oder komme ich zur Bewährung

noch gerade davon? Moderne Therapie,

die dem psychisch Kranken hilft, als einzelner

der er ist und nicht nur einer gesamten

Gesellschaft, die vor den Gestörten Schutz

verlangt, müsste verstehen, dass Gewalt ganz

normal ist. „Rechte hat, wer sich traut, für sie

einzutreten“, Roger Baldwin, Gouverneur von

Connecticut. Wenigstens soviel Traute müssen

wir haben! Wenn wir zum Anwalt gehen,

sind wir mutig genug, um als gesund zu gelten.

Die anderen müssen zum Arzt.

# Schwein sein?

Meine Eltern empörten sich: „Etwas mitgehen

lassen“ – eine Freundin hatte das gesagt, und

sie hatten den Ausdruck nicht verstanden. Im

Restaurant: Man hat gegessen und klaut im

Anschluss einen Löffel oder etwas der Hoteleinrichtung

nachdem übernachtet wurde.

Das fanden die Freunde meiner Eltern cool,

witzig – andere in der Runde lachten.

Mein Vater und ich kreierten seinerzeit ein

Heft des Segelvereins, unsere Vereinszeitung.

Ehrenamtliche Mitarbeit, wie zum Beispiel

im Segelausschuss Regatten zu organisieren

oder die Bootshalle in Eigenarbeit anstreichen?

In einem Verein ist immer zu tun. Es

wird geklagt, heute sei es schwieriger, Motivierte

zu finden. In der Redaktion unseres

Vereinsheftes wurden wir von Mitgliedern

unterstützt, die Beiträge einschickten: Was

auf einer Reise in die Ostsee passiert war,

wie das gemeinsame Grillfest gefallen hatte

und ähnliches.

Für die Umsetzung wurden wir von einem

Werbegrafiker unterstützt, der wie meine Eltern,

inzwischen gestorben ist. Er stand schon

kurz vor seiner Pensionierung, arbeitete in einer

großen Hamburger Agentur. Einmal hatte

er zwei Handvoll bunte Fine-Liner einer

typischen Marke dabei (wie sie damals alle

Grafiker verwendeten). Bekannt wie der NT-

Cutter oder das Fixogum. Jeder kannte den

Zack-Zack-Layout-Kleber, das Lösungsmittel

„Bestine“ und andere vertraute Dinge: Schöllerhammer-Karton

oder eine „Lucie“ (ein

Episkop, mit dem man im verdunkelten Büro

was abpausen kann). Es gab den Computer

noch nicht. „Wollt ihr welche?“, fragte unser

Layouter. „Das machen alle“, antwortete der

Segelkamerad auf Nachfrage, wie er in den

Besitz der Stifte gekommen sei. Alle? Ich fing

grad an, mit selbstständiger Illustration neben

dem Studium Aufträge anzunehmen und

dachte, dass ich mich selbst wohl schlecht

beklauen könne?

Wir erleben kollektiven Beschiss der Autoindustrie

am Bürger, hatten mit dem verurteilten

Uli Hoeneß einen weiter hochangesehenen

Manager beim FC-Bayern, und wer

erinnert sich nicht an den Deutsche-Bank-

Chef, der sich Vorwürfen ausgesetzt, nicht

emotional eingebrochen ist? „Schwein sein“

gilt als nachahmenswert, kommt an. Zahlreichen

Beispiele: Die Liste der Mogeleien wird

lang, wenn wir Fernsehformate heranziehen,

wo ein Sender (oft mit verdeckter Kamera)

Alltagsbetrug zum Thema nimmt. Die böse

Telefongesellschaft. Der miese Schlüsseldienst?

Aber das sind wir. Wir arbeiten bei

der Deutschen Bahn, die immer alles falsch

macht. Wir sind in der Autowerkstatt, die das

lose Kabel in der Elektrik übersehen hat, und

wir sind es selbst, die einen Löffel mitgehen

lassen, im Hotel.

Wir sind die, die achtlos oder mutwillig den

Gehweg verdrecken. Wir werfen das Papiertaschentuch

nicht in einen der vielen Mülleimer.

Wir begehen Fahrerflucht, nachdem wir

einen Pkw leicht beim Ausparken touchierten.

Wir wenden auf der Autobahn im Stau,

verstopfen die Rettungsgasse und fahren zur

Ausfahrt zurück, weil es einfach nicht weiter

geht. Wir sind auch die, die das dann filmen

und auf YouTube zeigen, wir sind der Polizist,

der Gute? Meister Lynch ist dein Nachbar.

Morgen drehen wir dann selbst ein Ding. Un-

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ser Film ist kaum besser als der der anderen.

Es gibt immer gute Gründe, Regeln zu brechen.

Niemand ist nett. Eine gefährliche Illusion,

man sei gut und alle anderen schlecht.

Genauso gefährlich ist der Glaube, alles gehöre

wie es ist, weil der Mensch als göttliches

Wesen deswegen schon gut ist. Gut und

menschlich zu sein, ist eine echte Herausforderung.

Neue Empathie zu entwickeln, nach

dem Schock des Erwachsenwerdens, ist eine

Aufgabe – und nicht zu vergleichen mit dem

unbegrenzten Vorrat davon, den ein Kind

möglicherweise verschleudern kann, weil ein

attraktiver junger Mensch gelegentlich mal

leicht in die Zukunft spaziert.

Im Akzeptieren und Begreifen der Realität

haben wir die Wahl, unser Selbst zu formen.

Es steht uns zu, entrüstet zu sein, verletzt! Ist

doch wahr. Die anderen sind schuld. Und? Was

nützt es, das zu beklagen? Da ist ein Mann in

meiner Heimatstadt Wedel unterwegs. Tag

für Tag geht er durch die Bahnhofstraße (ich

habe dort gelegentlich zu tun, man kommt ja

nicht umhin, Leute zu bemerken, die irgendwo

typisch sind). Er hat eine Tüte bei sich und

eine längere Greifzange. Er trägt Handschuhe.

Ein komischer Hut sitzt schräg auf seinem

Kopf. Der Mann ist nicht gerade groß und im

Auftreten bescheiden, ein wenig unscheinbar.

Er ist schon älter. Er geht, den Boden absuchend

im Zickzack den Gehweg entlang, vom

Bahnhof in Richtung Elbe. Er pickt mit dieser

Zange am verlängerten Arm jeden Müll auf,

den er bemerkt. „Warum machen Sie das?“,

habe ich ihn gefragt. „Mich stört der Dreck.“

Ich wollte dann wissen: „Sind Sie bei der

Stadt angestellt?“ „Nein.“ Er antwortet wortkarg

(nicht unfreundlich). Jetzt sage ich einfach,

wenn ich ihm begegne: „Schön, dass Sie

da sind!“ Er schaut kaum auf. Seine Augen

wandern über die Pflastersteine. Ein Zigarettenstummel

klebt am Boden. Schließlich

gelingt es ihm, das Ding aufzusammeln.

# Kunst ist Selbsthilfe

Was ist Kunst? Erst nach dem Tod berühmt,

vorher brotlos? Ich weiß nicht, bin Maler

und Zeichner. Von sich selbst sagt man nicht

unbedingt, man sei Künstler. Das ist wie mit

dem Namen des Indianers: Stampfender Büffel?

Die anderen bewerten, und dann ist man

Künstler. Ich war schon vor dem Kindergarten

gut. Talentiert. Ich konnte: „Schiffe schräg

von vorn“ – Perspektive ist nicht allen gleich

gut zu eigen. Beim Zeichnen ist es ein Vorteil.

Es gibt Menschen, die nie einen falschen Ton

singen. Sie finden es leicht, eine neue Melodie

zu lernen, hören sicher, wo die anderen

sind, begreifen sofort, in welcher Tonart und

mit welcher Note ein Stück beginnt. Da bin

ich nicht gut. Auch die Farbe: Das Malen ist

nicht gerade das, was mir selbstverständlich

gelingt.

Der großartige M. C. Escher sagt, eigentlich

könne er gar nicht zeichnen! Angesichts dieser

wunderbaren und zauberisch verdrehten

Meisterwerke, die der ja geschaffen hat, darf

ich mir nicht anmaßen zu sagen, ich wüsste,

was er gemeint hat. Aber – ich zeichne

anders. Escher zeichnet, wie ich male. Er

zeichnet ausgefeilte Kunstwerke. Ich zeichne,

besonders wenn ich gerade fit bin, also

tagtäglich zeichne und viel mache, treffsicher

und schnell. Ich zeichne mit nur einer

einzelnen, nicht gestrichelten, gut sitzenden

Linie alles runter. Ich kann dafür einen Kugelschreiber

nehmen. Ich radiere nicht. Wenn ich

male, habe ich Deckfarben und viel Zeit, und

ich zeichne nach einer anderen Zeichnung

ab oder nach einem Foto. Das ist etwas ganz

anderes.

Es gibt Berufe, bei denen nicht gut sichtbar

wird, was „du“ heute getan hast. Im traditionellen

Handwerk hast du schlussendlich

ebenfalls ein Ding geschaffen, etwa wie der

Maler ein Bild. Wenn du fertig bist, kannst

du’s dir anschauen und sagen: Das habe ich

gemacht! Wenn ich Musik mache, verfliegt

der Ton, aber ich kann wiederholen, was ich

drauf habe und die Musik aufnehmen. Wenn

ich eine Melodie gut beherrsche, kann ich

Varianten erfinden, die genau so gut wie der

Chorus selbst zu den Akkorden passen. Ich

kann schaffen ohne Ende. Wenn ich einen

Roman schreibe, habe ich soviel gelernt, um

das zu tun! Wenn das Buch fertig ist, kann

ich mich selbst lesen, noch umformulieren,

bis ich ganz genau sage, was mir vorschwebt.

Wenn ich „im Job am Arbeitsplatz“ nur das

Gefühl habe, dass es möglichst schnell Feierabend

oder Wochenende werden möge, weil

meine Arbeit mich in jeder Hinsicht fertig

macht, dann wird das wohl dazu führen, dass

ich mich nach einer Verbesserung umsehe?

Mein Vater wollte selbstständiger Unternehmer

sein. So haben meine Eltern umgeschult,

ein Fischgeschäft eröffnet. Erich (ich

nannte ihn beim Vornamen) hat sich über die

aufkommende Formulierung „Arbeitsplätze

schaffen“ aufgeregt. Auch über das seinerzeit

neue Wort „Job“ (anstelle Beruf), das

mein Vater vorn wie J-ogurt (nicht englisch)

aussprach, machte er sich lustig; über alles

modische sowieso. Männer mit Bart waren

ebenfalls Ziel seines Spotts. Ich glaube, dass

es eher Angst vor Veränderung war als Stärke.

Arbeitsplätze würden nicht geschaffen, sagte

mein Vater. Das erinnere an Spielplätze. Die

würden geschaffen, für Kinder. Zu erwachsenen

Wählern solle man ehrlich sein. Arbeitsplätze

schaffen, eine Forderung der damals

populären sozialdemokratischen Politik:

„Willy wählen!“ – das empfand mein Vater

als verdrehende Idiotie, niemand schaffe Arbeitsplätze.

Wer eine Firma führen wolle, versuche

doch, mit so wenig wie nötig an Kosten

und Gehältern, effizient zu produzieren.

Auch: Unkrautvernichtungsmittel sei dazu

da, unliebsames Kraut zu vernichten, sagte er.

Deswegen müsse es so genannt werden. Man

hätte jetzt „Pflanzenschutzmittel“ drauf geschrieben,

was für ein Blödsinn, noch einer!

So ging es jeden Tag. Mein Sohn bemerkt,

dass auch ich stereotyp über die gleichen

Dinge schimpfe. Ein Zeichen, dass ich offenbar

alt bin. Das beunruhigt mich.

„Bassi“ (so nannte man Erich unter den Seglern)

wollte ein eigenes Boot, wollte selbst

steuern, auf einer Regatta und auch am Wochenende,

wenn er mit Greta (meine Mutter

nannte ich ebenfalls beim Vornamen) oder

später mit uns allen in Familie auf Tour segeln

ging. Erich wollte selbst steuern. Meine

Mutter musste ihm viel zuarbeiten. Auf Regatten

hatte er gern einen guten Mitsegler,

der ihm taktische Tipps geben konnte. So war

es auch im Geschäft. Mein Vater hatte große

Ideen, unternehmerischen Mut und ein fröhliches

Auftreten (als er jung war), meine Mutter

musste alles durchrechnen.

Vielleicht bin ich ja ein Künstler und werde

berühmt? Vielleicht auch nicht. Ich habe

bereits so viele große Bilder geschaffen, das

hätte ich niemals gedacht. Was mir alles

schwierig war und fertig wurde! Ich war fleißig

und einfallsreich. „Ich würde gern malen,

aber – “, höre ich gelegentlich. Was aus diesen

Bildern einmal wird? Keine Ahnung. Es ist

mir kaum noch wichtig. Kunst ist Selbsthilfe.

Niemand macht soviel nutzlosen Kram, wenn

er nicht irgendwie muss. Kunst kommt von

„nicht anders“ können. Die Fachhochschule

für Gestaltung Armgartstraße, an der ich

mein Diplom als Info-Grafiker gemacht habe,

ist schon immer Teil einer Reihe verschiedener

Fachbereiche gewesen, und dass wir

ein „Diplom“ erworben haben, ist dem Problem

geschuldet, dass die angewandte Grafik

nicht als Kunst und nicht wirtschaftsnah zu

bezeichnen ist. Heute heißt es dort HAW,

das ist die Hochschule für angewandte Wissenschaften.

Mir gefällt daran, dass ich sagen

kann, ich wäre Wissenschaftler, eine Art

Kunst-Forscher. Ich suche Lösungen, grabe in

meiner Fantasie, wie der Archäologe in der

Wüste. Das gefällt mir. Ich habe an anderer

Stelle gesagt, dass Glück nur der Gipfel des

Fühlens sein kann, und das kommt bei mir

durchaus vor. Immer glücklich sein, geht das?

Man würde es ja wohl gar nicht mehr bemerken.

Die krampfhafte Suche nach Glück!

In einem Armstrong-Buch erzählt der Trompeter,

wie ein amateurhaft musizierender Fan

ihn anspricht: „Mein ganzes Leben habe ich

versucht dir zu folgen Louis“, und Pops antwortet

aber: „Dann bist du wohl zuallererst

dir selbst gefolgt, oder?“

# Macht Glaube krank?

Alex; sie lügt wie meine Mutter, denke ich.

Aus Angst, nicht aus Bosheit, sie kann es

nicht anders. Es war so vertraut. Was hilft

wem? „Religion ist heilbar“, das habe ich auf

einem schäbigen VW-Bus gelesen, mit einem

großen Peace-Symbol, hinter dem ich eine

Zeitlang fuhr, bis der dann abgebogen ist. Ich

bin wieder in die Kirche eingetreten. Das kam

im Zuge der Erkrankung von Greta. Es war

schon absehbar, dass sie bald sterben würde.

Eine Beerdigung mit einem professionellen

Redner anstelle eines Geistlichen? In diesem

Moment wir das ernsthaft planten, wurde

klar, dass es nicht ging.

Als wäre es für immer gleich, ein Moment

wie eine Ewigkeit, in die ich jederzeit eintreten

kann, so beständig ist diese Erinnerung:

Meine schon sterbenskranke Mutter und ich

sitzen nebeneinander in dunkelbraunen Ledersesseln

im Wohnzimmer in Wedel. Gegenüber

ist der große Mahagoni-Einbauschrank

mit dem Fernseher. Ich sitze nah am Fenster,

sie mehr in der Mitte vom Zimmer. Ich spüre

links die Wärme des langen Heizkörpers. Es

steht eine schmale Keramikschale mit Wasser

darauf. Aus drei kreisrunden Öffnungen

soll die Feuchte in die Raumluft verdunsten.

Das milchige Licht eines herbstlichen Nachmittags

erhellt uns noch durch das breite

Fenster an der Seite. Meine Mutter, traurig

– aber auch mutig und gefasst – ein unvergesslicher

Augenblick in dieser Zeit. Als wäre

dieses Zimmer noch immer so eingerichtet

(und jederzeit aufzusuchen), und sie sitzt

dort, wie oft. Ich kann einfach hingehen, die

Erinnerung ist ein Zimmer in meinem Kopf.

Sie hat die Beine hochgelegt, auf dem passenden

lederbezogenen Schemel dafür, und

zwischen uns ist der kleine Tisch auf dem

auch der Tannenbaum in der Weihnachtszeit

stehen konnte. Unten ist er gefüllt mit den

Zeitungen der letzten Zeit (im schmalen Fach

die aktuelle vom jeweiligen Tag, im breite-

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ren die der jeweiligen Woche). Der Tisch, in

Form eines Würfels mit dunklen Holzleisten

rundherum, ist oben mit vier weißen Fliesen

hübsch gestaltet, die mein Vater anstelle der

ursprünglichen Holzplatte eingesetzt hat. Als

wir beginnen, nachdem wir eine Liste mit

Trauergästen skizziert haben, nun über die

zu spielende Musik auf der Beerdigungsfeier

nachzudenken, haben wir wohl beide gerade

eine Träne jeweils nicht zurückgehalten. Wir

blieben cool.

Nachts – ich komme vom Klo im Cotton-Club,

und Alex sitzt vorn auf der Bank, wartet auf

mich. Ich sehe ihr wunderbar dunkelrotes

Haar. Sie trägt es offen heute Abend, schaut

nach links in Richtung der Band, die gerade

eine Pause macht, ich sehe ihr Profil. (Es ist

immer). Ich gehe den engen Gang an den Bäuchen

der dicken Dixielandfans fortgeschrittenen

Alters vorbei, wieder zurück zu meinem

Platz (an ihrer Seite). Morgen ist die Beerdigung

von Greta. Norbert, beinahe zu laut und

fröhlich dafür; sie spielen nun „New-Orleans-

Function“, und ich weiß genau, dass ich, wäre

ich allein hier, selbstständig gar nicht zurück

nach Hause finden kann. Alex filmt mit dem

Handy: „Die Musik meines Vaters.“ Neben uns

sitzt eine nervöse Frau, die auf ihre Tochter

wartet die dann aber nie kommt. Ich drücke

meinen dicken blauen Pullover dazwischen.

Was kann man glauben?

Der Montag vor Heiligabend. Norbert singt:

„What makes your big head so hard?“ Wir gehen

mitten in „Caldonia“, Alex ist überrascht,

dass ich mich nicht verabschiede, aber ich

habe den Trompeter schon vorher getroffen.

Eine kühle Dezembernacht, als wir nach der

letzten S-Bahn hasten. Chaotisch glaubt sie,

noch zurück zu müssen; Mütze vergessen?

Nein doch nicht. Es klingt wie ein erfundenes

Problem, um kurz allein zurück zu eilen. „Ich

kann gut laufen!“, drängt mich Alexandra beschwörend,

doch vorzugehen, um mich davon

zu überzeugen, sie würde die Bahn (und mich

dort am Bahnsteig) noch rechtzeitig schaffen.

Irgendetwas stimmt nicht dabei, aber

das macht nichts. Ich will das nie wissen! Wir

sind dann unterwegs. Erst mit der Bahn im

Tunnel und später im Bus. Wir schaukeln, sausen

durch die Nacht: „Du fragst Sachen, die

fragt nicht einmal meine Mutter.“ Wir fahren,

und Alex redet und redet, und einmal endet

ihr Satz ohne jeden Sinn – wie in der Luft

bleiben die unfertigen Worte hängen, als sie

mich mit ganz großen Augen anschaut.

Wieder Greta, das ist einige Wochen vorher:

Wir gehen über den Friedhof, meine Mutter

beschreibt, wo und wie sie liegen möchte. Erinnerung,

im Hospiz: Siaquiyah und ich sind

an Gretas Bett, und meine todkranke Mutter

schläft unruhig. Mein Freund der Pastor

zeichnet ein kleines Kreuz mit dem Zeigefinger

auf die verschwitzte Stirn meiner Mutter.

Im Winter: Ich tauche in den kalten Hafen

und freue mich noch, es geschafft zu haben

mit diesem Gewicht im Gepäck – Albträume

und Erlösung, ich finde die neue Welt, wie

Astrid Lindgrens Brüder Löwenherz. Das ist

nicht krank, das ist das Leben. Und das hat

nun noch so viel zu bieten? Das kann man

wohl nur schreiben, wenn man erst 23 Jahre

alt ist.

# Die Gesellschaft könnte kaputte Menschen

recyceln?

Da gehen Leute los und möchten ein neues

Organ, eine Niere ist hin. Wie ein Auto in der

Werkstatt einen neuen Auspuff bekommt,

geht der Mensch zur Reparatur zum Doktor.

Augenarzt, neue Linse. Orthopäde: neue Hüfte.

Neues Hirn? Alle Doktoren können Ärztepfusch

machen, weil es gute Ärzte gibt und

man prüfen kann, was der Doktor kann. Nur

der Psychiater kann es nicht. Niemand weiß,

was der Psychologe genau bewirkt. Hilflos ist

der Seelenklempner dem Zufall ausgeliefert,

dass der Patient den Weg in die Gesundheit

für sich findet. Und so „begleitet“ der Arzt, der

Therapeut. Er gibt ein Medikament, redet,

hört zu. Vor allem das.

Wichtig ist auch die Polizei, vor allem im

Sachgebiet eins. Wichtig tun die Gutachter,

und sie müssen eine Einschätzung abgeben,

was wir zu erwarten haben. Wir, die normalen

Menschen, die Angehörigen und die, die vom

Wahnsinn betroffen im Sinne der Gefährdung

durch „ihn“ sind. Was wird „er“ tun? Sicherungsverwahrung?

(Auch Frauen werden

verrückt). Es ist aber nicht dasselbe. Es gibt

unzählige Formen und Diagnosen. Wenn es

möglich würde, die kranke Seele zu reparieren,

wie der Klempner die Wasserleitung, wie

der Chirurg das Knie, dann könnte die Gesellschaft

scheiternden Menschen, auch die

extremen Attentäter, gegen die wir so mutig

voranschreiten sollen, stattdessen in eine gemeinsame

Zukunft mitnehmen.

Ich glaube, dass wir viel zu fokussiert schauen.

Wir schauen auf den einzelnen Gestörten.

Wir schauen auf seinen Kopf, möglicherweise

hinein. Aber weder gibt es einzelne Köpfe,

noch gibt es so isolierte Menschen, dass wir

das Drumherum außer Acht lassen dürfen. Ein

Fehler ist, die Umgebung zu missachten. Ein

Fehler ist, den ganzen Mensch, Körper und

Geist, auf ein Reden im Behandlungszimmer

zu reduzieren. Und dass es wirksame Medizin

gibt, jemanden zur Ruhe zu bringen, wenn

eine Situation eskaliert, sollte nicht darüber

hinwegtäuschen, dass es keine Medizin gibt,

die klug macht. Dass es Medizin gibt, die Depressive

stabilisiert, ist fein. Dass ein Mensch

sich positiv verändern kann, da könnte doch

noch mehr möglich sein?

Wir können auf den Gestörten schaun, auf

den Gefährder, aber wir könnten es zum Wohl

des Sonderlings tun. So wie wir es im Moment

machen, inklusive der Pannen einer

ungeschickt schlecht koordinierten Polizei:

Verdecktes Überwachen macht Verrückte

noch gestörter. Bis es knallt. Wir denken an

das funktionierende System, das empfindlich

gestört wird, wenn ein glücklicher Weihnachtsmarkt

in die Luft fliegt. Wir beweinen

die sinnlosen Opfer. Wir stellen Kerzen auf,

wir erschießen den Attentäter. Wir schauen

von uns weg auf den psychisch Kranken,

aber dass ist ein Narr, der uns zum Narren

hält, wenn wir ihn nicht respektieren. Eine

schmerzhafte und teure Angelegenheit, verstörend

für alle. Warum? Einer von uns, nichts

anderes. Da hat eine Jugendgang einen Rentner

vermöbelt und die Zeitung bringt ein

Foto vom jungen Schläger: „Er sieht sich als

Opfer!“ So sind wir, das kaufen wir, das lesen

wir und das bestätigt uns. Und alles bleibt,

wie es ist. Schade, finde ich.

# Feldenkrais: Das Körperschema der Angst

Moshe Feldenkrais hat einiges tun können,

verquastetes Denken zu entlarven, aber das

sollte in der Schule unterrichtet werden. An

dieser Stelle sei auf umfangreiche Literatur

und zahlreiche qualifizierte Feldenkrais-

Lehrer verwiesen. Was ist die Basis seiner

Methode? Das ist zum einen das Begreifen,

dass Lebewesen gegen die Schwerkraft ausgerichtet

Bewegungen machen. Wir werden

nicht im Weltall geboren, wir wachsen zuhause

auf der Erde auf. Von Beginn an lernen

wir in Relation zur Schwerkraft Bewegungen

zu machen. Dazu hat die Natur zwei Strategien

entwickelt. Der Mensch als Landtier

kümmert sich weniger um sein grundsätzliches

Funktionieren, er verfolgt Ziele. Damit

jemand nach Plan wohin gehen kann, muss

er so gehen können (oder ein Auto fahren),

dass die Kontrolle über den eigentlichen Bewegungsvorgang

einer selbstständig arbeitenden

Abteilung seines Selbst überlassen

sein kann. Wir können ein Auto fahren, ohne

dass wir Motor und Schaltung genau verstehen.

Ich kann Licht einschalten, Elektrizität

verwenden – aber ich weiß nicht genau, wie

Strom zustande kommt, so ungefähr.

Im Märchen ruft der Prinz erschrocken: „Heinrich,

der Wagen bricht!“, aber dann sind es nur

eiserne Bande um das Herz des Freundes,

die gerade nacheinander abgesprungen sind.

Wer erleben darf, wie sich die Muskulatur

um die Rippen des Brustkorbes lockert und

mit einem Mal begreift, wie tiefe Atmung

möglich wird, kann das real begreifen. Heute

wird gern der Begriff Autoimmunerkrankung

verwendet. Google: In der Medizin ein Überbegriff

für Krankheiten, denen eine gestörte

Toleranz des Immunsystems gegenüber dem

eigenen Körper zugrunde liegt.“ Etwa: Die

eigenen Leute arbeiten gegen mich (wenn

ich das Immunsystem als Soldaten verstehe,

mich als zu verteidigendes Terrain).

Feldenkrais erkennt Bewegung als Möglichkeit,

die Qualität von Gesundheit erlebbar

zu machen. Er nimmt an, dass ein gesunder

Mensch nichts tut, sich selbst zu behindern.

Er haut nicht groß auf die Kacke, übertreibt

seine Extrovertiertheit. Er drückt sich umgekehrt

nicht feige an der Wand lang, wenn das

gar nicht zu ihm passt. Also direkter, als im

vergleichsweise abstrakten Modell einer Autoimmunstörung,

bei der der Laie mit diesem

Begriff seiner Krankheit konfrontiert, sich

zwar vorstellen kann, er beschädige seinen

eigenen Körper selbst, weiß aber nicht wie.

So behauptet Moshe Feldenkrais, in der Beobachtung

eigener Beweglichkeit einen Schlüssel

zur Fähigkeit zu besitzen, diese leichter

und fließender zu machen und im Wege angenehmerer

Beweglichkeit sich weniger gegen

die eigene Motivation zu stellen.

Er beschreibt den verbreitet unbewussten

Mensch als ein Problem seiner selbst. Eine

Methode für jedermann. Im Zuge um sich

greifender psychischer Erkrankung als eine

Entwicklung, die der modernen Gesellschaft

zusetzt, sollte nicht nur jedermann, sondern

Betroffene und Helfende im Bereich „Geisteskrankheiten“

sich zunutze machen, dass

kein Geist separat ohne Arme und Beine herumläuft.

Und mittendrin ist immer ein Leib,

der atmet. Ob man nun will oder nicht, au-

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tomatisch folgt ein Atemzug auf den nächsten.

Aber wie? Die Methode des israelischen

Physikers, die dieser aus der Not einer Knieverletzung

entwickelte, zeigt dem Menschen

Möglichkeiten zur Selbsthilfe auf, die ihm

normalerweise nicht vertraut sind. Dem automatisierten

Gehen, Atmen und Schlucken unserer

Funktionalität, hält Moshe die Fähigkeit

entgegen, bewusste Kontrolle aus Selbstbeobachtung

wie ein Werkzeug zu nutzen. Bewegung

generell zu verbessern. Hier geht es

nicht um selbstverliebtes Herumturnen. Was

ist der Sinn des Trainings?

Wenn wir uns erinnern, wie Sherlock Holmes

nicht nur beobachten kann, was Watson

denkt und weiter voran trottet, von einem

zum nächsten, sollte klar werden, dass der

Detektiv bei sich selbst ebenfalls in der Lage

ist, deduktiv denkend zu begreifen. Anders als

Mitläufer Watson, zieht er Schlüsse wohin die

Reise geht. „Wir wollen ein anderes Denken,

nicht andere Gedanken“, sagt Feldenkrais.

Effiziente und bewusste Bewegung gibt dem

Menschen die Fähigkeit, sich nicht unnötig

zu bremsen. Die Qualität guter Bewegung ist

dort, wo fließend innerhalb anatomischer Beschränkungen

gehandelt die Absicht erreicht

wird. Paul Watzlawick (Die Anleitung zum Unglücklichsein),

schreibt treffend: „Den einen

zerrt das Schicksal, den anderen führt es.“

Ich glaube, dass die Gesellschaft gut daran

täte, sich in Gesamtheit zu verstehen. Nach

dem Motto: Ein Land sei ein System, und da

kommt es auf die Qualität der Einzelteile an.

Weg vom fokussierten Blick auf die schuldhafte

Stelle, hin zu gesamtheitlichem Denken.

Anstelle man sich einen schmerzenden Fuß

abschlage, oder gesellschaftlich betrachtet:

Menschen wegsperrt, ist es möglich in besserer

Bewegung des Gesamten, diese Problematik

mit Integration zu lösen. Da wird nicht

der Fuß amputiert sondern unsinniges Denken.

Lieb gewonnene Überzeugungen aufgeben

müssen, ist der Preis den wir zahlen,

wenn wir uns weiterentwickeln möchten.

Maler John Bassiner? Ich habe mein unbeschwertes

Lachen wiedergefunden, bin in

vielem so, wie ich als Jugendlicher war, zu der

Zeit ich noch gehalten von Eltern und Schule

keine Karriere machen musste. Niemand

kann zurück. Jeden Tag laufe ich zu Fuß durch

Schenefeld – immer auf der Suche nach mir

selbst? Mehr habe ich nun das Gefühl, angekommen

zu sein. Wenn Schenefeld der

Ort ist, an dem „ich bin“ – gemessen an den

Kilometern, die ich, seitdem wir hier im Dorf

wohnen, in das Einkaufzentrum, dem „Staddi“,

gelaufen bin und zurück – dann bin ich von

ganz weit weg hierher gekommen. Ich fühle

mich nun zuhause.

# Der Grund psychischer Erkrankung in Abhängigkeit

von Bezugspersonen

Wir sollten uns auf die Suche nach dem

Grund einer Erkrankung machen, das ist keine

schlechte Idee. Der Psychiater ist gern anderer

Meinung. Der Grund sei eh nicht exakt

auszumachen, der Arzt beschäftigt sich lieber

mit der Gegenwart. Meiner Auffassung nach

wollen junge Menschen, die psychisch krank

werden, die Probleme ihrer Eltern lösen. Als

Kind bist du abhängig vom wohlwollenden

Rahmen. Das sind für gewöhnlich deine Eltern.

Die Eltern sind aber auch einzeln unterwegs.

Ich kann: „die Eltern“ sagen, aber das

ist bereits abstrakt. Vater mag, was Mutter

verbietet und so was. Dazu kommt, dass Eltern,

jedes Elternteil für sich, mit eigenen

Problemen kämpfen. Die kennen wir ja nicht.

Kommunikation ist eine verzwickte Sache, sie

findet auch in Mimik statt. Auf diese Art „erbt“

das Kind Verhalten, auch das Gegenteil von

dem was es spürt, falsch, wie der „kluge Hans“

(ein Pferd) vermeintlich zu rechnen lernte.

Die eigene Formel der Erklärung emotionaler

Krisen der Vergangenheit, im Modell alter

Muster aktuell in der Gegenwart nachzuerleben,

kann nützen. Was das genau heißen

soll, möge bitte jeder für sich selbst allein

herausfinden.

# Der selbstständige, gesunde Mensch

Mein Ideal ist unerreichbar! Eine feine Sache:

Für Verbesserungen gibt es keine Grenze. Das

Optimale kannst du definieren, das Normale

nicht. Wir wissen nicht, was krank ist, solange

wir vom Normalen ausgehen. Ein Denkfehler,

er könnte leicht korrigiert werden. Ein alter

Freund ist neuerdings unsicher: Würde er

überhaupt merken, ob er allmählich depressiv

wird? Er spürt, dass was anders ist, seit

er nach erfolgreichen Jahren schließlich aus

dem Ausland heimkehrte. Er fühlt sich unterfordert

– aber auch nicht motiviert zu neuen

Anfängen und überlegt, was in seiner Situation

normal wäre: „Lass’ uns im Sommer segeln

gehen“, meint er. Wie um sich selbst Mut

zuzusprechen?

# Mutig gegen das Normale!

Was ist ein normaler Mensch? Darüber sollte

jeder für sich nachdenken. Karl Lagerfeld, der

gute Zeichner und scharfsinnige Humorist:

„Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle

über sein Leben verloren“, dem ist es

leider gerade trotzdem passiert: Er hat die

Kontrolle und das Leben verloren, und er

fehlt. Aber war der normal? Der war nicht

krank, oder? Ein guter Gedanke, ob wir es mit

einem gesunden oder kranken Gegenüber zu

tun haben, ist wohl zu prüfen, ob mein „neuer

Freund“ frei und offen lachen kann?

Nicht für ein gutes Foto, ein Doppel-Selfie

oder das Plakat zur Wahl ins Amt der VerwaltungschefIn.

Professionell eingeübte Authentizität

nützt der Karriere. Freundschaften

kann man damit nicht gestalten. Das spontane

Lachen, das nichts kostet, nicht nützt:

Einfach so. Kinder können das meistens, und

dafür gibt es kein Stück Zucker oder ein:

„Gut gelacht, Kleines.“ (Für eine gute Note im

Zeugnis gibt die Oma einen Euro). Wir finden

Zeitgenossen, die kommen nie über ein spöttisches

oder melancholisch schiefes Lächeln

hinaus.

Da ist kein Freund: Ein dicker Opel ist ihm

sein BMW der anderen? „Ein Popel nur, er

kann mich nicht leiden.“ Du begreifst spät,

dass sich dein scheinbar sympathischer, dicker

Kumpel nur von einem Spruch zum

nächsten hakelt: „Er ist mir (vom Bahnhof

schon) nachgelaufen“, der Schatten-Mann.

Asterix waren wir, Obelix. Der Detektiv Nick

Knatterton auf heißer Spur? Lucky Luke, der

Mann, der schneller schießt als sein Schatten?

Ich habe einen, meinst du? Da spring’ ich

noch drüber.

Wer sein Lachen verkauft …

:)

Feb 13, 2020 - Ein Ideal ist unerreichbar 20 [Seite 15 bis 20]


Ein Stern ist immer nah

Feb 19, 2020

Ein guter Lebenslauf ist beneidenswert. Das

fehlerfreie Leben? Hier wird es (für den neuen

Chef) perfekt ausformuliert. Einigen gelingt

es. Ihr Leben gibt genug Wahrheit her,

alles noch ein wenig besser wirken zu lassen.

Erfolgreiche Karriereschritte gefallen in der

Bewerbung. Meine Geschichte ist durchaus

eine Predigt! Ein Sonntag im Februar, weit

östlich von Hamburg und weit von Schenefeld.

Ich bin in der Kirche: sitze in unbekannter

Stadt, zwischen fremden Menschen – um

zuzuhören, unbedingt dabei zu sein, wie genau

dieser Afrikaner hier ein weiteres Mal

im Leben sein Amt beginnt. Liberia ist näher

gekommen.

Der Lebenslauf vom neuen Pastor wird beschrieben,

und weil es dem Sonntag vorgegeben

ist, erfahren wir: Der Prophet Hesekiel aß

die Schriftrolle mit dem Leid der Welt (wie es

ihm aufgetragen wurde), aber sie schmeckte

wie Honig süß; dann ging er los und predigte.

Prediger aus Afrika: Heimat, wo kommst du

her? Ein kleines Dorf, fernab von Monrovia.

Was sagt er, alle fünfzig Meter steht dort eine

Kirche, und die Kinder beten jeden Morgen

eine ganze Stunde vor der Schule? Bei diesem

Radau, dem Lachen und allgemeinen Palaver

muss man aufstehen, kann nicht lange

ausschlafen im Zimmer daneben: Kinderlärm

heißt das bei uns? Sie sind zufrieden dort im

Unterricht, lernen, lachen; aber sie können

nicht sicher sein, anschließend zuhause ein

Essen zu bekommen. Mein Freund erzählt, er

predigt immer, mit jedem Satz, den er sagt. Er

lacht, er albert, er packt mich … wir schleudern

uns herum, geradezu – vor Freude uns

wiederzusehen – und er ist doch immer ganz

ernsthaft. So einen trifft man nur einmal

im Leben. Für den norddeutsch-rothaarigen

Probst ist sein afrikanischer Name ein Zungenbrecher.

Er übersetzt ihn für uns, es heißt

in etwa: Die lange Reise.

Lebenswege kreuzen sich, Menschen begegnen

sich. „War das Glück?“, fragt mich Siaquiah

später im Gemeindehaus mit vielen

Gästen, erinnert an den Anfang, sieht die

anderen Kinder ohne Perspektive im Heimatdorf.

„Oder war das Gott?“, er will die Antwort

erzwingen, fixiert meine Augen, stellt sich

mir in den Weg, wir rangeln wie Jungs; ich

weiche aus.

Zuhause in Deutschland. Ich bin im Wohlstand

aufgewachsen und habe bezahlt: Hier

kannst du alles kaufen. (Die Gesundheit

nicht). Gegen Ende des Studiums wusste ich

noch nicht, was auf mich zukommt! Mein

Leben? Möglicherweise hätte ich’s anders

gelebt (wenn es uns voraus gesagt würde)?

Eine Geschichte vom anderen Stern, aber das

suchst du dir aus? „Eine kurze Geschichte der

Zeit“, hat Stephen Hawking sein Buch genannt.

Physik und Glaube, können sie Freunde

sein? Kunst sei meine Physik – das habe

ich gesagt. Ein Versuch zu retten, was zu retten

ist: Was geht?

Am Anfang meiner eigenen langen Reise:

In der Übergangszeit, noch während des

Diploms, habe ich damit begonnen an einer

privaten Kunstschule Unterricht zu geben.

Nachdem ich mein gutes Zeugnis in informativer

Illustration erworben hatte, war ich

noch einige Jahre lang Lehrer für figürliches

Zeichnen und Perspektive an der HTK.

Ich unterrichtete junge Menschen in einer

grafischen Ausbildung. Über das Büro dieser

privaten Hamburger Schule, vermittelte mir

die Sekretärin nach Rücksprache mit dem

Leiter auch einen Erwachsenen. Bald erklärte

ich diesem Mann perspektivische Grundlagen

im Zeichnen. Einzelunterricht, zuhause

bei meinen Eltern in Wedel. Er kam dafür mit

dem Auto etwa vierzehntägig aus Kiel zu uns

gefahren! Das hatte nichts mit der Schule zu

tun, da passte der gar nicht rein. Während es

mit den Jugendlichen und ihrer Motivation,

perspektivisch zu zeichnen problematisch

war, wollte dieser Mann wirklich lernen.

Vollkommen untalentiert, ein junger Architekt.

Er hatte einen Job an der Uni angenommen.

Seine Aufgabe: Architekturstudenten Grundlagen

des Freihandzeichnens beizubringen,

und das konnte er gar nicht. Er wollte deswegen

vorbereitende Nachhilfe von mir. Mit

dem, was ich ihm riet, bekam er Erklärungen,

die er dann vor Ort in der Gruppe weitersagte.

Mal hatten seine Schüler und er vor einer

Treppe im Gebäude der Uni gesessen, ratlos

wie das Ding korrekt abzuzeichnen sei. Was

ich gemeint hätte, wenn ich dabei gewesen

wäre? Das waren Fragen!

Die Erinnerung ist ein Fenster in die Vergangenheit.

Das kann sich jederzeit öffnen: Beim

anschließenden Empfang für den Pastor in

seiner neuen Gemeinde nach der Predigt gab

es noch ein Buffet und mehr Musik vom hervorragenden

Chor. Geselliges Beisammensein

mit den Menschen, die ihren Prediger nun

ganz aus der Nähe kennen lernen konnten.

Jetzt musste ich wieder an meinen Unterricht

für den Architekten damals denken!

Für meinen Schüler seinerzeit, war Perspektive

abstrakt wie die Mathematik. Er hatte

bisher nur darauf geachtet, sich zielgerichtet

im Raum zu bewegen ohne mit dem Rahmen

einer Tür zu kollidieren, wenn er ein Zimmer

betrat oder ein Auto zu fahren und dabei exakt

der Straße zu folgen. Er sah Filme wie er

las, wegen der Romantik oder dem Inhalt an

sich. Das Geschick, eine Kamera szenisch zu

verwenden, blieb ihm verborgen.

Wir hatten über ein Jahr lang miteinander die

anregendste Zeit während der Lektionen, die

ich ihm gab. Dieser Schüler war ganz anders

als ich selbst. Der fragte Sachen! Ich war es

gewohnt, dass die Mädels im Unterricht nicht

zeichnen konnten – und sich auch nicht dafür

interessierten. Dieser Mann, ein wenig älter

als ich, war sehr interessiert zu lernen. Das

gefiel mir. Ich konnte alles erklären, was er

fragte. Das Problem war nur zu oft, dass er es

trotzdem nicht verstand. Er ging theoretisch

vor, fragte: „Warum sind die Köpfe der Menschen

auf einer Höhe, auf einer Linie?“ Ich

musste darüber nachdenken, denn es stimmt

ja nicht.

Besonders neulich, mit all diesen Kirchenleuten

im Raum, kam mir das wieder in den Sinn.

Für meinen Schüler war das Ganze mit der

Perspektive eine Sammlung von Lehrsätzen,

die er selbst in Büchern gelesen hatte und

nicht mit der Realität überein bringen konnte.

Für mich heute, mit der Lebenserfahrung

aus eigenständiger Malerei, anders noch

als früher, ist mit den Augen die Umgebung

wahrzunehmen, wie Musik hören für den Musiker.

Die anderen konsumieren. Ich schaue

nicht einfach: Wo ist das Buffet?

Auf diesem Empfang waren mehrheitlich

Menschen, die ich nicht kannte. Ein kleiner

Raum, randvoll mit etwa hundert Personen.

Ein Chor zwischen uns hinein gestreut, der

rund um den Flügel in der Ecke sein passendes

Liedgut beigesteuert hat. Das ist doch ein

Erlebnis! Man steht dicht an dicht, ist höflich

bemüht, niemanden anzurempeln und muss

diese Entscheidung treffen: Soll ich applaudieren

nach Ansprache oder Musik, und was

mache ich dann mit meinem Sekt?

Das mit den Köpfen, die alle gleich hoch

wie auf einer Linie mit dem Horizont sind?

Es steht wahrscheinlich in einem Buch, das

uns den Unterschied zwischen den unterschiedlichen

Perspektiven erklären möchte.

Ich schweife (vernünftigerweise) ab: in das

Studium. Wir machten zweimal einen längeren

Ausflug mit Kommilitonen nach Bologna

zur Kinderbuchmesse. Dort habe ich viel

skizziert. Italien ist wunderbar. Florenz, ein

Tagesausflug: Einmal habe ich mich direkt in

den Strom der Leute im Marktweg auf den

Boden gesetzt und gezeichnet. Die Menschen

kamen auf mich zu (traten mich nie oder rempelten

mich an, sie schimpften nicht). Ich war

da unten zeichnend kleiner als ein Kind.

Aus dieser Perspektive waren die Köpfe der

Marktbesucher ganz bestimmt nicht wie auf

einer Linie aufgereiht. Welche, die mir schon

ganz nah waren, erschienen bedrohlich groß

und hatten ihren Kopf hoch über mir. Ich sah

hinauf, konnte ihr Kinn von unten sehen. Die

anderen, weiter entfernt, ragten bei weitem

nicht so auf, aus meiner Sicht jedenfalls. Sie

kamen im Bereich der Beine der nahen Personen

heran, und ihre Köpfe waren etwa in

Höhe der Knie von denen, die mir gerade ausweichen

mussten. Von den weiter entfernten,

sah ich die Hüfte dort, wo ich die Köpfe der

Menschen noch weiter im Hintergrund erkannte:

Das ist Froschperspektive.

Klar, für die anderen, die alle aufrecht laufen,

sind die Gesichter gleichauf in einer Höhe,

vom Unterschied der Körpergröße einmal

abgesehen. Wenn ich und alle anderen laufen

oder herumstehen, ist der Horizont unsere

gemeinsame Linie und Augenhöhe. Theorie

und Praxis beginnen dort, wo das wirkliche

Leben spürbar ist und Geschichten in Gang

kommen. Natürlich, ein Architekt zeichnet

mit dem Lineal perspektivische Fluchten

messerscharf, aber es sind Menschen, die in

den Häusern leben. Den Mensch kann ich mit

einem geraden Lineal nicht erfassen.

Zwischen den Gästen anschließend der Einführungspredigt

war eine alte Dame, ganz in

Schwarz gekleidet aber vergnügt, und die war

klein wie ein Kind. Weil sie so verschmitzt

durch die Menge stocherte, einen Gehstock

in der Hand, war ich mutig genug (und ein

wenig frech) sie, obwohl sie mir ja ganz unbekannt

war, anzusprechen. Sie wollte in

Richtung der Tür, und ich machte ihr gern

Platz. „Sie sind ja ziemlich klein“, habe ich gescherzt,

„aber das sind sie ja schon länger.“ Sie

lachte und erzählte, wie alt sie sei und einige

Weisheiten zu großen- und kleinen Leuten

Feb 19, 2020 - Ein Stern ist immer nah 21 [Seite 21 bis 23]


gab sie zum Besten. Und verließ dann endlich

den Raum, wie sie es eigentlich gewollt

hatte, zur Toilette oder Garderobe. Unter den

Riesen rundherum fand sie den Weg.

Bald nach der Musik durften wir uns den kulinarischen

Genüssen zuwenden: Die Menschen

drängten in die Ecke mit dem Buffet.

Kleine, runde Stehtische waren hier und da

aufgestellt. Die Schwierigkeit, sauber zu essen

bestand nun darin, dass es keine Teller

gab. Ein richtiger Probst war unter den Anwesenden;

es galt sich zu benehmen! Verlockend:

Da waren silberne Platten, so Tabletts

in guter Größe, reichlich mit Happen gefüllt

und einige Schüsseln mit Klopsen und ähnlichem

Fingerfood appetitlich aufgebaut. Die

Gastgeber hatten mundgerechte Häppchen

fabriziert. Oft steckte ein kleiner Spieß darin,

mit einer Olive noch verfeinert. Es gab auch

Stapel mit grünen Servietten. Sinnvoll, eine

dazu zu nehmen? Man musste die kleinen

Käse-, Wurst- oder Lachsbrote, die Frikadellen

und dergleichen ja mit den Fingern essen.

Was aber mit dem Sektglas machen?

Während ich mich den leckeren Raffinessen

allmählich näherte, musste ich geduldig sein.

Da gab es keine Richtung. Die Gäste strömten

von allen Seiten in die Ecke mit den weißbetuchten

Tischen, den verschiedenen Leckereien.

Vor mir stand ein Mann mit ergrautem

Haar, beginnender Glatze. Er war nicht besonders

groß. Ich konnte nun leicht von oben auf

seinen Kopf sehen oder das Terrain davor mit

den zu erwartenden Speisen sondieren und

bemerkte dazu ein silbernes Hörgerät hinter

seinem Ohr. Es dauerte, und ich liebe es

zu schauen. Der ältere Herr trug ein legeres

Jackett, aber immerhin – ich war dort im einfachen

Pullover. Sicher ein Mensch, der dem

Anlass entsprechend sonntäglich fein war.

Nun hatte er links in der Hand ein nur noch

halb gefülltes Sektglas, aus dem er schon getrunken

hatte. Das konnte ich gut beobachten.

Für mich war es leicht, ein wenig über

seine Schulter zu schaun; ich bin kein kleiner

Mann. Er wollte ein Kunststück zu Wege bringen

und geriet dabei unvermittelt in schwere

See: Sein Problem, wohin mit dem Brot? Das

hatte er sich genommen, und anschließend

fiel ihm ein, noch eine Serviette zu nehmen.

Das kleine Käsebrot? Der ältere Herr legte es

nun einfach auf dem Sektglas ab. Wie praktisch.

Das Käsebrotstückchen war quadratisch,

kaum größer als das Glas oben.

Eine riskante Sache! Der Senior war aufgrund

seines Alters nicht fest im Stand. Er schien

mir ein wenig unsicher. Nun griff er mit der

anderen Hand in Richtung Tisch – um sich

die Serviette zu nehmen? Das kann ich nicht

sagen. Während sich der distinguierte Gast

ganz auf seine Tätigkeit rechts konzentrierte,

beobachtet ich fasziniert, wie das schmale

Häppchen allmählich ins Glas rutschte! Eine

Ecke sackte runter in den Sekt. Nur eine kleine

Käsekante blieb tapfer, verankerte den

Leckerbissen gegen die Schwerkraft am gläsernen

Kliff. Die klebende Butter hielt (noch)

das Brot am Käse.

Eine Bindung auf Zeit …

Jetzt war der Alte rechts zu Potte gekommen

und bemerkte das beginnende Malheur auf

der anderen Seite in seiner linken Hand. Noch

war ja nichts verloren! Er spitzte zwei Finger

zu einer Zange für die letzte Ecke Käse, die

noch oben am Rand vom Glas das Ganze

hielt. Aber das dünne Schwarzbrot darunter

löste sich langsam – scheinbar in Zeitlupe –

und ich konnte sehen, wie es zunehmend in

einem größeren Winkel vom Käse, nach unten

in Richtung Sekt kippte.

Der Mann hatte den Käse inzwischen erfolgreich

zwischen Daumen und Zeigefinger, die

Serviette noch irgendwie nebenbei in der

Hand verknotet, wie mit einer Pinzette ergriffen

– und bewegte seine Hand, als behutsamen

Hebekran mit schwieriger Fracht auf

der Baustelle, sacht nach oben. Das sah ganz

gut aus!

Aber, wie in einem Film für mich inszeniert,

es kam zum Schlimmsten: Den Käse konnte

er retten, das Brot stürzte schließlich doch

in den Sekt. Jetzt: Ich wurde von hinten behutsam

angerempelt, ich sollte voran machen?

Die wussten ja nicht. Ich blieb stehen,

schweigend, eine Mauer für die Hungrigen

hinter mir. Niemand sollte wissen, warum es

hier nicht weiter ging.

Der ältere Herr, ich wollte ja nicht, dass er’s

noch merkt, wie ich bei allem der Voyeur

dabei war. Aber man kann nie wissen. Seine

hinteren Augen werden mich erspürt haben.

Eine von höheren Mächten herrlich arrangierte

Situationskomik. Alles geschah unauffällig

und dezent in die Handlung integriert,

mit Lebenserfahrung feinfühlig gestaltet,

sparsam peinlich und absolut wortlos. Ein

mir unbekannter Mann. Später stand er gelegentlich

noch irgendwo im Gespräch, ich

habe hinüber geschaut, was das wohl für einer

sei; er hatte Bekannte im Raum und ich

war fremd in seinem Film dabei gewesen.

„Stern, auf den ich schaue“, war das abschließende

Lied drüben in der Kapelle, bevor wir

Kirchgänger hier in das kleine Gemeindehaus

zum Empfang und dem Buffet hinüber

gewechselt waren. Und so komme ich in diese

Geschichte, jetzt erst. Vor nicht so langer

Zeit hatte das angefangen.

Eine andere Kirche. Ottensen – Chorkonzert

zum Ausklang der Weihnachtszeit, die genau

genommen bis Anfang Februar gerechnet

wird. Der große Baum stand noch am Übergang

vom Altarraum zu den Kirchenbänken,

weihnachtlich ausgestattet, mit all seinen

Kerzen. Im Januar war ich dort Teil der Zuhörer

eines allerfeinsten Musikabends mit Chor.

Wir wurden gebeten, die Handys abzuschalten.

Man funke auf der selben Frequenz, das

Gespräch käme unweigerlich in guter Lautstärke

aus den Lautsprechern für alle, erklärte

man uns gleich zu Beginn.

Eine musikalische Reise, und Ende Januar unerwartet,

wurden wir noch einmal mit dem

Stern von Bethlehem vertraut gemacht. Was

war damals geschehen? Die drei Weisen aus

dem Morgenland waren einem Stern nach Israel

gefolgt, bis sie zu der Hütte kamen, wo

sie Maria und das Christkind im Stroh fanden.

Der Moderator beschrieb es uns: Man nimmt

heute an, eine ungewöhnliche Konstellation

von Planeten sei der historische Hintergrund

dazu. Anschließend zitierte er den Maler

Leonardo da Vinci: „Binde deinen Karren an

einen Stern.“ Leonardo auch? Das habe ich

gedacht und wieder überlegt, was ich mich

schon als Kind gefragt habe: Kein Stern steht

über einer Hütte!

Perspektive: Wenn ich die Hütte erst erreicht

habe, ist der Stern wieder ganz dahinten, über

dem Horizont. Vielleicht steht er dann über

einem Berg oder über einer neuen, anderen

Hütte? Das hat mich weiter beschäftigt. Leonardo

ist ein Freund! Der gute Zeichner: ein

Vorbild und eine Anregung für jedes talentierte

Kind. Was hat er gemeint?

Jeden Tag habe ich ein wenig daran gedacht.

Ich fing schon im Januar an, mich an

den Schüler damals aus Kiel zu erinnern, der

nicht begriff was eine Perspektive ist. „Warum

ist der Horizont auf Augenhöhe?“, wollte er

wissen. Wie erkläre ich das, überlegte ich seinerzeit.

„Hinter dem Horizont geht’s weiter“,

Udo Lindenberg, der muss es wissen. Es ist

mehr als eine rote Linie im „Zeichnen leicht

gemacht!“

Ich kam auf diesen Einfall: „Hören Sie zu“,

sagte ich, „wir machen ein Gedanken-Experiment.“

Er schaute interessiert, und ich fing

an: „Wir gehen in das Weltall, so etwa auf den

Mond, aber kleiner; stellen Sie sich mal vor,

da stehen wir auf so einer kleinen Scholle

rum, weiter nix.“ Er verstand es nicht. Ich

sagte, dass der Horizont für uns auf der Erde

gleichermaßen abstrakt wie gewöhnlich sei

und ich neue Bedingungen schaffen wolle,

um das besser zu verstehen.

Ich erläuterte meine Fiktion: „Wir nehmen

eine Platte, und da stellen wir uns drauf. Stellen

Sie sich vor, dass diese Platte recht klein

ist, wir beide passen rauf, aber es ist so, wie

auf der Ladefläche vom Lkw. Rundherum ist

nur das Weltall. Machen Sie sich keine Sorgen

wegen der Luft, wir können atmen, und

es ist auch genügend Schwerkraft vorhanden,

fast wie zuhause. Wir stehen auf einer kleinen

Platte im Weltall herum.“

Er fand das prima, aber er wusste nicht, wo

es hinführen sollte. Ich erklärte: „Schauen Sie

nun zum Rand der Platte, nehmen Sie einfach

an, das ist gleich da vorn.“ Wir waren aufgestanden,

und ich zeigte auf die Fußleiste

vom Zimmer vor uns, wo die Wand den Raum

begrenzte. „Wir schauen in einem Winkel abwärts,

nicht ganz zu Boden, wo unsere Füße

sind, aber auch nicht waagerecht – wenn wir

mit diesem Zimmer im Weltall wären und

alle Wände entfernten, dann wäre das so

etwa unser Horizont“, behauptete ich. (Er verstand

das nicht).

Ich bemühte mich weiter: „Sehen Sie“, fing ich

erneut an, „nur als Idee.“ Ich meinte: „Der Horizont

ist umgangssprachlich dort, wo Himmel

und Erde sich berühren. Das kommt, weil

die Erde, auf der wir normalerweise stehen,

sich nach unten fort krümmt. Als eine Kugel,

kommt schließlich irgendwann der untere

Teil, den wir nicht sehen können. Für meine

Idee, Ihnen das zu erklären, benötige ich eine

kleinere Erde. Das soll der Fußboden hier

sein.“

Ich führte weiter aus: „Eine kleine Platte, und

dort, wo wir beide den Rand sehen, fängt für

uns der Himmel an. Wenn der Boden näher

bei uns als für gewöhnlich endet, beginnt der

Himmel entsprechend näher. Und weil der

Raum recht überschaubar ist, müssen wir dafür

ein wenig nach unten schauen. Wir können

uns eine noch kleinere Plattform vorstellen,

eine Art Teppich, so ein kleiner Fußläufer,

dann schauen wir deutlich nach unten, und

das nennen wir jetzt einfach mal Horizont.

Denn dort, wo der Teppich zu Ende ist, wird

sichtbar unser Weltall beginnen.“

Feb 19, 2020 - Ein Stern ist immer nah 22 [Seite 21 bis 23]


Er blieb skeptisch, und ich holte Luft und weiter

aus: „Bei einer sehr kleinen Platte, schauen

wir runter auf unsere Füße, um den Beginn

vom Himmel zu sehen. Das ist so etwa eine

große Schallplatte. Wir quetschen uns darauf

und schauen diesen Rand an, unseren Horizont:

unten bei den Füßen. Je größer wir nun

diesen Mond zum Herumspazieren für uns

beide hier im Weltall machen, zunächst etwa

in der Größe einer Ladefläche entsprechend

der Pritsche auf einem Lastwagen, umso mehr

werden wir den Blick von abwärts geneigt in

der Nähe unserer Füße anheben müssen, um

die Kante zum Himmel zu sehen. Je mehr Boden

da um uns herum ist, desto entspannter

schauen wir immer noch ein wenig höher, näher

zur Waagerechten, wo wir schließlich den

Himmel beginnen sehen.“

Unendlichkeit, was ist das? Ich wollte helfen:

„Stellen Sie sich ein Gartengrundstück vor

und anschließend fügen Sie weitere Grundstücke

vom Nachbarn an, bis der Fußboden

recht groß geworden ist. Dann ist die Kante

der Welt scheinbar immer weiter weg, und

für uns gesehen: rauf. Sie beginnen bei Ihren

Füßen, schauen auf die Schuhspitzen und

beginnen den Kopf zu heben. Da ist quer vor

Ihnen ein Zebrastreifen aufgemalt. Wie auf

der Tastatur vom Klavier, Balken für Balken,

definieren Sie eine größer werdende Platte

als Ihren Fußboden. Eine Querlinie folgt auf

die nächste, und Sie müssen, um die wahrzunehmen

den Blick immer weiter dafür anheben.Unendlichkeit:

Irgendwann schauen Sie

geradeaus, und da fängt der Himmel an.“

Es war hoffnungslos. Er blieb bei dem hängen,

was er bereits zu Beginn ergrübelt hatte,

unverändert: „Ich schaue waagerecht, und

der Boden ist parallel dazu?“ Mein verzweifelter

Schüler störte sich nach wie vor an seiner

ihm eigenen Logik. Er fuhr fort zu fragen:

„Und trotzdem sehe ich den Himmel dort beginnen?

Schlimmer noch, die Erde wölbt sich

unter mir weg, aber ich müsste doch in einer

Schüssel stehen, damit es klappt?“ Er verstand

nicht. Es war nicht zu schaffen: Die Flucht der

Parallelen, das konnte so nicht sein. (Ich habe

ihm viele Skizzen gemacht).

Was soll das heißen, binde deinen Karren

an einen Stern? Ich sehe einen leuchtenden

Punkt am Himmel: „Ah! Dahinten ist er

ja!“ Und nun man los. Über der Hütte (dahinten)

steht das funkelnde Licht. Noch ein

überschaubarer Marsch zu Fuß: „Wir werden

schon bald dort sein.“ Die drei Weisen! Wir

müssen nicht lang in uns gehen, um zu begreifen:

Wenn das wirklich der Planet Jupiter

oder sonst ein fernes Gestirn am Himmel

gewesen ist, damals. Was passiert, wenn man

bei irgendeiner fernen Hütte angekommen

ist? Der Stern ist schließlich nicht etwa da

oben, genau über unsrer Hütte, die wir aus

der Ferne zum Ziel bestimmten, geführt vom

fernsten Licht, wenn wir sie endlich erreicht

haben. Der Stern ist nun aufs Neue: „dahinten“

– weit, so ganz weit weg.

Leonardo, der gute Zeichner, wusste das. So

sind diese Sterne doch schon immer gewesen,

außerhalb unsres Begreifens. Das macht

sie aus: die andere Welt, die uns kein Bildnis

vollständig erklärt. Selbst Einstein blieben

schließlich neue Fragen, und der ist weit, auf

eine ganz lange Reise gegangen, mit seinem

Relativitätsbaukasten im eigenen Schädel.

Die Weisheit der drei Könige bestand in erster

Linie darin, an genau diesem Abend, nach

einem sehr langen Marsch, einer langen Reise,

an genau dieser Hütte eine grundsätzliche

Rast zu machen: das ganz persönliche Ende

glaubhaft zu finden und anzukommen. Einem

Stern zu folgen, kann nur heißen, dass man

dabei selbst auch stoppen darf, kann (und von

neuem loslaufen). Das ist der Beginn davon,

selbst zu denken, aber weiter in Beziehung zu

bleiben, mit der ganzen, großen Welt.

Die „Wega“ in der Leier ist recht hell. Die

Leier ist ein kleines Sternbild, und in unseren

nördlichen Breiten steht sie hoch am

Himmel. Daran erinnere ich mich: Das ist im

Sommer, und in einem der schönen Jahre mit

lang anhaltend gutem Wetter, war ich mit einer

Freundin und dem Boot in der „dänischen

Südsee“ unterwegs. Wir konnten jede Nacht

„offen“ schlafen, hatten das Persenning nur

im Bereich vom Vorschiff sicher gegen den

Wind gebaut. Es hat nie geregnet und kaum

einmal lag Taufeuchte in der Luft. Achtern lagen

wir, auf dem Rücken nebeneinander, in

den einfachen Kojen der Jolle. Wir schauten

jeden Abend noch lange in den Sternhimmel,

bevor wir einschliefen!

Wir können „Steinbock“ sein oder „Jungfrau“,

aber niemand ist „Leier“ – die Ekliptik verläuft

woanders. Der Jupiter geht hier über

den Himmel, wie die Sonne und der Mond.

Quert diese Bahn der Wandergestirne Israel

im Scheitelpunkt des Himmels? „Dichter bei“,

als in Dänemark jedenfalls – das können wir

sagen. In einem Land, wo die Sonne im Zenit

stehen kann, wird es wohl möglich sein,

einem Planeten beim Aufgang entgegen zu

wandern, weiter die Richtung des eigenen

Weges seinem Lauf stetig anzupassen? Und

schließlich Halt zu machen, die Schritte in

eine Raststätte zu lenken, wenn auch der

Himmelswanderer genau über uns ist. Eine

unendlich ferne Begegnung und eine Erklärung.

Aber, so finde ich jede Nacht „meine“

Hütte neu. Jupiter geht auf, und ich mache

mich auf den Weg? Bis er über mir steht, wie

bei uns die „Wega“ das so ungefähr hinbekommt.

Dann noch die passende Herberge zu

dieser nächtlichen Uhrzeit finden? So können

wir alles zerreden.

Ich habe mich immer gefragt, warum die Bibel

nicht fortgeschrieben wird: Die Wunder

waren nur früher? Dann wären es Märchen,

und wir könnten den Glauben gleich aufgeben.

Dass es nicht so ist – wir sollten realisieren,

wie viele denkwürdige Momente uns

widerfahren, die wir nicht begreifen.

„Stern, auf den ich schaue“, haben wir gesungen,

und wie sehr mich das an gerade diesem

Tag berührt hat! Nicht lang vorher, kam tatsächlich

etwas über Leonardo auf „Arte“. Und

dann dies, im Café am Backshop, wie es das

überall gibt. Sie haben dort so runde Tische.

Klein sind die und aus dunklem Holz, beinahe

schwarz. Es galt eine gute halbe Stunde

Zeit zu verbringen, weil der Schlüsseldienst

zu dem ich wollte noch nicht geöffnet hatte.

Meine neue Brille: „Gleitsicht“ wie vorher,

aber dies ist die Beste, die ich je hatte. Ich

trage sie den ganzen Tag und merke das gar

nicht. Sie ist so gut! Man liest irgendwelche

Schilder, schaut nebenbei auf die Armbanduhr,

dann zum Horizont, problemlos und gestochen

scharf, muss nicht nachdenken. Die

alte habe ich noch jedes Mal abgenommen,

wenn ich nicht gerade lesen wollte.

Da ist nach wie vor einiges an Glas verbaut,

das gerade nicht nutzbar ist. Um scharf zu sehen,

muss man die Dinge gezielt betrachten.

Man dreht den Kopf. Wo ich nun, die Brille

so lang am Tage auf der Nase, ein wenig wie

früher den Blick schweifen lasse, kommt tolerierte

Unschärfe auf, wenn meine Augen

durch einen Bereich träumen, der nicht geeignet

ist.

Beim Bäcker warte ich, und mein Blick geht

hier- und dorthin. Ich beginne ein wenig an

meinen Schüler und die kleine runde Platte,

auf der wir im Weltall stehen wollten, nachzudenken.

An Leonardo denke ich. Träume,

was antreibt! Das Leben und mein Stern,

darüber sinne ich nach. Ganz weit weg. Eine

ferne Sonne – wo sie wohl gerade ist und

ihre Aufgaben erfüllt? Warum musste alles

so kommen? In unendlicher Ferne, weit

hinter jedem Horizont – riesengroß und für

mich doch so klein, unerreichbar. Ein zackiger,

flinkernder Lichtpunkt in der Ferne, am

schwarzen Nachthimmel. Dahin denke ich –

und träume.

Mein Blick duselt auf der dunklen, kreisrunden

Holzplatte vom Tisch rum – und woanders

hin. Zurück! Da war doch was? Was habe

ich gerade gedacht, ein Stern, Leonardo und

so weiter; wieso habe ich gerade jetzt daran

gedacht? Und was sehe ich eigentlich dort

auf dem Holz genau? Ich nehme im unscharfen

Bereich vom Brillenglas einen ganz kleinen,

hellen Punkt wahr – aber es ist ja ganz

einfach, eine geringe Bewegung mit dem

Kopf – und jede Entfernung wird gestochen

scharf, tatsächlich: Ein kleiner Stern ist auf

dem Tisch!

Ich beginne das Ding zu untersuchen. Es ist

ein winziger, heller Punkt, fast etwa einen

Meter von meinem Kopf entfernt. Und ich

zähle nach, sechs Zacken hat das Ding, ganz

symmetrisch perfekt. Aber dieser Stern ist

nur einen oder zwei Millimeter groß; es ist

ein winziger Brotkrümel! Nicht mehr als ein

halber Stecknadelkopf.

Ich beuge mich vor: Sofort hört der winzige

Stern, inmitten der großen, runden, dunklen

Platte auf, einer zu sein! Dieser vertrackte

Krümel. Je dichter ich mich an das Ding

annähere, desto länglicher wird er und sieht

immer weniger wie ein Stern aus. Vorsichtig

richte ich mich wieder in die vorherige Position

auf und nehme exakt den alten Sitzplatz

ein. Ganz schön weit weg ist der Krümel nun,

aber die gute Brille macht es möglich, sogar

in dieser Entfernung noch kleinste Schrift zu

lesen: Das ist keine Schrift; was ist das?

Nur von hier, aus ganz exakt dieser Perspektive,

ist das ein vollkommen regelmäßig ausgebildeter,

sechs-zackiger Stern. Das Stück

Brösel erinnert unweigerlich an eine kristalline,

extra-kleine Mini-Schneeflocke. Wie

gezeichnet, so perfekt sieht das aus und so

winzig. Eine ganze Welt! Ich spinne, träume,

bin im Café und rase durch die unendlichen

Weiten einer braunen Holzplatte – ich habe

gerade meinen Stern gesehen, und er ist hier

bei mir. So weit weg – und hier auf diesem

Tisch. Mein Fenster in das Universum. Ich

habe das Allergrößte gesehen, direkt vor mir

– und es ist ein winziger, kleiner Krümel.

:)

Feb 19, 2020 - Ein Stern ist immer nah 23 [Seite 21 bis 23]


Corona?

Mrz 30, 2020

„Kunst kommt von Können“, manche beißen

sich an diesem Satz fest. In einer Doku, die

ich vor einigen Jahren sah, wurde ein etablierter

amerikanischer Maler vorgestellt. An

seinen Namen erinnere ich mich nicht mehr.

Er erzählte, dass er vor längerer Zeit den

Durchbruch in die Szene der Sammler erzielt

hatte. Irgendwie habe seine Art, Porträts vor

flächigem Hintergrund zu malen, eingeschlagen.

Seitdem würde es laufen. Zum Verkauf

gefragt, antwortete er: „Die Galeristen halten

mir die Leute vom Hals.“ Eine Art Pufferzone,

er wolle in Ruhe arbeiten. Was ein junger

Mensch tun müsse, um Künstler zu werden?

Er antwortete als Maler: Er sagte zum einen,

dass er den Erfolg den er habe, nicht genau

erklären könne. Schließlich meinte er, ein Interessierter

solle erst einmal fünf, sechs Jahre

malen und die Anerkennung nicht so wichtig

nehmen. Er sagte es mit einer Spur Humor.

Das hieß nämlich: Nachdem du mehrere Jahre

gemalt hast, bist du Maler. Die anderen

hören vorher wieder auf.

Dieser Künstler mochte für sich bleiben. Die

Galeristen halten ihm die Leute vom Hals,

und das gefällt ihm. Die Menschen sind

verschieden: Wer hingegen in eine Musik-

Casting-Show geht, sucht das Publikum. Dem

gegenüber steht die Liebe zum Material, das

eigene Werk, die andere Seite der Kreativität.

Fünf, sechs Jahre arbeiten, dann wüsste man

schon – die Beschäftigung mit Farbe, was

kann ich machen? Mit den Tönen der Farbe

spielen; wie in der Musik.

Kunst, Können? Nicht mehr anders können.

Wen es zur Kunst hinzieht, fragt sich, warum

bei ihm das Normale nicht gut funktioniert

oder schließt es gleich von Beginn aus. Dafür

gibt es verschiedenen Gründe. Die größere

Freiheit ist ein Grund. Ein eigenes Werk. Ein

Aspekt ist Unabhängigkeit und zwar auch in

der Form der Beschäftigung, nicht nur finanziell.

Dagegen steht die ernüchternde Realität,

dass dieses Ziel oft nicht erreicht wird,

auch nicht nach fünf, sechs Jahren malen.

Anerkennung: Für Musiker ist die Bewunderung

des Publikums ein Teil der Arbeit. Maler

oder Schriftsteller können dagegen zurückgezogen

schaffen. Deswegen bedeutet die

Suche nach Kreativität, sich die Frage nach

dem Platz in der Gesellschaft zu stellen. Die

eigene Identität. Was mich ausmacht (und

was ich nicht mag) beschreibt, was zu mir

passt. Ob es noch zu mir gehört und damit

auch meine Grenze: Was ich nicht leiden

kann oder nicht hinbekomme, bleibt draußen.

Was ich also kann und was nicht. Kunst, Können?

Das ist die exakte Kenntnis der eigenen

Fähigkeit und weniger, ob man eine Blumenvase,

ein Still-Leben oder Figur wie ein alter

Meister malen kann.

Maler entwickeln Themen. Über meinen Professor

Flurschütz schrieb jemand: Die Beschäftigung

„mit dem Weiß“ sei es bei ihm.

David Hockney mahnt hinzuschauen: Ist, was

ein Künstler über seine Bilder sagt, wirklich

Teil des Werks? Ich bin nicht gerade Maler

von Grenzlinien, wie als wären da Länder

auf meinem Bild kartengleich beschnitten,

dennoch: Mir ist erst nach und nach klar geworden,

dass mir die Definition der eigenen

Grenze das wesentliche Element meiner Arbeit

ist.

# Kunst zeigt mir die Grenze

Ein Virus zeigt uns allen die Grenze.

Die Menschheit macht eine Pause.

März 2020 – Wir bleiben zuhause. Wie

weit reicht das Licht unserer Welt?

Kein neues Wort: Die Korona (lat. Corona

= Kranz, Krone) der Sonne. Sie ist

für das menschliche Auge nur bei einer

Sonnenfinsternis zu sehen, da sie

sonst von der restlichen Sonne überstrahlt

wird.

Wie weit reicht das Ich? Mit dem Aufbruch

in das freie Malen, bin ich meinem

Ursprung wieder näher gekommen. Der

Anfang meiner Persönlichkeit: eine Erinnerung.

Wir waren eine kleine Familie und ich

das Kind. Unser Boot, die H-Jolle – ein kleines

Schiff aus Mahagoni-Holz, schön glänzend

lackiert. Das war damals modern. Ich erinnere

mich nur, weil mein Vater es immer wieder

erzählt hat, diese Geschichte.

Wie er mein Talent entdeckte.

Meine erste kreative Leistung. Das war keine

Zeichnung, das war – ich kann das nacherzählen:

Ich hatte etwas gesehen. Ein Duckdalben

im Schulauer Hafen. Das ist so ein Gebilde

aus großen, dicken Holzpfählen. Schiffe

machen daran fest. Oder Schlengel werden

davon gehalten, und an den Schlengeln liegen

die Schiffe. Ich war noch ganz klein. Die

Eltern mussten aufpassen, wenn wir über die

wackligen hölzernen Bahnen zum Boot gingen,

dass ich nicht unversehens in den Hafen

fiel. (Einmal wollte ich über das Wasser laufen,

erzählte meine Mutter, weil es so glatt

und ruhig dalag, an einem windstillen Tag).

Und mein Vater: „Das sieht wie ein A aus“, hätte

ich gesagt, einen Dalben beschreibend.

Für meinen stolzen Papa war es die Initialzündung.

Der Beginn einer besonderen

Begabung. Etwas, was von Anfang an in mir

gewesen sei. Das, was man nicht lernen kann.

Meinte jedenfalls mein Vater. Ein Moment der

bewiesen hätte, ich würde sehen, was anderen

gleichgültig sei. Der besondere Blick, das

Talent. Er glaubte daran. Dass ich als Grafiker

Geld verdienen würde, glaubte er nicht. Dennoch

wurde ich auf diesen Pfad gesetzt, denn

eine eigene Meinung dazu hatte ich nicht. Ich

„durfte“ eine Ausbildung zum Grafik-Designer

machen, und deswegen habe ich es gemacht.

Was sollte man mit einem Talent auch sonst

machen? (Natürlich hat es nicht funktioniert).

Aber diese Anfänge, das war schon was! Es

hat sich gut angefühlt. Erst ging gar nichts.

Ich war ganz klein und bekam die ersten

Buntstifte. Mit der ganzen Hand griff ich die,

auch mehrere gleichzeitig wie Mikados, und

hielt sie gebündelt fest in der Faust. Eine

Batterie, eine Gatling-Gun. Diese Welt, was ist

das hier? Rausgehen, den Weg frei machen!

Das Leben schien etwas anzubieten; ein Instrument,

eine Waffe! Das Malgeschütz für ein

Feuerwerk der Farbgewalt: Und dann ging es

los! Mit irrem Druck, das die Spitzen auch mal

brachen und rasend kreisenden Bewegungen,

bekritzelte ich das Papier.

Farbstürme.

Strudel und Ausbrüche in immer neu kombinierten

Farbkaskaden. Meine Oma beschimpfte

dieses Tun, so mache man es

nicht! Ich wäre doof und würde es bleiben,

wenn ich diese Dinger so falsch verwendete.

Sie ereiferte sich: „Du greifst die wie

einen Besenstiel!“, pöbelte sie. Ich lernte

die Stifte auf die „richtige“ Art anzufassen.

Es ist eine Erfahrung: Ein gerader Weg bis

zum Ende des Studiums; ich wurde immer

besser darin zu zeichnen. Und ich wurde

immer dafür gelobt. Anschließend wurde

es schwierig. Ich fand mich nicht zurecht.

Tatsächlich: Ich war ein Info-Grafiker geworden,

immerhin.

Eine Entwicklung. Sich ausprobieren, in ein

neues Terrain vorzustoßen, umkehren müssen,

wenn die Gegend feindselig wird, man

dem fremden Boden nicht gewachsen ist? Es

sind diese Gedanken, die das Malen bringt.

Darum ist der Tipp, eine Zeitlang zu probieren,

nicht schlecht. Es wird sich ein Stil

herausbilden, wenn man einige Jahre malt.

Eine Form zu finden, bedeutet zu definieren

was einem selbst das Malen bedeutet.

Damit schafft die Malerei kreative Identität.

Schließlich, mit einer eigenen Ausdrucksform

befähigt, wird daraus die Kunstfertigkeit, sich

selbst auf diese Art zu verwenden. Das ist

Mrz 30, 2020 - Corona? 24 [Seite 24 bis 28]


keine blinde Suche, sondern die Forschung

des geübten Künstlers, wenn ein neues Motiv

seine endgültige Form erhält und zum Schaffenden

passt. Eine Form zieht die Grenze um

individuelle Vorlieben, wie um die Fähigkeit

dessen was dem Künstler möglich ist. Allgemeines,

Regeln und Gesetze, bleiben draußen.

Identität: Man wird sich fügen müssen,

gegebenenfalls – aber selbstbewusst.

Bilder zu malen, macht selbstbewusst. Etwas

schaffen, bedeutet sich ein Können anzueigenen,

sich kennen zu lernen. Ein Bild ist

zudem soziale Kommunikation, aber diese

Form der Sprache ist mit den Fähigkeiten des

Malers verknüpft, so kommt das. Begriffe wie

„Netzwerk“ und die sozialen Plattformen sind

Bestandteil des Lebens geworden. Es ist gut

möglich, dass der moderne Mensch, der erst

jetzt den Schritt in die Welt der Erwachsenen

macht, nach einer Ausbildung, sich anders

empfindet als wir älteren. Dass der Mensch

soziale Strukturen bildet, kann darüber hinwegtäuschen

auf welche Art ein einzelnes

Wesen seinen Vorteil sucht. Bei der Frage ob

Liebe und Empathie oder das Böse schlechthin

die Welt zusammenhalten, muss man sich

Angst, Hass und Aggression vor Augen halten

und eingestehen, dass der Mensch versucht,

sich dem Besseren zuzuwenden.

Was stört

mich? Dann probiert

man, das loszuwerden,

dagegen an zu gehen,

woanders hin zu gehen.

Wir können sagen, dass

Angst und aggressive

oder zumindest kraftvolle

Strategien dagegen

unser Antrieb sind.

Wir möchten dorthin,

wo wir uns wohlfühlen.

In der nicht lösbaren

Frage, inwieweit der

Mensch frei ist zu tun,

was er will oder bestimmt

durch die Umgebung,

kapitulieren

wir. Bleibt die Möglichkeit

zu kommunizieren,

wie sich das Leben anfühlt.

Ich beschreibe, was meine Perspektive

ist. Wer das nun rezipiert, wird beeinflusst

sein und Zuspruch oder Ablehnung werden

auch den Empfänger meiner Kunst im Weg

verändern. Mit kraftvoller Bildsprache kann

Leben weitergegeben werden. Wenn Bilder

zu schaffen die eigene Identität begrenzt, so

füllt sie diese genauso aus.

Ein Mensch endet nackt, mit der Haut als

Außengrenze. Einiges Drumherum: Kleidung,

Wohnsituation und weiterer Besitz, Job, Partner

und intellektuelle Vorlieben, beschreiben

die ganze Existenz. Das hat nicht damit zu

tun, ob wir im Büro arbeiten, Handwerker,

Angestellter oder Künstler sind.

Identität kann in immer weiter gefassten

Begrenzungen rund um den Kern

der Person dargestellt werden.

Kunst lässt uns über den Sinn und

Zweck der Existenz nachdenken. Malen

zeigt Parallelen zum Leben an sich auf.

Bei den Problemen, mit dem Bild fertig

zu werden, ein Thema zu kreieren

und dessen Verkäuflichkeit auszuloten,

erfahren wir uns als Individuum, Inhalte

und Grenzen. Wo gehöre ich hin, mit

meinem Werk ist auch die Frage: Wo

bin ich zuhause? Meine Burg.

Moderne Technik zeigt, dass die eigenen

vier Wände nicht sicher schützen.

Über Telekommunikation, zahlreiche

digitale Geräte im Haushalt, können

Fremde einbrechen, wie andere, die mit

der Brechstange Fenster aufhebeln,

wenn wir verreist sind. Der digitale

Einbruch. Wenn wir einen alten Krimi

schaun: Der Kommissar geht rum.

Er stellt Fragen, eine Nachbarin, die gern

tratscht, an der Wand lauscht: Da kommt „es“

schließlich raus! Auch zu Zeiten von Sean-

Connery-Bond wurde schon mitgehört. Das

ist nicht neu. Die durchlässige Grenze. Man

macht mal ein Fenster auf. Wir leben nicht im

Rathaus von Schilda, müssen das Licht hinein

tragen. Den Müll tragen wir in Säcken raus,

wie wir aufs Klo gehen, atmen und essen.

Grenzen sind mehr oder weniger flexibel.

Hast du einen Persilschein? So fragte man

früher, wenn eine Grenze freigegeben werden

sollte. In Russland interniert oder frei

auf einem deutschen Acker? Meinem Großvater

gelang der schwierige Weg aus dem

Osten über Schleswig-Holstein bis in die Gegend

von Uelzen. Er behauptete schließlich,

er sei der Erbe eines Bauernhofes.

Als Seemann war

er ungeschickt, die große

Sense von Onkel Georg zu

schwingen, aber das ist eine

Beschreibung von meiner

Mutter. Heinz wusste sich

selbst und seine Familie in

schweren Zeiten über alle

Grenzen hinweg zusammenzuhalten

oder wieder

zu vereinen, das Überleben

zu sichern.

Damals wie heute: Meinen

Mac schützt die „Firewall“

wie eine Burg. Die Stadt

hatte Mauer und Graben –

aber eine Zugbrücke. Und

normalerweise war dieser

Weg offen. In Friedenszeiten

passierten täglich die

Händler und allerlei Volk

den Eingang. Zwei Wachtposten links und

rechts vom Stadttor, locker auf eine Lanze

gestützt, genügten. Die offene Grenze. Wie

unser Körper, der Mensch. Wir essen, trinken,

wir atmen, nehmen Dinge auf. Kommt

ein Grippevirus angeflogen, schleicht sich

ein, durch das offene Tor unter meiner Nase,

macht ja nix – mein Immunsystem verhindert

das Meiste und das Schlimmste.

Zitat: „Ich denke, dass die vielfach kritisierte

Gentechnik uns befähigen wird zu verstehen,

was bei Krebs eigentlich schiefläuft auf

der zellulären Kommunikationsebene. Dort

findet eine andere Art der Kommunikation

statt als zwischen Menschen, es kommunizieren

Zellen miteinander. Doch es geschehen

ebenfalls Fehler. So übersieht der Körper,

dass Zellen entartet sind, sie haben sich

getarnt gegenüber dem Immunsystem. Wenn

wir aber verstehen, wie Körperzellen miteinander

kommunizieren, dann ist es möglich,

den Krebs zu besiegen“, sagt Gerd Ganteför,

Professor für Experimentelle Physik im Interview

mit Melanie Heike Schmidt im Schenefelder

Tageblatt vom 6. Januar 2020, gefragt:

„Den Krebs zu besiegen wäre sensationell.

Wie könnte das gelingen?“ Zitat Ende.

Worte dringen ein, durch das Ohr – wie

Nahrung durch den Mund. Gegen manches

braucht der Mensch ein Immunsystem, muss

„auf Durchzug schalten“, damit Bemerkungen

nicht kränken. Bei der Anfrage um eine begehrte

Sache abgewiesen zu werden, kränkt:

„Tut mir leid. Hier ist kein Platz für dich.“ Ein

neuer Anlauf. Was ist das: erwachsen werden?

Als ich mich um Info-Grafik in freier Mitarbeit

beworben habe, bei Verlagen, hat es

nicht lang gedauert, und ich konnte loslegen

damit. Ich hatte einen Computer, ich hatte

das gelernt und auf meine Anfrage hieß es

bei einer Zeitschrift schließlich: „Das da (in

Ihrer Mappe) möchten wir nicht – aber wir

brauchen Karten. Können Sie für uns Karten

zeichnen?“ Das habe ich viele Jahre gemacht.

Kleine Info-Land- bzw. Seekarten mit einer

Tourlinie und attraktiven Häfen darin oder

Routen für Rennrad- und andere Touren mit

dem Fahrrad. Ich habe die verschiedenen

Anker gezeichnet, und wo der Skipper sie jeweils

einsetzt. Ich habe unzähliges Material

abgebildet, das an Bord Verwendung findet.

Wie das GPS mit seinen Satelliten funktioniert

oder das Wetter in den verschiedenen

Schichten der Atmosphäre abläuft, habe ich

auch gezeichnet. Ein Handwerk, der Kunst-

Klempner – das bin ich gern gewesen.

Dann kam Schröder mit dem Gesetz gegen

„Scheinselbstständigkeit“, und außerdem

wurde weniger gedruckt, weil die Leute anfingen,

alles online zu machen. Mit den Büchern

wurde es weniger: „Herr Bassiner, Sie haben

jetzt alles digitalisiert, was (Name des Verlages)

im Programm hat.“ Ich wollte wissen:

„Entwickeln Sie denn keine neuen Bücher,

die könnte ich doch illustrieren?“ „Wir kaufen

Mrz 30, 2020 - Corona? 25 [Seite 24 bis 28]


die Bücher fertig in England ein.“ Ich dachte,

vielleicht hätte ich Übersetzer werden sollen.

Die werden noch gebraucht? Ich schaffte es

nicht, mich für eine vergleichbar zuverlässige

Existenz weiter neu- und umzuorientieren,

und das lag nicht an der sich ändernden Welt.

Das lag an meiner Unfähigkeit, mich für etwas

zu bewerben, Rückschläge hinzunehmen

und meine Arbeitsstruktur neuen Bedingungen

anzupassen.

Mit meiner Malerei, die ich eher als Flucht vor

der Realität begann, konnte ich nach kurzer

Zeit Ausstellungen gestalten und verkaufte

Bilder von Leuchttürmen oder Aquarelle aus

dem Dänemark-Urlaub im bezahlbaren Bereich.

Mit ein wenig Klugheit wäre ich nahtlos

zum Wohnzimmerbildermaler geworden,

nachdem es mit den Karten nicht mehr lief.

Auch als Info-Grafiker, wäre die Zukunft auf

meinem damaligen Lebensweg gangbar gewesen.

Es gibt sie noch, die Info-Grafik. Was

brachte mich ab vom Kurs der handwerklich

soliden Existenz? Meine aktuellen Bilder, wie

sie zum Beispiel im Menü „Zoom“ bis in das

Detail der Pinselstriche gezeigt werden, sind

gutes Handwerk. Ich pfusche nicht.

„Die Galeristen halten mir die Leute vom

Hals“, das hatte der Künstler im Fernsehen

gesagt. Schön wär’s, wenn das bei mir so

wäre, denke ich gelegentlich. Ich gebe das zu.

Nach wiederholten Absagen auf meine Anfrage

im Verlauf langer Jahre bei verschiedenen

Kultur- und Verkaufstätten, bewerbe ich mich

gar nicht mehr um Ausstellungen.

Ich dringe nicht ein, das Immunsystem der

Galeristen erkennt mich als Krankheit. Mein

Bild: Der getarnte „Bassiner“. Sieht zunächst

toll aus, aber dann will das niemand kaufen.

Es hat ein wenig gedauert, bis ich daraus

ein Prinzip machen konnte: Bilder malen,

die Leute sehen wollen, aber nicht kaufen.

Das befriedigt mich! Ich habe meine eigene

Kunstfertigkeit gefunden. Kritik an meinen

Bildern oder nicht ausstellen,

verkaufen können, verletzt

mich kaum, weil die Exponate

so sind, wie ich das möchte.

Meine Bilder: Der lange

und aufwendige Prozess ihrer

Herstellung ermöglicht mir,

den Galeristen und Betrachter

als nebensächlich und

außerhalb meines Selbst zu

begreifen. Der Verkaufspartner

ist der Händler, der Käufer

ist der Sammler und ich

habe das gemalt. Drei Positionen, und ihre

Kompetenz gilt nur im jeweiligen Bereich.

Unterteilen, abgrenzen und unterscheiden zu

können, stärkt den Menschen. Draußen wie

drinnen: Auch innerhalb eines Systems, wie

bei der Titanic, die aufgrund des mit Schotten

unterteilten Rumpfs in Sektionen für unsinkbar

gehalten wurde, sind Begrenzungen.

Abgegrenzte Regionen mit ihren speziellen

Aufgaben. Beim Menschen sind es Kopf und

Körper, Rumpf und Glieder, die Muskeln und

die inneren Organe, die auch noch

weiter unterteilt sind. Im ganz Kleinen

dann die Zellen, aus denen die natürliche

Struktur des Körpers gebildet ist.

Wie Bundesländer und darin enthaltene

Landkreise, als Teil des Staatsgebietes.

Nehmen wir ein großes Gebäude mit

vielen Büros: ein tagtäglicher Betrieb,

mit unzähligen Menschen darin. Es

geht zu wie in einem Bienenstock. Es

kommt vor, dass in einem großen Haus

(voll mit herumwuselnden Menschen,

die alle einer Beschäftigung nachgehen

und das Objekt mit Leben füllen,

wir im Gebäude selbst eine Art Lebewesen

sehen könnten), einzelne Räume, Wohnungen,

Geschäfte oder Büros leerstehen.

Im geringen Umfang ist

das normal. Ein Mieter kündigt,

und eine Übergangszeit vergeht,

bis das Leben in Form neuer Bewohner

zurück kehrt. Wandel und

Veränderungen gehören dazu.

Die Statik kann gefährdet sein,

wenn eine zu große Anzahl der

Abteilungen nicht ihrem Zweck

entsprechend das System stützt.

Das kann im übertragenen Sinne

der Rentabilität verstanden werden.

Bei zu viel Leerstand, gehen

die verbleibenden Mieter ebenfalls.

Das Vertrauen in das Ganze

geht verloren. Oder im baulichen:

Prinzip Kartenhaus. Bei zu großen

Beschädigungen in ausreichend vielen

Räumen stürzt das Haus ein. Die Titanic sank,

weil der durch den Eisberg verursachte Riss

im Schiffsrumpf zu lang war. In den langen,

dramatischen Stunden der Nacht des Untergangs,

waren schließlich zu viele Sektionen

vollgelaufen, als dass die verbleibenden mit

Luft gefüllten Kammern den Auftrieb vom

Ganzen sichern konnten.

Am Anfang malt man nur so irgendwie. Du

merkst, dass manches besser wirkt und anderes

stört. Es dauert, bis daraus Erfahrung wird.

Dann lernt man, im Bild das System zu sehen.

Die Ordnung zwischen den vier Außenkanten.

Einzelne Elemente im Bild sind begrenzte

Formen, und alles zusammen muss dem

Leben ein nachvollziehbares Abbild sein. Es

gibt keinen Rest in einem guten Bild. Wie bei

jeder Kunst. Auch wenn nicht alle Musiker die

ganze Zeit in einem Stück spielen:

Wir können unterscheiden,

ob die Aufführung gelungen ist

oder im soundsovielten Takt

das Klavier kaputt ging und

von da an gefehlt hat. Malen zu

können, bedeutet dem Charakter

des Lebens an sich, seinem

Sinn oder Zweck (und wenn es

keinen Zweck gibt, wir wissen

es ja nicht), dann doch dem optischen

Eindruck seiner Funktion,

wie in einer persönlichen

Karte auf der Spur zu sein. Das hilft auch der

eigenen Funktion. Ein Mensch funktioniert?

Genügend viele Bereiche im Körper und der

Leitstelle des menschlichen Gehirns müssen

strukturiert zusammenarbeiten, sonst ist das

Leben gefährdet, ja.

Wie es dir geht, das steckt dir in den Knochen.

Die Muskulatur macht aus deinem Gangbild

eine persönliche Abweichung vom Ideal der

optimalen Funktion. Angespannt, was bedeutet

es individuell: Stress? Jeder macht

ein Gesicht, sein Gesicht – wieso? Muskeln

ziehen ein gequältes Lächeln, formen Tag für

Tag den schnippischen Mund – bis es eine

eingefleischte Sache ist. Die anderen sehen

es gleich, ahnen was sie zu erwarten haben,

wenn sie mit dir ein paar Tage Urlaub machen

müssten. Es ist nicht einfach, sich selbst

zu bemerken. Wenn wir in den Spiegel schauen,

belügen wir uns gern, machen unser Spiegelgesicht.

Emotionen und Denken rechnen einige ausschließlich

dem Kopf zu. Medizin wird entwickelt,

um das Gehirn zu steuern, wenn ein

Mensch psychisch erkrankt. Die Leitstelle unserer

Orientierung. Die eigenen Steuerungsmöglichkeiten,

die wir über das Verständnis

unseres gesamten Selbst erlangen können,

werden gern übersehen. Geistiges sehen

viele noch vom Körper getrennt. Nur weil es

diese Worte gibt. Unser Körper ist die Basis

des System Mensch, wie der Schiffsrumpf des

erwähnten Unglücksdampfers. Kein Künstler

schafft aus voller Kraft, wenn er nicht über

sich als ganze Person verfügen kann. Kein

Sportler kann seine muskuläre Kunst ausüben,

wenn er nicht Körper und Geist als synchronisiertes

Ganzes versteht. Es gibt keine

berührende Musik und keinen attraktiven

Sport von Menschen, die nicht selbstbewusst

sind. Sport und Kunst machen den Ausübenden

selbstbewusst.

Warum erlaubt sich die Gesellschaft, so viele

Menschen einfach mitzuschleppen und warum

erlauben sich diese Menschen das selbst?

Verbissen, eilig, verkrampft sind sie und überaktiv

unterwegs, machen gehetzte, ruckartige

Bewegungen, immer auf dem Sprung zum

nächsten Termin. Alternativ unsportlich, fettleibig,

eingebildet, gefrustet. Zeitgenossen,

süchtig nach Anerkennung „im Netz unterwegs“

– ihrer eigentlichen Natur entfremdet

und deswegen unattraktiv sind sie – obwohl

sie’s nicht müssten. In einem Job, der sie nicht

erfüllt. Mit einem Partner leben sie zusammen,

den sie nicht wählten, sondern schließlich

akzeptieren; warum suchen sie nicht?

Stattdessen machen sie Online-Dating und

verlieben sich alle 11 Minuten.

Menschen! Sie kennen ihre Angst nicht. Sie

fürchten sich davor, peinlich zu sein, laut

zu werden oder gar aggressiv. Sie tun, was

man ihnen sagt, klammern sich an eine soziale

Gruppe und spüren nicht im Leib, was

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es mit ihnen macht. Sie handeln gegen sich

selbst. Grundsätzliche Ausflüchte, Risiken

vermeiden, Selbstbetrug: dazu gibt es viele

Möglichkeiten, und die betreffen den Körper

durchaus. Menschen essen weiter, obwohl sie

satt sind. Sie gehorchen dem Chef, weil sie

nicht spüren, dass sie ausgenutzt werden.

Sie gehen nicht auf einen guten Weg, weil

sie die offene Tür nicht sehen: neigen lieber

ihren Kopf, um das Display zu studieren. Sie

bemerken nicht, wo sie sind. Im Netz? Gefangen

sind sie. Gefangene der Kommunikation.

Ein Wort ist niemals, was es bezeichnet. Wie

ein Bild, ist es nicht mehr als ein Modell der

Realität. Ich bin nicht überheblich! Meine

eigene Erfahrung; krank bin ich geworden,

habe mich selbst verleugnet, einen harten

Weg akzeptiert.

Warum?

Wir können Erfahrung nur in Worte packen

oder durch unsere Handlungen selbst lehren:

Die Sektionen der Titanic schotteten

den Rumpf ab, sollten das Schiff unsinkbar

machen. Der Kapitän, weit oben auf der Kommandobrücke

darüber, im „Gehirn“ des Apparates,

hatte dem Maschinisten AK befohlen.

Volle Fahrt in dunkler Nacht. Es galt einen

Rekord zu beweisen? Das könnte ein Grund

gewesen sein. Das hohe Tempo der Titanic ist

belegt. Andere in der Nähe im Eis fahrende

Schiffe hatten ihre Maschinen gedrosselt,

krochen nur langsam durch die Nacht, warteten

auf das neue Licht des Morgens.

Kapitän Smith will es wissen! Zu spät bemerkt

der Ausguck den Eisberg. Zu lange

dauert die Kommunikation mit der Brücke.

Und dann wird noch Backbord mit Steuerbord

verwechselt. Schließlich, der lange Riss

unter der Wasserlinie, im stählernen Leib. Ein

böses Schrammen ist zu hören und plötzliche

Furcht ergreift die Überraschten unter Deck:

Wasser schießt in die Kabinen! Menschen

rennen durch die verschachtelten Flure, als

sich der Koloss zu neigen beginnt. Fach für

Fach läuft der unsinkbare Ozeanriese voll,

aber das dauert. Hätte es die vielen Sektionen

nicht gegeben, in wenigen Minuten hätte

sich der gesamte Rumpf mit dem Eiswasser

gefüllt, und der riesige Vierschornsteiner

wäre sofort untergegangen.

Der mitfahrende Ingenieur Andrews erkannte,

nachdem er den Schaden inspizierte, dass

das Schiff nicht zu retten sei: Nacheinander

würden die beschädigten vorderen Sektionen

ganz gefüllt sein. Dann hätte die Titanic eine

Lage, die dazu führen würde, dass Wasser ein

nächstes Schott zum achteren, unverletzten

Teil des Rumpfs übersteigen könne – dieses

hatte der Schiffbauer Andrews niedriger gestaltet

– und es würde dem Wasser nur noch

kurze Zeit widerstehen. Die anschwellende

Flut liefe schon bald einfach oben darüber,

und dann würde sich wieder eine Sektion füllen.

Dadurch läge das Schiff noch tiefer, und

schließlich: „Die Titanic wird untergehen“, erkannte

Thomas Andrews früh.

Wer war schuld am Untergang? Die Titanic

war gut konstruiert. Obwohl, hätte Andrews

nicht sämtliche Schotten hoch genug zeichnen

müssen, dass das Wasser gestoppt würde,

als die vorderen Sektionen beschädigt

waren? Viel wird noch heute diskutiert. Der

verwendete Schiffbau-Stahl wäre minderwertig

gewesen, heißt es. Auch soll ein Brand

den Rumpf geschwächt haben. Noch vor der

Ausreise, wäre das Schiff so durch Materialermüdung

zufällig in dem Bereich, wo es

anschließend vom Eisberg getroffen wurde,

geschwächt gewesen. Da ist die Frage wieder

aktuell: Wie stark ist unsere Außengrenze?

„Der Mensch – als Konstruktion denkbar. Aber

das Material ist verfehlt; Fleisch ist ein Fluch“,

meint Ingenieur Homo Faber im bekannten

Buch von Max Frisch. Wir arbeiten am Roboter.

Deswegen? Alternativ möglich wäre, die

Titanic (oder den Menschen), so zu nehmen,

wie er eben ist? Sich bewusst sein, was damit

getan werden kann und was nicht. Ein Tempo

durch die Umgebung zu wählen und einen

Kurs (in der Nacht), der gut ist.

Die vielen diagnostizierten Varianten psychischer

Labilität beinhalten alle dasselbe

Problem: Wie fest ist der Mensch im intellektuellen

Terrain drumherum eingebunden

und gegen soziale Anfeindungen geschützt

oder eben nicht? Der wesentliche Ansatz zu

Hilfe und Selbsthilfe muss darin bestehen,

das Selbst exakt zu definieren. Das bedeutet

eine individuelle

Grenzziehung. Ein

Medikament oder

der zentralverriegelte

SUV können

genauso wie

Fahrradhelm und

Warnweste zum

falschen Schluss

führen, Angst generell

abgeschafft zu

haben. Künstliche

Sicherungen um

den natürlichen

Leib verkleiden unsere Nacktheit draußen.

Im Badezimmer, im Bett und vor dem Spiegel

wirkt es nicht. Ob Udo Lindenberg den Hut

auch nachts im Bett aufbehält? Das wurde er

mal gefragt.

Das starke Selbst. Unsinkbar im Alltag? Im

speziellen Fall der einzelnen Person, müssen

wir uns im Ganzen verstehen, um Abwehr

einerseits und Integration andererseits auf

unsere Bedürfnisse zugeschnitten hinzubekommen.

Natürliche Hilfe: Der Mensch kann sich über

die Muskulatur und seine Bewegung, wie er

handelt, erkennen. Wir können unser Fühlen

und das tägliche Bewegen nutzen, unser Tun

analysieren und auf Gefühle und Verstand

Einfluss nehmen, wenn wir uns als ganzen

Menschen begreifen. Wenn wir hingegen damit

fortfahren, unsere Emotionen abgetrennt

vom Bewegungsapparat zu betrachten, zementieren

wir unser Denken und Fühlen als

eine rein „geistige“ Angelegenheit. Werden

damit fortfahren, Ratgeber zu schreiben und

Therapien erdenken, in denen ein Mensch einem

anderen sagt, was zu tun sei. Wir sollten

uns fragen und besser prüfen, wie viel davon

(oder wenig) den Behandelten auch erreicht.

Die Menschen gehen alle verschieden, warum?

Wer latscht, ist ein Schlaffi. Genauso:

Ein Angeber tritt auf, mit nichts dahinter; das

sieht man. Älter zu werden hat diesen einen

Vorteil: Es ist leichter zufrieden zu sein, leichter

sich von einem Schock zu erholen. Mehr

merken ist möglich. Man kennt sich irgendwann.

Das Bild, das bin ich. Wenn ich nicht will, mache

ich alle Schotten dicht. Malen bedeutet,

Abgrenzung gelernt zu haben: Meine Kunst

zieht die Grenze. Ich konnte Kränkung, Abweisung,

wenn ich von jemand etwas möchte,

als persönliche Macke begreifen. Na und? Ich

lernte meine Existenz zu sichern, ohne Bilder

zu verkaufen.

„Was du machst, ist ein Hobby“, sagt dazu

mein Freund Piet. Er verkauft U-Boote, die

großen, mit denen wir und andere Länder

eine Menge Mist machen können, aber auch

die Grenze schützen; je nachdem. Wenn Peter

nicht arbeitet, baut er U-Boote. Kleine, so

bis zu einem Meter lang und noch ein wenig

größer; das ist sein Hobby. „Du hast unrecht“,

sage ich. Du baust deine Modelle exakt nach

Plan, ich denke mir meine Bilder ganz und

gar selbst aus, das ist was anderes. „Wenn

man nicht verkauft, ist es ein Hobby“, meint

Piet hart, und er verdient entsprechend seiner

Arbeit sehr viel Geld. (Er muss es wissen,

deswegen). Mein Freund.

Wie erkennt ein Fremder die Grenze? Astro-

Alex und andere: „Aus dem Weltraum siehst

du keine Grenzen.“ Wo ist die rote Linie denn,

und wer zieht diese Grenze? Ich habe

gemalt, bis es knallte: Strafanzeige.

Nun kenne ich die Stelle, wo die anderen

sie definieren. Warum habe ich

so gemalt? Ich konnte endlich wieder

bestimmen und aktiv handeln, konnte

deutlich machen, wo meine eigene

rote Linie schon längst überfahren

war.

Niemand malt wochenlang exakt und

mit gutem Handwerk, ohne zu wissen,

was dann passiert. Wie stellt man ein

Fernrohr scharf ein? Jeder hat seine

eigenen Augen, und wenn man einen Feldstecher

bekommt, mit dem gerade beobachtet

wurde, muss man neu justieren. Du drehst

am Okular. Schraubst vom unscharfen Bild

weiter, bis es besser wird – darüber hinaus

und wieder zurück – und dann erst weißt du,

wo du exakt scharf sehen kannst. Man überfährt

die rote Linie bewusst, unbedingt. Wer

ahnungslos trottet, wird totgeschossen.

Grenzüberschreitung: In dauerhafter Harmonie

zu leben, ist unmöglich. Nie die Beherrschung

verlieren, warum? Nach meiner

Auffassung ist es nicht falsch, provoziert im

Affekt mit aller Macht vorhandener Mittel

anzugreifen. Ich bereite mich nicht vor, wie

Dominik Brunner, von dem es hieß, er habe

Kampfsport geübt, für den Fall man das einmal

benötige, vor seinem couragierten Einschreiten

auf dem Bahnhof. Er ist tot. Ich bin

untrainiert. Ich mache keinerlei Sport, trotzdem:

Die Faust kann ich ballen; ein Messer

nehme ich nie mit.

In einem Video habe ich gesehen, wie ein Polizist,

provoziert in einer unübersichtlichen

Situation mit vermummten Gegnern eines

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Camps das die Ordnungskräfte zu räumen

hatten, zugeschlagen hat. Mit einem harten,

gerade gestreckten Faustschlag direkt gezielt

in das Gesicht des schwarz bekleideten jungen

Mannes, schlug der Polizist zu. Natürlich

wird es ein Verfahren gegeben haben, Uniformierte

sind leichter zu identifizieren als Chaoten,

obwohl: unter Kollegen wird man Verständnis

geäußert haben. Schließlich macht

der Beamte einen Anti-Aggressionskurs (das

wird nichts ändern) und eventuell wird er

suspendiert. Auf der anderen Seite, egal ob

links- oder rechtsextrem – solche Bilder werden

lustvoll gepostet, und die Emotionen gehen

hoch. Das ist der Mensch.

Ich habe mich mit paranoider Angst auseinandergesetzt.

Das ist, wenn man denkt, die Leute

reden über einen, aber die reden über was

ganz anderes. Paranoia ist Einbildung. Man

denkt dran, Feinde zu haben, aber in Wahrheit

interessiert sich gerade gar niemand für einen.

Das Problem ist umgekehrt. Man möchte

gemocht werden, und das scheint zu misslingen.

Zwei Lösungen gibt es – man wird so toll

mit was, und alle rennen dir die Bude ein. Der

andere Weg: Du beginnst auszuleben, was in

dir steckt.

Man beginnt auszusprechen was man denkt,

schreibt es auf, entwickelt eine eigene Meinung.

Malt was man meint – und dann trifft

man ja nicht den Nerv der Welt. Ein Beginner

ist kein Könner darin. Man geht nur den

Nachbarn auf die Nerven. Dann reden die

Nachbarn aber wirklich! Hast du keine, mal

dir Feinde. Das ist das Ende der Paranoia. Ich

habe gelernt, mit offenen Grenzen zu leben.

Ich kann das.

Beim Aktzeichnen lernten wir, genau hinzuschauen.

Der Professor erklärte: „Die Kontur

ist eine zufällige Grenze.“ Die Schwierigkeit

besteht darin, sich entweder sicher dem Talent,

es zu können, hinzugeben oder mühsam

zu lernen. Wenn man zeichnen kann, muss

man nicht bewusst denken. Dann fährt die

Hand mit dem Stift entsprechend dem was

du siehst zielsicher über das Blatt. Dann sollte

man nicht viel nachdenken und gutes Tempo

vorhalten.

Während ich gelernt habe, konnte und durfte

ich so nicht arbeiten. Bevor ich studierte,

zeichnete ich einfach so, und ich war recht

gut. Im Studium kam es dann aber nicht darauf

an, schöne Bilder zu machen. Wir lernten

die Räumlichkeit der Körper zu begreifen, wie

etwa ein talentiertes Kind die Harmonien in

der Musik studiert, statt nur zur Freude der

Eltern Stücke aufzuführen.

Wir lernten, im Akt eine Binnenzeichnung zu

machen. Das bedeutet, die Kontur, was jeder

zunächst denkt zeichnen zu müssen, wegzulassen.

In erster Linie schauten wir, wo die

unveränderlichen Meridiane der Figur sind.

Wir stellten uns eine Mitte vor. Eine Linie,

über den Nasenrücken hinunter, das Kinn

in zwei Hälften mittig geteilt, zwischen den

Brüsten durch, den Buckel des Bauchs in

der Mitte beim Bauchnabel passierend bis

in die Scham. Wir sollten lernen, diese Mitte

zu zeichnen, den Körper im Raum verstehen.

So entstand ein inneres drei dimensionales

Modell.

Ein Scan, den ich in vielen Stunden zeichnend,

dem Professor zuhörend, eingebrannt bekam.

Das hilft, die Kontur außen, dort wo die Figur

sich vom Hintergrund abhebt, exakt zu sehen.

Die Idee ist Verlässlichkeit. Eine Mittellinie

verläuft immer in der Mitte des Körpers. Aber

nicht immer in der Mitte meiner Zeichnung. In

dem Moment, wo ich die Abweichungen von

dem was ich sehe nachvollziehen kann, wird

das Sehen leicht. Wenn das Modell schräg zu

mir steht, ist von der vorderen Brust mehr zu

sehen, sie sieht breiter aus, wird deswegen

größer gezeichnet. Und aus meiner Perspektive

ist der Bauchnabel in Richtung des Hintergrundes

verschoben, nicht in der Mitte des

Körpers zu sehen, wo er sich doch befindet.

Die andere Methode ist, sich blind auf Intuition,

Erfahrung zu verlassen. Manchmal ist das

wirklich besser! Das kann man nicht gut unterrichten.

Das hieße zum Schüler zu sagen:

„Geh los und zeichne!“ Theoretisch kommt

dabei auch das Beste heraus. Das Bild korrigiert

sich selbst. Wenn man irgendwo anfängt

zu zeichnen, müssen die Formen dessen, was

man zeichnet und die von dem was dazwischen

nachbleibt, insgesamt stimmen.

Wenn also vorn ein Mensch steht und dahinter

ein Auto, geht das Ganze nur auf, wenn

das, was links der Figur als „Mercedes“ angefangen

wurde rechts entsprechend fertig

wird. Der innere Anspruch, eine ästhetische

Idee auf der Fläche umzusetzen, wird immer

dazu führen, die Grenzen der Form genau zu

definieren. Das gilt auch für gegenstandslose

Kunst. Nach einer gewissen Zeit der Beschäftigung

damit, wird man bemerken, dass

willkürliches Pinseln einem selbst nicht

gefällt. Was als spannend oder kraftvoll,

kühl oder hitzig, strukturiert oder flächig

gefällt, wird den banalen Geschmack

der Laien vergessen lassen. Es entsteht

künstlerische Identität: „So genau möchte

ich das haben!“

Die Auseinandersetzung mit der Fläche führt

zur Bestimmung persönlicher Grenzen. Damit

entsteht über die Malerei hinaus eine Standortbestimmung.

Nicht jede Situation kann

stereotyp nach Regeln gemeistert werden:

Wir fahren auf der rechten Straßenseite, und

alle sollen sich daran halten. Das klappt prima,

bis das Müllauto seinen Zwischenstopp

macht. Wir warten den Gegenverkehr ab, bis

dort eine Lücke kommt. Dann entscheiden

wir selbst, ausnahmsweise kurz die linke

Seite der Fahrbahn zu nutzen, überholen das

Hindernis.

Das ist ganz einfach. Wir kennen unser Fahrzeug,

haben gelernt, beherzt Gas zu geben

und einen passenden Gang dafür einzulegen,

und wir fahren dem Müllmann nicht ans Bein.

Wenn jemand unsicher ist, bildet sich eine

Schlange hinter dem Müllauto, und

die Leute hupen: „Mensch, fahr doch!“

Selbstbewusstsein heißt, die eigenen

Grenzen zu kennen und was möglich

ist, kraftvoll zu tun.

Neue Sicherungen sollen die Welt

besser machen. Man stelle sich vor,

die Müllwerker müssten in Zukunft

zusätzlich ihrer normalen Arbeit noch

jeweils zwei kleine Ampeln bei jedem

Kurzhalt aufstellen, die den Verkehr

regeln. Vielleicht kommt eine Zeit,

in der Fußgänger auf dem Gehweg

Helmpflicht haben, weil Drohnenverkehr

zugenommen hat. Der Helm

muss zwingend in der Wohnung aufgesetzt

werden: weil die meisten Unfälle

schließlich im Haushalt passieren.

Kameras werden es überwachen.

Die Hamburger Morgenpost war die

Zeitung, die vor vielen Jahren einen

Namensfindungswettbewerb ausgerufen

hat. Seit geraumer Zeit gab es

diese Trennstäbe an der Supermarktkasse.

Die waren schon einige Jahre

im Einsatz, und nur wenige ganz alte Menschen

(wie ich zum Beispiel) werden sich daran

erinnern, dass wir früher zur Kassiererin

sagten: „Stopp. Jetzt kommen meine Sachen.“

Der Name heute: Corona?

:)

Mrz 30, 2020 - Corona? 28 [Seite 24 bis 28]


Mehr tun …

Apr 26, 2020

… können, von dem was gefällt: weniger

zwanghaft sein, Auswählen macht frei. Was

dir Spaß macht, ist nicht was ich mag. Leben

nach dem Lustprinzip ist verpönt? Leben ist

genau das, es wendet sich dem Besseren zu.

Probleme werden gelöst. Erfüllung bedeutet,

auf Unerreichbares zu verzichten, um tun zu

können was befriedigt: Sich selbst in der Situation

einschätzen können, auch nicht vorhandene

Freiheit akzeptieren. Der freie Wille?

Nicht nur die Verpflichtungen, die Gesetze

beschränken (auch Atheisten). Wir können

nicht alles tun, schon deswegen, weil wir es

gar nicht möchten. Aktuell: Die Corona-Krise

erlaubt das Reisen nicht? Aber niemand setzt

sich in einen Zug und macht eine Reise nach

Mailand, nur weil es

theoretisch möglich ist.

Urlaub oder Geschäft;

es gibt ein Motiv für

jede Handlung.

Eine Frage, der besondere

Einfall; ein

bestimmter Gedanke

geht der Tat voraus,

bevor jemand aktiv

wird. Die Erinnerung

an einen Termin, eine

Verpflichtung oder

eine Sehnsucht, die

erfüllbar ist? Nur ein Gefangener trottet

ausschließlich auf fremden Befehl – weil er

muss. Die Kunst zeigt uns, das Einreißen von

Mauern ist möglich.

Ein lesenswertes Buch beschreibt den Trompeter

Chet Baker: Der Autor ist seinem Lieblingsmusiker

zu vielen Auftritten nachgereist.

Einmal, das Konzert in Frankfurt oder

Stuttgart (ich erinnere mich nicht genau)

beginnt verspätet.

Der Musiker, so stellt

sich heraus, war noch

mit dem Sportwagen

unterwegs. Lothar Lewien

ist ein vertrauter

Bewunderer und

zitiert aus zahlreichen

Backstage-Gesprächen

mit seinem Star: „This

is the fan we need“,

sagt Baker, lobt den

Eifer des unermüdlichen

Zuhörers, der immer

auftaucht und die

Nähe zu den Musikern

sucht. Chet Baker war, so scheint es, ohne

Anlass mit dem neuen Auto von Deutschland

aus, also bereits vor Ort, nach Italien gefahren

und wieder zurück und nicht ganz rechtzeitig

auf der Bühne gewesen? Es bleibt sein

Geheimnis, warum es nötig gewesen war,

die Strecke Frankfurt / Mailand und zurück

an einem Tag abzufahren – so ähnlich kommentiert

der Zuhörer dieser Geschichte (und

hingebungsvolle Fan) die Aktion.

Es war möglich gewesen. Er konnte vor dem

Auftritt noch hinfahren und war beinahe

rechtzeitig zurück, trug Sandalen auch im

Winter, da wird viel erzählt bei Lewien. Auch

Bakers eigene Lebensbeschreibungen sind

empfehlenswert. Meine Schwester, die mich

mit der Musik des wunderbaren Trompeters

und ausdrucksstarken Sängers bekannt

machte, gab unverlangt Hinweise von ihrer

Freundin weiter (die ihr die Platte empfohlen

hatte), wie’s einzuordnen sei: Bakers Musik

sei erst nachdem er seine Zähne eingebüßt

hatte und durch Drogenkonsum beeindruckend

geworden.

Wenn ich mich daran zurück erinnere (das

ist ja lange her), passt diese (typische) Belehrung,

wie zu hören und begreifen sei, in

die Textstelle eines Freud-Buches, in dem

ich vor ein paar Tagen herumblätterte. Maler

Lucian Freud äußert sich zum Thema Erotik.

Da steht etwas darüber, was Menschen, die

selbst nicht malen,

in Bildern sehen,

hineininterpretieren.

Wenn ich eine

Kulturerklärerin im

Fernsehen oder so

erlebe, die gerade

eine Ausstellung

von Nolde, van

Gogh oder einem

anderen (verstorbenen)

Maler eröffnet,

denke ich jedesmal:

Was redet die da?

Ein Gespräch unter

Musikern, noch eine

Textstelle. Der erwähnte Jazztrompeter Chet

Baker und ein Kollege kommen zum Schluss:

„Nur zwei Prozent vom Publikum kann hören,

den Melodielinien des Trompeters überhaupt

folgen.“ Die anderen sind aus privaten Gründen

im Club. Miles Davis, er spielte mit dem

Rücken zum Publikum, störte sich am Herumalbern

auf dem Podium von Louis oder Dizzy.

Sie waren Unterhalter, sagt Miles abwertend

und einordnend, für die ältere Generation

gehörte das eben dazu, um Erfolg zu haben.

Die reine Musik? In der Kunst reden wir vom

Motiv und in der Kriminalistik auch. Lewien

gibt in seinen einfühlsamen Beschreibungen

„Engel mit gebrochenen Flügeln“ viel vom eigenen

Leben preis.

Er hat amateurhaft

Trompete gespielt,

erzählt privates –

wurde nie ein Star.

Sein Buch ist eine

sensible, künstlerische

Einordnung

des Musikers, die

jeder der selbst

kreativ ist nachvollziehen

kann.

Nun bin ich ja weder

berühmt noch

tot, aber Maler bin

ich. Am aktuellen Bild „Gurken und Rosen“

arbeite ich seit über einem Jahr, und inzwischen

beginnt es mir zu gefallen. Es sieht

recht fertig aus. Ein schwieriges Problem. Als

ich das Thema anfing, im März 2019, war meine

Lebenssituation ganz anders. Ich beginne

stets mit einem Bild, wenn ich mich an einer

Idee festbeiße. Es ist dann weniger, weil ich

den soundsovielten Bauernhof oder das xte

Porträt malte, weil es mein Beruf ist, Landschaften

oder ein anderes Genre auszufüllen.

Ich bin meiner Psyche auf der Spur und packe

ein Problem an.

Es heißt, dass der „Herr der Ringe“ seine

Form beim Schreiben gefunden hat, Tolkien

also nicht genau wusste, wie es enden würde.

Edward Hopper beklagt, dass sich eine Idee

während der Arbeit immer wandelt. Dennoch

ist gerade Hopper derjenige, der wie John Irving

darauf drängt zu betonen, wie genau ein

Werk vorher geplant ist: „Wenn ich mich an

die Staffelei setze, ist alles erledigt.“ Und von

Irving heißt es, er schreibe den letzten Satz

eines Romans zu Beginn auf. Solche immer

verbreiteten Anekdoten sind Märchen für Leser,

die selbst nicht malen oder schreiben.

Es gehört zu meiner tiefen Befriedigung, auch

im verzweifelten Zorn und unflätigen verbalen

Ausbrüchen, die mich regelmäßig vor der

Staffelei packen, wenn es irgendwo hakt mit

der Arbeit, den Unterschied vom Konsumenten,

Erklärer und Schaffenden zu verstehen.

Ich bin der, der’s macht.

Ich lese diese Bücher anders, deswegen. Das

kann man nicht erklären.

:)

Apr 26, 2020 - Mehr tun ... 29 [Seite 29 bis 29]


In alter Freundschaft

Mai 2, 2020

Ein Mann, ein Wort! Menschen sprechen,

schreiben, erinnern; sie tauschen sich aus,

geben Erfahrungen weiter. Verträge werden

gemacht. Es gibt die Sprache der Juristen, die

der Seeleute, und manche bleiben Analphabeten,

das ist seltsam. Alle, außer mir, telefonieren

mobil. Niemand schreibt noch mit

der Hand?

Direkte Kommunikation:

Manche achten mehr

darauf, wie etwas klingt,

als auf den Inhalt der

Botschaft. Wie kommt

das? Wenn jemand zu

mir spricht, muss ich

entscheiden, ob derjenige

mir wohlgesonnen

ist. Erst dann bewerte

ich, ob ich mich für das

was er sagt interessiere.

Wünsche werden erfüllt,

manchmal dauert es: „Ich

rufe Sie nächste Woche deswegen an.“ Die

Absichtserklärung. In jedem Wortbeitrag, den

ein Mensch von sich gibt, ist die Motivation

warum er sich äußert untrennbar integriert.

Eine Absicht ist immer dabei. Niemand ist allein

und vollkommen autark im Denken, Handeln

und Sprechen. Hinter jedem Menschen

stehen die, die mit ihm durch Beziehungen

existentiell verwoben sind. Bei einem jüngeren

Menschen sind die Eltern, Großeltern

wichtige Bezugspersonen. Weil die Ernährung

und die Existenz überhaupt von ihnen

abhängt, wird ein junger Mensch diese bei

jeder verbalen Äußerung innerlich abschätzend

miteinbeziehen. Das heißt, wenn ein

junger Mensch spricht oder schreibt, stehen

nicht nur enge Freunde, sondern auch die

Meinungen und Ansichten enger Bezugspersonen

hinter jeder Kommunikation. Niemand,

der spricht oder schreibt ist frei, wird sich

immer an den Eckpunkten seiner Existenz

ausrichten.

Ein Mann, ein Wort? Die moderne Gendersprache

irritiert mich schon etwas älteren

Mann. In der Politik ist sie heute verpflichtend.

In einer der letzten, noch die Öffentlichkeit

bedrängenden Ansprachen der

scheidenden CDU-Vorsitzenden, bevor sie erkannte,

dass jemand anderes diese Position

erkämpfen würde, hörte ich sie sagen: „Die

Bürgerinnen und Bürger müssen, wie gleichwohl

wir Politikerinnen und Politiker und die

Soldatinnen und Soldaten“ – als sie soweit

gesprochen hatte, war ich schon weg – weit

weg, vom Thema, um das es ging, dass ich es

nicht mehr mitbekommen habe.

Sprache ist Kampf? Krampf-Karrenbauer, das

etwa dachte ich. Wer sich nicht an die Struktur

anpasst, verliert möglicherweise. Sprache

ist immer von den Ideen und Absichten

dahinter manipuliert. Wir sehnen uns nach

Menschen mit Ecken und Kanten, heißt es.

Die Gesellschaft schleift die Ecken und Kanten

rund, wie die Brandung die Steinchen am

Strand.

Man kann nicht einfach an die Elbe fahren

und sich einige Eimer Sand aus dem Strandbad

holen, um damit im Winter den Gehweg

bei Eisglätte abzustreuen. Aus zwei Gründen:

Dieser Sand beißt sich nicht fest und ist kein

guter Streusand. Der im Baumarkt gekaufte

kommt nicht vom Strand, und die winzigen

Krümmelsteinchen darin sind eckig. Sie rollen

nicht auf dem Eis, wenn du deinen Fuß

drauf setzt! Der zweite Grund ist, wenn du

dem Nachbarn sagst, wie clever du billig deinen

Sand vom Strand ge-eimert hast, für den

Winterdienst, belehrt dich der Nachbar, zeigt

dich womöglich noch an, wegen unsachgemäßem

Streugut. Wir hatten ein Geschäftsgrundstück

und einen großen Hof mit Parkplatz.

Mein Vater hat es mir erzählt, daher

weiß ich das.

Wer auch immer

kommuniziert, andere

stehen im Geiste

dahinter, das sollten

wir wissen. Eine

neue Entwicklung

ist die schriftliche

Dauerkommunikation,

mit nur wenigen

Hinweisen auf die

individuellen Besonderheiten

des persönlichen

Ausdrucks.

Deswegen basteln

manche die unterschiedlichen Emoji in jeden

Text. „Ich wusste nicht, was ich dir antworten

sollte“, schrieb mir eine Freundin – und

da war es bereits aus. Wenn wir nicht mit der

Tastatur kommunizieren würden, sondern

von Angesicht zu Angesicht, könnten wir

nicht in ein verzögertes Schlamassel geraten,

wir müssten sofort entscheiden: Antworten,

Schweigen, Weggehen? Unser Gesicht dazu,

der Ausdruck – das spricht Bände, heißt es.

Ein Bild sage mehr als tausend Worte, heißt

es auch. Warum beginnen Kinder, Musik zu

machen oder malen? Weil es schon Musik

gibt und weil die Eltern Buntstifte verteilen?

Weil es Lob gibt, wenn man’s macht? Ein anderes

Kind spielt immer mit dem Ball, aber

wenn der Wunsch kommt, professionell Leistungsport

zum Beruf zu machen, werden nur

wenige Eltern die Begeisterung teilen.

Auf dem Weg in das Erwachsenwerden, müssen

wir jungen Menschen verstehen, dass

auf unsere Umgebung nur bedingt Verlass

ist. Die Umgebung spricht zu uns, sie kommuniziert,

und wir lernen, darauf zu antworten.

Nun kommt es darauf an, wie verlässlich

unsere Eltern sind. Sie müssen einem chaotischen

Drumherum Sinn geben, den es möglicherweise

gar nicht hat. Ob Gott die Welt

geordnet hat, er „nicht würfelt“, wie Einstein

meinte? Das wird noch bestritten. Und es gibt

Eltern, die den Glauben so moralisieren, dass

Kinder davon erdrückt werden oder Eltern,

die desorientiert dem Geld nacheilen, dass

jeder Sinn zerredet wird.

Bilder werden gemalt, wie der Golem geformt

wurde: ein starker Platzhalter – etwas,

das dem Künstler den Weg bahnt. Ein sprachloser

Partner. Ein Bild redet anders. Ein Bild

gibt der Umgebung einen Sinn, den persönlichen

Sinn. „Du sollst dir kein Bildnis machen“,

mahnt mich die PastorIn – „Er sitzt zur Rechten

Gottes“, sprechen wir aber. Auf der Wolke?

John Steinbeck hatte den Einfall, uns mit

dem Wort „timschal“ bekannt zu machen, das

etwa „du kannst“ bedeutet. Wird dies in die

Gebote gesetzt, heißt es: Du „kannst“ nicht

töten, ehebrechen oder stehlen. Weil wir wissen,

dass wir es gleichwohl können, gibt uns

dies die Würde und Verantwortung, selbst zu

entscheiden.

Das ist Freiheit.

Kommunizieren ist immer auch die Frage an

die Umgebung, Bestätigung zu bekommen.

Und das Echo wird immer nur bedingt verlässlich

sein, weil am Gegenüber der große,

unbekannte Teil der anderen Beziehungen

hängt, die wir nicht kennen. Das ist nicht

erst so, seitdem die Menschen sich auf das

manipulierbare elektronische Wort verlassen.

Die Welt zeigt uns ihr modernes Gesicht, das

unsere Eltern uns noch anders lehrten. Die

Welt – sie hat ihr Vertrauen verspielt. Gestern

waren wir jung. Wir glaubten, was man

uns gesagt hat. Es ist vorbei damit. Trotzdem

glauben? Es gibt sie noch, die Welt von gestern:

# Unglaublich, Danke!

Mir ist gestern Abend am Feiertag erster

Mai nach dem Essen ein Inlay raus gefallen.

Feier- und dazu Freitagabend-Feiertag, und

ich sitze vor meinem Bild, ziehe nebenbei

gedankenverloren Zahnseide durch. Fällt es

spontan goldig auf meinen Pullover, einfach

so. Das war ja vollkommen unbeschädigt, und

behutsam lege ich das Ding neben meine Tastatur,

ohne noch groß daran herumzufingern.

Dann nehme ich das Telefon, suche die Nummer

und rufe meinen Zahnarzt an, erzähle. Er

sagt: „Ich mache noch schnell meine Bratkartoffeln

fertig, esse – und in etwa einer Stunde

können wir uns vor der Praxis treffen.“

:)

Mai 2, 2020 - In alter Freundschaft 30 [Seite 30 bis 30]


Das Spiel

Mai 5, 2020

„Jeder kennt dich.“ Zwei „ältere Damen“ am

Nachbartisch laden mich ein, mich doch zu

ihnen dazu zu setzen. „Ich bin Ute, das ist Bärbel“,

wir sind gleich per du, und sie rauchen.

„Jeder kennt dich, John“, und ob ich noch von

Appen treffe?

Was heißt das eigentlich, jeder? Ist das ganz

Schenefeld, Hamburg,

auch noch Wedel,

Fehmarn und Backnang?

Niemand weiß,

wer jeder ist. Jeder

kennt Donald Trump.

Es dürfte schwierig

sein, denjenigen zu

finden, der den amerikanischen

Präsidenten

nicht kennt. Und:

Die graue Maus, niemand

kennt sie, ich kann es mir vorstellen.

Zwischen der Bekanntheit von so einem

verhärmten Wesen, unattraktiv, es arbeitet

angestellt im gesichtslosen Job, wohnt im

Hochhaus nahezu anonym und dem Trump

aus dem Fernsehen, liegt die Spanne dessen,

was „jeder“ bedeuten kann. Das weiß niemand,

wie viele es sind. Die digitalen Freunde

bei Social-Media geben nur ungefähr ein

Bild. Es gibt Fake. Ich selbst bin in keinem

Profil. Ich verwende

kein Handy. Einige E-

Mail-Bekanntschaften

habe ich und das Wissen

um alte Freunde

und Bekannte. Einige

grüßen auf der Straße;

ich habe kaum Anhaltspunkte,

wie viele

„jeder“ es in meinem

Fall sind. Die Webseite?

Ich stelle nicht

aus. Es gibt keine Resonanz.

Ob niemand

den Blog liest oder

jeder, ist nicht wichtig.

Mir ist die Situation

ganz recht, warum?

Ich hatte ein Problem damit, ob ich gemocht

würde. Ich habe nach einer Lösung gesucht

und eine gefunden. Ich nenne es „das Spiel“.

Das Spiel, das hat eine Vorgeschichte. Meine

Eltern spielten Karten, trafen sich regelmäßig

mit Freunden. Anfangs wurde Skat gespielt,

dann gab es Streit, und mit anderen spielten

meine Eltern dann Rommé oder ähnliches,

weniger kluges Kartenspiel. Man musste laut

„ich“ rufen, und es wurde gelacht. Hornblower,

der Kapitän aus den Romanen von Forester,

spielte Whist. Das ist anspruchsvoll. Ich

selbst spiele gar nicht Karten. Mit „Mensch

ärgere dich nicht!“ ging es noch, und „Risiko“

bei der Bundeswehr; natürlich haben wir

Monopoly gespielt und Stadt-Land-Fluss,

aber Kartenspiel? Ich kann es nicht, mag

es nicht. Ich habe dem sozialen Druck, der

z.B. beim Skat aufkommt, nie stand gehalten.

Risiko? Im Laufe der 15 Monate in Seeth

wurde jeder, der nicht ganz bescheuert

war, schließlich Obergefreiter. Das ist

auch mir gelungen. Ich war 19 Jahre alt

und nicht wirklich erwachsen. (Ich kann

das heute begreifen). Nach dem Ende vom

Wehrdienst, war ich Reservist. Ein- oder

zwei Übungen habe ich so mitgemacht,

meinen großen Sack mit den Klamotten

im Keller gehabt, dann war irgendwann

Schluss, man gab das ab.

Gerlach (Name geändert) war Leutnant und

hatte Abitur. Wir normalen Soldaten hatten

auch größtenteils eines, ich zumindest ein

Fachabitur. Gerlach spielte mit Begeisterung

„Risiko“ – das ist Krieg, und wir waren ja deswegen

beim Staat. Wenn wir also nicht durch

die Stapelholmer Wiesen robbten, mussten

wir uns angemessen weiterbilden. In der gedruckten

Spielanleitung hieß es, die Aufgabe

bestünde darin, mit der eigenen Armee andere

Länder zu befreien. Gewonnen hat aber

derjenige, der einen Kontinent an sich binden

kann. Es ist also Angriff zum Machtgewinn, bis

niemand mehr übrig bleibt, weil du die Welt

dominierst. Angreifen befreit nur den, der es

selbst tut: vom Gefühl machtlos zu sein und

zu verlieren. Wir hatten die Regeln insofern

modifiziert, dass wir eine Handvoll neuer Armeen

per Luftweg einsetzen konnten. Nicht

nur das angrenzende Terrain befreiten wir,

wie vorgeschrieben. Wir konnten Australien

befreien, auch wenn das ganz woanders liegt.

Asien an sich zu binden, war stets erfolgsversprechend.

(Europa war nie zu halten).

Zuhause kreierte ich eine liebevoll lackierte

Sperrholz-Weltkarte mit farbigen Ländern

selbst – aber damit machte es nie so viel

Spaß zu spielen, wie beim Bund.

Ich gestaltete auch eigene Kreuzworträtsel

und suchte Freunde, die sie lösen

sollten. Ein Kreuzworträtsel selbst machen,

wenn es ganz aufgehen soll wie in

der Zeitung, ist schwierig. Die Zeitschriften

fertigen ihre Rätsel mittels Computer an.

Da wird nur das Programm gepflegt, damit

nicht immer dieselben Begriffe abgefragt

werden.

Im Studium war es Professor Hans Klie,

bei dem ich ein Semester lang ein Spiel

entwickelte. Das war in meinem Fall so

ein rotes Segeltuchsäckchen mit kleinen

Chips darin, das waren Signalflaggen aus

der Schifffahrt. Als ich schon verheiratet

war und mein Sohn noch klein, dachte ich

mir ein großes Brettspiel aus. Das reingezeichnete

Spielbild wurde nie ganz fertig,

aber mit dem Prototyp, der auch eine Reihe

kleiner Memory-Karten enthielt, spielten

wir.

Ein großes Bild zu malen, ist auch ein Spiel

selber machen. Für den Betrachter muss es

möglich sein, jede Stelle auf dem Gemälde

so lang anzuschauen, wie er das möchte.

Das ist die Grundregel der Komposition.

In einem schlechten Bild wird derjenige,

der es anschaut, getrieben. In einem guten

nicht. Ein schlechtes Bild hat den Fehler

einer Schallplatte mit Kratzer. Man weiß

schon vorher, gleich kommt der.

Als ich mit der Realschule fertig war, fand ich

die neuen Freunde beim Segeln auf der Elbe,

und die sind es bis heute geblieben. Eine

starke Gemeinschaft, geprägt durch die jährlichen

Regatten und die wiederkehrenden

Begegnungen bei Touren am Wochenende.

Das ist heute anders, der Verbund besteht

dennoch. Das kommt schon von unseren Eltern,

die nach dem Krieg das Segeln auf der

Elbe begannen. Ich kenne wirklich viele Leute.

Als ich mit der H-Jolle anfing, also unsere

alte Jolle wieder kaufte, die mein Vater 1955

neu hatte bauen lassen, fingen gute Jahre an.

Das Regatta-Segeln ist das Spiel, das mir am

besten liegt. Ich mag auch auf Tour segeln,

und im Sommer waren wir wochenlang unterwegs.

Das hat heute nachgelassen, aber

es bleibt die Basis meines ich. Zum Anfang

der H-Jollen-Zeit hatte ich einen Freund, und

der ist gestorben. Es heißt, er habe sich umgebracht;

genau weiß ich es nicht. Er wurde

zum Leitbild meiner Idee, das eingangs betitelte

„Spiel“ zu gestalten.

Bevor ich selbst ein eigenes Boot segelte,

waren meine Freunde die Schulfreunde.

Damals gehörte es dazu, einen kapitalen

Schulstreich zu entwickeln. Unser größtes

Mai 5, 2020 - Das Spiel 31 [Seite 31 bis 32]


Projekt war vielleicht, dass wir die Tonanlage

für den Gong manipulierten. Das andere war

die Gemeinheit, ein Mädchen mit fingierten

Liebesbriefen zu schikanieren. Das war insofern

doppelt blöd, weil ich dieses Mädchen

mochte und also gleich selbst mit beschissen

wurde. Wir hatten CB-Funk. Beston. Das waren

so Geräte, etwa in der Größe einer Kaffeeverpackung,

wenn sie noch vakuumhart ist.

Oben wurde eine Antenne ausgefahren, die

war wohl einen Meter lang. Wir hatten drei

Kanäle, zwischen denen wir wechseln konnten.

Wir waren auf Fahrrädern unterwegs, und

heute – man kann sich das vorstellen, wo alle

whatsapp oder vergleichbare Gruppen bilden.

Damals war das modernes mobben, wer hatte

denn Funk? Ich habe es mir nicht ausgedacht.

Mir fehlt die kriminelle Energie noch immer.

Ich kann mich wehren, heute. Mobbing?

Das üben Schulkinder, und später ist es das

Durchsetzungsvermögen des erfolgreichen

Erwachsenen. Legale Gewalt, keine Karriere

gibt es ohne diese Fähigkeit.

Nun versuche ich die beiden Geschichten, den

verstorbenen Segelfreund, diese Funk-Verarsche

und mein eigenes Leben zu skizzieren:

Mein Freund war schizophren erkrankt, und

zwar weniger schubweise, sondern dauerhaft.

Ich fasse mich kurz. Die schizophrene Erkrankung

hat viele Gesichter, aber eine grundsätzliche

Unterscheidbarkeit. Es gibt Menschen,

die werden unter einer besonderen

traumatischen Belastung in ihrem

Leben eventuell nur ein einziges

Mal psychotisch krank. Dann nicht

mehr. Eine Schwangerschaftsdepression

kann sich so entwickeln.

Ein Drogenrausch kann psychotische

Formen annehmen. Bei derart

singulärem Realitätsverlust, wird

man kaum als schizophren diagnostiziert.

Das kann als einmaliger

Liebeswahn daherkommen, und

gut ist. Eine zeitlang Medikamente

nehmen, ein wenig Therapie machen,

und die Hasch-Psychose wird

später gern erzählt. Man kann sich

an alles erinnern.

Bitter ist, wenn sich das Krankheitsbild

verfestigt. Der Betroffene

erkrankt schubweise immer wieder

heftig psychotisch. So etwas spricht

sich rum, und dann macht keiner mehr Witze

darüber. Furcht bestimmt alle, die damit zu

tun haben, schade. Wen es so trifft, heftige

Schübe im Abstand von ein oder zwei Jahren,

dazwischen normalgesund, was immer das

heißt, hat es noch gut.

Schlimmer dran sind diejenigen, die den Ausgang

aus ihrem Wahn mit dem ersten Abgleiten

aus der Realität nie mehr finden. Die sind

dann immer leicht bescheuert. Sie haben

ihre Schübe nicht heftig, ein Arzt begleitet

sie therapeutisch und verschreibt ein

Medikament, das nicht hilft.

John Bassiner, der Schenefelder Künstler,

den jeder kennt, ich bin krank?

Einige Anhaltspunkte: „Das können

Sie (Bassiner) nicht bekommen.“ Wer

es in heftigen Schüben hätte, würde

anschließend immer wieder normal,

meinte der Arzt damals. Da war mein

Freund bereits tot. Während der Zeit

wenige Jahre vorher, als ich mit ihm

segelte, begriffen wir gar nicht recht,

dass er krank war. Der war ja einige

Jahre älter. Er hatte für sich und eine

Bekannte, die selbst ein kleines Boot

hat, zwei Karten für den „Hamlet“ (die

England-Fähre) gekauft, für einen

gemeinsamen Kurzurlaub – aber sie

wusste gar nicht davon. Und dass er

sich in sie verliebt hatte, wusste sie

auch nicht. Was sie ihm wohl darauf

geantwortet hat?

Als ich selbst dann einige Jahre später

nach Chicago flog und mit (Name

geändert) etwa zehn Tage verbrachte,

wurde klar, dass da nichts mit Liebe ist.

Anschließend zuhause, machte ich die bekannten

Doofheiten, die einer psychotisch so

macht. Ein Schock, das erste Mal, und danach

passierte das häufiger. Immerhin kam ich

stets wieder auf die Füße. Heute? Es geht mir

gut! Ich habe alle Gefühle, die kannte ich gar

nicht. Malen hilft – „Gurken und Rosen“, ich

bin fertig, nach gut einem Jahr. Es gefällt mir,

und das genügt. Ungeziefer im Gebirge: Wespen;

ich erkläre es nicht.

Eine Segler-Krankheit? Neben mir und dem

Verstorbenen kenne ich noch einen, der es

hat. Ich kenne auch viele aus meinen Klinikaufenthalten

und fühle mich verpflichtet,

etwas für psychisch Kranke zu tun. Weil ich

mein Leben im Griff habe. Weil der Arzt und

die Gesellschaft dem einzelnen nicht helfen.

Sie helfen in der Not, sie helfen der Gesellschaft,

dass die Sicherheit gewährleistet ist.

Wir können nicht zusammenhalten wie z.B.

die Homosexuellen oder die Ausländer, weil

wir das nicht können. Eine psychische Krankheit

trägt das asoziale, nicht zusammenhalten

Können grundsätzlich in sich, als das

prägende Element ihrer Störung – sonst wär’

man ja nicht krank. Gesunde Freunde finden,

kann gelingen. Sie dauerhaft behalten, eine

Frau finden, verheiratet sein und es bleiben,

ich habe das gelernt. Nicht so leicht!

Die Gesellschaft im Ganzen grenzt alles aus,

was anders ist. Wenn du eine Angriffsfläche

dafür bietest. Schwule, Ausländer, Alte, Kranke,

Reiche. Reich sein heißt, man wirft es dir

vor. Arm sein? Du wirst benachteiligt. Schön

sein? Man wirft dir vor, dass dein Leben zu

leicht sei usw. Verstecken geht nicht wirklich.

Sich selbst offen zu präsentieren, bedeutet

den Mut zu haben, auch zur Zielscheibe zu

werden. Sie stellen dir eine Falle, du bist allein

und bescheuert; das denken sie. Ein spaßiges

Spiel.

„Come To The Cabaret“ – das Spiel ist nicht

neu. Jeder spielt mit, jeder kennt es. Eine Beschreibung,

keine Aufforderung oder Anleitung:

Insofern ist „das Spiel“ meine Lösung

des Problems. Es ist alternativlos. Die Alternativen

wären, dauerhaft zugedröhnt am

Rand der Gesellschaft anonym zu leben. Oder

stationär im psychischen Krankenhaus zu

existieren. Im forensischen Knast zu enden.

Suizid. Mut bedeutet in meinem Fall dieses

Risiko: Kein Arzt, keine Therapie, die Medikamente

nur als Notfalldosis zuhause – und ansonsten

das tägliche Abenteuer: Was halten

die anderen von mir? Es spricht sich ja rum.

Den Stil damit umzugehen, muss jeder selbst

finden. Mein Spiel, ein Risiko ist dabei! Wer

hat aktuell den schwarzen Peter? Die Polizei

kann mitspielen, unter Umständen. Ein Rätsel?

Mit Booten kann man es nicht spielen. Es

geht mit dem Fahrrad, wie damals in Wedel,

und es funktioniert in Bus und Bahn.

Das Spiel hat viele Facetten.

Es gibt unter Umständen einen Gewinner, es

können auch alle gewinnen, mit dem Ende

des Spiels nämlich, und es kann auch einen

oder mehrere Verlierer geben. Jemand kann

das Leben dabei verlieren, ja – das kommt

vor. Das ist das Vermächtnis meines toten

Freundes, darum spiele ich: mein Einsatz. Das

Leben? Dann ist das gar kein Spiel?

Im Moment spielen „wir“ Auto –

:)

Mai 5, 2020 - Das Spiel 32 [Seite 31 bis 32]


Ich weiß noch Kunst

Mai 8, 2020

Kapitulation: Der achte Mai. Der Tag der Befreiung

ist heute. Wir erinnern uns. Schon

gestern kam es (wieder einmal) im Tageblatt:

Ein böses Relikt aus finsterer Nazizeit, ein

kriegsverherrlichendes Denkmal ist immer

noch da – und eine Initiative hat sich festgebissen,

etwas dagegen zu tun. Das Ding steht

wie überall, an einer wenig beachteten Stelle,

hinter dem Bahnhof oder hinter dem Rathaus

oder hinter dem Friedhof. Gefallenen des

Ersten Weltkrieges wird gedacht, aber auf

die falsche Art, sagt die Initiative. So wie das

da stünde, sei es Propaganda für den Krieg.

Wenn die Stadt es nicht entferne; wenigstens

ein Gegendenkmal müsse her.

Es gibt schon einen Beschluss. Geld müsse

fließen, Bildhauer sollen gesucht werden,

und der im Wettbewerb Einfallsreichste legt

dann los und gibt den Hrdlicka. Die Provinz

will auch mal. Natürlich geht das nicht recht

in Gang. Kaum jemand interessiert sich dafür,

und so schafft es die anklagende Gruppe

in die Dorfzeitung. Ein bisschen Anne Frank

wollen sie sein, wenigstens das. Corona

macht ihnen den letzten Strich durch die

Rechnung, in dieser Sache voran zu kommen.

Es gibt gerade Wichtigeres, als dafür Geld

auszugeben?

Braucht die Kunst eine Initiative, muss eine

Vereinigung von besonders guten Menschen

einen Auftrag dafür geben? Gunter Demnig

hat mit seinen Stolpersteinen gezeigt, dass

es eine moderne Kunst gibt, die nicht malt,

die wirkt und unsere böse Vergangenheit berührend

für jedermann thematisiert. Das Thema

der Kunst heute, was kann das sein?

Es soll wirken, wenn ein weltbekannter Gegenwartskünstler

Schwimmwesten per Straßenkran

an das Brandenburger Tor hängen

lässt, von einigen Arbeitern, die ansonsten

damit Beton vergießen oder sowas. Es sind

Schwimmwesten von Menschen, die über das

Mittelmeer aus Afrika geflüchtet sind.

In der Zeitung war ein Foto von einem ertrunkenen

Kind am Strand. Das wirkt. Im

Januar 2016 stellte der chinesische Künstler

Ai Weiwei das Bild von Alan nach, indem er

bäuchlings an einem Strand liegend posierte.

Wir lernen: Das nennen Menschen Kunst.

Nicht alle gehen bei allen Themen mit: Auf

der Veddel wurde vergoldet, und das ist umstritten.

Ich war seit dem Fall der Mauer nur wenige

Male in Berlin: die Hauptstadt. Es war ja immer

Bonn gewesen, ich bin alt. Das Stelenfeld

in Berlin ist ein gutes Beispiel dafür, dass ein

Foto davon oder ein Bericht, den man darüber

liest, nicht dieselbe Wirkung erzielt, wie

das Begehen der Klötze selbst.

Ein schöner Tag und laue Luft machen das

Kennenlernen der Metropole angenehm.

Später Nachmittag, die Sonne steht schon

tief. Eine milchige, gelbe Soße ist dieser Himmel

über Berlin. Das ist kein Film: Engel sind

da oben nicht zu sehen. Unser Bummel durch

die neue Hauptstadt neigt sich dem Ende zu.

Schon einige Jahre her. Mein Sohn war noch

klein, und ich erinnere mich gar nicht genau,

wie lange es zurück liegt, dass wir dort waren.

Das tut hier nichts zur Sache. Wir laufen

so rum, groß ist die Stadt – schau mal, das

Kunstwerk, da ist es ja. Graue Betonklötze,

und wir dödeln einfach rein. Schnell verliert

man sich, biegt links ab oder rechts (anders

geht es ja nicht, nur manche Kinder klettern),

und die Dinger ragen auch mal auf, dass du

nicht recht weißt –

– wo die Familie abgeblieben ist.

Man trifft auf andere, manchmal. Schweigende

Begegnungen. Kinder, allein und dann

zwei, drei Stück von Fremden, huschen durch.

Zwischen den Stelen ist es einsam kühl, und

ich bin noch in der touristischen Stimmung

eines Bummlers. Das Reden der anderen im

Irrgarten, das Lachen der Fange- und Verstecken

spielenden Kinder hallt ein wenig nach,

undeutliches Gemurmel. Wo meine Frau ist,

mein Sohn – ich mache mir wenig Gedanken.

Es ist ein schöner Tag, ein Ausflug, wir sind

in Berlin!

Wir haben schon Eis gegessen.

Ich gehe so herum, die grauen Betonklötze

bilden enge Gassen. Eine Zeitlang kann ich

nicht über den Rand der Wände schauen. Kurze

Spalten, ganze Wege: Mal biege ich rechts

ab, dann wieder links, und eine Zeitlang treffe

ich niemand. Ich bin ganz allein, in diesem

kalten Beton. Ich höre auch keine Stimmen

mehr. Ich denke auch gar nichts mehr. Ich

trotte vorwärts.

Wohin?

Dann werden die Kanten zum Himmel wieder

niedrig. Ich bin offenbar in westlicher Richtung

unterwegs. Es wird hell, als ich schneller

gehe, es reicht mir. Ich sehe den schmierigen

Himmel des Spätnachmittages, mit seinen

warmen Farben und der wässrigen Sonne

darin, während die Stelen links und rechts

absinken. Aus den monströsen Betonkanten

sind niedrige Spielsteine für Kinder, gerade

noch führende Wege in einer weiten Fläche

geworden, und in einiger Entfernung quert

schon eine alltägliche, hauptstädtische Groß-

Straße die Szene.

Ich sehe eine Bushaltestelle, Spaziergänger,

Touristen und gewöhnliche Stadtbäume im

Gegenlicht. Ein warmer Abendhauch berührt

jetzt mein Gesicht. Das ist wirklich malerisch

schön: Menschen sitzen hier und da, auf einem

der nun allmählich abgeflachten, bequemen

Elemente der unglaublichen Anlage.

So normal. Sie essen einen Snack, Kinder sind

wieder reichlich vorhanden. Die kalte Stille

der letzten Minuten, was war das? Es ist vorbei.

Auch die Geräusche leben wieder auf,

Großstadtgeräusche –

– aus einiger Entfernung.

Mir schießen Tränen in die Augen wie ein

Wasserfall.

Und ich weiß nicht, woran ich denke. Aber

bis heute kann ich mich genau an jeden Moment

im Beton exakt erinnern. Ich probiere:

Mir fällt nicht ein, warum wir in Berlin waren,

wann das war. Und was wir an diesem Tag

sonst noch angesehen haben – Sehenswürdigkeiten,

wo wir was gegessen haben, unser

komplettes Hauptstadtmenue, in welchem

Hotel wir waren –

– davon weiß ich nichts mehr.

:

Mai 8, 2020 - Ich weiß noch Kunst 33 [Seite 33 bis 33]


zeitig verlassen. Das Wohnhaus am Michel

wurde zerstört, und mein Vater war als Kind

zu der Zeit in Friedrichskoog. Meine Oma

kehrte zurück nach Wedel. Schließlich, nach

einiger Zeit „in der Baracke“ außerhalb, fanden

die drei Hamburger hier eine neue Bleibe:

beim Vater meiner Oma.

Zeitzeugen sind weitestgehend verstorben.

Erinnerung ist wichtig. Beschreibungen: In

den letzten Kriegswochen kam mein Vater

zur Hitlerjugend; nicht militärisch. Ältere

wurden noch zum Töten ausgebildet, wie ein

Freund meiner Eltern erzählte, sollten mit der

Flak gegen anfliegende Engländer schießen,

waren noch Kinder. Mein Vater im Fanfarenzug

musste nur trompeten, konnte das nicht

und tat wie die anderen. „Sie stellten immer

einen guten neben einen schlechten Bläser“,

meinte er.

Die Menschen damals waren anders: Wenn

die Kinder Schlittschuh liefen, dann liefen

sie auf dem zugefrorenen Mühlenteich, nicht

auf einer Eisbahn mit Musik. Brachen sie ein,

am Rand und hatte einen langen Stock zum

Stökern, schipperte die Scholle mit der Tide

wie ein Boot. Fiel man ins kalte Wasser: Post,

das warme Rohr.

Der andere Großvater war auf großer Fahrt

gewesen. Ein vergriffenes Buch: Opa Heinz

ist mit der Pamir um Kap Horn gesegelt. Das

hat er aufgeschrieben. Seinerzeit bei Stalling

verlegt, ist es ein lesenswerter Text. Die auf

diese Reise folgende, hat Heinrich Hauser

als Journalist und Filmemacher begleitet.

Ich habe viele Erinnerungen, war gern mit

meinem Opa zusammen. Einige Ausschnitte

mit dem jungen Kapitän Robert Clauß und

eine Fassung des Films mit Untertiteln findet

man leicht. Ich habe das zweimal im Kino auf

großer Leinwand gesehen. Auch mit Heinz

zusammen: „Das ist echt Clauß“, meinte er an

einer Stelle. Der bekannte Laeisz-Kapitän war

vielen ein Begriff. Man muss sich diese Männer

an Bord anschauen: Sie waren anders (als

die Menschen heute). Das muss man sehen.

Eine treffende Beschreibung? Keine Extremsportler

auf dem Weg zum Pol, dem Gipfel

oder gegen den Wind rückwärts

um die Welt allein, mit täglichem

Selfie für uns daheim.

Fernsehgarten heute, anders früher

Mai 10, 2020

Das Ende des Zweiten Weltkrieges ist 75 Jahre

her, und wieder wird daran erinnert. Das

ist auch gut so! Wir müssen nur Nachrichten

schauen, es gibt ihn noch, den Krieg. Wer will

das denn? Hier, man muss es sich vorstellen:

Einige Male am Tag könnten die Sirenen heulen,

und statt eine Corona-Maske anzulegen,

befiehlt die Regierung: „Geht in den Keller,

wenn es heult!“

Unser Keller ist dafür gar nicht eingerichtet.

Meine Oma hat uns regelmäßig von früher

erzählt. Der Feuersturm, Hamburg. Heute

wäre Lina eine „Zeitzeugin“ und man würde

ein ziemliches Geschieß drum machen, was

sie sagt. Auch wenn sie wenig klug wäre. Besonders

natürlich, weil sie kein Nazi gewesen

ist.

Das wäre prima geeignet, für das Fernsehen

heute.

Meine Oma Lina war nicht politisch, Glück

gehabt. Mein Opa Wilhelm, den ich nicht kennen

gelernt habe, weil er gerade vor meiner

Geburt starb, der dazu gehörende Ehemann,

war im Straflager interniert. Damit könnte

ich angeben. Willy hatte lautstark: „Dat gift

Kriech!“ gesagt und abfällig über den Führer

und „Gröfaz“ polemisiert, öffentlich. Ein Fehler.

Mit Onkel Karl könnte ich heute zur Feier der

Befreiung nicht so gut renommieren. Er war

ein mittelhohes Tier in der Verwaltung. Sein

Problem: Meine Tante Janneke war „Halbjüdin“

– . Albern finde ich Menschen, die heute

annehmen, wie selbstverständlich zu den guten

Widerstandskämpfern gehört zu haben,

hätten sie damals gelebt.

Mein verstorbener Vater wurde in Hamburg

ausgebombt. Er war nicht vor Ort. Vorausschauend

hatte die Familie die Stadt recht-

trauten sie sich nicht nach Hause „wegen

Arschvoll“. Damals wurde regelmäßig gehauen.

Man trocknete sich an der Post: Dort

gab es ein warmes Rohr außen (was immer

das heißt). Abluft der Heizung? Das kann ich

nicht sagen. Es wurde immer erzählt.

Als noch Krieg war, gruben die Kinder ein

Loch im Garten, deckten das mit Balken ab

und tarnten es mit Zweigen und Erde. Kam

Fliegeralarm, krochen alle Nachbarskinder in

den selbstgebauten Bunker. „Eine Brandbombe

hätte er (der Bunker) wohl abgehalten“,

Erich beschrieb dann dünne Stiftbomben,

die gelegentlich rumlagen, weil sie nicht gezündet

hatten. Sie spielten damit. Es wurden

Kohlen geklaut, vom Güterwagen. Der Zug

wartete auf die Einfahrt ins Kraftwerk. Der eigene

Bunker, der Krieg war nur ein Spiel? Das

Gewicht einer schweren Fliegerbombe allein

hätte alle im Erdloch getötet. Offenbar hatten

die Erwachsenen nichts dagegen, wenn

die Kinder bei Alarm in den Garten gingen?

Immerhin wurde „die Ölfabrik“ (Mobil-Oil)

in Wedel angegriffen. Das war eine schlimme

Bombennacht. Die Industrie wurde auch

verfehlt. Unser Haus hatte einen Schaden im

Dach, unschön schwarze Dachpfannen, in der

orangen Fläche: Dort hatte eine Brandbombe

eingeschlagen. Aber sie brannte nicht. Der

Opa löschte mit Hausmitteln. Und gut war

das.

Mein Vater beherrschte noch das Eisschollen-

Schippern. Das wäre heute verboten? Im Winter

fror es heftig. Auf der Elbe gab es reichlich

Eis. Man suchte sich eine günstige Scholle in

Ufernähe, fand womöglich eine Art Wriggloch

Ganz normale Seeleute.

Ursprüngliche Männlichkeit, gekennzeichnet

durch die Härten

des Alltages. Auch, das Fahrrad

meines Vaters, mit dem er als

junger Mann von Wedel nach

Pinneberg morgens zur Berufsschule

fuhr, hatte keine Gangschaltung.

Mein Vater trug keine

Handschuhe. Im Winter musste

er radeln, und Pinneberg ist nicht

um die Ecke.

Natürlich hatten die Alten Defizite. Emotional

versagte ein Teil der Bevölkerung: Die

unzureichende Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus

ist bekannt. Meine Eltern

„konnten nicht Familie“, das Wirtschaftswunder

überforderte sie. Sie gaben sich ganz dem

Geschäft hin, aber Geschäftsleute, das waren

sie auch nicht. Geld kann emotionale Schwächen

nicht ersetzen.

Unsere Eltern und Großeltern hatten eine natürliche

Qualität, dem Leben zu widerstehen,

als die Zeiten schlecht waren. Es gab viele

Menschen, die beide Weltkriege überlebt

hatten. Wer möchte um die individuelle Gestaltung

seines Lebens betrogen sein? Heute,

wo es üblich ist mit einer hohen Anspruchshaltung

nach vorn zu planen.

Die Corona-Krise hat uns kalt erwischt. Greta

Thunberg haben viele nicht ernst genommen.

Die Zukunft wird Herausforderungen bringen,

und die sind global. Wir können von den Alten

lernen: Sie waren anders. Es war nicht

besser, damals. Gerade, weil das Leben hart

war, waren diese Menschen mit einer anderen

Qualität zum Überleben ausgestattet als

wir heute (die ihnen kaum bewusst war).

Ich habe zeitgemäße junge Menschen eifrig

arbeiten sehen: Doku im Dritten. Retter sammeln

eine bedrohte Schlangenart am Rande

des Nord-Ostsee-Kanals ein. Dort wird gerade

verbreitert. Im Hintergrund erkannte man

drehende Krane und Bagger. Schuten lagen

sandbeladen am Ufer, Bauarbeiten in der Böschung

wurden gezeigt.

Mai 10, 2020 - Fernsehgarten heute, anders früher 34 [Seite 34 bis 35]


Die Schlangen wussten nicht von der Gefahr.

Ich dachte: „Karl der Käfer hat

nichts geahnt“, einige werden

sich erinnern. Die hochmotivierten

Tierwohlretter stürzten

sich auf jede Otter, die im Gras

zuckte, packten den Landaal geschickt

und tüteten das Tier liebevoll

ein: Ins Rettungsreservat

umgesiedelt. Ich habe nur halb

interessiert zugeschaut. Ständig

sterben Arten. Ohne engagierte

Menschen wäre es schlimmer

und das Ende morgen. Das wird

bestritten? Ganz schön doof.

Ewig gestrige scheinen sich über

Gretas Freunde aufzuregen.

Aber diese beiden Otter-Retterinnen und

Retter –

Am Kanalufer im Gras unterwegs. Stürzen

sich sportlich, wie wir früher, wenn wir Grashüpfer

fingen, mit ausgestreckten Armen, auf

die Schlange, packen das Tier in der grünen

Natur. (Der NDR filmt zurückhaltend). Achtung,

Warnung! Die Retter kommen: Es sind

Studenten in blendend gelb. Sie tragen extra

leuchtende Neon-Westen, mit funkelnd integrierten,

silbernen Reflektorstreifen, wie das

viele Fahrradfahrer tun. Bei aller Liebe zur

Natur! (Klar, dass man Handschuhe trägt, um

nicht gebissen zu werden, vom Tier).

Die Alten waren anders. Wir können lernen:

Einbildung los werden, effizienter retten,

was zu retten ist. Auch die eigene Natur: Uns

selbst. Ich glaube, wir könnten ursprünglicher

sein – ohne Drang, alles extra sicher

und korrekt zu wollen. Auf der anderen Seite

– und nicht nur in Afrika, gleich um die Ecke,

am Rand der Stadt – lässt der Existenzkampf

keinen Fernsehgarten zu.

:)

Mai 10, 2020 - Fernsehgarten heute, anders früher 35 [Seite 34 bis 35]


und „Kalte Küche“, die ich wie einen Rahmen

um eine größere Idee zuerst gemalt habe.

Dazwischen wird die Geschichte vom Erwachsenwerden

erzählt. Die Basis: Einiges an

persönlicher Erkenntnis der letzten Jahre. Ich

habe mir ein Modell der Vergangenheit geschaffen,

wollte endlich verstehen. Ich habe

ein paar Leute näher, besser kennen gelernt.

Das hat ganz gut hingehauen, mit dieser

Idee, zurück zu gehen. Ich male das jetzt auf,

schreibe. Nun hätte ich ja eigentlich bereits

Ende der Achtziger erwachsen werden müssen,

und auf meine Art bin ich das ja auch:

„Leider erlebt man die Jugend in einem Alter,

in dem man nichts davon hat“, habe ich neulich

gelesen.

Daran denke ich, wenn ich diese Themen forme.

Für den Nicht-Maler ist unbegreiflich, wie

ein Thema gestaltet wird. Weil er, so sehr er

auch darüber liest und sich in den Lebenslauf

des Künstlers einfühlt, außen vor bleibt.

Neue Themen: Heute kommt es mir vor, als

hätte ich ein Füllhorn davon gefunden. Ich

bin nicht darauf angewiesen, mein eigenes

Leben zu malen und kann trotzdem thematisieren,

was ich erlebt habe. Eine neue Tür

in die Fantasie.

Grüneres Gras

Mai 14, 2020

Heute habe ich mit einem

neuen Bild begonnen. Das

heißt, ich übertrage meine

Idee auf die Leinwand. Mit

dem Bild selbst zu beginnen,

bedeutet, dass die Idee weitgehend

fertig entwickelt ist. Ich male nicht in

der Natur. Ich zeichne draußen, aquarelliere;

meine großen Bilder male ich im Atelier, nach

einer genauen Idee – nicht spontan.

„Das grünere Gras“ war schon ein interessantes

Motiv, das mich parallel zum Projekt

„Gurken und Rosen“ beschäftigt

hat. Erwachsenwerden,

Männer und Frauen. Es gibt

keine treffenden Worte für

ein Gemälde. Es muss gemalt

werden. So war es nicht

schwer, das zu entwickeln. Ich

mache kaum noch Skizzen für

ein großes Bild mit dem Bleistift.

Anfangs habe ich so gearbeitet,

weil ich es gut kann.

Direkt mit Fotos zu arbeiten,

gefällt mir heute besser.

Es hilft, zeichnen zu können.

Aber man muss nicht ungefähr

sein, wenn Material aus

einer Suchmaschine zur Verfügung

steht. Ich weiß nicht,

wie man „richtig“ malt. Mir

gefällt besonders, dass ich

frei bin, es so zu machen, wie

es gerade mir gefällt.

Das neue Bild wird ähnlich

den Gemälden „Eingänge“

Weiter lernen, heißt Dinge zu verstehen, die

man bloß erlebt hat und nun

erst gezielt in Erfahrung umwandeln

kann. Ein Bild zu malen,

ist wie auf eine Reise gehen.

Da ist ein Ziel – aber wenn

das alles wäre, müsste man

nicht auf die Reise gehen. Es

würde genügen, ein Buch darüber

zu lesen. Eine Beschreibung

des Ziels, ist nicht den

Weg dahin zu gehen. Das ist

das Eigentliche: Die Reise zu

bestehen. Ankommen beendet

das Projekt. Das Ziel besteht

im Gesamten: das fertige Bild

plus der Zeit, die es braucht,

das zu malen. Am Ende steht ein fehlerfreies

Werk. Ein Fremder könnte das Bild kritisieren,

einen Fehler finden? Der Künstler ist am Ziel,

wenn er das Bild nicht mehr weiter verbessern

kann, mag oder will. Der persönliche

Leistungsstand an dieser Stelle seines Lebens

ist erreicht. Mehr geht nicht. Damit unterscheidet

sich das Gemälde,

als abgeschlossenes Projekt

und fertiges Produkt, wohltuend

vom Alltag. Ein Bild kann

ich kompromisslos beenden.

Ich höre erst dann auf, daran zu

arbeiten, wenn es mir gefällt.

Ich habe die schließlich befriedigende

Zeit der Produktion

(weil ich es schaffte fertig zu

werden) erlebt – und das Bild

habe ich auch noch. Das Leben

ansonsten, als ein Prozess voller

Fehler, macht Kompromisse

unumgänglich. Da sind immer

Störungen.

Manche verdrängen, Künstler

suchen!

Das hat mit dem Wunsch nach

Perfektion zu tun. Was wir auch

anfangen, es wird einen Fehler

enthalten. Immer ist Unruhe.

Die Welt rast. Andere stören,

und meine eigenen Fehler

Mai 14, 2020 - Grüneres Gras 36 [Seite 36 bis 37]


auch noch: Keine Bewegung ist perfekt. Ich

stelle eine Tüte mit Einkäufen kurz an einer

Wand ab, weil ich meinen Haustürschlüssel

suche? Gut möglich, dass die Tüte entgegen

meiner Annahme, sie stünde sicher im Winkel

der stützenden Wand, nach vorn umfällt.

Und statt dass ich meinen Schlüssel hervor

krame, muss ich davon rollende Tomaten aufsammeln.

Das ist immer.

Es gibt keine ideale Handlung. Mit dabei wird

immer ein Widerstand oder ein Fehler sein,

ganz egal, was ich gerade mache. Konzentration,

Bewusstheit, selbst wenn wir fit sind,

wir sind niemals perfekt. Das stört doch. Es

bringt Ärger hervor, und wer möchte sich ärgern?

Malen hilft.

Das Leben ist Scheiße: Mal mehr, mal weniger.

Nur dumme oder unreife Menschen bestreiten

das. Jammern auf hohem

Niveau, klar, belehrt mich

gern – aber wer wo ist, möchte

noch woanders hin. Die

Welt: Wenn der Erdboden uns

nicht Halt gäbe, wenn wir kein

Gewicht hätten und es keine

Schwerkraft gäbe, wir nicht

essen müssten oder schlafen,

also vollkommen frei wären

– könnten wir annehmen, den

freien Willen zu haben. Realität:

Wir können aber allenfalls

dorthin, wo es weniger

Gegenwind gibt (wenn wir es

denn voraus sehen).

Darum malen wir: Weil wir

irgendwann fertig sind. Wir

erkennen einen Fehler im Projekt: Zunächst

besteht der Fehler darin, dass die Leinwand

weiß ist, und unsere Idee ist nicht sichtbar.

Dann beginnen wir. An einem Tag werden wir

nicht fertig. Das bedeutet, am nächsten Tag

die Fehler an der unfertigen Idee zu sehen. So

reicht es nicht, es muss noch besser werden.

Am wieder nächsten Tag sind wir nicht fertig,

das wäre gar nicht zu schaffen. (Einen Mount

Everest besteigen wir nicht in zwei Stunden).

Also bemerken wir, was am Bild noch falsch

ist – und müssen rekapitulieren, das wir gestern

den Fehler machten, das Bild nicht perfekt

beendet zu haben. So geht es fort, bis die

Fehler insgesamt kleiner werden.

Wir schlafen eine Nacht.

Morgens gehen wir zum Bild – und bemerken

einen Fehler darin. Wir nehmen das Bild

wieder ab. Wir malen ein wenig, hängen es

wieder auf. Vielleicht eine Woche kann das

so gehen. Aber dann: Es kommt der Tag, da

reicht es einfach. „Es ist so gut, wie ich es

eben machen kann“, das denken wir. Das ist

die Perfektion vom Tag!

Das perfekte Glück.

Wir Maler sind Menschen, essen Farbe wie

Reiche Geld und Hungrige das Brot? Kunst ist

Luxus. Niemand braucht ein Bild. Kein Geld

der Welt befriedigt uns – aber das fertige Bild

bereitet nur eine kurze Freude … wenn wir

nicht wüssten, dass wir wochenlang drüber

fluchten … wir würden das Glück nicht spüren.

Definitiv.

Einmal hat es hingehauen:

Fehler folgt auf Fehler,

aber dann ist es toll fertig

geworden. Kurze Entspannung,

schlafen. Nach einigen

Tagen kommt dann

wieder die Unruhe. Alle

täglichen Fehler, das mit

den Tomaten aus der Einkaufstasche

und so etwas

passieren ja weiter. Wenn

wir nicht saufen, Psycho-

Pillen einwerfen oder täglich

Sex bis zum Umfallen

haben können? Wir müssen

wieder malen …

Wir suchen das grünere Gras, wir sind auf der

Suche und haben Hunger.

(Da kommt noch ein Rind in das Bild).

:)

Jeden Fehler, den wir bemerken, korrigieren

wir mit einem neuen Fehler, den wir ja unweigerlich

machen: da jeder Pinselstrich für

den wir uns entscheiden, nicht so ganz gelingt.

Wir malen über. Wir haben den Farbton

falsch gemischt. Wir malen die Hand, den

Fuß, das Tischbein nicht richtig, zu groß, zu

braun, zu schief.

Und selbst wenn wir gut malten, heute, beinahe

perfekt, so machen wir den Fehler, dass

wir nicht fertig wurden, heute. Wir müssen

schlafen. Irgendwann kommt der Tag, da erklären

wir das Projekt für erfolgreich beendet,

signieren, hängen das Ding an die Wand.

Mai 14, 2020 - Grüneres Gras 37 [Seite 36 bis 37]


Jeder kennt das Rumpsteak

Mai 25, 2020

Die ersten eigenen Bücher? Karl May. Meine

Mutter hat mir abends vorgelesen, nach

einem guten Dutzend Seiten einfach mitten

drin aufgehört – Winnetou.

Ich wollte wissen …?

„Lies selbst.“

Die Macht der Worte. Ich glaubte alles. Ich

glaubte an Henry und den Stutzen, und dass

dieses Greenhorn aus Deutschland stark genug

war, den verdutzten Büchsenmacher am

Kleiderhaken aufzuhängen: „Habt Ihr eine

solche Körperkraft!“ Neue Geschichten, ich

war süchtig danach. Ein zufälliger Fund in

der Bücherei: Mo vom anderen Stern. Die erste

Liebe? Ich wollte alles von Astrid Lindgren

lesen. Ich liebte das, lebte mich ein: Kalle

kombiniert unter dem Birnbaum. Nebenan

wohnt Eva-Lotte, singt: „Josefin’, die hat ’ne

Nähmaschin’. Wo ist Kleinköping? Ich habe es

im Atlas gesucht …

Nach Kalle Blomquist kam Hornblower. Ich

fing mit dem „Kapitän“ an, folgte der Reihenfolge,

wie Forester seine Bücher schrieb. Die

napoleonischen Kriege. Ich segelte weiter,

kämpfte mit, stieg die Karriereleiter auf, in

die Würde der Admiralität, liebte die pferdegesichtige

Barbara, mehr noch Marie und

war beim Grafen in Frankreich versteckt. Eine

letzte Begegnung mit dem Erzfeind Napoleon.

Es interessierte mich: „African Queen“

und andere habe ich ebenfalls gelesen. Im

Urlaub in Kärnten entdeckte meine Mutter

für mich die „Hotspur“, das schloss eine Lücke

in der Chronologie. In „Meine Bücher und ich“

erfuhren wir, dass die ungelenken und linkischen

Aktionen des späteren Seehelden am

Anfang seiner maritimen Laufbahn, als Fähnrich

an Bord der Indefatigable unter Kapitän

Pellew, später geschrieben wurden.

Ich verstand, wie Hornblower Maria geheiratet

hat, aber nicht warum.

Nelson ließ die Victory schwarz/gelb anmalen.

Das waren seine Farben. Nicht alle britischen

Schiffe waren gleich? Es scheint, als

hätte es noch Freiheit gegeben. Clausewitz

hat mit der Romantik aufgeräumt. Der Krieg

wurde effizient. Heute sind die Schiffe grau

wie das Meer.

Nelson wurde erschossen. „Ankern, Hardy,

ankern“, jeder kennt die letzten Worte des

Admirals, Trafalgar. Scharfschützen saßen

auf dem längsseits treibenden Franzosen.

In der Marssaling des Besanmastes hockten

sie, mit ihren langen Flinten auf Beute lauernd,

geschützt durch das massive Holz und

das dichte Gestrüpp der Wanten und hatten

gute Sicht auf das Getümmel unten auf dem

Deck: „Der mit dem ganzen Gold, das ist der

Wichtigste“, werden sie gesagt haben. Horatio

Nelson hatte Ratschläge, sich doch unauffällig

zu kleiden, als es in die entscheidende

Schlacht ging, unwirsch in den Wind geschlagen.

Erweiterter Suizid.

Ich habe mich gefragt, warum die französischen

Schiffe den englischen glichen? Klar,

ein geübtes Seemannsauge konnte schon aus

der Distanz Unterschiede bemerken: „Starker

Mastfall – das wird ein Froschfresser sein, Sir.“

Aber heute, unsere Fregatten: Es ist wieder

ähnlich – die Schiffe der anderen sind nicht

Dreimaster geblieben. Wir kämpfen mit denselben

Waffen gegeneinander. Die Zeit geht

auf der ganzen Welt voran. Alle wichtigen

Staaten haben denselben Scheiß.

Darum ist da auch kein verrückter Trump

oder gefährlicher Putin, der Chinese, der Erdogan

– und bei uns die gute Angela? Das

ist zunächst ein Krieg der Worte. Wir füttern

uns mit dem, was wir lesen wollen. „Gelenkte

Demokratie“ ist unser Schimpfwort. Wir werten

uns auf. Bei uns sind die guten, die besseren

Demokraten, die richtigen. Vielleicht

stimmt es. Sind wir frei? Natürlich, investigativer

Journalismus zeigt uns, was fies gelenkt

heißt. Ich lebe sehr gern in Deutschland, das

gebe ich unumwunden zu. Wir sollten nicht

naiv sein: Wir müssen mit unseren Wortfregatten

gegen die der anderen mithalten,

dürfen nicht langsamer segeln oder weniger

Kanonen an Deck stellen.

Auch bei uns wird gelenkt. Niemand möchte

Chaos. Wir tragen eine Maske in der Corona,

weil der Staat anordnen kann, was sich gut

umsetzen lässt. Nützt das? Vielleicht nur ein

hilfloser Aktionismus. Die Diskussionen müssen

gemäßigt sein. Wir sehen in anderen Ländern

den massiven Lockdown. Das Fernsehen

zeigt die Katastrophe in ihren Kliniken. Überlastete

Ärzte, Pfleger – wir sehen die schlichten

Kiefern-Särge, mit den vielen Toten der

Pandemie, wie sie in schnell ausgebaggerte

Massengräber gestaut werden. Das ist ein

Krieg heute und hier. Wir begreifen, dass es

bei uns bei weitem nicht so bescheuert zu

geht, wie wir dachten. Wir sind weit vorn in

der Krise. Der Vergleich zeigt es.

Manche wollen nicht glauben, was das

Fernsehen zeigt. Das Internet schürt ihre

verschworene, verschrobene Welt, facht

eine kollektive Neurose an. Das Misstrauen

kommt nicht von ungefähr. Wir fahren nicht

nach New York, Moskau oder in den Iran, prüfen

selbst nach, wie wahr die Nachrichten

sind. Ich habe gern geglaubt, was ich gelesen

habe, als Kind. Aber: Karl May war nie Old

Shatterhand. Ein paar Dinge müssen wir lernen,

ein Wort ist nur ein Wort: Liebe, was soll

das sein? Das hat es nie gegeben. Genauso

wenig freie Demokratie. Es gibt Freiheit nur

in den Grenzen der Beziehung: zum Partner,

zum Staat, zur Natur – zu Gott.

Wir sind gemeinsam eine Welt. Das hat Corona

gezeigt, es trifft nun zunehmend alle gleichermaßen.

Wir halten zusammen dagegen.

Greta Thunberg wird noch belächelt? Ein

Fehler. Da kommt kein böser Asteroid angeflogen,

und die Menschheit schießt dem eine

Atomrakete entgegen – das ist ein Film. Was

ist denn: „Die Menschheit?“

Zunächst du und ich. Wir sind die Basis einer

guten Demokratie. Ein kleines Schlachtfeld.

Wenn es die Liebe gäbe, würden sich leicht

alle denkbaren Verbindungen ergeben. Wir

liebten einander voll und ganz, so wie wir

wirklich sind. Wir verstünden uns, liebten

wie im Roman, im Traum. Die Erfüllung – am

Ende wahr geworden. Es ist aber anders: Was

uns fehlt, das lieben wir. Wir erweitern unser

Selbst. Wir erleben, sogar nach langen

Jahren in einer Beziehung, dass wir einander

nicht wirklich kennen. Außerdem fühlen wir

uns unverstanden, nicht geliebt dafür, was

wir sind. Wir können nie genug Bestätigung

bekommen. Wir gehen auf die Suche danach.

Wie im Restaurant. Das Leben soll uns bedienen.

Wir bestellen ein Luxusmenü: Wenn

es schließlich wohlduftend vor uns steht, erinnern

wir uns der Speisekarte, wir schauen

bereits in diesem Moment, was die anderen

gerade bekommen. Ich hätte das Lamm nehmen

sollen, nicht die Ente mit Rotkohl. Der

Reinfall beim Neuverlieben ist die Projektion

unsrer Sehnsucht in das andere Geschlecht.

Mann lebt mit Frau, etwa gleiches Alter, ist

die Regel. Je mehr die Partner von der Normalität

abweichen, desto heftiger der Gegenwind.

Im Dorf ist die Provinz, und das ist die

Welt im Kleinen: Wenn der Künstler mit einer

Studentin los zieht, zerreißt man sich’s Maul.

Zu mir hingegen sind sie „meine Freunde“ …

„Das ist so einer.“

Wie verrückt der ist. Apfelfestbomber, Reichsbürger,

Gefährder – was können wir aus ihm

machen? Das Dorf braucht Schubladen. Worte.

Ein Rumpsteak ist ein Rumpsteak.

:

Mai 25, 2020 - Jeder kennt das Rumpsteak 38 [Seite 38 bis 38]


Lernen müssen

Mai 28, 2020

Über Schule wurde schon

viel geschrieben. Dass wir

für das Leben lernen, nicht

für die Schule. Heute wird

mehr über Pisa verwandte Themen diskutiert,

also wie Schule besser werden kann. Es werden

Länder verglichen und argumentiert, was

die anderen hinbekommen und wir nicht. Darum

haben wir den Föderalismus. Auch die

Bundesländer probieren sich aus.

Manchmal sehe ich Plakate, mit denen um

Spenden für Afrika geworben wird. Ein Mädchen

möchte lernen, suggeriert das Motiv.

Wenn ich mutmaßlich reicher Europäer für

Afrika spende, könnte in einer strukturschwachen

Gegend eine Schule gebaut werden.

Arme Afrikaner. Dass Menschen etwas lernen

möchten, also gern in eine Schule gehen

würden, wenn es eine gäbe? Wir sind reich.

Eine Fragestellung soll unsere Denkgewohnheit

aufbrechen. Die doofe Schule! Mein Vater

hatte wenig übrig für seine kurze Zeit in

der „Volksschule“ – es war Krieg gewesen, es

gab immer Prügel.

Lehrer seien nicht nur faule Säcke, wie der

geschasste Altkanzler Schröder so politisch

unkorrekt und pauschal geflappst hat, Lehrer

sind anstrengend, oha, das ist verboten

kommuniziert. So ein böser Kanzler. Damals

hatten wir weltweit keinen Trump. Heute

bietet der amerikanische Präsident die beste

Angriffsfläche für Kritik. Der ist noch größer,

noch dicker, als der inzwischen verstorbene,

noch ältere Altkanzler Kohl. Den hat es auch

immer getroffen: Worte, Eier, Farbbeutel. Zu

Angela Merkel sind wir freundlicher. Sie ist

smart. Trump als Amerikaner ist gut geeignet,

angeschimpft zu werden. Besonders, weil

er so weit weg ist. Er hört es nicht und wird

kaum einmal bei uns vor der Tür stehen und

uns verhauen.

Und Schröder genießt sein Leben mit einer

neuen Frau.

Diese mächtigen Menschen haben für das

Leben gelernt, und wir für die Schule, so

scheint es. Wir sind privater Polizist (aber

ohne Macht) und petzen einander: „Das sagt

man nicht!“ Manche merken nicht, dass sie

erwachsen sind und die Lehrerin keine Autorität

mehr ist, die zuhört, hilft und Dinge regelt.

Mehr denn je werden Vorfälle angezeigt,

die früher selbstständig gemeistert wurden.

Ein Autobahnpolizist geht nach Jahren in

den Ruhestand, es hat sich einiges geändert.

Nicht nur die Aggression, auch die Reaktion:

Es seien typischerweise Akten anzulegen, ungefähr

nur – ein blaues Fahrzeug, eventuell

Mazda, und er hat mich bedrängt, geschnitten,

das Kennzeichen – unvollständig. Wie

soll man damit zielführend ermitteln? Und

die Schule ist im Spiegel unsrer heutigen

Welt anders zu begreifen. Heute, das ist nicht

mehr die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Spezielle Fächer und Leistung werden wie

immer gelehrt. Aber wir bauen gerade kein

zerstörtes Deutschland demokratisch

neu auf. In der bereits gut

ausgestatteten Welt, soll es noch

deutlich besser werden. Wir haben

Autos, schicke Häuser und wollen

schöne Menschen haben, die viel

und gerne etwas leisten.

Mein Vater hat uns den Begriff

der Leistung in der Formel erklärt.

Eine Arbeit ist nur, dass etwas

getan wird. Du schraubst was zusammen

oder räumst dein Zimmer

auf. Eine Leistung ist es, wenn es

schnell gemacht wird. Die Zeit, die

du benötigst in Relation zur Arbeit,

das ist die Leistung. So kommt es zum

Vergleich. Wie viel Sand wird weggebaggert,

das ist die Arbeit. Wie lange schaufelt Meyer

mit der Hand, bis es getan ist, wie lange benötigt

er, wenn er den Bagger nimmt?

Klar, der Bagger, damit kostet es mehr: Anschaffung,

Unterhalt der Maschine. Erich hatte

eine kaufmännische Ausbildung und war

zunächst angestellt als Maschinenschlosser,

bevor wir den Fischladen hatten. Erst Handwerker

mit einem Chef, dann selbstständig.

Er kannte sich aus, mit der Arbeit und der

Leistung. Für meinen Vater war diesen Zusammenhang

zu begreifen das Lebensprinzip.

Das Wirtschaftswunder fing an, und Bassi

war jung …

Wir gingen gern schwimmen. Wenn wir in der

Kabine die Badehose anzogen oder hinterher

beim Abtrocknen und Anziehen redeten, nur

durch eine dünne Wand in der Umkleide getrennt,

schauten wir, wer es zuerst zum Föhn

schaffen würde.

Genau genommen ist jede Arbeit eine Leistung.

Alles braucht Zeit. Das Wort Qualität

kann für etwas Gutes verwendet werden

oder einfach als Unterscheidung der Sorten.

Die grüne Qualität oder die rote, welche Paprika

möchtest du? Wenn du nach drei Jahren

aufgeräumt hast, weil du allein bist, und es

ist nicht gerade dein Kinderzimmer gewesen,

sondern ein ganzes Leben oder doch eine

große Fabrikhalle, dann ist es eine gute Leistung.

Wer bewertet das, und bist du abhängig von

der Bewertung? Ist da ein Lehrer, gibt dir eine

Note, du bist weiter für einen Recall? Ist da

ein Geldgeber – oder kannst du nach einem

Unfall wieder laufen und hast lange dafür

gebraucht, aber weniger lang, als alle das angenommen

haben?

Das sind Fragen!

Romane sind wahr, auch wenn sie erfundene

Geschichten sind, weil sie das Leben wiedergeben.

In den Büchern von John Irving kommt

immer irgendwann „der“ Unfall. Ein Ereignis

das alles ändert. Etwas lernen können, etwas

lernen dürfen oder etwas lernen müssen? Ein

Beispiel: Monica Lierhaus wird fünfzig Jahre

alt, herzlichen Glückwunsch! Wir verstehen,

dass jemand lernen muss, der etwas nicht

(mehr) kann, was alle normalerweise können.

Barbra Streisand singt: „People who need

people, are the luckiest people.“ Das habe ich

als Jugendlicher gehört und nicht verstanden.

Ich ging weiter in die andere Richtung.

Je weniger tief die Beziehungen, desto freier

meinte ich zu sein.

Ich erlernte nur schwer die Oberflächlichkeit.

Nicht verbindlich, aber freundschaftlich mit

anderen verbunden sein. Bekanntschaften

ohne Tiefe haben und wenig vom Gegenüber

erwarten, ohne deswegen enttäuscht zu

sein. Die eigene Grenze erhalten und selbst

bestimmen, bis mehr Herz in die Beziehung

kommt. Gibt es ein gutes Wort dafür, oberflächlich,

unverbindlich – so sagt man es

eigentlich nicht. Eine Qualität? Keine Schule

empfiehlt das so, sozial und menschlich sollen

wir handeln. Der Therapeut kennt sich

nicht aus, uns das zu vermitteln, wie’s auch

hier schwer verständlich hinzuschreiben ist

Wer sich die Beine bricht, findet einen guten

Arzt. Wem „der Kopf bricht“, dass ihm sein

Mundwerk unbewusst alles rausplappert,

was dort oben gespeichert ist und grenzenlos

die Meinungen der anderen ins Gehirn

hinein waschen, muss lernen, die Worte zurückzuhalten.

Das als gut beschworene dicke

Fell, ist bestenfalls eine durchlässige Membran.

Jeder muss erst lernen, eine Meinung

zu entwickeln. Und die unter Umständen für

sich behalten. Dafür benötigt es Zeit, bis man

spielerisch mitreden kann. Lebhaft sein ist

eine Qualität, plappern nicht. Ich habe die

Mai 28, 2020 - Lernen müssen 39 [Seite 39 bis 40]


Erfahrung gemacht, dass man sein Naturell

nicht ändern kann, aber formen. Klare Kante

können, aber nicht immer gewinnen müssen?

Ich sehe ein Licht am Horizont, ein lohnendes

Ziel. Das hat mich die Schule nicht gelehrt.

Wir lernen, bleiben aber individuell,

unterscheiden uns, werden nie jemand

anderes, auch wenn wir es so wünschen.

Wir gehen ganz weit weg, aber wir können

nur zu uns gehen. Das ist kein Ausland.

Wir lernen für uns, auch wenn ein

Bein fehlt, nach dem Unfall. Wir können

kein Bein nachwachsen lassen. Weglaufen

oder ankommen? Echte Not und

eingebildetes Leid unterscheiden sich

hier: Alles umschnippeln lassen, Titten,

Arsch und Lippen, ist ein dekadenter

Luxus, mit zweifelhaftem Wert.

Ich habe zu leicht geglaubt, was man

mir sagt und mich immer ganz eingebracht.

Grenzenlose Offenheit führt in die Auflösung

des Selbst. Also habe ich lernen müssen, die

anderen wesentlich nicht zu brauchen. Der

lange Weg als ein Geschenk?

Damit bin ich tatsächlich so glücklich geworden;

denn die Ausgangslage war ja schlecht:

Mir musste man helfen. Wer mehr lernen

muss, ist reich beschenkt. So viele könnten

lernen und bleiben Mitläufer. Sie können wie

der Nachbar gehen und arbeiten, schimpfen

und wissen Bescheid. Es genügt ihnen, normal

zu sein und sie überheben sich gern über

die Spinner.

Ich fand’s schwierig zu arbeiten, Geld zu verdienen.

Ich fand schwer zu Frau, Kind und

Haus. Eine Existenz zum Vorzeigen. Ich blieb

abhängig von Eltern, Ärzten und brauchte lange,

meine Zimmer aufzuräumen. Meine Kunst

ist in erster Linie, unverstümmelt zu bleiben

(kein van Gogh zu sein). Ein weiter Weg in ein

normales Leben. The luckiest people, deswegen

stimmt es: Der Weg zur selbstverständlichen

Normalität, allein klar zu kommen, ist

länger bei denen, die Hilfe brauchen. Normalität

ist also nicht selbstverständlich.

:)

Mai 28, 2020 - Lernen müssen 40 [Seite 39 bis 40]


Der schwarze Peter ist wieder tot

Jun 4, 2020

Mal entspannt nichts tun. Für einige bedeutet

Nichtstun, sich festhalten zu müssen, mit aller

Kraft. Es muss geübt werden, warum? Zusammenreißen

ist keine Leistung, wenn man

in sich ruht. Der einzelne Mensch ist dabei

ein Teil der anderen und untrennbar von der

eigenen Geschichte. Vorbestimmt, festgelegt:

Nicht nur durch die Gene, auch durch das frühere

Verhalten. Mal sind wir gut, dann böse

und krank. Der Mensch ist in allen Farben

unterwegs. Jetzt können wir gut sein. Es ist

gerade einfach. Heute zeigen wir Flagge!

Wikipedia: Aus dem Englischen übersetzt –

George Floyd war ein Afroamerikaner, der am

25. Mai 2020 starb, nachdem der Polizeibeamte

von Minneapolis, Derek Chauvin, mindestens

sieben Minuten lang auf Floyds Hals

kniete, während er mit Handschellen gefesselt

war und mit dem Gesicht nach unten auf

der Straße lag.

Wir empören uns! Solidarität ist eine Kraft,

die spontan Netze bilden kann, Menschen

mobilisieren, die nun zusammenhalten. Wenn

aus Recht Unrecht wird, passiert das. Die Polizei

ist Dienstleister der Gesellschaft. Sein

Machtmonopol darf der Staat nicht missbrauchen.

In der Demokratie ist der Präsident

oder Kanzler der angestellte Verwalter, der

das System zum Wohle aller lenkt. Aber dieser

Präsident riskiert die innere Sicherheit:

Die Welt ist fassungslos.

Eine Gesellschaft ist gemischt: vielfarbig und

unterschiedlich leistungsfähig. Die einen

zahlen mehr Steuern und anderen Mitgliedern

müssen wir helfen, weil sie unbedingt

dazu gehören. Es gibt immer Bestrebungen,

Menschen irgendwo hinauszudrängen. An

der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung

oder dem Brexit wird deutlich, dass

Teile im System auch

selbst gehen wollen.

Gerade die britische

Fluchtbewegung zeigt

aber, dass Großbritannien

zwar durch den

Kanal getrennt vom

Festland ist, dennoch

nicht wie ein Schiff in

die Freiheit davon segeln

kann.

Frei sein, unabhängig

und weiter alle Rechte

und Verträge, die in

vielen Jahren ausgehandelt

wurden, beibehalten?

Das geht nicht.

Alle müssen lernen. In

der Welt hängt jedes

Teil am anderen. Wie

sieht die Freiheit in einer

sozialen Beziehung

aus, und wie integriert

eine gesunde Gesellschaft

ihre verschiedenen

Mitglieder? Die eigene

Farbe, ist sie eine

Qualität oder ein Brandzeichen: Cowboys

und ihr Vieh, was sind wir denn?

Ein Katalane oder Brite, der für die Unabhängigkeit

seiner Region kämpft, hebt ein Schild

hoch und demonstriert. Den Juden verpasste

Adolf Hitler einen Stern, um sie kenntlich zu

machen. George Floyd unterschied sich durch

seine Hautfarbe? Von wem denn? Ordnung

muss sein. Die Fußfessel der Sexualstraftäter

in Freiheit, die Corona-App; wer noch keine

roten Haare hat, dem setzen wir eine dicke

Brille auf die Nase, damit er nicht sehen kann,

das wir ihn gerade daran

erkennen: Wo ist Walter?

Ha-ha.

Liberia ist ein Teil von

Afrika. Ich habe einen

Freund gefunden, der ist

in einem kleinen Dorf

abseits der Hauptstadt

Monrovia geboren. Ich

soll dich „Schwarzer“

nennen? Wir dürfen nicht

„Neger“ sagen – das ist

„falsch“ (heute)? So frage

ich ihn. Er grinst und hält

seinen bloßen Unterarm

neben meinen, der in einem

schwarzen Hemdsärmel

steckt, vergleicht und

sagt: „Ist nicht schwarz. Ist

braun.“ Wir lachen beide.

Ich lobe seine spontane Fröhlichkeit, die

Coolness, die Beweglichkeit im Sport, Musik

und mehr, was wir an den Schwarzen insgesamt

bewundern. Es stimmt nicht? Er hat in

England studiert: „Ich sitze im Bus“, erzählt

er, „schräg gegenüber einer wie ich. Ich bin

so, wie du mich kennst, lache den an und

probiere, ihn kennenzulernen. Mutmaßlich

ein Freund? Weil er schwarz ist wie ich. Das

denke ich. Der aber verzieht keine Miene, ignoriert

mich komplett. Das ist alles erlerntes

Verhalten. Wenn du in England aufwächst,

bist du Engländer. Großbritannien“, sagt er –

„Da lacht man nicht im Bus.“

# Solidarität?

Weltweit wird nun demonstriert. Der Tod

von George Floyd bringt überall Menschen

auf die Straße, die sich gegen Rassismus in

Stellung bringen. Vielleicht ändert sich etwas

und Gesetze werden geändert. Ausgrenzung

an sich wird es aber immer geben. Solidarität

ist großartig, wenn wir sie erfahren dürfen.

Oft genug geschieht es andersrum, wir fühlen

uns unverstanden. Wenn eine Gruppe gegen

den Einzelnen mobilmacht: Das ist ihr eigenes

Rechtsverständnis. Anpassung soll durch

Ausgrenzung des unerwünschten Verhaltens

erzwungen werden. Aus schwarz mach’ weiß.

Polizeigewalt bedeutet im Fall Floyd, dass

das Recht verbogen wird. Eine Gruppe von

Polizisten unterscheidet sich dann nicht von

einer Bande, einem Clan oder den bösen Kollegen

in der Firma. Es sind welche, die „Meyer“

verarschen oder bei einemProjekt nicht

unterstützen, das sie in Schwierigkeiten bringen

könnte. Manche unterstützen selbst eine

gute Sache nicht, wollen nichts damit zu tun

haben, und auch dann ist es Gruppendynamik:

Die faule Gruppe, dieTrägheit der Masse,

die jemanden hängen lässt.

Im Stich gelassen in der Not. Wenn dir jemand

eine Falle stellt, wirst du andere, die

darüber offensichtlich bestens informiert

sind, aber nicht an deiner Seite stehen, mehr

verachten, als deinen anonymen Gegner. Wir

haben immer „Zwölf-Uhr-Mittags“ mit Gary

Cooper angeschaut, wenn es im Fernsehen

kam: Lässt sich eine Methode entwickeln, die

fehlende Solidarität geradezu provoziert, um

allein gelassene Menschen in dieser Situation

stark zu machen? Das sollten wir probieren.

Es ist klüger, einzelne gezielt zu stärken,

als die Welt insgesamt ändern zu wollen.

Eine Theorie kann durch

gezielte Beobachtung

gefestigt werden, dann

kommt anschließend

praktisches Training. Das

Problem ist in erster

Linie, Unabhängigkeit

möglich werden zu lassen.

Zu manipulieren erzeugt

Paranoia, verstärkt

die Bindung an den Helfenden.

Ein Freund wird

eher direkt helfen, als ein

Psychologe mit einigen

verbalen Kniffen im Gepäck.

Dem Arzt ist eventuell

nicht bewusst, dass

er ein Teil des Problems

wird, wenn er den Patienten

lebenslang begleitet.

Ein Patient könnte ein

Mensch sein wie andere, wenn wir es ihm

zutrauen, bald so gesund zu sein, dass er unabhängig

vom Arzt ist.

Die Freiheit wird größer, wenn du wählen

kannst. Krank zu sein, bedeutet zwanghaftes

Verhalten. Die Eltern, der Lehrer, ein Therapeut;

das sind alles Menschen, von denen wir

abhängig sind, wenn wir ohne Unterstützung

nicht klar kommen. Wie kann Hilfe gegeben

werden, wenn das Problem Abhängigkeit an

sich ist? Dafür müssten wir neu denken. Einige

Grundlagen sind bereits bekannt. Wir

müssen uns fragen:

Warum ist dieser Film erfolgreich? Wir laufen

nicht mit dem Colt herum, normalerweise

steht kein Schwerverbrecher gegen uns allein.

Teeren und Federn, so ist Amerika. Die

Jun 4, 2020 - Der schwarze Peter ist wieder tot 41 [Seite 41 bis 43]


Worte Empathie, Freundschaft,

Treue, Liebe sind

dehnbar, weil sie abstrakte

Begriffe sind. Solidarität

ist unverwechselbar. Das

ist die Freundschaft, die

besonders dann stark wird,

wenn du sie nicht erwartest.

Sich nicht erfüllende Erwartung

kränkt. Ich bin

mir sicher, dass jede psychische

Erkrankung, wie

immer wir sie benennen,

das Ergebnis nicht zu

begreifender Verletzung

durch andere Menschen

ist. Mehrmals wiederholt,

kann das ein traumatischer

Teufelskreis werden. Wer psychisch

krank ist, blickt die Ursache nicht, weil es aus

seiner Perspektive gar nicht geht, ist nicht

bescheuert oder gestört, sondern wurde

nachhaltig verstört. Ein böser Strudel saugt

uns tiefer ein. Schwindeln nannte meine Oma

das Lügen. Oma lügt nicht, aber du machst,

was man nicht tut, heißt es das? Wir lügen

einander nicht bewusst an, aber wir stellen

Sachverhalte so dar, wie es individuell zu uns

passt. Werbung für ein Produkt stellt es gut

dar und ist keine Lüge. Das ist die Wahrheit

der Hersteller.

Eine Firma will Erfolg.

Der kleine Familienbetrieb: Jedes Kind muss

erst lernen, was Worte bedeuten. Papa redet

anders als Mama und nicht immer kommt

dasselbe dabei raus. Was kannst du erwarten?

Du probierst es aus, manipulierst ein Preisschild

auf dem Spielzeug, das du eigentlich

nicht bezahlen kannst, weil einige Cent fehlen

– ein schwindelndes Gefühl. Tatsächlich:

Das Blut rötet deine Wangen, der Puls klopft

in den glühenden Ohren. Kommt man damit

durch, machen das alle? Fühlt sich Scheiße

an – oder ist es der Kick, den du brauchst?

Immer die Wahrheit sagen, damit niemand

strafen kann. Immer brav und den anderen

Menschen alles glauben? Mitschüler verpetzen,

die sich nicht an das halten, was die

Lehrerin sagt – das kann genauso schwierig

werden. Gefühle: ein Wirbel! Verrückt steht

keiner sicher, stürzt in den Graben. Erst abfüllen,

dann verspotten – die Gesellschaft ist

mal solidarisch und mal schadenfroh. Daumen

hoch oder runter wie im alten Rom.

# Im Kreis gedreht bis zum Kotzen!

Vor vielen Jahren, als das Fernsehen noch die

Masse der Zuschauer hatte, die heute mehr

das Internet nutzen, habe ich dies gesehen:

In einer Show wird ein Mann vorgeführt, der

zunächst nicht weiß, dass er im Mittelpunkt

der Sendung steht. Er sitzt im Publikum. Man

hat ihn in die Sendung gelockt. Die eigene

Ehefrau, die Kinder, die Freunde – sie haben

ihn beim Fernsehen „angezeigt“. Er hat einen

sozialen Fehler. Etwas an ihm nervt. Man

kann es ihm nicht erklären, so scheint es.

Seine „Bestrafung“ besteht schließlich darin,

dass er auf einem Bürostuhl mit verbundenen

Augen gedreht wird und unter allgemeinem

Gelächter sofort anschließend, als die

Augenbinde abgenommen wird, einen Weg

geradeaus durch seitlich aufgetürmte Tortenberge

finden muss, um am Ende einen Buzzer

zu erreichen. Dort winkt ein Preis! Natürlich

schafft der das nicht sauber.

Dieser Typ, an den ich mich

erinnere, macht schließlich

gute Miene zum bösen

Spiel. „Verstehen Sie Spaß“

ist ähnlich. Was bleibt dir

übrig in dieser Lage? Für

den Sheriff Kane in „High

Noon“ ist die sich nicht

erfüllende Solidarität seiner

Umgebung schließlich

harter Überlebenskampf.

Es ist kein Spiel. Er schießt

sich frei, mit dem Colt.

Ganz allein.

Wir sind zivilisiert und

dürfen nicht schießen,

schlagen. Die Polizei darf

es. Cool bleiben, nichts tun kann auch Stärke

sein: „Reiß’ dich zusammen!“ Manchmal ist es

möglich. George Floyd hatte keine Wahl. Er

konnte nur nichts tun, und Menschen haben

gerufen: „Aufhören! Der kriegt gar keine Luft

mehr.“ Es hat nicht gereicht. Man hätte einen

Polizisten wegtreten müssen, mit aller Macht

hätte man einen Ordnungshüter angreifen

müssen! Wer hätte das probiert? Die Polizei

war in Mannschaftsstärke, Floyd ein mutmaßlicher

Straftäter – und schließlich allein.

Frank Miller ist dargestellt als ein vielfacher

Mörder, eine Figur im Film. Miller kommt mit

einigen Freunden, um Rache zu nehmen, und

der gute Sheriff Will Kane bleibt allein.

Die Ironie des Lebens will es so: Plötzlich ist

Zivilcourage anders herum. Harmlose Zivilisten

sind spaßig, und gewaltfrei gute Menschen,

meinen sie. Solidarisch mit den Unterdrückten.

Im Fernsehen sein, vor aller Augen

bloßgestellt und noch dazu lachen müssen?

Anschließend zuhause. Wieder zur Arbeit, die

Kollegen – wir können uns das vorstellen.

Menschen sind so, und da

muss die Hilfe ansetzen,

wenn sie ernst gemeint

ist, die psychisch Kranken

wirklich nützt. Es

gibt keine Pille, die klug

macht, aber manche werden

nicht vorgeführt. Sie

sitzen nicht auf einem

Drehstuhl, bis sie’s nicht

mehr blicken und in die

Torte eiern. Sie fahren

Benz.

# Den Spieß umdrehen?

Das böse Spiel im Netz,

das kann man auch anders

herum spielen. Ich

habe den Fernseher damals

abgeschaltet. Diese

Sendung habe ich nie

wieder angesehen. Ich mag mit dem immer

noch populären Moderator nichts zu tun haben.

Die Freunde, die Ehefrau von diesem Typ

– die möchte ich nie treffen.

Aber ich habe darüber nachgedacht, was passiert,

wenn man ein derartiges soziales Vergehen

(der hatte immer mit den Fingern auf

dem Tisch getrommelt, während man gesellig

zusammen saß) bewusst ausprobiert. Es

muss so harmlos sein, dass aus einer Mücke

ein Elefant werden kann, ohne dass es diesen

Elefant je gegeben hat. Es ist etwa so, wie

die andere Hautfarbe. Unter Umständen genügt

ein banaler Unterschied für eine heimtückische

Attacke. Eine eigene Meinung ist

ausreichend, und erst recht eine Schwäche

zuzugeben, wird jemand auf den Plan rufen,

sie auszunutzen.

Anderen eine Unsicherheit zu offenbaren,

bedeutet eigentlich, diese zu kennen. Einmal

angenommen, wir kennen uns nicht. Unsere

Krankheit ist das Unwissen der eigenen Verletzlichkeit.

Narren fühlen nicht, ist ein hebräisches

Sprichwort. Es ist möglich, Gefühle

vor anderen zu verbergen: In einem Geschäft

verhandelnd, hat private Trauer keinen Platz.

Auf einer Beerdigung lachen wir nicht, und es

gibt Menschen, die eiskalt lügen.

Es kann zu einer Gewohnheit werden, die

Furcht vor anderen Menschen durch individuelle

Verhaltensmuster zu überspielen. Das

bedeutet die Gefühle nicht nur vor anderen

zu verbergen, sondern sich so in eine Rolle

einzuleben, dass wir unsere Natürlichkeit

aufs Spiel setzen. Eine Gefahr für die psychische

Gesundheit ist das in jedem Fall. Dann

wissen wir selbst nicht mehr, dass wir Angst

haben. Indem wir uns fortwährend treu zum

bisherigen Getue verhalten, maskieren wir

unsere Schwäche.

Der Grund eines Problems ist verborgen? Wir

können ausnutzen, dass andere uns zeigen

werden, wo genau wir verletzlich sind, wenn

wir annehmen, dass Bosheit mindestens so

menschlich ist, wie zu helfen in der Not. Es

ist leicht, Solidarität zu zeigen, wenn das

Böse fern im Ausland stattfindet, und es ist

schwer Zivilcourage zu beweisen, wenn der

soziale Druck hoch ist oder Gefahr für Leib

und Leben besteht.

Wenn die Angst des psychisch labilen Menschen

ist, von anderen und sich selbst in die

Pfanne gehauen zu werden, kann es nützlich

sein, bewusst in diese Lage zu geraten. Der

eigenen Angst zu begegnen, das wird uns

für immer verändern. Wir sind frei, uns so zu

verhalten, wie es angemessen ist, können uns

verteidigen, wo wir früher mit einem schiefen

Lächeln ausgehalten haben. Statt das Gesicht

zu machen, das alle von uns gewohnt sind,

können wir unser bisheriges Selbst verwerfen

und klare Worte finden oder kühl schweigen,

gegebenenfalls kämpfen. Mut muss erfahren

werden, wird solidarische Mitstreiter auf den

Plan rufen. Ein Narr sein, ist krank sein. Einen

Narren zu geben, bedeutet den Vorhang

selbst fallen zu lassen, wenn es reicht.

Jun 4, 2020 - Der schwarze Peter ist wieder tot 42 [Seite 41 bis 43]


# Heigh-Ho!

Der „Fehler“ vom Sheriff Kane besteht darin,

dass namentlich er es gewesen ist, der

Miller seinerzeit gestellt hat. Deswegen

hatte dieser im Gefängnis gesessen. Frank

Miller hatte einen ganzen Landstrich terrorisiert.

Seine Opfer fand er im weitläufigen

Farmland, rund um eine kleine Ansammlung

hölzerner Pionierbauten, mit

einem typischen Bahnhof am einsamen

Gleis, wie er in vielen Western in Szene

gesetzt ist. Die Freunde aus dieser Zeit,

die an der Seite ihres Town Marshals gekämpft

hatten und so alle gemeinsam endlich

Frieden und zivilisiertes Dorfleben für

ihre Familien erreichten, begreifen, dass

Miller nicht ihretwegen nach Hadleyville

unterwegs ist. Der freigekommene Outlaw

und seine finstren Kumpane, wollen in erster

Linie mit dem Sheriff abrechnen. Die biederen

Farmer der Gegend und die Kaufleute des

Städtchens finden ihre persönliche Lösung,

einige verstecken sich im Haus: Zunächst vor

Kane, der auf der Suche nach wenigstens einem

Hilfs-Sheriff bei jedem anklopft, den er

für geeignet hält. Du bekommst dafür einen

Blechstern auf die Brust! Alle menschlichen

Abgründe von Angst, Feigheit angesichts

der drohenden Gefahr werden sichtbar, und

der in dieser Situation unnachahmliche Gary

Cooper in seiner größten Rolle geht in die

Filmgeschichte ein. So sieht Enttäuschung

aus.

Kane glaubt zunächst fest daran, Leute zu finden.

Seine Existenz, Ehefrau, Liebe; alles erweist

sich als Trugbild. Dramatische Bilder in

schwarz und weiß, bis zum unvermeidlichen

Showdown am Ende. Der Film zeigt einen

Mann, der unaufhaltsam der Konfrontation

mit der eigenen Vergangenheit entgegen

geht. Aber er hat kein Verbrechen begangen,

wie so oft im Roman, keine düstere Tat holt

ihn ein: Sein Schicksal ist die eigene Aufrichtigkeit!

Ein ums andere Mal laufen seine Versuche,

einen kleinen Trupp zusammenzustellen,

ins Leere. Die Männer schieben Gründe

vor, als der Sheriff sie auffordert, eine Bürgerwehr

zu bilden, wie damals oder verlassen

die Stadt im selben Zug, mit dem Frank Miller

ankommt. Sie sehen sich erst in zweiter Reihe

in Gefahr. Großes Kino, wenn Kane allein

kämpfen muss. Schaun wir mal.

# Bilder zu malen ist besser, als die Einbildung,

besser zu sein

Der Film ist ein Erfolg geworden, weil man

das unsolidarische Spiel überall inszenieren

kann, im Fernsehen oder mithilfe einer

WhatsApp-Gruppe. Es ist unsere menschliche

Realität, der wir uns alle nicht entziehen können.

Und genau hier muss die erfolgreiche

Therapie ansetzen, die Menschen zur Normalität

verhilft, die normalerweise im Kreis

gedreht werden. Ein Maler malt, Filme werden

gedreht und einschneidende Erfahrung

kann uns lehren, Texte zu formulieren, Bilder

zu finden, die wahr sind. Der Mensch ist in

seiner Gesamtheit zuverlässig: Wir mobben

nie grundlos, wir können das nicht ändern.

Empörung ist Selbsttäuschung. Wir sind alle

so gut nicht und könnten erleben, dass auch

wir einmal feige sind.

Wenn wir einsehen könnten, wie hoch der

Druck werden kann, würden wir damit aufhören,

schlimme Zustände pauschal anzuklagen.

Wir würden uns auf eine realistische

Hilfe für einzelne konzentrieren und könnten

echte Erfolge erzielen. Eine moderne Gesellschaft

ist deswegen in der Pflicht, Menschen

die „bescheuert“ sind, fit zu machen. Wir solidarisieren

uns erst und helfen dem Schwachen,

wenn die Situation eindeutig ist. In

einem schwarzen Kleinkriminellen sehen wir

einen Helden. Wenn er tot ist. Einen Amokläufer

erschießt die Polizei auf dem kurzen

Dienstweg, im Selbstgericht; niemand trauert

um ihn. Und einen Spinner stoßen wir in eine

Torte? Das sind doch alles Menschen wie wir

selbst und waren ein Kind mit einer Zukunft.

Und selbst dran schuld am Schicksal heute?

Das kann nur glauben, wer täglich die Einbildung

übt.

# Wir helfen zu spät

Einer wird gekreuzigt, ein anderer tot gedrückt.

Wir lesen die Bibel, wir schauen einen

Film aus dem wilden Westen damals oder

ein wackliges Video von gestern, heute. Anschließend

merkt die Gesellschaft zuhause

auf dem Sofa, dass sie zu weit gegangen ist.

Wir benötigen eine noch zu findende Form

der Hilfe, ein Training für die, die gemobbt

werden, krank auf vielerlei Art diagnostiziert,

aber alle so, dass sie nicht mitspielen können.

Sie bekommen den „Schwarzen Peter“ – und

den nicht weiterreichen zu können, bedeutet

schwarz zu bleiben – es zu sein.

Wen auch immer man auf so einen Stuhl

setzt, den Menschen, der unmittelbar darauf

gelassen zum Buzzer schreitet, gibt es nicht.

Aber dieser Mann im Fernsehen – spätestens,

als man ihm seine „Vergehen“ klar gemacht

hat und vor aller Augen auf den Stuhl befohlen

– er hätte begreifen können, sogar jetzt

noch: Da sind Alternativen.

Dafür ist er nicht der Typ. Es stimmte wohl,

er hatte andere genervt. Eine kleine Macke.

Nun klare Kante zeigen: „Ne’ Leute – kein

Bock mehr. Ich fahre nach Hause.“ Hat er

das erwogen? Er windet sich. Aber das ganze

Umfeld drängt, das Publikum johlt – eine

Gesellschaft, die zwanghaftes, automatisiertes

Verhalten fördert, treibt einzelne an den

Rand und über die Kante. Cäsar, das alte Rom,

Brot und Spiele.

Er saß ahnungslos im Publikum.

Sie hatten einen Spot auf ihn gerichtet, es

wurde (angeblich) ein Schlagzeuger gesucht.

Da könne doch wohl jemand sein, der mit einer

kleinen Blechtrommel einen Tusch hinbekomme?

Dankbar hatte er das Ding genommen

und gleich gezeigt, dass er fein wirbeln

kann, mit den Drumsticks.

„Ich bin im Fernsehen“, wird

er gedacht haben. Gern ist

er nach vorn gegangen.

Dann wurden aber kleine

Filme eingespielt, von zuhause

oder mit den Kollegen,

heimlich gedreht. Der

Mann, der immer trommelt.

Er findet Bleistifte, Kochlöffel,

er klopft sich auf die

Schenkel. Mit den Fingern

taktet er jederzeit auf dem

Küchentisch, dem Lenkrad

vom Familienauto – immer

– ein Unruhegeist, der

noch Lob dafür möchte und

nur nervt. Das Blatt wendet

sich, nun lachen die Leute.

Da ist der Stuhl. Nimm

Platz! Jetzt – kein Zurück mehr! Ein Spielverderber

sein? Er hätte neben dem Stuhl stehen

bleiben können.

Nichts tun.

Oder, er hätte nach den hundert Umdrehungen

einfach sitzen bleiben können. Er hätte

selig beduselt, wie ein verwuseltes Honigkuchenpferd,

ins Publikum grinsen können. Der

lachende Gewinner. Der Mann hätte sagen

können, dass er Karussell fahren nun wirklich

mag, den musikalischen Radau und das

Schlagzeug-Tara im Zirkus liebt, das Theater

sowieso und natürlich das Publikum – und

eben gerne trommelt. Er hätte deutlich machen

können, dass er auf eine Bühne gehört!

Nach kurzer Zeit vom Wirbel erholt, wäre er

hingegangen und hätte lustvoll den Buzzer

gedrückt …

Und damit das nicht passiert, hat man ihn direkt

nach dem Drehen hochgerissen und in

die Torten geradezu hinein gestoßen.

Das ist der Mensch.

:

Jun 4, 2020 - Der schwarze Peter ist wieder tot 43 [Seite 41 bis 43]


Das wirsche Getüm

Jun 9, 2020

Es sind diese kleinen Geschichten, aus denen

anschließend Bilder werden. „Ästhetische-

Design-Repertoires“ war die Bezeichnung eines

Studienbereichs; ich erinnere mich, dass

ich die Formulierung damals (an der Armgartstraße)

nicht ganz verstanden habe. Das

sollte wohl heißen, hier lernt ihr die verschiedene

Ausdrucksformen kennen, eure Ideen zu

gestalten. Seitdem Menschen miteinander

kommunizieren, werden immer wieder neue

Mittel dafür etabliert.

Dies ist so eine Geschichte, und ich schreibe

sie kurz hin. Das ist ja auch ein Bild. Es

entsteht im Kopf, wenn wir einen Text lesen.

Vor einigen Tagen bin ich am Yachthafen unterwegs.

Mein Persenning ist undicht, und

ich habe mit einem Segelmacher vereinbart,

dass es professionell imprägniert wird. Einige

Erläuterungen sind nötig? Mein Boot ist

nicht besonders groß. Das Persenning ist wie

ein Zelt darüber gespannt, wenn meine Jolle

im Hafen liegt oder vor Anker.

Seit meinem Realschulabschluss 1981 in Wedel,

der folgenden Zeit, in der ich das Abitur

machte und den Monaten bei der Bundeswehr,

die der Fachhochschule voraus gingen

und noch viele an das Studium anschließende

Jahre, haben wir am Wochenende auf der

Elbe gesegelt. Die meisten Sommerurlaube

segelten wir in der Ostsee, besuchten Dänemark

mit dem eigenen Boot. Wir umrundeten

mehrfach die große Insel Fünen, segelten

um Seeland herum, genossen einen oder

zwei Tage in der sehenswerten Hauptstadt.

Wir bummelten durch den Tivoli, während

das Boot in der abenteuerlichen Umgebung

vom Christianshavn festgemacht lag.

Mit der Elb-H-Jolle unterwegs. Nur unter

Segeln sind wir immer klar gekommen,

wir paddelten oder ruderten, wenn der

Wind uns im Stich gelassen hatte, fanden

einen „Schlepp“ durch den Nord-Ostsee-

Kanal. Dann wohnten wir wochenlang

auf engstem Raum. Wir kochten an Bord.

Wir schliefen jede Nacht auf dem kleinen

Schiff. Bald bewegten wir uns so gelenkig

und selbstverständlich darauf, jeden Tag an

der frischen Luft, dass uns normales Wohnen,

nachdem wir wieder im Yachthafen in Wedel

angekommen waren, unbegreiflich schien.

Morgens wurde das Persenning zusammengerollt

und im Vorschiff verstaut. Anschließend

steht dem trainierten Segler sein Sportgerät

zur Verfügung. Das ist auch heute noch

der Fall (nur dass wir weniger trainiert sind).

Gelegentliche Ausflüge am Wochenende genügen.

Dass ich eine Regatta mitgesegelt bin,

liegt Jahre zurück. Die Perspektiven, Zeit zu

gestalten, sind anders geworden.

Viele Segler haben mit den Jahren immer

größere Schiffe gekauft. Dort spielen Persenninge

nur eine untergeordnete Rolle. Ein

zünftiger Skipper von heute segelt

ein Boot, das an Komfort nichts zu

wünschen übrig lässt. Es hat eine

Kajüte.

Bei meinen Eltern war das genauso.

Sie haben sich beim Segeln kennengelernt.

Als mein Vater mit meiner

Mutter zusammen kam, war die Jolle

zunächst optimal. Damit passten sie

perfekt in die damalige Szene. Mit

dem schönen kleinen Schiff aus

Mahagoni konnten Regatten, Wochenend-Touren

und längere Reisen

im Sommer gesegelt werden. Man

benötigte keinen Motor oder elektrischen

Strom und das Schlafen unter

dem Persenning gefiel: „Globetrotter“

– alle Boote, die wir hatten,

trugen diesen Namen. Für meinen

Vater war die Möglichkeit, mit einer

knapp sechs Meter langen Jolle bis

Kopenhagen zu segeln oder (gefährlich

nahe der Zonengrenze) bis

Lauenburg, nachdem sie die ungewohnte

Richtung elbaufwärts eingeschlagen

hatten, das allerfeinste

und größte Weltenbummeln.

Das wollte ich auch erleben! 1986

gelang es mir, unser altes Boot zurück

zu kaufen. Nachdem ich nicht

bei „Peter Panter“ bleiben wollte,

probierte ich eine Saison lang „Antares“

aus – musste schließlich entnervt wieder

„Globetrotter“ auf die Außenhaut schreiben.

Wie kam das?

In jedem Hafen, den wir ansteuerten lag mindestens

ein „Antares“ – oftmals irgend ein

schäbiges, blaues Motorboot aus beuligem

Plastik – trug den vermeintlich wohlklingenden

Namen meines funkelnden Sterns! Weitere

Freunde, etwa Thomas oder Peter, haben

die Boote ihrer Eltern zu ihren gemacht. Peter

kam gar nicht auf die Idee, den Bootsnamen

seiner „Herz Jung“ zu ändern, den der (legendäre)

Vater ausgesucht hatte. Piet übernahm

die Jolle einfach, wie sie war. Mein Freund.

Unser erster gemeinsamer Sommerurlaub

mit zwei Booten nach Dänemark: „Da ist wieder

eins, Johnny“, sagte er und zeigte uns den

Kahn gleich, noch bevor wir überhaupt angelegt

hatten, während wir in schöner Fahrt

paarweise mit unseren Jollen dicht an dicht,

kühn in eine dänische Molenöffnung schossen,

„Antares.“

Für mich gab es nie einen Grund, ein größeres

Boot zu kaufen. So sind meine Tätigkeiten

auch heute die vertrauten geblieben.

Das Schleifen und Lackieren im Winter und

der Umgang mit dem Boot ohne Motor und

wenig Komfort sind mir bekannt und angemessen

zu dem wer ich bin und sein möchte!

Es regnet rein, Mist. Aber ein bekanntes Problem,

das irgendwann auftritt. Das Persenning

kann man auf einem Rasen mit der Imprägnierung

einpinseln oder direkt an Bord? Ich

habe darauf keine Lust.

Der Segelmacher soll es bekommen und hat

die passenden Mittel, den Platz für eine wenig

angenehme Arbeit. Man kann mit dem

Auto hinfahren. Dafür tausche ich es

einfach gegen ein älteres, hole es aus

der Segelkammer am Hafen, baue um.

Es ist ein schöner Morgen, windstill.

Die Sonne scheint. Kaum Betrieb, ein

anderer mit einem kleinen Motorboot

fährt gerade los. Wir kennen uns, reden

etwas, dann tuckert er davon.

Unter dem Rumpf meiner Jolle sind

Fischbändsel gespannt. Die werfe ich

alle los und rolle den Stoff zu einem

kleinen Paket. Das lege ich auf den

Schlengel, muss die Plane noch gegen

meine andere tauschen. Ich werfe das

alte Persenning über Gaffel und Baum,

binde es an den Wanten, am Steven

fest, rolle die Stoffwurst nach achtern. Ich

führe die Fischbändsel unter dem Boot herum

und hake sie in die Kauschen. Schließlich

ziehe ich den Zipfel über die im Hafen

achtern überstehende Gaffel und winde mich

aus meiner Höhle, verschließe letzte Knöpfe,

fertig.

Das Persenning ist nicht schwer, man kann es

wie eine große Reisetasche auf der Schulter

transportieren. Ich habe mir keine Karre aus

dem Unterstand genommen und bin nun wieder

auf dem Weg zum Auto. Der Yachthafen

ist recht groß. Da gibt es einen langen Fußoder

Hauptschlengel, von dem die einzelnen

Abteilungen der verschieden großen Boote

abzweigen. Motorboote in der Regel getrennt

Jun 9, 2020 - Das wirsche Getüm 44 [Seite 44 bis 45]


von Seglern, kleine Jollen liegen zusammen

und große Yachten in ihren Boxen dort, wo

sie ihren speziellen Platz haben.

Mit der beginnenden Saison kam die Corona-

Krise. Es fanden sich nur wenige Schiffe im

Hafen ein. Ihre Eigner hatten es noch rechtzeitig

vor dem Lockdown

geschafft, sie aus

dem Winterlager zu

holen und ins Wasser

zu lassen. Wir waren

mit nur drei oder vier

Booten die einzigen

am Jollenschlengel,

und gegenüber lagen

einige Yachten hier

und da. Dann war wochenlang

kein Slippen

und Kranen möglich,

und ich ging oft ganz

allein zu meinem einsamen

„Globetrotter“,

über ungewohnt leere

Stege. Ich traf niemanden

in der großen

Anlage, wenn ich nach

dem Rechten schauen

wollte. Ich dachte an die Reaktorkatastrophe

von Tschernobyl. Auch damals haben wir uns

gefragt, was eine unsichtbare Gefahr ist.

Grenzen können geschlossen werden, Häfen

– aber wenn der Mensch aufhört zu atmen,

ist er tot. Um ein Boot zu Kranen oder den

Mast zu stellen, hätte es einiger Leute bedurft,

besonders bei einem größeren Schiff.

Geselliges Beisammensein im Cockpit? Das

war nicht gewollt. Wir hatten etwa eine halbe

Stunde, uns im Hafengelände aufzuhalten.

Eine „Leinenkontrolle“ war dem Eigner erlaubt,

komplexe Arbeiten am Boot, zu segeln

oder über Nacht an Bord zu schlafen, nicht.

Wasser aus der Bilge ösen, das macht man regelmäßig.

Die Polizei stand mit einem Fahrzeug

am Beginn vom Gelände. Der kuriose

Aspekt, dass es Hamburgern untersagt war, zu

ihren Yachten zu fahren, weil der Hamburger

Yachthafen in Wedel ist und das in Schleswig-Holstein

liegt, amüsierte. Ein Pförtner

kontrollierte die Autofahrer, fragte nach dem

Grund, warum man kam: Hafen geschlossen!

Gegenüber von meinem Boot an einem anderen

schwimmenden Steg (Schlengel) hat

eine größere Yacht ihren Liegeplatz. „Reder

an Avel“ steht am Heck, und seit einigen

Jahren frage ich mich, was es heißt. Der eigene

Bootsname, wie kommt man dazu?

Ich habe den Moment genutzt, den Skipper

angesprochen. Anfangs

waren Abstandsregeln oder

Mundschutz kaum von Bedeutung,

und überall auf den

wenigen Schiffen freuten wir

uns auf die Saison. Wir rechneten

nicht damit, dass eine

Zwangspause so massiv unseren

Sport betreffen könnte,

wie es dann geschehen ist. Es

sei bretonisch, sagte mir der

Besitzer der Yacht, bedeute

„Läufer über dem Winde“, wer

hätte das gedacht?

Inzwischen sind schon viele

Schiffe aus den Bootshallen

wieder im Hafen angekommen.

Das Leben kehrt zurück,

auch an der Elbe. Corona verliert

gegen die aktuelle Realität.

Wir sind mehrheitlich gesund. Befürchtungen

der Virologen, die Pandemie könne

schnell wieder zurück kommen: Die zweite

Welle?

Das ist unsere Bugwelle, die munter plätschert,

wenn wir segeln gehen!

Als ich nun mit dem Persenn auf der Schulter

an der kleinen, schwimmende Tankstelle vorbei

komme, macht dort gerade jemand sein

Boot fest. Ich denke wieder an die besonderen

Namen von Schiffen, denn hier wird

sichtbar, wie individuell unser Hobby

ist. Dies ist kein typisches Serienschiff

das anlegt, und wie es genannt wird,

das passt irgendwie.

Ich versuche zu beschreiben.

Der ältere Mann ist ganz allein auf seinem

Boot, und auch ein Tankwart ist

nicht sichtbar. Man wird anrufen müssen,

im Laden hinten am Deich, damit

jemand kommt. Es ist fast windstill,

hohe Bäume verschatten die morgendliche

Sonne, und ein erfahrener Segler

schafft es leicht anzulegen und Leinen

anzubringen. Ein bereits zu Ende gehendes

Manöver. Unspektakulär belegt

der Besitzer noch eine weitere Leine

auf der Klampe, außen am Rand vom

Cockpit und führt sie behutsam durch

die Lippe; das ist ein kleiner Durchlass dafür,

in der Scheuerleiste, die den Rumpf gegen

das Deck abschließt. Ich muss nicht freundlicherweise

helfen?

Ich schaue nur zu: Das Schiff ist weniger groß

als heute üblich, hat aber eine Kajüte, eine

eingebaute Maschine und muss regelmäßig

Treibstoff nehmen. Das Boot sieht nach einem

älteren Eigenbau aus. Man wollte offenbar

weniger die Regatten gewinnen, sondern

mit eigenen Mitteln ein komfortables Wochenend-Hobby

pflegen. So etwas ist selten

geworden.

Das Schiff sieht sehr gepflegt aus, und der Besitzer

wirkt kultiviert und geschickt. Nur die

eckigen Formen und Aufbauten an Deck, mit

einer hoch aufstrebenden, kastigen Kajüte

mit großen Fensterscheiben, sind eigenwillig.

Wir sind heutzutage gegossenes Plastik

gewöhnt, stromlinienförmig. Eine schnittige

Bemalung ist ein Muss. Eine Nummer steht

in einem Pfeil oder einer Linie am Rumpf, die

wie beim Auto den Typ und seine Größe angibt.

Dann kann man sagen: „Ich habe eine

Soundso-36“, und alle wissen Bescheid.

Dieses Boot ist anders. Man muss an ein

kleines Häuschen mit Gartengrundstück denken,

das mit den Jahren hier und da erweitert

wurde. Ein recht individuell verbautes

Segelfahrzeug – vorsichtig formuliert – und

entsprechend amüsant empfindet der Betrachter

den Bootsnamen, der in goldenen

Klebebuchstaben das Heck ziert:

„Getüm“.

Ein Wortspiel kommt mir in den Sinn, Künstler

denken anders, und so spreche ich den

Mann einfach an: „Ich muss gerade an Gerd

Vohwinkel denken“, beginne ich, und weil der

Skipper und ich einander fremd sind, schaut

der ob dieser Einleitung überrascht. „Der hat

seinerzeit für die Old-Merry-Tale ein Stück

komponiert“, fahre ich unbeirrt fort: „Wirsche

Klänge.“

Ich begreife, dass ich’s noch erklären muss.

Der Mann schaut mich inzwischen einigermaßen

verwirrt an. Ich schiebe also schnell

nach: „Ihr Bootsname, deswegen komme ich

drauf“, sage ich. Ich erkläre ihm, der Musiker

hätte gesagt, jedesmal bevor sie dieses Stück

spielten, wenn es das Wort unwirsch gäbe,

müsse es doch auch „wirsch“ geben; eine

ganz zarte, feine Musik solle nun erklingen –

Nun lacht der Mann, und beruhigt erkenne

ich, dass ich’s mir erlauben konnte, so anzufangen.

„Das

Schiff ist ja alt“,

sagt er fröhlich,

„mein Sohn war

noch klein, so

kam es zu dem

Namen …“

:)

Jun 9, 2020 - Das wirsche Getüm 45 [Seite 44 bis 45]


So wie es war

Jun 14, 2020

„Die Summe unseres Lebens sind die Stunden,

in denen wir liebten.“ Wilhelm Busch,

deutscher Dichter. So steht es im Tageblatt.

Der Spruch des Tages. Ich denke an Dürrenmatt:

„Was gedacht wurde, kann nicht zurück

genommen werden.“ Festgehalten bedeutet

für immer: Physiker sind gnadenlos und konsequent

logisch. Und die Kunst? Der Schriftsteller

hat das geschrieben, nicht etwa einer

der Wissenschaftler.

Zusammengezählt: Es gibt keine Liebe, denke

ich heute – das ist nur ein Wort. Früher glaubte

ich daran, und diese Zeit ist

ein Schatz der Erinnerung? Ein

Lernfeld, das zu üben. „Es war

doch immer klar, dass wir uns

nicht geliebt haben“, sagt der

Ex einer Freundin, wohl als Begründung,

warum er geht. Sie

schluckt nur – antwortet ihm

nichts. Sie hat es mir gesagt:

zwölf wunderbare Jahre – alles

weggewischt, mit diesem Satz.

Wegwischen kann man etwas,

Schmutz? Aber manche Dinge

kommen hartnäckig wieder zurück.

Und die Liebe, der Glaube

daran? Die saubere Liebe.

Verletzt zu werden, tut weh. Wir

können aushalten, weglaufen, uns wehren.

Wir können die Justiz anrufen. Nach der Trennung

die vergangene Zeit neu bewerten? Das

macht aus unseren früheren Gefühlen eine

Schublade mit Argumenten. Bewertung in

Zahlen: „Wir sehen uns einmal die Woche.“

(Du nimmst die Kinder vierzehntägig. Ich

zahle dir soundso viel). Richter: „Sie gehen

für drei Jahre in das Gefängnis, weil.“ Abrechnung

in Zahlen.

Ich liebte dich drei Stunden.

Geliebt zu werden, schenkt Zeit, die vor Angriffen

schützt. Empörte probieren, das Böse

insgesamt abzuschaffen, den Schmutz, Dreck,

den Abschaum des Lebens – und so viele

Menschen nehmen an, dass sie gute Menschen

sind, aber das stimmt nicht.

Wir haben Gesetze gemacht und die „Straftat“

erfunden, um Ordnung zu schaffen – aber

ob das nützt? Strafen ist der hilflose Versuch,

nachträglich in etwas einzugreifen, das rekonstruiert

nur mehr oder weniger wahr ist.

Die anschließende Bewertung: zwölf Jahre

geliebt oder nur ausgehalten? Ein paar Worte

zum Machtgewinn: Das ist ein Urteil.

Im Angesicht des Konflikts ist die direkte Lösung,

auf weitere Reaktionen zu verzichten,

die bessere Alternative. Zwanghaft zurück

schlagen oder über die Freiheit zu verfügen,

es nicht zu tun macht den Unterschied. Nur

durch Lernen können Lebewesen sich positiv

verändern. Eine Strafe ist das schlechteste

Mittel dafür. Der Mensch könnte größer als

in Worten denken. Eine Emotion auf eine

Definition zu reduzieren, bedeutet individuelle

Wahrheit komprimieren. Eine allgemeine

Formel für jedermann.

Liebe als gültigen Begriff

für alle anzusehen,

hieße dann für jeden

von uns, sie auf dieselbe

Art zu empfinden, und so

ist es ja nicht.

Wir kommunizieren oft

unbewusst auch in Gesten.

Bilder bestimmen

unser Tun. Geräusche der

Umgebung haben Einfluss.

Sinneseindrücke

und innere Befindlichkeiten,

Signale, die unser

Körper an das Gehirn

überträgt, beeinflussen

unsere Entscheidungen.

Die Qualität des Lebens

wächst mit zunehmender Freiheit, bewusst

innehalten und wählen zu können. Zu verstehen,

dass zwanghafte Reflexe unumgänglicher

Teil des Lebens sind, fällt uns immer

noch schwer.

Vom freien Willen zu reden oder davon, ein

guter Mensch zu sein und auf die Moral zu

pochen, verrät nur den Eingebildeten, der es

gewohnt ist, auf’s eigene Denken hereinzufallen,

wie bei der Selbstbefriedigung.

Das Leben zu genießen – ist bewusst nur

möglich, wenn wir unsere Überzeugung aufgeben

können: Woran wir glaubten, bis es zu

unserer persönlichen Enttäuschung wurde.

Es bleibt nur die Erinnerung – und ich kann

noch fühlen, wie es einmal war …

:)

Jun 14, 2020 - So wie es war 46 [Seite 46 bis 46]


Matilda nimmt einen anderen

Jun 17, 2020

Wikipedia: „Der Aufstand des 17. Juni wurde

von der Sowjetarmee gewaltsam niedergeschlagen“,

das war einmal ein Feiertag. Vergessen:

Kein Wort davon im aktuellen Tageblatt.

Schnee von gestern, genauso: Schwarze

Leben zählen – vorbei.

Niemand will die Zeitung von letzter Woche

noch lesen. Das neue Schwarz auf Weiß ist

bunt: Grün ist im Dorf gescheitert. Die Konservativen

verhindern rote Zahlen, wir beerdigen

die Stadtwerke im braunen Acker. (Als

Friedhof ungeeignet, nicht gewollt, ebenfalls

durch Bürgerentscheid begraben). Lang ist es

her. Mit alten Farben können wir nicht malen.

Corona ebbt ab. Das wird auch Zeit, genug davon.

Ach ja, die Bauern haben das historisch

falsche Symbol genommen – schlimm!

Und, so nebenbei – dafür benötigen wir die

Zeitung nicht – eine schöne Sache: Mitte Juni,

die Zeit der mündlichen Abi-Prüfung. Dann

noch das Abschlusszeugnis. Viele sind nun

so glücklich, nicht nur die Abiturienten. Noch

besser, wenn die kommende Ausbildung

steht – Ja!

Als vor zehn Jahren das Bild „Enkelhund“

entstand, war mir nicht klar, wohin mich die

Malerei bringen würde. Zurückblickend ist es

eine nachvollziehbare Linie. Die konsequente

Suche nach der Lösung verschiedener Probleme.

Kunst erspürt den individuellen Weg,

bei dem die Antworten auf persönliche Fragen

wie Straßenschilder montiert sind. Jedes

Bild sollte so entstehen, als müsste der Maler

eine Autobahn beschildern.

Man stelle sich vor, alle fahren diese Straße,

nutzen die am Straßenrand montierten Schilder

der Autobahn und fahren wie geplant zum

Ziel. Ein Maler schaut interessierter, probiert

mehr zu sehen. Die Sicherheit und Orientierung

auf der festen Straße genügt dafür nicht.

Das ästhetische Vergnügen beim Schauen,

anstelle schnöde die Wegpunkte abzuhaken,

zeigt dem Künstler neue Inhalte für eigene

Tafeln. Wir entdecken unsere Bilder neben

den vorgefertigten Richtungsgebern.

Der Schaffende bekommt die Idee während

des Fahrens. Die Kunst ist die ästhetische

Umsetzung des Themas, eine neue Richtung

zu erforschen. Wohin das Bild deutet, wird

erst klar, wenn das Motiv fertig gemalt ist. Die

kreative Methode besteht darin, die Umgebung

individuell auszuloten, zu reflektieren.

Das fertige Gemälde wird zum Wegweiser. Es

führt zu den Aufgaben von Morgen.

Die selbst gestellte Aufgabe; wer suchet, der

findet. Wenn nichts stört, kannst du chillen

und gut ist. Wenn dir unwohl ist und du nicht

weißt, wo der Schuh drückt? Du wirst dich

auf die Suche machen. Ich erinnere mich:

Wir saßen in einem Baumarkt zusammen,

ein Kunstkreis wollte sich gründen. Man hatte

eine Kultursachverständige geladen und

in der Zeitung dafür geworben. Es gab einen

Vortrag über Kirchner. Wir erfuhren Details:

das wilde Leben der Künstler früher.

„Die waren alle nackig!“

Schmunzelnde Damen mit kultureller Vorbildung

und hobbymalende Seniorinnen,

konfrontiert mit der ausufernden Jugend

von damals! Schockierend. Der als „Enkelhund“

bezeichnete, kroch gleich zu mir und

verdöste die Erläuterungen, was der Kollege

auf Fehmarn machte (und warum) bei meinen

Füßen.

Die Hunde der anderen Leute kommen immer

zu mir. Tiere mögen mich? Eine komische Sache.

Wir hatten selbst nie einen Hund, aber

ich komme gut mit ihnen klar. Solange ich

nicht verantwortlich bin? Mein Malerkollege

Ernst-Ludwig, wieder-geboren auf der Suche

nach Frieden; das denke ich nun wirklich.

Meine Freundin hat auch einen: „Er spürt sofort,

wenn es mir nicht gut geht. Dann bellt

er alle Leute an“, sagt sie. Klar, die Ernährung

ist gefährdet, wenn Frauchen ausfallen würde.

Das wäre ein echtes Problem. Der Hund

ist kein freilaufendes Tier, das leicht Nahrung

im Gelände findet und kann selbst nicht im

Geschäft einkaufen gehen, wenn das Futter

zu Ende geht.

Erwartungen an die Kinder, sie sollen es mal

besser haben. Fördern und fordern nennt

man den Versuch zu erziehen. Wenn die Kinder

einen Erfolg nach Hause bringen, freuen

sich die Eltern. Was ist, wenn das Kind scheitert?

Da beginnt die individuelle Lösung der

Familie, und das ist verschieden gut gelungenes

Coaching.

Wer einen auffälligen Hund hat, macht ein

Training. Anschließend gibt es eine gute

Chance auf ein besseres Zusammenspiel mit

dem Tier. Die Erziehung eines Kindes wird

nicht als Spiel verstanden. Wenn das Kind im

Vergleich mit den anderen eine Verhaltensstörung

entwickelt, wird selten gut darauf

reagiert.

Der Ernst des Lebens.

Die Eltern, deren Kinder häufiger auf dem Lebensweg

stecken bleiben und scheitern, machen

die Fehler, die Hundebesitzer machen.

Es hat aber eine andere Dimension. Der Hund

wird als Begleiter nie erwachsen, im Sinne

auszuziehen und allein für seine Existenz zu

sorgen. Es hilft den Familien selten, auf die

Wahrheit hinzuweisen, dass Eltern die psychischen

Krankheiten ihrer Kinder maßgeblich

verschulden und durch ihr Verhalten erst

auf den Weg bringen.

Wir können das nicht ändern.

Wir können Eltern nicht ändern wie Hundebesitzer.

Das Problem ist zu groß, es sind zu

viele Menschen an der Zerstörung des Kindes

beteiligt. Die Erwartungen der Eltern und

die der Großeltern an das Enkelkind: keinen

Hund – bitte! (macht uns ein richtiges Spielzeug,

das wir verwöhnen können), die wie

Konkurrenz empfundene Umgebung, der mit

den Eltern befreundeten anderen Erwachsenen

– schaffen einen Rahmen. Das kann eine

Drohkulisse werden. Lehrer, dazu die anderen

kleinen Monster: Die Mitschüler stellen eine

Falle, filmen dich in deiner Peinlichkeit.

Ein Krieg kann das sein.

Wenn dein Leben auf einer schiefen Bahn

verläuft, bleibt es so. Die anderen werden immer

erwachsen sein. Sie werden dich tracken,

aus der Deckung provozieren, bis du im Knast

oder in der Klapse gelandet bist. Sie werden

sich damit brüsten, dass sie es waren, die für

Ordnung sorgten. Anschließend gehen sie als

die besseren Menschen demonstrieren: Black

Lives Matter oder sowas. Fassaden werden

wie Schilder vor Existenzen gestellt, meine

Familie, unser Haus, unsere Ansichten: was

sich gehört. Die Natur ist immer aktuell verkleidet.

Wir rufen die Bäume freundlich an,

wie es empfohlen wird?

Der Schilderwald verzerrt sein Echo.

Wir müssen uns um die Kinder und jungen

Erwachsenen kümmern, ja – aber am Besten

ist es, wenn Menschen mit Problemen selbst

den Weg finden, der diese Probleme löst. Es

gibt keine bessere Lösung, als Angebote zur

Selbsthilfe wie Plakate aufzustellen. Genau

das tut die Natur. Die neue Landschaft ist

menschlich verbaut. Statt See und Wald, wo

kleine Kiesel einen Weg begrenzen, folgen

wir digitalen Medien. Anstelle Wiese und

Fluss mit ihren natürlichen Wellen, das Fahrwasser

bedrohlich verschlickenden Sandbänken,

mäandern uns die sozialen Ströme unserer

Nächsten. Jeder von uns ist so ein Schild,

durch das was er sagt und wie er sich gibt.

Meine Bilder sind wie Landmarken, die ich in

der Natur sehe und erst begreife, wenn sie

festgehalten sind.

Themen tauchen auf, ich nähere mich ihnen

an, male und verstehe, runde sie wie eine

Wendemarke in der Regatta meines Lebens.

Ich navigiere damit auf einen neuen Kurs

im aufgewühlten Meer. Die nächsten Ideen

warten schon. Hinter der gekrümmten Kim

kommen sie hoch. Erst eine Ahnung nur, ein

freundliches Segel im Kieker oder ein Riff,

ein Trugbild im flirrenden Licht – ist es gerade

meine Zukunft?

Das zeigt sich dann.

Suchen und kreativ sein. Das kann ich empfehlen,

und das ist besser, als andere nachzuahmen.

Es ist müßig, die Fehler der Menschheit

anzuprangern, weil wir machtlos sind,

alles auf einmal zu ändern. Demonstration:

„Ich bin ein guter Mensch?“ Es bedeutet,

sich mit einem Etikett zu schmücken: die

Armut ist schlimm, die Natur wird versaut

und Fleisch zu essen ist verkehrt und mehr.

Die Themen dafür wechseln, die Farben der

Fahnen ändern sich. In jeder Umgebung ist

innere Stärke einzelner Mitglieder möglich

und besser, als eine neue Maske aufzusetzen.

„Gesellschaft“, das bedeutet eine böse und

feindselige Umgebung – aber auch die guten

Wege, die wie eine Treppe aufwärts führen.

Oben ist nicht etwa viel Geld oder Macht,

oben ist es angenehmer, wärmer und freundlich.

Da sind die anderen Menschen sympathisch,

und man beruhigt sich.

Oben kann, so verstanden, räumlich wirklich

überall sein.

Die verhaltenskranken Menschen werden um

die Liebe betrogen, das ist der Grund, der sie

verstört. Sie werden nicht geliebt, sie können

keine Liebe geben und kennen den Grund

nicht. Kranke Menschen werden um ihr Leben

beschissen, wie die jungen Soldaten: „And

the Band Played Waltzing Matilda.“

Es gibt Umgebungen, denen kannst du dich

nicht entziehen, und dann wird dein Leben

ein Krieg sein, solange, bis du den Ausgang in

eine bessere Welt gefunden hast.

:

Jun 17, 2020 - Matilda nimmt einen anderen 47 [Seite 47 bis 47]


Party bei Greta!

Jun 21, 2020

Sonnenwende mit Greta, alle sind nackt! Zitat

des Tages, Morgenpost am Sonntag: „Die Kaiser

sind nackt, jeder einzelne von ihnen. Es

zeigt sich, dass unsere ganze Gesellschaft nur

eine große Nudistenparty ist.“ Klimaaktivistin

Greta Thunberg über Politik und Wirtschaft in

der Klimakrise.

Worte sind wie Kleidung. Eine Rüstung oder

ein Schmuck, Kommunikation ist mehr oder

weniger manipulativ. Damit

ist das Böse, die Lüge

nämlich, unser allgemeines

Erbgut, eine Fähigkeit

für jeden. Alle lügen, und

es gibt nur böse Menschen,

das heißt es wohl.

Damals, die ersten Nudisten

ziehen sich an, das

Tier wird zum modernen

Neandertaler, dem Cro-

Magnon-Menschen, dem

Homo sapiens – oder wie

auch immer wir das heute

nennen. Wir waren nicht

vor Ort, wissen nicht, wie

die damalige Sprache

klang und kennen die

Namen unsrer Vorfahren

nicht wirklich. Wir stellen

Funde zusammen und rekonstruieren

etwas, das wir

nur bruchstückhaft kennen,

eine beschränkte Wahrheit

wie immer. Felle werden

wärmend umgehängt, Erzählungen

von der Jagd,

sie werden farbig ausgeschmückt

von dem Moment

an, wo der Mensch menschlich

wird.

Wir stellen uns die Anfänge

vor. Eine kleine Siedlung

mit den ersten unserer

Gattung, ein Feuer brennt.

Zelte aus Tierfellen sind

aufgestellt, eine Höhle mit

Vorräten ist im Hintergrund

vom Lagerplatz und einige

mehr oder weniger nackte

Gestalten hocken rum. Kommt ein Jäger aus

dem Wald zurück, die anderen schauen interessiert:

„Humm, humm, keine Beute wir fragen?“

Der Jäger antwortet: „Ähem, hem … nix

Tiere gewesen im Wald.“

Es kommt nicht auf die Grammatik an. Seit

wir kommunizieren, lassen wir weg, stellen

Erlebtes da, wie es unsere Art ist, berichten

nur mehr oder weniger wahr. Zur Wahrheit

gehört so unglaublich viel, und wir kennen

sie ja gar nicht! Nehmen wir an, dass der

Jäger stundenlang nach vorn geschaut hat.

Hinten hat er keine Augen. Zu seiner Wahrheit

im Wald gehört, dass er vom Wald nur

wenig mitbekommt.

Bei den anderen angekommen meint er:

„Ich habe keine Tiere gesehen.“ Dann sagt er

nicht: „Alles war voll mit Bäumen, und das

Licht schien durch die Zweige und meine

Füße versanken im weichen Boden“, weil das

die Hungrigen nicht interessiert.

Heute: Greta hat immer recht, sie ist die Wahrheit

selbst. Das ist ihr Beruf. Die Wahrheit, sie

steht neben dem Jägersmann, sagt den anderen:

„Hinter ihm ist ein großes Wildschwein

durchs Dickicht gebrochen, aber unser Jäger

hat gerade nichts davon mitbekommen, war

anderweitig beschäftigt.“

Greta findet alle bedrohlichen Nachrichten

für uns zusammen, sie mobilisiert uns, weil

wir gerade keine Zeit haben, uns nicht kümmern.

„Wir nehmen einen anderen, aufmerksameren

Jäger“, sagt sich die Sippe, als sie

begreift: „Mit diesem Schnarchzapfen werden

wir immer Hunger leiden!“ Das werden auch

wir heute bald merken, dass wir handeln

müssen. Greta Thunberg sagt nur Wahrheiten

weiter. Einem nerdigen Wissenschaftler hört

man ja nicht zu. Einer nerdigen Schülerin

schon. Sie kehrt ihr Innerstes nach draußen,

wenn sie für uns über das Meer segelt oder

vor Trump ausrastet.

Danke.

Wir müssen Greta verzeihen, sie ist genauso

nackt, und vielleicht weiß sie es nicht – sie ist

gerade erwachsen geworden. Eine gesunde

Gesellschaft ist auf die Jugend angewiesen,

besonders, wenn die Alten ihre Jugendlichen

krank machen. Erwachsene nennen diagnostisch

Störungen, verwenden ein wichtiges

Wort wie eine Waffe gegen ihren eigenen

Nachwuchs. „Autist!“, sagen sie, „Borderline“,

was ihnen gerade recht ist. Sie vergrößern

die Gefängnisse und psychiatrischen Krankenhäuser.

Sie probieren die lebenslange Gehirnwäsche,

sie füttern Medikamente, mehr

als nur ein ganzer Wirtschaftszweig lebt von

anderen Menschen, die sich gängeln lassen.

Wir schaffen unsere Außenseiter selbst, wir

drücken sie jedes Mal wieder raus aus unserer

Mitte, wenn es scheint, dass sie unsere

Jun 21, 2020 - Party bei Greta 48 [Seite 48 bis 49]


Wahrheit gefährden können. Manipulation

macht krank, und wenn wir modern von Fake

reden, das haben wir immer schon gemacht.

Laura: „Leute, ich war Titelseite Playboy!“ Das

gibt junge Frauen, die scheren sich nicht um

die Natur, sie sind gesund in geilen Klamotten

unterwegs und genießen ihre Jugend einfach.

Sie möchten nicht im Mittelalter vegetieren

oder heute vegan speisen, weil es als

besser gilt. Moral predigende Zeitgenossen

bewerten hier falsch und da ebenso: Manche

nennen Greta Thunberg autistisch oder krank

nach Asperger. Das sind diejenigen, die ihre

Wahrheit nicht ertragen können.

Deren Pseudo-Gesundheit möchte

ich nicht haben.

Vom eigenen Körper leben, weil ein

junger Mensch mal schön anzusehen

ist oder davon, die Wahrheit

der Wissenschaft zusammenzuklauben

und dabei ein kiebiges Gesicht

machen; mit den sozialen Medien

gelingt die Performance im Home-

Office.

Kreativ bleiben!

:)

Jun 21, 2020 - Party bei Greta 49 [Seite 48 bis 49]


Zuschauen geht immer …

Jun 26, 2020

… verarscht für immer.

Etwas ging kaputt. Meine Geschichte mischt

sich mit der Gegenwart: „Hey, ich treffe mich

jetzt mit einer Freundin und bin (…) zu Hause,

dann können wir gerne los in die Kunsthalle.

Ich schreibe dann nochmal. Bis später!“

Pause im Leben.

Es gab noch die Zukunft. Ich habe daran geglaubt,

meinem Leben eine grundsätzliche

Wendung geben zu können, als hätte ich

selbst aktiv die Chance dazu. Das wird ja

immer behauptet: Lebe deinen Traum und

solche Sachen. Nur die Hauptfigur im Roman

darf darauf hoffen, dass ein Märchen wahr

wird. Bäume bilden neue Äste aus, aber sie

gehen nicht fort: in einen anderen Wald, auf

eine Wiese hinter dem Horizont.

Die schöne Künstlerin – verplantes Theater –

kramt hektisch, kann den Studentenausweis,

der zur Ermäßigung an der Kasse geführt

hätte, nicht finden. „Sie studiert in Schottland!“,

sage ich eifrig, unterstützend.

Ich erinnere mich, als wäre es Gestern; sie

ist der liebenswerte Chaot! „Ich muss lernen,

mich besser zu organisieren“, sagt sie in so

einem Fall. Die Überzeugung mit der ich’s

vorbringe: „Edinburgh“, genügt an der Kasse.

Man glaubt uns: Wahrscheinlich Vater mit

Tochter (beide rothaarig). Ich bezahle für uns

zwei. Vorbei – so ein schöner Tag war das. Vor

einigen Jahren besuchten wir die Kunsthalle

in Hamburg.

Dann, daran anschließend und kaum geplant,

herumlaufen. Wir nutzen den Rest, der vom

Tag noch übrig bleibt, für eine Verlängerung

der Zeit. Hauptsache reden und gehen, ein

orientierungsloses Kreuzen in der City, rund

um den Bahnhof: „Wo ist wohl ein Café, warst

du hier schon mal, wo ist das Klo?“ Grüner

Tee, Kaffee trinken. Ein paar Skizzen machen,

schauen: Haare hoch, dann wieder offen

… wir fahren mit dem Bus. Die Erinnerung

bleibt, und nie mehr gehe ich in so eine Halle,

die voll ist mit guten Bildern. Die sind alle

in meinem Kopf.

Früher habe ich gute Bilder geliebt. Als Student

lernte ich die qualitativen Unterschiede

gelungener Komposition, die Schönheit

gekonnter Malerei der verschiedenen Stile

verstehen. Ich war häufig in der

Kunsthalle am Hauptbahnhof.

Heute mache ich einen Bogen

um faszinierende Kunst. Die

armseligen Bildchen der HobbymalerInnen

kann ich anschauen.

In hochkarätige Ausstellungen

gehe ich nie mehr, aber nicht

wegen der Pandemie.

Posthum gewürdigt, der geniale

Fotograf und seine wunderbaren

Porträts: Die Lindbergh-Ausstellung

wird im Fernsehen beworben?

Das zappe ich sofort weg.

Ich ertrage gute Kunst nicht, aus

Ärger über verlorene Werte. Ich

kann das nicht rückgängig machen.

Es ist die grundsätzliche

Abrechnung mit der Vergangenheit,

Schluss machen. Nie ins Kino! Begeisterungsfähigkeit

wird meiner Gesundheit

gefährlich, eine Grundsatzentscheidung: Empathie

und dergleichen ist ein Unkraut, das

tunlichst beseitigt wird.

Etwas zu glauben, hat mit Vertrauen zu tun.

Partnerschaften ohne jedes Vertrauen in das

Gegenüber sind undenkbar. Ausgeklügelte

Verträge werden erdacht, um Beziehungen

zu gestalten, bei denen es um viel Geld geht.

Aber in meinem Fall

hat Geld keine Rolle

gespielt. Da sind grundsätzliche

Werte verloren

gegangen. Liebe, das

wäre ja noch mehr, als

sich nur zu mögen. Darüber

müssen wir nicht

reden. Meine Grenze

ziehe ich früher, schmeiße

jede pauschale Unterstützung

für andere

(weil es sich gehört)

weg. Ich kann freundlich

sein. Ich bin fröhlich.

Aber nicht immer.

Mein Vater wurde 1932

geboren. Er hat sich immer

über den typischen

Unterricht der Schulen

geärgert, uns Kindern

würde die Geschichte

verdreht. Adolf Hitler

wäre in jedem Fall an

die Regierung gekommen,

und wenn nicht er, dann jemand anderes

mit ähnlicher Strategie. Die diabolische

Sogwirkung des Demagogen relativierte er

gern mit seiner Ansicht, die zerstrittene Demokratie

der Weimarer Republik hätte den

Nährboden für eine radikale Politik gelegt.

(Mein Vater gefiel sich darin, Zeitzeuge zu

sein, und er war politisch ungebildet).

Erich vertrat die Auffassung, dass die Nationalsozialisten

zwingend an die Macht kamen,

ob nun mit Hitler oder einem anderen Führer.

Allgegenwärtig war Chaos gewesen. Straßenschlachten

verschiedener Gruppierungen,

Schlägereien in der Kneipe, eine instabile innenpolitische

Lage ging dem Nazi-Übel voraus.

Der unbeteiligte Passant auf dem Bürgersteig

war nicht sicher. Seine Mutter wäre

mit ihm im Kinderwagen in einen Hauseingang

geflüchtet, erzählte mein Vater. Meine

Oma Lina, die wir ständig um uns hatten und

unsere ganze Familie bekochte, da meine

Eltern in ihrem Geschäft arbeiten mussten,

bekräftigte das detailreich, wenn wir mittags

zusammen saßen.

Natürlich erinnerte mein Vater sich nicht

selbst. Seine Eltern hatten es ihm erzählt,

als er ein wenig älter war, weil sie erklären

wollten, warum Adolf Hitler zum „Führer“ der

Deutschen wurde. Schon als Baby nebenbei

erschossen zu werden und dann in der Folge

gar nicht gelebt zu haben, hatte seine Fantasie

aufgewühlt. Er hat es immer wieder erzählt:

Schießereien zwischen Kommunisten

und Nationalsozialisten auf offener Straße

waren typisch. Eine Kugel hatte das Verdeck

durchschlagen! Wenige Zentimeter tiefer, und

es hätte unseren Vater Erich (und damit auch

die Familie) nicht gegeben.

So wurde das in der Küche erzählt, wenn wir

alle Mittags zusammen kamen. Wir hörten

diese Geschichte oft. Es gab noch Steckrübeneintopf,

wie in der schlechten Zeit, und

meine Oma wusste, wie man das kocht.

„Adolf Hitler konnte im offenen Wagen durch

die Massen fahren, und die Leute jubelten“,

erzählte mein Vater. Ich glaube, dass ihn vor

allem schockierte, wie begeistert die Gesellschaft

von ihrem Führer gewesen war und

uns Kindern in der Schule beigebracht wurde,

das Böse selbst an dieser einen Person

Hitler festzumachen.

Der Beliebtheitsgrad

eines Anführers als

grundsätzliche Täuschungskraft:

Der

konnte offen fahren

– und Kennedy hatte

jemand erschossen.

Man muss nicht Politik

studieren, um

diese Relativität erstaunlich

zu finden.

Mein Vater begeisterte

sich für Adenauer

und Erhard

und wurde überzeugter

Demokrat.

Je älter er war, desto

mehr kollidierten

seine idealisierten

(und durch das selbst

erlebte Wirtschaftswunder

angefachten)

Leitbilder mit

der Realität. Individuelle

Enttäuschungen

nahm er zum Anlass, anderen dafür die

Schuld zu geben. Das hatte genau genommen

wenig mit der Politik zu tun, aber die

Bundesrepublik hatte immer offensichtlichere

Fehler. Er war kein hilfloses Baby mehr im

Jun 26, 2020 - Zuschauen geht immer ... 50 [Seite 50 bis 51]


Kinderwagen, wollte und

durfte mitbestimmen. Seine

Erwartungen an die Gesellschaft

waren hoch. Es war

Krieg gewesen, dann immer

besser geworden, und

nun gab es Widerstand. Das

passte ihm nicht. Er begann

zu maulen, lehnte pauschal

viel ab. Persönliches

mischte sich mit objektiven

Beurteilungen auf bedenkliche

Weise. Ich bekomme

heute eine Ahnung, wie es

sich angefühlt haben muss.

Wir sind anfällig dafür, die

anderen zu beschuldigen. Die Gesellschaft

straft ab. Selbstgerechtigkeit ist ein gefährliches

Unkraut, und durch Bestrafung wächst

es noch hoch.

Menschen sind in der jeweiligen Gegenwart

so gut nicht. Die sich daran begeistern, die

Vergangenheit neu zu bewerten und Straßen

oder eine Kaserne umbenennen, werden

kaum verhindern, dass Massen zornig aufbegehren,

wenn der Lebensstandard in Gefahr

ist.

Die schöne Neue Welt hat das Virus. Meine

Kunst ist die Beobachtung. Ich schaue hin,

heute ist immer: Die Spitze fährt offen. Politik

zum Anfassen hier im Dorf, eingefrorene

Strahlkraft, schön wie fotografiert. Beliebt.

Fährt mal grün, mal rot, mal offensiv – die

Bürgerin für ihre Bürger laviert gekonnt.

Das großartige Plakat radelt vorbei.

Sie muss lächeln.

Ich kann.

Die Freiheit bleibt der Kunst: Ich werfe mein

Leben weg, jeden Tag. Es geht ohne leitende

Ideen, den moralischen Anspruch, alte Vorbilder.

Ich opfere meine Ideale, kann die Vergangenheit

zurück lassen und fahre auf Sicht. Es

gibt keine Zukunft, das denke ich und arbeite

nicht für Geld, nicht für Anerkennung, nicht

für die Liebe in einer Beziehung. Ich male,

weil der Alltag erträglich wird, wenn man

tut, was man kann. Je weniger lang meine

Zukunft sein wird, desto besser. Warum Menschen

gerne leben? Das sagen ja viele – ich

glaube, sie sind einfach unbewusst ihrer Gefühle

und schlicht dumm. Ich lebe nicht, ich

überlebe; und kann das sogar genießen. Wie

lange noch, ist nicht wichtig.

Da wir uns das schwerlich aussuchen können,

wir schalten uns nicht einfach ab und

können genauso wenig die alten Träume

wieder lebendig werden lassen, bleibt die Arbeit

an einer Fähigkeit als verbleibende Befriedigung.

Der Wunsch gemocht zu werden,

ist eine Schwäche, die ausgenutzt wird und

schließlich der Grund für pauschalen Hass.

Zurückgewiesen oder vorgeführt zu werden,

zeigt die Undurchschaubarkeit menschlicher

Gefühle, da immer viele verschiedene Menschen

und deren persönliche Vorteilsnahme

unsere Wünsche zu Fall bringen. Wir scheitern

an der Spitze des blonden oder rothaarigen

Eisbergs. Wir kennen die Motive dahinter

nie.

Das Leben zu genießen,

ist einzig

möglich in der

Perspektive, die

alten Werte jeden

Tag wegzuwerfen.

Beinahe

die Bereitschaft,

die Existenz täglich

aufs Spiel

zu setzen, um

Enttäuschungen

wider besseren

Wissens vorzubeugen.

Dem

einzelnen Gegenüber

misstrauisch bleiben, oberflächlich

zu plaudern, bedeutet dem großen Ganzen

mehr Vertrauen entgegen zu bringen. Der

Glaube daran, dass letztendlich das Gute

siegt, gelingt eher mit Selbstvertrauen und

Distanz zum Partner.

Eine bittere Erfahrung.

Aus Erfahrung klug werden, bedeutet innehalten

zu können und die Bereitschaft dafür

auszubilden, einen anderen Weg einzuschlagen

als gewohnt. Wählen zu können oder

eine Wahl, die mir individuell und emotional

gar nicht nützt, zu verweigern, heißt selbst zu

entscheiden. Das ist zu trotzen und Gift für die

Gesellschaft, Anarchismus

für Stubenhocker, und es

befüttert die Parolen, die

früher am Stammtisch

Eindruck gemacht haben,

im Netz. Kultivierte Pubertät

und die Chance,

sich auf die speziellen

Fähigkeiten zu besinnen:

Können bedeutet, etwas

nicht zu müssen, und diese

Freiheit macht spontane

Fröhlichkeit erst

möglich. „Soziale“, nach

Möglichkeit angepasste

Menschen, die sich am

Allgemeinen ausrichten

und definieren, bleiben

gefangen in Ansprüchen.

Sie zeigen mit dem Finger

auf andere, bemerken

ständig Verstöße. Eine

leichte Übung, die sie

befriedigt und dazu verleitet,

das eigene Leben

zu verpassen. Sie dürfen

nicht egoistisch handeln

und müssen doch um die

Macht kämpfen. Das Vermeiden

von Angst und

Hass wird ihr Dauerlächeln: Ehrenamtliche,

Politiker, Polizisten und Kirchenleute müssen

von Beruf her das moralisch Gute vertreten

und scheitern nicht selten an der Größe dieser

Aufgabe.

Vertrauen in die Politik, die Ordnungskräfte

und die selbstverständlichen Freundschaften,

das hat Schaden genommen. Der Verlust

meiner natürlichen Fähigkeit, erst einmal

emphatisch auf andere zu reagieren, scheint

mir endgültig. Ein Vergleich mit der bedrohten

Natur drängt sich auf: Als wären die

vertrauten Haustiere Hund, Katze und Pferd

unwiederbringlich ausgestorben wie der

Brontosaurus.

Dinosaurier brauchen wir ja nicht.

Es geht zu leben ohne alles. Ein Krieg, und

die Einschläge sind näher gekommen. Alte

Freunde wurden getroffen. Bleibt nur, zu arbeiten.

In meinem Fall bedeutet es zu malen,

die Kollegen ignorieren. Meiner früheren Begeisterungsfähigkeit

keinen Raum zu geben,

ist nicht etwa Ignoranz. Das ist Selbstschutz.

Die Gesellschaft ist das notwendige Übel. Die

Demokratie – schön, dass es sie gibt. Früher

war ich begeistert davon, aber ich empfinde

nichts mehr. Ihr bringt meine Visionen zu Fall

und ich eure.

„Dagegen“ geht immer.

In Stuttgart gibt es auch eine Kunsthalle wie

in Hamburg, aber es heißt nicht „Halle“ – die

haben was Besseres: die Staatsgalerie! Ich

war schon drinnen; früher bin ich gern gegangen.

Bei uns auch häufiger, man kann mal

eben mit der S-Bahn hinfahren. In Hamburg

bin ich zu Hause, und hier kenne ich mich aus.

Die aktuellen, aggressiven Bilder aus Baden-

Württemberg ähneln denen vom G-20-Gipfel

bei uns, und mich wundert es nicht. Jeder hat

in den letzten Jahren seine Erfahrungen mit

Enttäuschungen gemacht, viele beklagen

den Werteverlust. Einige haben die persönliche

Form für ihren Zorn finden müssen. Da

ist entsprechend der jeweiligen Existenz eine

ganze Bandbreite von mehr oder weniger extremen

Ausbrüchen

in unsere

Welt gekommen.

Der Bundespräsident

wirkt wie

ein Zauberkünstler,

dem nicht

klar ist, dass wir

seine Tricks bereits

kennen.

Ein Komiker, der

Witze von Gestern

erzählt, und

wenn er Werte

beschwört, lachen

die Leute.

Einige lachen

nicht, sie treten

zu. Der hilflose

Staat bemüht die

längst verpufften

Ideale der Alten,

die noch wussten

wofür sie

kämpften, was sie

motivierte, etwa

zu malen oder

schlicht Brötchen

zu verkaufen, und

andere rufen heute nach harten Strafen. Bedenklich.

Wertschätzung ist zu einer Worthülse

geworden. Werte sterben aus, wie der

Glaube an den Weihnachtsmann.

Die neue Gesellschaft wird erwachsen sein –

oder in naiver Herde untergehen.

Schaun wir mal – (zu).

:

Jun 26, 2020 - Zuschauen geht immer ... 51 [Seite 50 bis 51]


Peng passiert halt mal

Jun 28, 2020

Viele Wege führen nach Rom. Das sagt man,

wenn jemand von der Lehrmeinung abweicht

und etwas trotzdem schafft. Es kann Spott

dabei sein: „Du hättest es leichter haben können,

aber – viele Wege führen nach Rom, angekommen

– herzlichen Glückwunsch.“

Sich das Leben schwer machen; mir hat einmal

ein Berater erzählt: „Ich komme in die

Werkshalle, um mir einen Eindruck zu verschaffen,

und das Erste was ich sehe – “, dann

kamen die unmöglichen Details, die ich nicht

mehr erinnere. Für Fremde ist es oft leicht,

einen Fehler zu bemerken, der im Geschäftsbetrieb

viel Geld kostet. Gewohnheit kann

problematisch sein, betriebsblind ist das

Wort dafür, wenn eine Firma unnötig Geld

verbrennt.

Die Firma als ein System macht unbemerkt

Fehler, weil die Abläufe der einzelnen Abteilungen

aus der Sicht der jeweiligen Mitarbeiter

dort durchaus Sinn machen. Der einzelne

Mensch unterliegt demselben Problem, nicht

das Beste für sich zu tun, sondern das Gewohnte.

Wohin ein Mensch als nächstes geht,

seine Entscheidungen für gerade diese Aktivität,

mit der er jetzt beginnt, ist nicht immer

nachvollziehbar für andere. Die Motivation

die schließlich zum Impuls führt, wirklich

zu beginnen, findet ihre Parameter im Spannungsfeld

zwischen Lust und Pflicht und der

Zeit, die eine Handlung benötigt.

Der Mensch wird probieren, einen zukünftigen

Ort der Verbesserung zu erreichen. Der

Ort ist im Raum der Zeit

zu verstehen, weniger

gebunden an den begehbaren

Raum, in dem

wir uns befinden. Ein

Individuum bewegt sich

auf zweierlei Art: Wir

beschreiten den Boden

und wir gehen in der

Zeit voran. Das tun wir

auch, wenn wir eine Woche

herumliegen. Das

waren die letzten Zeitmeter

meines Vaters:

„Ich bleibe jetzt einfach

im Bett, bis ich tot bin.“

So ist es gekommen,

aber die letzten Wochen

waren unerträglich (für

alle).

Einige haben sich selbst getötet, erschossen:

Ernest Hemingway nahm sein Gewehr dafür.

Adolf Hitler hatte eine Pistole und zusätzlich

Gift genommen? So wird es vermutet. Mein

Vater hatte keine Waffe, und niemand war

bereit gewesen, ihm etwa ein Kissen auf das

Gesicht zu drücken, damit er ersticken würde.

Er hat nicht darum gebeten. Er lag in seinem

Bett im Altersheim und aß wenig, blieb deprimiert

und wortkarg und hoffte auf eine

Erkältung, die zu einer Lungenentzündung

führen würde? Damals gab es noch keine

Corona-Epidemie.

Im Film sehen wir die verschiedenen Suizid-

Themen. Es gibt wiederkehrend Szenen, wo

Menschen mit dem letzten Schritt hadern

und auf einem Haus oder Brücke mit sich

ringen, es zu tun. Das Thema fasziniert, auch

die moderne Form der in einigen Ländern erlaubten

Tötung auf Verlangen.

Im Western „Spiel mir das Lied vom Tod“ endet

das Leben eines Protagonisten mit einer Art

Gnadenschuss, um das unvermeidliche Ende

zu beschleunigen. Der Wildwest-Mann leidet

seit geraumer Zeit, ohne es seinem Freund

mitzuteilen, still an einem nach Schießerei

(mit den Feinden) stecken gebliebenen Projektil

im Unterleib.

Es braucht mehr als eine Gelegenheit abzudrücken.

In der Zeitung findet sich gerade

diese Schlagzeile: „Polizist verliert schussbereite

Waffe“, und im Text erfahren wir, dass ein

aufmerksamer Bürger das Ding schließlich

gefunden und korrekt abgegeben hat, nachdem

die (vermutlich gestressten) Beamten

erfolglos blieben. Dumm gelaufen, aber gut

ausgegangen, und das LKA droht in diesem

Artikel auch gleich, dass, wer eine schussbereite

Waffe fände, sich strafbar mache, wenn

er die nicht bei der Polizei abgibt. Liegen sie

oft an jeder Ecke, können leicht versehentlich

aus dem Holster purzeln?

Schussbereit ist so eine Pistole, wenn sie

geladen ist und entsichert. Dann muss man

seinen Finger krumm machen und einen

Druckpunkt überwinden. Schließlich kommt

es darauf an, das Ding wirklich gut festzuhalten

und sauber zu zielen. Beim Schuss reißt

es die Waffe in der Hand hoch. Es ist auf Anhieb

kaum möglich, gut und genau zu treffen

und muss deswegen wirklich geübt werden.

Einige Hürden sind zu überwinden, um damit

gezielt zu arbeiten. Nicht zuletzt kostet es

Überwindung, einen Menschen zu verletzen

im Ernstfall. Dem

Sportschützen liegt

daran, eine Getränkedose

oder eine

mit Kreisen gekennzeichnete

Scheibe

zu treffen, aber es ist

eine Waffe, mit der

jemand töten kann.

Was ist der Tod, und

warum werden Suizide

mit einer Pistole

begangen? Ein

Grund dafür ist die

Schnelligkeit mit der

das Ende erreicht

wird und die Zuverlässigkeit

des Todes.

Aus dem zweiten

Stock zu springen, kann zu verkrüppelten

Beinen führen und nicht zum Tod. Eine gute

Planung ist anzuraten, keine halben Sachen.

Für meinen Vater war der Zeitpunkt guter

Planung längst verstrichen – alt, schwach

und depressiv lag er da und ohne jemals eine

Waffe besessen zu haben (außer vielleicht

eine Seenotpistole an Bord). Als er im Heim

gelandet war, hatten meine Mutter und ich

das Schiff längst verkauft. Und ob seine rote

Seenotmunition überhaupt geeignet gewesen

wäre?

Quickborn: „Gute Gelegenheit“, das wäre die

Schlagzeile gewesen, auf die er gewartet hat

(mal eine Waffe herumliegend zu finden). Es

kommt auch darauf an, wohin man damit

schießt. Es wird empfohlen, den Lauf in den

Mund zu stecken und schräg nach oben in

Richtung auf das Gehirn zu zielen. Natürlich

darfst du nicht verreißen! Dann tritt die Kugel

aus der Wange aus und es gibt jede Menge

Schmerzen, Ärger mit den Verwandten

und Freunden und eine noch beschissenere

Zukunft als sowieso schon.

Bevor man abdrückt, nachdem die Waffe

geladen wurde, muss sie entsichert werden.

Das ist ja auch im übertragenen Sinne beim

Selbstmord an sich die Problematik. Der Weg

durch die Tür, die uns ins Jenseits führt, ist

durch unsere Unfähigkeit, leichthin fort zu

gehen gesichert. Man macht es nicht mal

eben. Es braucht mehr als einen Grund, beherzt

zu springen, schießen oder wie man es

eben tut.

Die Motivation an sich: Was ist das Bessere

daran zu sterben, wenn es noch einen Weg

gibt, der zu einem guten Essen führt, zum Sex,

zu viel Geld oder einfach dorthin, wo es warm

und trocken ist?

Die ganz persönliche Perspektive.

Wer probiert in den Tod zu gehen, hat den

guten Grund dafür klar vor Augen, so viel ist

mal sicher. Das mag objektiv anders bewertet

werden, ist aber theoretischer Blödsinn

von Menschen, die typischerweise selbst so

weit nie denken konnten. Wenn es der Natur

sinnvoll dienen würde, hätte jedes Lebewesen

einen Schalter in Reichweite hinter dem

Ohr, am Hintern oder am Hinterkopf. So eine

Art Pistole für jeden im Schrank zu Hause.

Jun 28, 2020 - Peng passiert halt mal 52 [Seite 52 bis 53]


Die Verfechter des „Sterben-Auf-Verlangen“

können sich möglicherweise nicht wirklich

in die Perspektive einer bewussten Tötung

hineinversetzen, aber sie selbst sind fest davon

überzeugt, dass es not tut, angeboten zu

werden.

Sich im gesunden Alltag dabei zu

beobachten, warum man gerade dieses

tut, wozu man sich entschlossen

hat und nicht etwas anderes, mag

helfen, besser zu verstehen. In das

Meer hinaus zu gehen, schließlich

zu schwimmen – und dann wird es

kalt. Nun durchhalten. Immer weiter

weg vom Land schwimmen; da wäre

so ein Knopf hinter dem Ohr doch

wohl praktischer, warum haben wir

das nicht?

Das Leben hat diese Sicherung eingebaut:

Es fällt uns mehr als schwer,

es selbst zu tun. Gerade deswegen

entsteht dieser Wunsch nach Erlösung.

Gott oder der Arzt möge es

(endlich) tun.

Abwarten, das Leben ertragen, wo

auch immer – ist ein guter Rat. Niemand

weiß was auf der anderen Seite

wirklich kommt. Wir lernen: „Der

Tod ist sicher, die Stunde ungewiss.

Mors certa, hora incerta.“ Alternativ: „Todsicher

geht die Uhr verkehrt, Herr Lehrer“, übersetzt

Fritz das (im bekannten Witz).

Wie auch immer es richtig heißt.

Ein schlechter Witz: Dienstpistole mal aus

Versehen verloren, wo auf der Straße liegengelassen

– und strafbar ist, die mit nach

Hause zu nehmen? Alles klar. Wieder was

gelernt vom LKA – und dem unverzichtbaren

Schenefelder Tageblatt.

:)

Jun 28, 2020 - Peng passiert halt mal 53 [Seite 52 bis 53]


Und du begreifst nicht einmal, warum

Jul 3, 2020

Stürmer und Verteidiger gebe es, meinte

mein Vater. Er spielte selbst kaum Fußball,

ging aber ins Stadion, traf sich mit Freunden

anschließend in einer Kneipe, fachsimpelte.

Das mit den Stürmern und den Verteidigern

war ein auf das Leben bezogener Sinnspruch,

mit dem er gelegentlich probierte, Eindruck

zu machen. So konnte er im Gespräch beginnen,

wenn ein neues Thema diskutiert wurde.

Die Welt in zwei Sorten Mensch aufzuteilen,

schafft Ordnung.

Ich komme oft an einer Bettlerin vorbei, die

immer wieder an einer bestimmten Stelle der

Straße sitzt. Wenn es regnet, verlagert sie ihren

Platz ein wenig unter den Dachüberstand

des gegenüber liegenden Gebäudes. Dort

wird sie aber weniger gesehen, es ist nur ihre

zweitbeste Stelle. Das ist eine kleine Frau, in

bunt gestückelter Kleidung mit olivgrünem

Grundton, etwa in meinem Alter, und die

deutsche Sprache beherrscht sie kaum.

Sie hat ein schmuddeliges Schild aus Pappe

aufgestellt, einige Gründe für ihre Not stehen

darauf. Mit einem Becher in der Hand sitzt sie

auf einem Kantstein für ein Blumenbeet und

ein farbiges Tuch ist um den Kopf gewickelt.

Ihr Gesicht ist sonnengebräunt, und wenn ich

mich nähere, lächelt, ja lacht sie gleich – und

auch ich beginne mich sofort zu freuen, vertrautes

Wiedersehen, spontanes Strahlen, als

gäbe es keine Not; mehrere Zähne fehlen ihr.

Ich weiß das, weil wir uns schon kennen und

immer lachen.

So viele der vorbei hastenden Menschen

scheinen nie zu lächeln. In ihrem ganzen

Leben lachen diese Menschen scheinbar

nie. Meine Freundin, das schreibe ich mal so

hin, denn ich weiß ja kaum etwas von der

bettelnden Frau, und ich – wir können uns

schnell freuen. Sie bekommt von mir ausnahmslos

immer Geld. Bei Regen habe ich

ihr schon Kaffee gebracht, und einmal hat

sie eine Folie für die Aufbewahrung von Papier

von mir bekommen, die ich gerade nicht

mehr brauchte. Ich mag sie, und ich kann das

kaum vernünftig erklären.

Mal habe ich sie traurig am Bahnhof sitzen

sehen, was war passiert? Die Polizei hatte sie

weggejagt. Das hat sie nicht lang abgehalten,

bald darauf war sie zurück, und nun ist sie oft

am vertrauten Platz. Wir benötigen nur wenige

Worte und machen immer viele Zeichen

mit den Händen: Das Wetter, es regnet nicht?

Wunderbar. Sie freut sich, weil ich ihr immer

Geld gebe? Ich freue mich, weil ich das sehr

gern mache. Es kann ganz einfach sein, für

einen Moment glücklich zu sein, aber die anderen

Menschen finden vieles wichtiger, als

sich zu freuen.

Heute, ausnahmsweise, habe ich mein Fahrrad

dabei. Normalerweise bin ich mit dem

Bus und der S-Bahn gekommen und deswegen

zu Fuß in der Straße. Seitdem die Corona-Pandemie

uns beherrscht, fahre ich Fahrrad

oder nehme das Auto; ich mag die Maske

nicht. Ich schiebe also das Rad bis zu ihrem

Sitzplatz und stelle es für den Moment ab, um

nach dem Portemonnaie zu suchen. Wie immer,

gebe etwas Kleingeld in den Becher, wir

strahlen einander gewohnt an, sind etwas albern,

naiv – „Alles Gute für Ihre Familie“, sagt

sie. Dieses Mal halte ich mich nicht lang auf.

Sie schaut mir noch nach (und ich ihr), als ich

bereits nach einem neuen, dauerhaften Platz

für mein Fahrrad in der Nähe suche. Ich habe

die Absicht, einige Meter weiter beim Bäcker

Kaffee zu trinken und finde nicht gleich den

richtigen Bügel zum Abstellen.

Vielleicht fünfzig Meter habe ich mich, das

alte Hercules schiebend, dorthin bewegt, und

während ich das Schloss jetzt einpicke, stellt

sich raus, dass mir eine Frau, die ebenfalls ein

Rad dabei hat (glaube ich mich zu erinnern)

gefolgt ist. Eine fremde Person, es scheint

wichtig zu sein. Sie schaut mich drängend

an:

„Darf ich Sie kurz ansprechen?“

Sie ist mittleren Alters, dünn, ungepflegtes

Haar, geht etwas gebeugt und ist in jeder

Hinsicht unauffällig (so normal wie es geht)

gekleidet. Es ist irgendeine Passantin, die

man niemals wieder erkennen würde. Unscheinbar

und langweilig kommt sie daher.

Aber ein wichtiges Anliegen treibt sie an. Sie

bettelt beinahe um Aufmerksamkeit, was hat

die denn, denke ich noch.

„Darf ich Sie fragen – warum haben Sie der

Frau Geld gegeben?“

Ich bin perplex, sage nichts. Offenbar ein

Fehler, Geld zu geben, dass ich aufgeklärt

werden muss? Ich kann auf ihre Frage gar

nicht antworten, sie redet schnell weiter,

denn es ist wirklich eine Belehrung nach der

Art: Man gibt „so einer“ kein Geld. Während

ich sie ungläubig (bereits zornig werdend)

anschaue, fährt sie fort:

„Und außerdem lügt die auch noch, sie habe

kleine Kinder!“

Die Frau schaut mich dringlich an. Ich lese

auch Zeitungen und schaue die Nachrichten,

denke ich – und schweige weiter, bin schließlich

mit dem Rad fertig, gehe in Richtung

Café – ja, ich habe schon Dokumentationen

gesehen, über organisiertes Betteln. Das sage

ich nicht. Sie folgt mir, holt Luft für weitere

Anwürfe – doch ich drehe mich abrupt um

und herrsche sie an:

„Geht es Ihnen gut?“, platze ich los.

„Nein“, kommt es schnell (wohl als Rechtfertigung)

zurück, „mir geht es nicht gut, aber – “,

sie möchte sich und alles weiter nun noch

genauer erklären? Ich fahre ihr kurz über’s

Maul: „Stimmt“, schnauze ich sie an, „Ihnen

geht’s wohl nicht gut“, mutmaße ich – wende

mich ab, setze nach: „Sie haben ja einen

Schaden.“ (Gehen Sie zum Arzt, denke ich,

sage aber nichts mehr und gehe zügig, ohne

an die blöde Maske zu denken, in das Geschäft,

wo die Leute bereits am Kaffee-Tresen

eine Schlange bilden).

Die Ziege (so denke ich über die Alte) – kann

mir nicht folgen, das Fahrrad behindert. Ich

krame nach der Maske, hole tief Luft und kaufe

einen Becher zum hier-trinken, und als ich

draußen einen Corona freien Tisch finde, ist

sie fort – und ich beruhige mich schnell. Blöde

Kuh denke ich, ich hätte ihr sagen sollen

– was denn?

Ich bin lang verheiratet. Meine Frau gibt

grundsätzlich nie, in irgendeinem Fall, wo sie

angebettelt wird, und ich gebe oft. Ich mache

das gern, ich ignoriere die Dokumentationen,

die mir erklären, dass die rumänischen Bettler

Teil einer Firma sind, bei der der einzelne

verarscht würde. Das interessiert mich in

diesem Fall überhaupt nicht. Firma, na und:

Betteln ist auch ein Beruf.

Wer will den Mindestlohn für die bestimmen,

die mit einem Becher am Straßenrand sitzen?

Ich kann den Wunsch der Menschen, absolut

gerechte Gesetze für alle zu erzwingen

und juristische Rache in Vollständigkeit für

alles und jedes zu verlangen nicht begreifen.

Schlimm ist doch diese breite „normale“ Masse,

die sich für gute Menschen hält (das ist

meine Meinung, mehr nicht) und alles durch

Gesetze perfekt geregelt haben möchte. Das

wird es nie geben. Und wenn es in einer Utopie

erreicht wird, können nur andere Menschen,

als wir es sind, so leben.

Kaum noch einer lebt frei und autark in der

Wildnis. Wir sind ein verzahntes, spezialisiertes

System. Grob unterteilt bedeutet es: Einige

Menschen produzieren, andere verkaufen

es, und die dritten reglementieren alle in ihrem

Tun. Einer schreibt den Roman, und der

andere kann, weil das Buch existiert, darüber

berichten. Morgen schreibt der Journalist

über einen Autounfall oder darüber, was in

China passiert ist. Der Schriftsteller ist der

kreative Künstler. Er schafft wie jemand, der

einen Stuhl aus Hölzern zusammenleimt, und

ein Maler erarbeitet sein Bild genauso.

Einige wollen regeln und sich einmischen.

Sie werden angetrieben von dem Verlangen,

Macht über andere auszuüben, die es hinnehmen

müssen, weil sie Regeln übertreten,

krank sind oder noch unmündiges Kind in einer

Lehranstalt, und bestenfalls treibt diese

Menschen der Anspruch, unserer Gesellschaft

den belastbaren Rahmen zu geben? Freunde

und Helfer von Berufs wegen, das ist das Leitbild

der Guten (und eine Bürde). In der Schule

beginnen Lebensläufe: Die späteren Polizisten

sind mutmaßlich diejenigen, die andere

Kinder verpetzen, die etwas verbotenes gemacht

haben?

Jedem das seine.

Moderne Menschen klagen an, fotografieren,

filmen, stellen andere an den Pranger: Angezeigt!

Festgehalten wird alles – aber nicht alles

ist gut. Das Fotografieren unter den Rock

und das Filmen von Autounfällen der Gaffer

wird in Zukunft unter Strafe gestellt. Da

kommt dann die Polizei. (Als nächstes werden

wir lesen, dass ein Polizist selbst bestraft

wird, weil er verbotene Aufnahmen gemacht

hat.) Das Böse ist überall, und wir können es

immer neu verordnen und zur Straftat hin anders

definieren als bisher. Bis alles gut ist und

die Welt gerecht? Die Freiheit ist dann aber

grundsätzlich als solche zu bestrafen.

Es gibt bekanntlich gelangweilte Rentner, die

täglich Falschparker zur Anzeige bringen, die

sie vom Balkon aus fest im Blick haben, eine

nur zweifelhaft gute Beschäftigung. Manchmal

freut sich die „richtige“ Polizei über ein

Amateurvideo oder die Aufnahme einer

Überwachungskamera. Die Wirklichkeit ist

eine Annahme aufgrund von Informationen,

wir kennen sie gar nicht. Wieviel wir wissen,

hängt ab von der Zuverlässigkeit der uns zur

Verfügung stehenden Daten. Ein Bild oder

Film sagt mehr als tausend Worte in der Akte.

Was ist das, die Wahrheit, vom Leben in Szene

gesetzt – oder ein guter Regisseur arrangierte

ein Fake?

Jul 3, 2020 - Und du begreifst nicht einmal, warum 54 [Seite 54 bis 55]


Kunst, großes Theater! Das Bild, die Wahrheit?

Mit extra guten Fernrohrkameras kann

belegt werden, dass die Amerikaner wirklich

auf dem Mond waren (aber manche wollen

das trotzdem nicht glauben). Im Internet finden

sich die beeindruckenden Bilder für eine

präzise Mondkarte: Am 18. Juni 2009 ist die

NASA-Sonde Lunar Reconnaissance Orbiter

LRO gestartet. Bis heute umkreist sie unseren

Mond und macht äußert detailreiche Bilder

seiner Oberfläche. Bilder seien manipulierbar

und vor Gericht nur in Ausnahmefällen zugelassen,

heißt es.

„Nehmen Sie Deckfarben“, mahnte seinerzeit

mein Professor, als wir bei ihm unsere Hausaufgabe

präsentierten, eine Kommilitonin,

die mit lapprigen Aquarelltönen das Thema

illustriert hatte und ihre zeichnerische

Schwächen kaum weiter korrigieren konnte.

Transparenz – das ist ein Modewort. Alle

plappern davon, als wäre es ein Allheilmittel,

das Böse zu durchleuchten und die Welt würde

davon besser. Aber wer möchte (heimlich,

ohne davon zu wissen) bei der Selbstbefriedigung

gefilmt werden? Schon die Annahme

von Gut und Böse an sich, ist zunächst nur

eine Hypothese, die sich nicht selten umkehrt.

Im Fernsehen gewinnt der Kommissar, in der

Realität bestenfalls die Wahrheit vor Gericht.

Ein Verdacht bedeutet nicht die ganze Wahrheit

verstanden zu haben, und eine einzelne

Tat schnell mal zu bestrafen, kann bedeuten,

unwissentlich eine größere zu decken.

Es gibt die Hoffnung, das Gute setze sich

schlussendlich durch? Wenn wir die Zeit dafür

haben und Geduld, stehen die Chancen

nicht schlecht, es zu erleben. Der Grund ist

einfach: Alle machen Fehler. Wir malen ein

Kunstwerk und machen Fehler. Wir verbessern

die Fehler darin oder beginnen ein neues

Bild. Wir produzieren ein Werkstück, und

es ist fehlerhaft? Wir werden das verbessern,

in Ordnung bringen. Wir verhalten uns falsch,

werden eines Bessren belehrt: Wir werden

uns ändern. Wenn das System falsches Verhalten

unmäßig ausgrenzt und vernichtend

bestraft, ist der Rufmörder eines jeden im

Vorteil. In diesem Fall siegt das Böse, und das

System selbst ist menschenverachtend. Auch

dann wird schließlich die Besserung kommen.

Aufruhr wird zum Umsturz der fiesen

Struktur führen.

In jedem von Böswilligkeit getriebenen Projekt

steckt genauso das Problem, dass nichts

fehlerfrei durchzuführen ist, was Lebewesen

anpacken. Das bevorteilt denjenigen, der

redlich produziert oder verkauft vor dem,

der seine Existenz auf krimineller Aktivität

aufbaut. Zu existieren bedeutet, sich grundsätzlich

mit Fehlern herumschlagen zu müssen.

Im Affekt jemanden zu verletzen, wird

typischerweise milder bewertet, als eine geplante

Tat. Aus dieser Überlegung heraus ist

Machtmissbrauch stärkerem Widerstand der

Umgebung ausgesetzt, das ist der minimale

Vorteil des Lebens zum Guten hin. Darauf

sollten wir vertrauen (und uns und einigen

anderen verzeihen). „Gut“ ist damit mehr als

eine Hypothese, aber ein Wort, eine Uniform

oder ein sozialer Berufsanspruch sind dafür

kein Beleg.

Alle Unregelmäßigkeiten abschaffen zu wollen,

eine Welt die vollkommen ist, ohne Penner

im Hauseingang und bettelnde Menschen

überhaupt, sauber – ist gegen jede Natur. Mit

Otto Ruths, dem älteren Freund vom oben

erwähnten Professor der Illustration, fuhr ich

nicht selten mit der Bahn zusammen nach

Hause, wenn unser Zeichenkurs beendet war.

Otto wurde ein Freund, und noch lang nach

seiner Pensionierung war er Wegbegleiter, bis

er vor einigen Jahren hochbetagt gestorben

ist.

Einmal warteten wir auf die Einfahrt der

Hochbahn und bemerkten eine kleine Maus

im Gleisbett. Noch bevor der Zug ganz heran

sauste, gelang es ihr blitzschnell in einem

kleinen Loch im Beton Zuflucht zu finden.

Mein Professor machte mich darauf aufmerksam,

ich kannte bereits einige Geschichten

aus dem Krieg. Er war Soldat gewesen und

gab Anekdoten und schmerzliche Erfahrungen

detailliert zum Besten. Ruths zeigte auf

die Maus: „Da“, sagte er, „das wird es immer

geben – wenn die Welt noch so groß ist, kalter

Beton und voller Absurdität. Es gibt immer

ein kleines Loch, durch das du abhauen

kannst.“

Er glaubte fest an mögliche Existenzen am

Rande. Vielleicht ein Grund, warum ich mich

den Bettlern immer verbunden fühle. Wer

kennt die Zukunft und kann sie als wohlhabend

planen, festlegen, wenn es doch immer

möglich ist, gnadenlos abzustürzen in Armut

und Bedeutungslosigkeit? Dann nicht aufzugeben

und bescheiden am Rand sich den

Raum für Fröhlichkeit bewahren, das kann

die Bettlerin am Kantstein, und das macht

mir Mut, allen Ängsten zu begegnen.

# Wird die Welt uns fremd?

Wir erinnern uns: Die Aufgabe vom Protagonisten

Winston in Orwells „1984“ bestand

darin, die Vergangenheit in den für alle verfügbaren

Dokumenten so zu ändern, wie es

dem Staat aktuell besser gepasst hat. Eine

bedenkliche Entwicklung, die wir in der Gegenwart

in Echtzeit voran schreiten sehen,

alle selbst dran mitarbeiten indem wir Daten

liefern, unsere Existenz selbst verglasen und

kurioserweise von Kreativen wie Orwell vorgezeichnet,

fast als ein Plan, wie es zu machen

sei.

Die Vergangenheit wird immer von der aktuellen

Generation neu bewertet. Denkmäler

werden entfernt, Straßennamen geändert im

Glauben, dass wir heute klüger sind. Wir sollten

das kritisch sehen. Der Wunsch sich auf

Kosten der Alten zu profilieren verzerrt die

Rückschau und kann auch blind machen für

die Gegenwart. Je nach Freiheit der einzelnen

Bürger gestaltet sich die Bewertung der Umgebung

individuell, und je nach dem staatlichen

System ist der Spielraum bemessen, der

uns bleibt, selbst zu prüfen woran wir sind.

Die moderne Technik verändert die Möglichkeiten

für den Einzelnen, für den Staat. Damit

Information nicht gezielte Desinformation

ist, muss der Einzelne seinen Staat von außen

betrachten können.

Vorausgesehen vom kreativen Schriftsteller

auch dies: Die James-Bond-Romane von Ian

Fleming. Einen Super-Kriminellen wie den

Gegenspieler des Agenten in mehreren Geschichten,

Ernst Blofeld, der mit verschiedenen

Organisationen ganze Staaten erpresst,

haben wir im realen Osama Bin Laden erst

Jahre später auf der Weltbühne erlebt.

Die Zukunft hat begonnen, jedes Bild vergrößert

die vorhandene Datenmenge, und das

zwingt uns in ein Korsett des Allgemeinen.

Ich habe einen China-Film gesehen, es ging

um Künstliche-Intelligenz, die Macht der Daten.

Man wird blitzschnell als kreditwürdig

oder eben nicht eingestuft, wenn man per

Handy bei der Bank anfragt. Und die Software

verwendet unzählige Daten, bevor jemand

Geld bekommt. Da ist kein Bankmitarbeiter,

der vielleicht zehn der Bank bekannte Fakten

über den Kunden in einer Liste abgleicht, da

ist ein System dahinter, das tausende Informationen

hat. Es weiß, ob der Betreffende

typischerweise Ampeln bei rot überschreitet,

weil er gelegentlich häufiger per Gesichtserkennung

einer öffentlichen Webcam erfasst

wurde (von der man gar nichts mitbekommt),

prüft registrierte Vorstrafen, polizeiliche Delikte

aller Art in der Vergangenheit.

Das frühere Kreditverhalten durchleuchtet

die künstliche Intelligenz sowieso. Sie kann

aber noch viel mehr. Die App checkt zum

Beispiel, ob der Akku deines Handys gerade

voll ist, wenn du eine Anfrage um Geld etwa

für einen Autokauf tippst! Wenn jemand mit

einem beinahe leeren Akku um Geld bittet,

nimmt die künstliche Intelligenz an, dass er

kriminell sein könnte. Warum? Die Mehrheit

der Kriminellen telefoniert mit eher leerem

Akku.

Die Software spürt, wie beherzt der Kunde

der Bank die Eingabe auf die Tastatur setzt.

Der moderne Computer kann messen, ob

die Anfrage zögerlich oder kraftvoll (und

deswegen glaubwürdig, überzeugt von dem

berechtigten Wunsch, es stehe jemandem zu,

das Geld zu bekommen) getippt wird. Das

fließt ebenfalls in die Entscheidung mit ein,

ob man als kreditwürdig beurteilt wird. Wenn

du bei „den Guten“ bist, bekommst du deine

4.000,- in Sekunden – wenn nicht, nie.

Und du begreifst nicht einmal, warum.

:)

Jul 3, 2020 - Und du begreifst nicht einmal, warum 55 [Seite 54 bis 55]


Europa reitet den Zeus

Jul 10, 2020

Das Interview auf Seite zwei; eine besondere

Frage treibt die Doktorandin aus der Slowakei

bei European XFEL um. Schenefelder Tageblatt:

Auf welche wissenschaftliche Frage

hätten Sie gern eine Antwort?

„Menschen sind Wesen, die zum Aufbau ihrer

Gesellschaften Ordnungen und Hierarchien

geschaffen haben, die befolgt werden müssen,

um die Gesellschaft zusammenzuhalten.

Es gibt verschiedene Arten von Hierarchien,

die auf politischen oder religiösen Lehren

beruhen, aber es gibt eine, die vor allem für

jede Ecke dieses Planeten gilt: das Patriarchat.

Daher die Frage, auf die ich die Antwort

wissen möchte: Was ist die Ursache für das

universelle patriarchalische System, das sich

weltweit unabhängig entwickelt hat? Aktuelle

wissenschaftliche Erkenntnisse bieten

keine zufriedenstellende Antwort.“ Ivana

Klackova, Wissenschaftlerin.

Patriarchat ist zunächst ein Begriff. Er bezeichnet

eine Gesellschaftsform, die maßgeblich

von Männern dominiert ist. Auf den

ersten Blick ist das eine Frage, die sich für

den Laien gar nicht stellt. Etwa, wie in Frage

stellen zu wollen, warum es Herren- und Damentennis

gibt.

Die Fragestellung zeigt aber

das eigentliche Problem, es

geht um die Suche nach einer

wissenschaftlichen Antwort.

Für den Händler oder

Fischer hat sich seit Newton

durch die Beschäftigung der

Physik mit der Gravitation

nicht soviel geändert. Die

Äpfel fielen vom Baum, und

sie tun es immer noch. Die

Gesellschaften sind patriarchalisch

und werden es vermutlich

bleiben – jedenfalls

geht es der Doktorandin offenbar

weniger darum, dass

es, wie’s aktuell debattiert

wird, bald eine Frauenquote

in der CDU geben soll.

Eine Wissenschaftlerin fragt

anders. Es ist eine Frage der

Art: Warum läuft der Mensch

auf den Füßen und nicht auf

seinen Händen? Nachdem

das beantwortet ist, gehen

die zukünftigen Menschen

weiter wie gewohnt, aber

sie haben nun eine Theorie

(und können ein Lehrbuch

schreiben). Wenn Frau

Klackova irgendwann damit

aufhört, kleine Teilchen

im XFEL herumsausen zu

lassen und sich mit dieser

ungewöhnlichen Frage beschäftigt:

Wer weiß, was da

noch kommt?

Wie wäre denn eine Gesellschaft,

in deren Struktur das

weibliche dominiert, und

wie wäre eine Welt, in der

die Gesellschaften mal so,

mal so aufgebaut wären?

Was heißt denn überhaupt

männliche Dominanz: Kaiser, Bürgermeister,

Kapitäne, Handwerker auf der einen Seite, sie

dominieren das Geschehen – und die Frauen

kochen, kriegen Kinder?

Die Frage selbst verliert an Belastbarkeit,

wenn wir uns zwei benachbarte Gesellschaften

mit der jeweils anderen gesellschaftlichen

Struktur im Konflikt vorstellen. Gehen

wir in eine Zeit mit klarer Rollenverteilung

und lassen Franzosen und Deutsche Krieg

führen: Deutsche Landser und deutsche Panzer,

Fregatten mit den preußischen Kapitänen,

Offizieren und den Männern, wie wir das

kennen, marschieren auf – gegen die flotten

Französinnen? Eine Auseinandersetzung mit

Absurdistan scheint einfacher vorstellbar.

Eventuell wäre eine nicht patriachalische

Gesellschaft auch pazifistisch und würde nie

kriegerisch agieren? Eine feine Sache, die Gespielinnen

spielen einfach nicht mit: Kloppt

euch doch mit den Polen – und wir gehen in

die Kita und an den Herd und kochen uns einen

veganen Brei? Gut sind diese Frauen und

besser sowieso.

Als Maler und als Mann kann ich die wissenschaftliche

Suche nach der Antwort auf diese

Frage nicht ernsthaft beginnen. Mein männliches

Gehirn bringt allenfalls eine farbliche

Annäherung des Problems zu Stande, und

die ist primitiv und sexistisch. Ich habe mit

dem Bild „Grüneres Gras“ begonnen, ohne

überhaupt zu wissen, dass es ein altes Thema

ist. Jetzt, wo ich drauf gestoßen bin, kann das

Bild auch noch „Europa ist von den Socken“

heißen (und außerdem ist es ja noch nicht

fertig).

Es eignet sich durchaus dafür zu zeigen, dass

allein die Annahme, wir und alle anderen

wären eine patriachalische Gesellschaft, diskutiert

werden kann. Es ist wohl so, dass in

unseren Gesellschaften die Beziehung zwischen

Mann und Frau die Basis ist. Ohne Frau

ist ein Mann gar nichts.

So wie ein Mensch auf seinen Füßen läuft

und die Hände für anderes frei hat, so ergänzt

sich alles im System aus Kopf, Rumpf

und Gliedmaßen; genauso ist eine Gesellschaft.

Beziehungen machen die Gesellschaft

aus, und kein damaliger Herrscher

ist ohne die Frauen um ihn herum denkbar.

Das Drumherum, mehr nicht ist die Frau? Die

Dominanz der Männer besteht in der Rolle,

der jeweilige Anführer zu sein und im allgemeinen

Begriff. Wir würden uns wundern zu

lesen: Die (schöne) Frauscherin regierte das

Land? Unsere Sprache ist durch männliche

Formen geprägt. Wir lesen auch: Die Herrin

(hielt sich einen Sklaven). Die Suche nach der

Antwort kommt um eine Suche nach den Bewertungen,

Benennungen nicht herum und

die Definition der harten Gegenständlichkeit,

Fleischlichkeit auf der anderen Seite. Wir

betrachten die Geschichte, aber wir waren

damals nicht dabei, und von den einfachen

Menschen früher lesen wir kaum authentische

Berichte. Wir kennen die Geschichte der

Anführer, aber ist das alles?

Im Wort Patriarchat reduzieren wir die Gesellschaft

auf ein Wort, das ist ein wackliger

Anfang für eine gute Forschungsarbeit. Wenn

wir dieser Frage ernsthaft nachgehen, müssen

wir zunächst die Wirklichkeit definieren

und von den kommunizierten Überlieferungen

trennen, um die Frage neu zu stellen:

Die Anatomie der Geschlechter oder das

Verhalten der Menschen, wie wir darüber

Jul 10, 2020 - Europa reitet den Zeus 56 [Seite 56 bis 59]


denken, was eine Rollenverteilung überhaupt

ist und mit welchen Schwerpunkten wir unsere

Gesellschaft intellektuell definieren?

Auch heute ist der Antrieb, in der Gesellschaft

eine verbesserte Stellung zu erreichen,

damit verknüpft, wie eine Partnerschaft

gestaltet werden kann. Kaum vorstellbar: Die

patriarchalischen Männer leben untereinander

allein und die Frauen wären in ihrem

System nur digitale Bilder im Chat? Es gibt

sie wirklich. Und die Gesellschaften werden

nur von Männern dominiert, wenn wir das so

betrachten wollen. Die Freiheit des Mannes,

ein Manager oder Kapitän zu sein, ergibt in

der gesellschaftlichen Ordnung nur Sinn an

der Seite einer Frau. Dass das Rollenbild umgekehrt

funktioniert, kann bewiesen werden

– dass die Machtverteilung immer zugunsten

des Stärkeren ausfällt, bedeutet Stärke,

Macht und Aggressivität grundsätzlich zu

diskutieren.

Da fängt die Wissenschaft an.

Der Mensch auf seinen Füßen unterwegs, hat

die Hände frei, kann Gewalt ausüben, wird

zum König der Tiere, und die Männer sind

wiederum den Frauen gegenüber im Vorteil.

Männer können kräftiger werden, sie können

sexuelle Gewalt gegen Frauen ausüben. „Entdecke

die Möglichkeiten“, das ist mehr als ein

Werbespruch, das ist der Mensch. Wir verändern

unsere Umgebung, kaufen schönere Möbel

als der Nachbar. Besitz und Technik sind

menschliche Errungenschaften, und wir kennen

die Möglichkeit, uns anderes mit Gewalt

anzueignen. Gesetze helfen den Mitgliedern

eines Systems, das Zusammenleben zu ordnen,

weil wir unseren individuellen Machtanspruch

als unumgängliches Problem verstehen.

In einer menschlichen Struktur, die

frei wäre von Gewalt, in einer Welt die keine

Grenze insgesamt kennen würde,

könnte eine Gesellschaft gleichberechtigter

Männer und Frauen existieren?

Möglicherweise ändern sich Gesellschaften:

Die Frage ging in die Vergangenheit,

wie hat es angefangen

und warum der Mann? Ich möchte

bezweifeln, dass eine differenzierte

wissenschaftliche Antwort überhaupt

gefunden werden kann, in

einer Sache, die so derbe natürlich

vorstrukturiert ist: Mann mit Penis,

hart wie ein Stab – und gegenüber

der Eingang in das andere Geschlecht,

offen von Natur her, kaum

zu verteidigen, wenn der Mann angreifen

will und stark ist.

Böse!

Das ist doch offensichtlich. Dann

noch das Baby anschließend im Leib,

wonach will Frau da wissenschaftlich

fragen – wie anders könnte es

denn überhaupt laufen? Die Männer

kloppen sich, die Männer jagen das

Wild; und die Frauen sind ständig

schwanger, das ist doch, was die

Wissenschaft wie auch der normale

ungebildete Zeitgenosse über uns

Menschen seit je her wissen.

Wie sollte eine/unsere Welt anders

sein?

In einem Film wurde bewiesen, dass

bestimmte Affen (und der Mensch)

rot von grün unterscheiden können. Diese

nützliche Mutation früherer Tiere änderte

uns zu dem, was wir sind. Eine reife Frucht

von einer grünen unterscheiden zu können,

war ein entscheidender Wegpunkt bei

der Entwicklung zum modernen Menschen.

Wahrscheinlich kann die wissenschaftliche

Antwort auf die Frage nach der alternativen,

nicht patriarchalische Gesellschaftsform nur

gefunden werden, wenn in den Überlegungen

ein anderer Typ Mensch, ein diverses

Wesen etwa, in großer Zahl mutiert die Basis

bildet – und weil das nicht geschah, kam es,

wie es gekommen ist?

Männer müssten anders sein, Männer müssten

andere Regeln akzeptieren, eine Frauenquote

im Gesetz, warum stand diese Regelung

nicht am Anfang der Bildung von

Gesellschaften, ist das die Eingangsfrage der

Doktorandin? Es gab keine effiziente Verhütung

von Schwangerschaften, das ist zu unwissenschaftlich

beantwortet?

Viele Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges

ist unsere Gesellschaft darin geübt,

den Luxus des Friedens in Worte zu gießen,

als würden durch neue Bezeichnungen reale

Dinge geschaffen. Echte Verbesserungen, die

zum Wohlbefinden benachteiligter Gruppen

geführt haben, stehen Seite an Seite neben

Worthülsen und buchstäblichem Schwachsinn.

Wir gendern alles, wir ändern die Namen

von Straßen und Schoko-Küssen. Dass

wir noch herrlich (vom Herrn) und dämlich

(angeblich von Dame) sagen dürfen – erstaunlich.

Es gibt lange Abhandlungen darüber,

woraus sich diese Worte eigentlich

entwickelten (dämeln: nicht bei Sinne sein),

und wir könnten gelassen weiter machen, einiges

zu ändern. Wir sind aber nicht gelassen.

Waren Menschen früher behindert, verlangen

Eifrige heute nur noch zu sagen, diese seien

mit Handicap unterwegs. Andere regen sich

über Anglizismen jeder Art auf, und darauf

hinzuweisen, ist eine weitere Eitelkeit, die

nur dem nützt, der auf diese Weise genügend

Wind um seine Person machen kann, dass

schließlich ein Beruf daraus wird.

Neue Bezeichnungen bedeuten oft auch

wirkliche Änderungen. Die Gesellschaft begreift

allgemeine Verbesserungen, wenn sich

eine Lobby bildet. Wenn die Mehrheit den

Sinn neuer Formen des Zusammenlebens

oder moderne Begriffe nicht nachvollziehen

kann, werden sie sich nicht durchsetzen. Eine

Jul 10, 2020 - Europa reitet den Zeus 57 [Seite 56 bis 59]


Wissenschaft muss letztlich allen Mitgliedern

des Systems nützlich sein, andernfalls

wird die Masse nicht dazu bereit sein, eine

Forschung mitzutragen.

Warum bezeichnen die

Menschen (weiterhin)

den Moment, wo Wasser

gefriert als Null

Grad – warum setzt sich

nicht die Bezeichnung

273 Kelvin (ausgehend

vom berechneten, absoluten

Nullpunkt der

Temperatur, als Beginn

der Zählweise) an dieser

Stelle der Skala

dafür durch – wie mein

Physiklehrer das 1980

forderte (und falsch

voraus gesehen hat)?

Bis heute kann sich

eine unpraktische theoretische

Denkweise

nicht gegen gebräuchliche

Verhaltensweisen

durchsetzen.

Anekdoten aus meiner

Jugend dazu: „So ein

Quatsch“, meinte mein

Vater hinsichtlich der

Erklärung von Hurling,

es müsse der Nullpunkt

der Temperatur den aktuellen

Erkenntnissen

angepasst werden. Schon damals gab es verbalen

Umbruch und zeitgemäß angepasste

Erneuerung an vielen kommunikativen Baustellen.

Das Wetter war auch betroffen. Der

Luftdruck bekam einen neuen Namen. Wir

erlebten, wie aus den vertrauten Millibar moderne

Hektopascal wurden, und das ärgerte

meine maritim gebildeten Eltern schon. Meine

Tante aus Kalifornien

misst die Temperatur in

Fahrenheit und ihr Auto

fährt miles per hour. Es

ist üblich, dass sich mal

was ändert oder andere

Länder ihre eigenen

Skalen verwenden. Meine

Eltern waren nicht zu

ändern, und wenigstens

mit den Kelvin-Graden,

dass die sich nicht durchsetzen

würden, behielten

sie recht. Für den Physiklehrer

mag es faszinierend

sein, dass es nicht

kälter als minus 273

Grad werden kann, und

seine Einschätzung, die

Bezeichnung nach Celsius

würde ersetzt werden,

logisch. Er erklärte uns,

Kelvin hätte errechnet,

bei dieser Kälte gäbe

es keine Bewegung der

Teilchen mehr und damit

keine Materie, wie wir sie

kennen.

Mein Vater: „Bei Null

Grad gefriert Wasser. Ich habe ein Ladengeschäft.

Wenn es friert, muss ich den Gehweg

vor meinem Schaufenster mit Sand abstreuen.

Das ist für uns eine wichtige Temperaturgrenze

und interessiert alle, das andere

ist nur deinem Lehrer wichtig und einigen

Spezialisten.“ Er ärgerte sich über die aufgezwungenen

100-Gramm-Preise, es war das

Pfund gebräuchlich gewesen. Warum? Weil

es, so argumentierte er, dem Essverhalten

entsprach. Was man einkaufte, in Relation

zu dem, was frisch gehalten werden konnte,

bis es in der Familie gegessen war, das ließe

sich bestens in Pfund beschreiben. In diesem

Fall hatte sich gezeigt, dass mit einer alten

Gewohnheit gebrochen werden konnte, und

der Ärger meines Vaters entsprang dem Gefühl,

als Händler benachteiligt zu sein: „Die

Leute früher kauften ein Viertelpfund Matjessalat

entsprechend dem Preis auf dem

Schild, dem Becher dafür. Eine gute Menge

zum Frühstück! Heute kaufen sie nur noch

100 g davon (im gleichen Becher) weil das

Preisschild, das ich verwenden muss, einen

Hundert-Gramm-Preis ausweist.“

Mein Vater scheiterte ein weiteres Mal, als

er mir riet, die Lehrerin zu belehren. Es hieße

Schraubendreher, meinte er, als ich einen

Aufsatz vorlegte, anstelle des von mir verwendeten

und seinerzeit üblichen Ausdrucks:

Schraubenzieher. Damit

hatte er durchaus

recht. Heute ist das

eine typische Bezeichnung

in jeder Montageanleitung.

Erich war,

bevor er Kaufmann

wurde und Fische und

Delikatessen anbot,

Maschinenschlosser

gewesen, und dieses

Mal fand er es leicht,

den ungewöhnlichen

neuen Begriff dafür zu

verwenden, weil man

mit diesem unentbehrlichen

Handwerkszeug

schließlich fest- und

lose schrauben konnte.

Er scheiterte aber hinsichtlich

der Einschätzung,

wie das bei meiner

Deutschlehrerin

ankommen würde. „So

ein Quatsch“, schnauzte

sie mich geradezu

empört, aufbrausend

an – sie wollte keinen

Besserwisser dulden:

„Ein Schraubenzieher

ist ein Schraubenzieher

– setzten, John!“ Weibliche Dominanz in

der Schule, real erlebt. Und das 1973, oben

in der Altstadt von Wedel. Meine Grundschule

war eine Folterkammer für kleine, unreife

Jungs.

Im Film „Die Götter müssen verrückt sein“, der

früher oft im Fernsehen gezeigt wurde und

den ich im Kino gesehen

habe (als er neu

war), wird eine friedliche

Stammeswelt in

der Kalahari-Wüste

dargestellt. Probleme

beginnen, als ein einzigartiges

Objekt in

ihre Welt eintritt, dass

nur jeweils einer der

Buschleute besitzen

kann. Eine Cola-Flasche

liegt herum, ein

Buschmann bringt sie

mit. Was ist das, was

können wir damit machen?

Und es gibt nur

eine einzige Flasche

im ganzen Dorf; Abfall

eines Sportpiloten, der

die Wüste überflogen

hat.

Zwei Welten zeigt der

Film, die ursprüngliche

Natur der Kalahari und

brausendes Großstadtleben

mit Menschen,

die wenige Meter mit

dem Auto zum Briefkasten

fahren. Dekadenz unserer modernen

Gesellschaft: Der Pilot einer kleinen Cessna

findet nichts dabei, seine Coke zu trinken und

die leere Flasche aus dem Cockpit zu werfen.

Ein faszinierender Gegenstand aus Glas. Die

Moderne trifft auf die Urzeit in Form von Abfall?

Als dieser Film gedreht wurde, war Re-

Jul 10, 2020 - Europa reitet den Zeus 58 [Seite 56 bis 59]


cycling nicht attraktiv. Für

die Menschen im Busch,

die alles außerhalb ihrer

Umgebung als die Welt

der Götter definieren, ist

die leere Flasche, die ein

Musikinstrument sein

kann und im nächsten

Moment eine Waffe, wenn

einer sie dem anderen auf

den Kopf schlägt, heiliges

und gefährlich verzaubertes

Gerät! Unfrieden ist in

dieser Gemeinschaft bisher

unbekannt, weil alle

von allem haben können:

Die Pflanzen, die Steine,

das Fleisch der Tiere –

ohne Besitz gibt es kein

Neid. Ob nie einer der

Männer eine Frau begehrte,

die sein Jagdbruder als

Freundin hat; oder wie

war das bei denen mit den

Mädels? (Das ist ein Film).

Klar, eine Welt in der die

Äpfel nicht zu Boden fallen,

das können wir uns kaum vorstellen,

und es war möglich, die Schwerkraft wissenschaftlich

zu beschreiben. Viel konnte

anschließend erforscht werden, nur weil Herr

Newton sich über eine Normalität wunderte.

Wir sind fertig mit der Welt? Die Wissenschaft

sucht noch – das ist gut! Da können wir ja

mal gespannt sein, auf die Antwort: warum es

ist, wie es ist und so wurde überall …

:)

Jul 10, 2020 - Europa reitet den Zeus 59 [Seite 56 bis 59]


Nicht weglaufen!

Aug 2, 2020

Im Herbst, die Pandemie hatte noch nicht begonnen,

war ich im Clubhaus eines Segelvereins

am Hafen zu Gast. Wir haben den großen

Raum mit Bar und Tanzfläche für eine private

Feier nutzen können. Dort hing ein Gemälde

von Johannes Holst, ein Viermaster in unruhiger

See. Ein Freund meinte: „Du könntest das.“

Das hieß vermutlich: Warum malst du nicht

einfach Rahsegler (statt diesen Quatsch)? Ich

kann die Frage beantworten, aber ich glaube

kaum, dass es interessiert. Jedenfalls auf einer

Geburtstagsfeier will niemand ernsthaft

diskutieren, warum Segelfreund John so malt,

wie er’s tut.

Die Einladung zur eigenen Ausstellung kann

mit der Erwartung verknüpft sein, unter Interessierten

Inhalte zu teilen und Anerkennung

zu erlangen. Das kann funktionieren.

Freundschaften dürfen nicht überstrapaziert

werden. Das war eine der Erfahrungen, als

ich selbst noch zu Vernissagen eingeladen

habe. Ich habe gern ausgestellt und mich

sehr über die Anerkennung gefreut. Freunde

kamen zur Eröffnung, mein alter Professor

lobte meine Malerei. Es war nicht schwierig,

voran zu kommen, Leute kennen zu lernen.

Anfangs fand ich es ganz einfach. Ein Café

oder ein Galerist ist interessiert, selbst kennt

man viele, und der Ausrichter der Ausstellung

hat einen Mailverteiler. Leicht kommen zahlreiche

Besucher vorbei, es gibt zu knabbern,

Prosecco, eine Ansprache und Musik. Manchmal

wird ein Bild verkauft, im Bereich von

wenigen hundert Euro ist es schaffbar. Die

Themen müssen dekorativ und inhaltlich unaufgeregt,

belanglos sein.

Gerade haben es zwei Schülerinnen auf die

Titelseite vom Schenefelder-Tageblatt geschafft.

„Himmel“ werden im Rahmen einer

Ausstellung vom Kunstkreis gezeigt. Da kommen

vermutlich Eltern, Lehrer, Mitschüler und

einige verkorkste Menschen, wie sie regelmäßig

in kulturelle Veranstaltungen gehen. Die

Zeitungs-Frauke wird knipsen, und dann gibt

es einen weiteren Beitrag. Morgen sind dann

wieder die Karnickelzüchter oder die Sportler

von Blau-Weiß dran.

Das ist Deko, fest in Frauenhand. So ist die

Kunst in der Provinz, aber mit Kunst hat es

nichts zu tun. Ein Ettikettenschwindel. Natürlich,

fein ist, dass talentierte Schülerinnen

bei Marianne im Kunsthaus eine Ausbildung

bekommen und eventuell ist es die

Basis für eine gute Ausbildung im kreativen

Bereich. Schön ist auch, wenn einige Muttis

noch spätberufen zum Pinsel greifen oder

angeleitet vom Feierabend-Dozenten mit

der Kamera herum dackeln, um ein „Thema“

zu bebildern. Das kann alles eine Startrampe

in die Welt der Kunst sein. Das geschieht im

Ausnahmefall tatsächlich.

Die Marine-Maler wie Joh. Holst, Schnars-

Alquist und andere haben um Anerkennung

kämpfen müssen. Sie wurden von den

Kennern der großen, richtigen Kunst nur

am Rande respektiert. Immerhin haben sie

Wertschätzung unter allen, die das Meer

kennen, erlangt. Wesentliche Malerei der bis

heute verehrten alten und neueren Meister

hat die Gesellschaft geprägt, Einfluss genommen,

unterhalten. Wie die bekannten

Zirkusfamilien Althoff, Krone, Sarrasani, die

beliebten Stars aus Theater, Film und Musik,

waren zeitgenössische Maler den Menschen

allgemein bekannt. Heute ist die Situation

für Künstler anders. Nur Liebhaber von Malerei

kennen sich aus. Es gibt so viel, wofür

wir uns interessieren können. Wenn ich die

Generation meiner Eltern frage: alle Segler

kennen Maler, die Schiffe gemalt haben.

Man ereiferte sich damals noch immer über

die Kunst von Picasso. Die Zeit des Nationalsozialismus

war in guter Erinnerung, und die

Kunst dieser Jahre war so politisch gewesen,

dass Hitler sie als „entartet“ verbieten

konnte. Nicht wenige in der Gesellschaft

hatten dem zugestimmt. Malerei polarisierte

bis in die Zeit, wo sie immer weniger

gegenständlich wurde. Menschen störten

sich noch daran, als die Kunst neue Wege

ging und das Malen anderen Formen des

Ausdrucks Platz machte. So wie die breite

Masse den Zugang zum Jazz verlor, der mehr

und mehr jede Form, Tradition und eingängige

Melodie aufgegeben hatte, verstanden

die Menschen nicht mehr, was Kunst genannt

wurde. Die einfachen melodischen Jazzelemente

konnten Amateure der fünfziger Jahre

scheinbar imitieren und die frischen Farben

und auf den ersten Blick primitiven Formen

der modernen Kunst wollten sie gern selbst

abmalen.

Mein Vater kopierte den expressiven, kubistischen

Stil von Picasso, der immer noch in der

Presse diskutiert wurde, für die Bühnen- und

Hintergrundbilder der Feste des Segelvereins,

und jeder wusste, worum es ging. Picasso

lebte ja noch, war aktiv bis in die Siebzigerjahre,

und seine Kunst blieb frisch und

aktuell. Er war ein die breite Masse faszinierender

Mensch, bekannt wie Louis Armstrong

oder die Beatles. Heute wird mehr gemalt

und mehr ausgestellt als damals – aber das

ist gesellschaftlich nicht relevant.

Es gibt keinen Star der Malerei, den jeder

kennt.

Meine Eltern bewunderten gute Schiffsmalerei,

gelungene Darstellung von Wasser und

Himmel. Meine beiden Großväter fuhren zur

See. Opa Heinz schenkte mir einen Bildband

mit Gemälden von Anton Otto Fischer. Bei

Uwe Jarchow, während meiner Ausbildung

zum Grafiker und Illustrator, lernte ich die

Aug 2, 2020 - Nicht weglaufen! 60 [Seite 60 bis 61]


Bilder von Jochen Sachse kennen und im Familienbesitz

sind einige Gemälde von Holst.

In Bremerhaven sah ich „Nordkap“ von Alquist

im Original, und Walter Schulz, der mit Holst

segelte und selbst viele Bilder malte, ist der

verstorbene Großvater eines guten Freundes.

Meine Mutter fotografierte gekonnt, und wir

waren ja immer auf dem Wasser.

Vor vielen Jahren war ich Illustrator in freier

Mitarbeit. Ich arbeitete, wie es mir gesagt

wurde. Am für uns noch ungewohnten, neuen

Computer, kreierte ich zeitgemäße Info-Grafik.

Ich kam nicht drauf, zu malen. Aber das

Interesse daran rumorte bereits im Unterbewusstsein.

Um mit Kunst zu beginnen, benötigen

wir den inneren Drang, es wirklich zu

tun. Es braucht mehr als ein einziges Erlebnis

das uns formt, bevor wir ein erstes, eigenes

Bild malen, ohne dass ein Lehrer es anregt.

Was kann das persönliche Thema sein? Das

fragen wir erst, wenn uns klar wird, dass wir

grundsätzlich beginnen müssen – weil wir

sonst unser Leben und uns selbst verpassen.

Wir laufen nicht mehr weg vor unserem Problem:

wer bin ich, will ich sein?

Wasser zu malen, ist nicht einfach. Im NRV-

Clubhaus hängt ein großes Bild von Schnars-

Alquist. Ein Schoner gleitet eine gewaltige

See hinab, das kann man auch als Kunstdruck

kaufen. Bei einer opulenten Weihnachtsfeier,

mit allerlei Buffet und reichlich wichtigem

Publikum eines bekannten maritimen Verlags,

durfte ich dabei sein und habe mir das

riesige Gemälde genau angesehen: unglaublich!

Ich war bestimmt der aller-einzige von

allen Gästen an diesem Abend, der dieses

großartige und unvergleichlich gelungene

Bild überhaupt bemerkt hat. Es nimmt die

ganze Wand ein, wie ein großes Fenster, mit

Blick auf einen tosenden Atlantik.

Keine hoch gelobte Schülerarbeit zum Thema

„Meer“ – echte Ölfarbe, alt, gut und vom

anerkannten Maler geschaffen. Das reichte

nicht aus, um sich’s anzuschauen? Da waren

fast ausschließlich Segler und Gäste, die einen

ästhetischen Print produzieren, zur Feier

geladen …

Habe ich deswegen mit dem Malen angefangen?

Das möchte ich auch können, dachte ich.

Leicht konnte man beobachten, dass niemand

hinschaut, wenn es nicht eine Vernissage ist

und andere sehen, dass man dort ist. Aber ich

habe das damals gar nicht begriffen.

Vielleicht der beste Grund, immer weiter zu

malen!

Von Edward Hopper heißt es, er liebte das

Sonnenlicht in einem Raum (oder auf einer

Mauer) zu malen, und viele lesen solche

Sätze in einem Buch, aber nur wenige Menschen

malen, was sie lieben. Sie malen, wenn

überhaupt, was ihnen als Thema gesagt wird.

Wenn keiner sie anleitet, hören sie wieder

damit auf. Ein eigenes Thema finden und fertig

malen? Das ist, was ich mag. Ein langer

Weg, es herauszufinden. Das ist ja nicht: Lebe

deinen Traum; denn dann hätte ich gewusst,

wovon ich träume – und ein Ziel verfolgt.

Ich bin aber ziemlich sicher, dass es dieses

Mal ein gutes Wasser wird, in meinem Bild

mit dem Floß. Schon allein deswegen werde

ich auch fertig mit dieser Fläche von mehr

als einem Quadratmeter Leinwand, das ist

ein Ziel. Und es kann gelingen. Dafür benötige

ich weder einen Lehrer, eine Kunstschule

und einen Kunstkreis der das Bild ausstellt

oder jemanden, der es kauft. Ich brauche den

inneren Antrieb, regelmäßig ein wenig weiter

daran zu malen.

Ich male es für mich selbst.

Das andere auf dem Bild? Das zu erklären,

dann müsste man ja nicht malen. Inhalte,

Themen – Schülerinnen zeigen schon wieder

„Himmel“ – na klar. Alexandra findet ein

Motiv, textet eine Phrase und bekommt eine

gute Note. „Never underestimate your power“

– die talentiert fotografierende Kunst-Studentin

titelt auf flickr. Nachdenklich macht

dieses Foto: Eine blasse, schlappe Wolke

treibt windlos am Horizont …

Das motiviert mich bis heute!

:)

Ein guter Freund in der Redaktion hatte bereits

vor dem Empfang reichlich Knoblauch

gegessen; und das sind die bleibenden Erinnerungen

an diese Feier: unmöglich mit

Martin zu quatschen, weil er so stinkt – und

unglaublich ist dieses Bild.

Niemand sieht sich das an.

Aug 2, 2020 - Nicht weglaufen! 61 [Seite 60 bis 61]


Wir lachen Affen, die gaffen, einfach aus

Aug 8, 2020

Die Welt von Vorgestern ist die Welt, in der

noch nicht gesprochen wurde. Erst kam der

Mensch – und gleich mit ihm kam das Wort:

Mensch. Damit beginnt unsere künstliche,

moderne Gegenwart.

Mit der Begrifflichkeit schaffen wir eine zweite

Welt mit eigener Realität. Auch die Tiere

kommunizieren. Wir aber dokumentieren

über Generationen hinweg. Die Veränderungen

der Umgebung, die wir heute vornehmen,

gründen auf älteren, die andere machten.

Schon früh begann der Mensch Aufzeichnungen

anzufertigen. Mit der weltweiten Vernetzung

und dem allgegenwärtigen Smartphone

tritt die Gesellschaft in eine fortschrittliche

Stufe ihrer Beziehungen und damit in eine

grundsätzlich neue Ebene des Verhaltens ein.

Alles wird festgehalten. Schon immer war es

möglich „über“ jemanden und etwas zu reden,

also zu berichten, ohne dass die Person oder

Situation gegenwärtig sind. Aber nun reden

wir nicht nur über andere, wir schreiben über

sie. Unser Wort wird digital fixiert, als könnten

wir gleich eine Akte der Wahrheit anlegen.

Die anderen: Wir filmen sie ab. Heimlich und

anonym jagen wir unsere Mitmenschen. Wir

stellen eine Falle und feixen noch vor Freude

mit unsresgleichen über ihre Peinlichkeiten.

Und wenn wir es nicht selbst machen, wir teilen

gern, sind dabei.

Wir wissen Bescheid!

Die Höhlenmalerei, ein Comic der Frühzeit,

macht deutlich, dass dieser Wunsch das Erlebte

festzuhalten, eine Konserve davon

weiterzugeben, früh entstanden ist und umgesetzt

werden konnte. Der Mensch hatte,

nachdem er zu gehen lernte, die Hände frei

und nutzt das seitdem gekonnt aus: Der König

der Tiere ist nicht der Löwe, es ist der

Mensch. Er formt und ändert die Umgebung

nachhaltig und verdrängt das Tier. Er fängt

es ein, züchtet es massenhaft zum Gebrauch,

verspeist und verbraucht es, wie ein Produkt.

Die Bauernhof-Romantik ist ein Fake, das wir

gern glauben.

Heute kann jeder smart fotografieren.

Nie war es einfacher.

„Als die Bilder laufen

lernten“, so sagten wir früher

über die Zeit der ersten Filme.

Die gemalten Bilder haben

ihr Alleinstellungsmerkmal

aussagekräftiger Information

an das Foto abgegeben. Das

Foto hat dem Film anfangs

Widerstand leisten können.

Heute steht der kurze Film an

erster Stelle typischer Unterhaltung

und Information. Mit

dem Video für jedermann aus

der Hosentasche, bleibt dem

gemalten Bild und der ironischen

Skizze nach der Fotografie

noch ein schlechter

dritter Platz, wenn es darum

geht, treffend festzuhalten,

was uns angehen sollte.

Die guten Zeichnungen aus

weltbewegenden Prozessen, die einige der

hervorragenden Zeichner in den USA dort

auch heute immer noch bringen, geben uns

eine Ahnung davon, wozu kreative Menschen

fähig sind. Dass diese Zeichnungen, auf denen

wir wirklich etwas mitbekommen, immer

in Amerika entstehen und unsere heimischen

Künstler nicht annähernd an diese Qualität

heran kommen, ist bedenklich.

Eine kleine Geschichte: Ich bin am Bahnhof

in Altona unterwegs. Überall sind fest installierte

Kameras. Die S-Bahn fährt durch einem

großzügigen Tunnelkomplex mit einigen

Bahnsteigen. Es gibt Rolltreppen, feste Treppen

und einen Fahrstuhl um hinabzugelangen.

An diesen Stellen bleibt dem Fahrgast

nur ein schmaler Laufweg bis zur Kante am

Gleis. Plakate sind an der gekachelten Wand,

und eine weiße Linie zeigt, wo unmittelbar

der Bahnsteig endet. Aufpassen sollen

wir; besonders wenn der Zug einfährt. Es

ist ganz sonntäglich einsam. Ich schlendere

den Bahnsteig entlang, muss einige Minuten

warten, bis meine S-Bahn kommt. Im Hintergrund

sind zwei mit Warnwesten kenntlich

gemachte Mitarbeiter der Bahn. Sie achten

auf die Sicherheit: „Security“ steht auf ihrer

Uniform.

Vor mir, im Bereich der Verengung durch

eine mittlere Treppe, radelt ein alter Mann

ganz langsam auf einem Klapprad direkt an

der Kante, kommt mir entgegen. Er sieht gebrechlich

aus, trägt einfache Kleidung und

wirkt ein wenig verwahrlost. Ein Fuß berührt

schleifend den Boden. Weil er so langsam

fährt, verwendet er die Pedale nicht. Er

schiebt sich so entlang der Kante und sitzt

tief zusammengesunken auf dem kleinen

Rad, stiert deprimiert ins Leere. Die Bahnpolizisten

schließen auf, und direkt in meiner

Gegenwart stoppen Sie den Radfahrer, er

möge bitte absteigen, schieben. Es benötigt

einige beschwörende Sätze, warum es nötig

sei, und schließlich schiebt der Alte sein

Klapprad mürrisch an mir vorbei. Er hat noch

probiert, ein orthopädisches Leiden wortreich

zu beschreiben, damit die beiden eine

Ausnahme machen und ihm das (langsame)

Fahren erlauben. Er habe Schmerzen beim

Gehen, sagte er.

Es nützt nichts, er muss schieben.

Nun soll hier nicht diskutiert werden, wie

es richtig ist. Ich finde den anschließenden

Dialog der Wachleute bemerkenswert. Als

der Mann sein Rad weiter bewegt hat (ohne

aufzusitzen) und es einige Meter Abstand

zwischen ihm und uns sind, hörte ich, wie

sich der Wachmann dem anderen Kollegen

erklärt: „Müssen wir machen.“ Er zeigt nach

oben, unter die schwarze, durch allerlei

Technik verbaute Decke des Tunnelsystems:

„Überall Kameras“, meint er, „wenn wir ihn

nicht ermahnen, sind wir selbst dran.“ Es

ist ganz deutlich, dass er sich mehr davor

ängstigt, Ärger mit seinem Vorgesetzten zu

bekommen, als einfach die übernommene

Arbeit selbstbewusst durchzuziehen.

Radfahren auf dem Bahnsteig ist verboten,

und er ist ein Polizist, um genau das zu unterbinden.

Dafür ist dieser Job eingerichtet

worden. Die Kamera ist nur ein Kollege von

ihm selbst. Sie passt auf, filmt, wenn der

Wachmann gerade wo anders ist.

Verlieren wir unsere Fähigkeit menschlich

selbst zu handeln und eigene Entscheidungen

zu treffen, weil alles messerscharf exakt

festgehalten wird?

Dass die Kamera auch dazu nützt, dem Security-Personal

eigene Versäumnisse nachzuweisen,

hat in den Gedanken des Bahnmitarbeiters

einen festen Platz eingenommen. Er

nimmt das wichtig, pflegt eine kultivierte Berufsneurose.

Ich muss an die Beschreibungen

meines Großvaters denken, wie man früher

an Bord bei der Marine handelte. Er erzählte:

Wenn es darum ging, dem Kapitän etwas

zu verschweigen, was genauso gut unter den

einfachen Dienstgraden unspektakulär erledigt

werden konnte, sagte man: „Da hättest

du den Kieker auch einfach an das blinde

Auge setzen können.“

Was hatte das zu bedeuten?

Was du nicht siehst, musst du nicht sagen.

Wegschauen als bequeme Methode, das geht

nicht, wenn das digitale Auge überall genau

hinsieht. Ursprünglich kommt das Ausschau

halten noch aus der Segelschiffszeit: Der

Mann im Topp schaut in Richtung der Kimm?

Ein möglicherweise feindliches Schiff sollte

nicht unbemerkt nah heran kommen.

Dieser gut gemeinte Hinweis fand aber Verwendung

bei Unregelmässigkeiten und Ungehorsam.

Die Seeleute, also die Offiziere,

die mit der Navigation betraut waren, hatten

zumeist ein schlechteres Auge, wenn sie ein

Leben lang die Sonne mit dem Sextant für

die Mittagsbreite beobachtet hatten. Trotz

der verschiedenen Schutzgläser, wurde das

Auge welches sie typischerweise am Instrument

nutzten, schlechter.

Und der Kieker? Da dachte man wohl an das

einglasige Fernrohr vergangener Seefahrer,

die noch nach Piraten schauten, wenn mit

dem bekannten Spruch im übertragenen

Sinn gemeint war, nicht alles superkorrekt

bis zum „Alten“ weiterzutragen.

Aug 8, 2020 - Wir lachen Affen, die gaffen, einfach aus 62 [Seite 62 bis 64]


Schon damals wurde intern gerufmordet, vor

Kameraden gewarnt: „Er ist HWG“, sagte vielleicht

der Erste über jemanden zum Zweiten

Offizier, und das hieß (peinlich) und deswegen

heimlich verklausuliert: „Häufig wechselnder

Geschlechtsverkehr“, auch als Warnung vor

eventuell ansteckenden Krankheiten des anderen,

mit dem man womöglich die Kabine

oder gar eine Hängematte auf engem Raum

unter Deck zu teilen hatte.

Die moderne Polizei verwendet diese Kürzel

„GKR“ (Geisteskrank) und einige mehr noch

heute weiterhin, einfach weil es sie gibt. Das

ist gelegentlich ein Thema für eine Boulevardzeitung

gewesen. Gekritzel auf der Akte?

Alte Kniffe haben Bestand: Das ist praktisch,

kann Kollegen helfen – und ist die kleine,

verbotene Freiheit der Beamten, die nicht

vom Recht im Gesetzbuch erfasst wird. Die

Grauzone ist ein notwendiger Bereich in den

menschlichen Regeln, die unerlässlich ist,

wenn wir unserer Natur gemäß leben wollen.

„Ich bin kein Roboter“, lässt uns das Gegenüber

im Internet gern bestätigen, macht vor

der Datenfreigabe einen „Idiotentest“ mit

uns.

Eine zweite Sprache ist in vielen Systemen

nützlich. Die kann man leicht notieren und

Insider kennen Hinweise, wie z.B. die Obdachlosen

eigene Zeichen haben oder ihre

Kennzinken. Ein gestischer Hinweis kann

die Sprache (heimlich) ergänzen. Es gibt

ein Handzeichen das empfohlen wird, wenn

wir eine verdeckte Nachricht in die Webcam

schicken wollen, wir (Frauen) würden bedroht

und derjenige befindet sich im Raum:

Die Finger der Hand werden um den Daumen

geschlossen. Und der böse (Mann) hinter mir

bekommt es nicht mit – soweit die Theorie.

(Es sind immer die Männer gewalttätig).

Im besten Fall ist petzen Zivilcourage. Gruppen

schließen sich im Netz zusammen, vor

einigen wird gewarnt, und sie sollen es nicht

mitbekommen. Was tun, wenn Rufmord seine

Eigendynamik bekommt und die Basis ein

Fake ist? In der neuen Welt müssen wir neu

denken. Alles wird festgehalten. Was früher

nebenbei, wie achtlos hingeworfen, getuschelt

wurde: „Weißt du nicht, was das für einer

ist?“, kann heute eine Textnachricht sein,

die viele teilen. Wenn dann ein Film das böse

Bild unterstützt, können wir mit diesem Wissen,

was das für einer sei, richtig glänzen.

Noch einige Beispiele für unsere moderne

Welt der gegenseitigen Kontrolle und fixierte

Beweise von Unregelmäßigkeiten: Eben

kaufe ich bei Staples ein, werde ermahnt die

Corona-Maske zu tragen, weil ich tatsächlich

nicht gleich vollaufgerüstet in das Geschäft

komme. Oha! Ich bessere schnell nach: „Entschuldigung!“

(Das ist ein schmuddeliges Alibi,

ich kümmerte mich drum, mich und andere

zu schützen, nie gewaschen und achtlos weggeknüddelt

in meiner Hosentasche untergebracht).

Wenig später wird ein weiterer Kunde

deswegen ermahnt, und mein Verkäufer

erklärt: „Ab heute kostet es 150,- Euro, auch

für uns, wenn wir die Maskenpflicht nicht anmahnen.“

Kameras überwachen das Geschäft.

Ich denke wieder an die S-Bahn-Geschichte

von damals.

Schaun wir mal, was noch kommt?

Selbst wenn wir’s nicht filmisch fixieren, immer

finden sich welche, die falsches Verhalten

anprangern, sich selbst aufwerten wollen.

Sie ändern die Welt nicht und machen bald

genauso ihre eigenen Fehler. Ein weiteres

Beispiel: Menschen gehen über die Straße im

Bereich einer Ampel, die gerade auf grün für

die Fußgänger umgesprungen ist, und drei,

vier Radfahrer begegnen sich auch dabei. Ein

älteres Ehepaar empört sich, man müsse das

Rad schieben! Einige Szenen fallen uns ein,

wenn es um Alltagsregeln geht, bei denen

wir nicht gleich nach der Polizei rufen.

Wir regeln das selbst, und sei es durch

Schimpfen.

Der Rechtsstaat hat sich aus gutem Grund

zu einem komplexen System entwickelt.

Wir schützen die Opfer der Taten, und: Wir

schützen die Täter vor der Rache der Angehörigen

der Opfer. Das haben noch nicht alle

begriffen. Fleißiges Krimi schauen lässt den

einfachen Menschen glauben, das Ermitteln

und Richten der anderen sei leicht. Das wird

empfohlen: ein kleiner Film, schnell gemacht:

„Die“ haben in der Rettungsgasse gewendet,

und nun kann die Polizei die restliche Arbeit

machen, dann kommen sie dran! Das war

auch Titel einer Boulevardzeitung.

Das finden alle toll.

Jeder ist ein Polizist? Die echten Kollegen

sind es auch, die immer alles machen, was

geht. Wir beschriften kleine Zettel im Restaurant,

damit eine Corona-Kette nachvollzogen

werden kann? Die Kripo wertet die Notizen

aus, um ein Alibi im Falle eigener Ermittlungen

zu kontrollieren. Das gefällt vielen, dass

hier mal eben ein Grundrecht verbogen wird.

Wer nichts Böses tut, hat nichts zu befürchten,

so einfach ist es? Das ist nur dann nicht

naiv gedacht, wenn wir den Rechtsstaat aktiv

pflegen, wie wir im Garten Unkraut jäten.

Kaum glauben wir normalen Bürger, dass

Whatsapp und verschlüsselte E-Mail sicher

sind, wird bekannt, dass der Staatsschutz

alles dransetzt, diese Systeme endlich zügig

zu hacken, und sei es, indem die amerikanischen

oder britischen

Kollegen Daten liefern

müssen, die den BND-

Mitarbeitern rechtlich

nicht zur Verfügung stehen.

Findige Ermittler

sind skrupellos genug,

anderen zu folgen, die

keine Skrupel kennen

und bemängeln, dass es

einen Umweg bedeutet

(unsere eigenen Gesetze

zu brechen), um effektiv

Straftaten zu bekämpfen?

Aktuelle Bilder von

brutal und eigenmächtig

agierenden Sicherheitskräften in den

verschiedenen Regionen der Welt sind eine

Mahnung. Im demokratischen System müssen

die Ausübenden des staatlichen Gewaltmonopols

(gegen Verdächtige) dem Recht

unterworfen sein wie alle Bürger im Staat.

Ist die digitale Sprache ein fixer Beweis? Wir

sollten uns nicht täuschen: offensichtlich

festgehalten ist die Tat, aber das Tückische

liegt genau darin. Was früher ein gesprochenes

Wort war, blieb solange ein schwebendes

Beschreiben, bis daraus eine fixierte Aussage

in einer Anzeige wurde. Wer schreibt, der

bleibt, haben wir gewusst, und es ist ja bekannt,

dass es meistens besser ist, „die Klappe“

zu halten.

Alles auf Video – Regieanweisung, Klappe:

„Straftat beobachtet, die Erste“, könnte ein

Film der Gegenwart heißen – aber der gute

(und zu eifrige) Jäger kann schlussendlich vor

Gericht scheitern, weil das Gesetz dem wachsamen

Nachbarn und Polizisten selbst enge

Grenzen setzt. Eine Straftat ist juristisch exakt

definiert. Der Laie empfindet das Unrecht

eher nach seinem Gefühl, aber beweiskräftige

Fakten werden nicht wie im Sonntags-

Krimi mal eben großartig, schnodderig dahin

ermittelt.

Das ist großes Kino: Chaotisch rumbrüllen

und rauchende, trinkende Kommissare, Schimanski

oder ein saufender Maigret? Sean-

Connery-Bond mit der Lizenz zum Trinken:

geschüttelt, nicht gerührt? Die alten Helden

haben heute keine Zukunft. Es laufen auch

keine Western mit John Wayne mehr im Fernsehen.

Die gute alte Zeit ist vorbei.

Smart, kalt und immer festgehalten müssen

wir uns bewegen, geht’s noch?

Das denke ich: Wie eingefroren seien Bilder

von Edward Hopper, schreiben manche. Da

denkt man an ein kleines Boot, wie er es malte.

Es segelt vor einem Strand in blauem Wasser.

Der Künstler hat die Bugwelle weggelassen!

Hopper, der mehr als nur amerikanische

Szene malte, er malte sie amerikanisch. Eine

neue Kunst: Noch heute bewundern wir seine

melancholischen Szenen, die er für uns

fixierte. Das ist ein Wunsch: Alles möge bleiben,

und wir kontrollieren das Bild der Gegenwart.

Es bleibt der Kunst vorbehalten, gekonnt

festzuhalten, und die Affen rasen weiter.

Das Leben kann einsam und lang daher

kommen. Im Gefängnis zieht sich die Zeit

in die Länge wie Kaugummi, sagt man. Ist

es erstrebenswert, die Zeit anhalten zu wollen?

Den eigenen, festen Standpunkt haben

oder von anderen gebrandmarkt, festgelegt

werden: „The long leg“ heißt das

erwähnte Bild von Hopper. Segler

wissen, was ein langes Bein ist.

Das bedeutet, beinahe anliegen

zu können, nicht kreuzen müssen.

Ein langes Bein ist ein Geschenk.

Statt den Wind genau von vorn

zu haben und Schlag um Schlag

aufkreuzen zu müssen, haben wir

einen langen Schlag, mit dem wir

beinahe das Ziel erreichen können

und gelegentlich kurze

Holeschläge, wenn wir nach Luv

nachbessern müssen. Eine feine

Sache, aber: Das kann sich auch

hinziehen.

Kalter Wind von vorn, dabei nur langsame

Bootsgeschwindigkeit mit einem alten Kahn?

Ein langes Bein bedeutet also, dass sich recht

lang kaum etwas ändert. Da passt es doch,

dass dieses Boot auf dem Gemälde so festgenagelt

wirkt. Nehmen wir an, das kleine

Segelschiffchen mit der kantigen Kajüte ist

nicht besonders schnell dabei – vielleicht

steht noch Strom gegenan – dann zieht sich

dieses lange, lange Bein wohl hin. Schräg ist

das Deck, und der Wind drückt ja kräftig in

das Rigg – warum nur dauert es eine Ewig-

Aug 8, 2020 - Wir lachen Affen, die gaffen, einfach aus 63 [Seite 62 bis 64]


keit voranzukommen? Die Sonne steht schon

tief. Sehnsüchtig peilen wir immer wieder

neu den Leuchtturm, bis das Schiff allmählich

etwas Luv gutgemacht hat und das Ende der

Landzunge querab ist.

Sich dessen bewusst zu sein, dass ein Bild

und auch ein kurzer Film nur eine Szene festhalten,

bedeutet auch begreifen zu können,

dass unser Leben eine „Neverending Story“

ist. Es ist dynamisch. Das Leben festhalten

zu wollen, kommt einem Ende der Bewegung

und einem Versuch, die Zukunft verhindern

zu wollen gleich. Genauso, wie ein kurzer

Film eine Tat belegt, beweist sie die Absicht

des Filmenden, sich als beteiligter Polizist

und besserer Mensch darstellen zu wollen.

Festgehalten ist auch die Aussage derer, die

eine Schuld beweisen wollen, und nicht selten

festgenagelt ist der Ankläger auf seine

Beschuldigungen. Ein böses, aber absichtlich

aufgebauschtes Wort über andere, kann

schließlich zum Bumerang werden.

„Klappe halten“, woher kommt dieser Rat –

aus Hollywood? Dann ist es eine Anweisung

an den Lehrling, erst einmal zu lernen, statt

selbst zu filmen – und geradezu eine Aufforderung

an den Schauspieler, den aktiven Täter,

alles zu geben: „Gib’ dem Affen Zucker!“ ist

ein Film mit Adriano Celentano. Das Internet

bietet auch die bessere, ältere Erklärung:

die Regeln eines solchen Gottesdienstes ein

mehrmaliges Aufstehen und Wiederhinsitzen

vorsahen und diese Klappmechanismen von

eher einfacher Art waren, wären die Holzsitze,

hätte man sie denn nicht festgehalten, mit

einem laut durch Kirche und Andacht hallenden

Laut in die Sitzposition gefallen.“

Nicht stören. Grundsätzlich, immer: Geht

das?

Anonym wollen viele sein, besonders, wenn’s

um die Privatsphäre geht. Da müssten wir

ziemlich grundsätzlich die „Klappe halten“,

damit es klappt. Eine Illusion, wir könnten

insgesamt darüber bestimmen, was die anderen

über uns verwenden. Und den Affen

Zucker geben? Das bedeutet denen, die wie

Affen gaffen, das Futter zu geben das ihnen

schmeckt!

Malen, leben, spielen – solange noch was

geht …

:)

„Die Redewendung ,dem Affen Zucker‘ geben

stammt noch aus Zeiten, in denen ein Leierkastenmann

durch die Stadt zog, um die Menschen

mit seiner Musik zu unterhalten. Oft

hatte er auch ein kleines Äffchen bei sich, das

Kunststücke zu seiner Musik machte. Um das

Äffchen jedoch bei Laune zu halten, musste

er ihm hin und wieder ein Stückchen Zucker

geben. Genau so tut man es im übertragenen

Sinne mit seinen Schwächen oder komischen

Angewohnheiten, indem man sie nicht unterdrückt,

sondern einfach auslebt.“

Das ist ein guter Rat: „Lass’ die Leute reden“,

und ihnen etwas zu geben. Cäsar, das alte

Rom, Brot und Spiele, Theater des Lebens,

Cabaret – „Gib den Leuten vier Takte, in die

sie ihre Zähne beißen können, und du hast einen

Hit“, wusste schon Fats Waller. Es braucht

nicht viel, um Leben in ein Dorf zu bringen.

Macht doch nix!

Morgen gibt es wieder neue Geschichten.

Das finde ich noch: „Die Herkunft der Redewendung

„die Klappe halten“ geht auf die

liturgischen Rituale katholischer Klostergottesdienste

zurück, wo im Chorgestühl ein jeder

Mönch sein eigenes Plätzchen hatte. Und

weil diese Plätzchen sowohl zum Stehen als

auch zum Sitzen auf relativ engem Raum geeignet

sein mussten, waren die Sitzflächen

mit einer Klappvorrichtung versehen. Da

Aug 8, 2020 - Wir lachen Affen, die gaffen, einfach aus 64 [Seite 62 bis 64]


Nie wieder.

Aug 10, 2020

„Schönen Tag auch!“, oder einfach gar nicht

reagieren. Meine Grenze: Nie wieder Nähe

zulassen. Wortlos, grußlos mit leichtem Lächeln

passieren, ist das Beste.

Da kommt sie: sommerlich gekleidet, verschämter

Blick, ihre Brust zeichnet sich

deutlich ab, unter einem hellen Stoff. Sie ist

schlank, wie immer. Sie ist schön. Wir kannten

uns mal. Sie zieht einen Reiserolli hinter sich

her, und ich atme tief durch, gehe einfach

weiter. Wieder reden wir nicht. Schiffe, die

sich in finsterer Nacht begegnen, am hellen

Sommertag. Das war nun unsere fünfte Begegnung

kurz hintereinander in den wenigen

Wochen, die sie mutmaßlich hier ist. Ich zähle

das mit. Andere Straßenseite, ein kurzer Blick

– weiter gehen – nicht denken ist besser. Ich

hoffe, sie hat dieses Mal nicht noch angefangen

zu laufen.

Ich sehe mich nicht um.

Frust ist die Basis. Es ist Montag,

und ich bin damit aufgewacht:

„Nie wieder“, denke ich.

Damit gehe ich durch diesen

Tag. Damit ertrage ich jeden

Tag. Ich gehe damit zu Bett.

Wenn ich nachts aufwache,

denke ich: Nie wieder. Ich atme

ein, atme aus – und nach einer

Stunde spätestens, fühlt es sich

sehr gut an. Ich habe das gelernt:

Feldenkrais. Nie wieder,

denke ich, und dann schlafe

ich bis etwa um fünf. Ich stehe

früh auf, finde was zu tun, das

mir gefällt – und das mache

ich dann.

Nie wieder irgendeine Politik unterstützen,

nie wieder wählen gehen und vor allem niemals

eine soziale Partei unterstützen. „Mit

Stegner Kaffee trinken?“ Das fragt mich heute

niemand mehr. Gut so. Natürlich habe ich

beim Bürgerentscheid gegen das jahrelang

ausgearbeitete Konzept gestimmt. Fein, dass

wir es zu Fall bringen konnten. Hauptsache

gegenan. Zeit meines Lebens war ich begeisterter

Demokrat! Vorbei. Nur noch Spott

kommt über meine Lippen, wenn ich die

Nachrichten schaue.

Das erste Bier trinke ich so um halb zwölf,

manchmal früher. Ich esse fett, ich habe

schlechte Zuckerwerte. Ich bin bei über achtzig

Kilo. Ich esse zweimal die Woche Eis mit

Schlagsahne bei Olli. Ich wasche mich ohne

Seife, weil es besser für die Haut ist, und ich

gehe nicht zum Friseur. Tanja ist schwanger,

und bald ist sie im Mutterschutz; zu einer anderen

gehe ich nicht. Die mag ich! Wir haben

es immer nett gehabt; aber jetzt in der Corona-Zeit

begreife ich, dass es mir vollkommen

egal ist, wie ich aussehe. Ich stinke: Ich esse

hemmungslos und reichlich Knoblauch, weil

mir das schmeckt, und in der Summe dieser

hier notierten Sätze und ihrem totalen Frust

wird mir klar: Ich bin einfach nur noch eklig.

Gut so.

Nie wieder, Leute.

Die Gesellschaft pauschal? „SCHönen guten

Tag!“ – ich betone es schon gern mal extra,

wie unser alter SPD-Grüßonkel hier im Dorf.

Und etwa so viele Leute wie er, kenne ich

auch. Da gibt es immer mal einen Plausch.

Das kann ich, und ich bin

gern nett.

Bis bald, hier an der Straße

im Ort laufe ich ja täglich.

:)

Es ist Montag, und ich war einkaufen. An der

Hauptstraße: Stau. Ich schaue in die Gesichter

der am Steuer. Es ist gegen elf, und in

erster Linie sehe ich, denke ich: dumme, verkrampfte,

hässliche Frauen mittleren Alters

in dummen, dicken Autos; sie müssen warten,

und das können solche nicht, und deswegen

sehen sie so bekannt scheiße aus.

Ich habe fertig.

Ich habe ein Atelier, einen Rückzugsort. Ich

quatsche gern, aber ich gehe anderen grundsätzlich

aus dem Weg. Nie wieder bringe ich

mich uneigennützig in die Gesellschaft ein.

An (…) gehe ich ebenfalls stumpf vorbei, probiere

ihr einstudiertes Plakatgesicht grußlos

nachzumachen. Das gelingt meistens. Es

funktioniert bei einigen (…) sehr gut. Nie wieder

Nähe zulassen, noch zehn, zwanzig Jahre,

dann Krankheiten aushalten, sich pflegen

lassen – meine Zukunft. Ist doch egal.

Eine stabile, belastbare psychische Gesundheit,

mein Ziel; ich bin angekommen.

Aug 10, 2020 - Nie wieder. 65 [Seite 65 bis 65]


Die Gipfel der Freiheit

Aug 13, 2020

Wir dürfen dumm bleiben: uns selbst treu

sein! Die Freiheit klüger zu werden und besser

haben wir nicht: Es ist eine Gnade der

Umgebung, wenn sich wieder eine Tür öffnet

und wir dorthin gehen können, wo es besser

ist. Die Umgebung muss mitspielen, damit

sich unser Ego erfüllen kann. Wir möchten

uns dem Besseren zuwenden? Dafür müssen

wir es erkennen können. Ansonsten werden

wir uns nur wiederholen, wir machen weiter

wie gewohnt. Deswegen sind wir frei darin,

zu bleiben wie wir sind, frei so dumm zu sein,

wie wir es gerade sind und frei dorthin zu

gehen, wo es uns noch schlechter geht. Der

Weg nach unten steht immer offen. Wir müssen

nur unserem Zorn nachgeben oder einem

Laster: zu viel essen, saufen oder sonst was.

Die Freiheit haben, jemand zu sein, ein

Künstler oder ein Kaufmann – derselbe

Nachbar sagte zu mir über sich: „Ich glaube

John, ich bin so geworden wie ich nun bin.

Eine Entwicklung.“ Mir kommt es auch wie

eine Rechtfertigung vor, aber es stimmt. Die

Kirchengemeinde erkennt eine selbstgefällige

Trutsche, daneben ein eitles Plakat, hofft

auf die erlösende Predigt oder darauf endlich

zum Buffet überzuwechseln? Beschränktheit

befriedigt, auf beiden Seiten. Es kommt darauf

an, wie es sich anfühlt, nicht wie die Bewertung

ist.

Sich auf die Suche zu machen.

Das ist die alternative Richtung zum Bleiben

in den eigenen Grenzen, dem blasierten und

einfältigen Renommieren oder dem selbstzerstörerischen

Weg nach ganz unten. Der ist

immer frei. Wir existieren an einem Abhang,

und es ist an uns, was wir daraus machen.

Warum befindet sich jeder an seinem eigenen

Berg, und warum scheint das so ungerecht zu

sein und oft ohne jeden Sinn, Hoffnung oder

Ausweg, und warum reicht unser Blick bis in

eine verlockende, bessere Ferne: die Gipfel

der anderen?

:)

Es ist schon einige Jahre her, wir waren mit

der Bahn unterwegs. Im Regionalzug, einige

wenige Sitzplätze entfernt, waren Studenten

unterwegs. Es wurde lebhaft diskutiert, und

ein junger Mann stach mit seinen Thesen

hervor: „Warum ernähren sich die Leute nicht

gesund? Es gibt überall gesunde Lebensmittel

zu kaufen, es gibt Ratgeber, Literatur,

Fernsehen, Internet. Wir wissen, was gut für

uns ist, was schlecht. Und die Produkte

sind leicht verfügbar.“

Ich kann einen Brief schreiben und bin

unglücklich, wenn ich keine Antwort

bekomme. Ich kann mich grämen, wenn

ich fett bin und gehe nun in das gesunde

Geschäft gleich neben dem Imbiss,

wo ich für gewöhnlich meine öligen

Pommes verspeise? Wenn es so einfach

wäre, das Glück und die Verbesserung

meiner Existenz zu finden, könnte ich

eine Dating-App wie den Gang zu einer Prostituierten

verstehen, und dann kaufe ich mir

eine Frau?

Einfach die zehn Gebote einhalten, sagt der

junge Pastor mit forschem Ton, dann klappt

das schon mit dem Leben. Der wird sich noch

umgucken, denke ich. Die Bürgervorsteherin

gefällt sich in einer längeren Ansprache.

„Hör endlich auf, Oma“, raunen die genervten

Freunde der Konfirmanden in der Reihe vor

mir. Dann spricht noch die Bürgermeisterin,

und die Kommentare sind die gleichen.

Wir ertragen solche Reden; aber es dauert,

bis gute Formulierungen gefunden werden.

Warum tut sich jemand an, am Festtag eine

Ansprache zum Besten zu geben, in einer Kirche?

Zur Bürgermeisterin wird man gewählt,

und dann gehört es dazu. Zur Wahl anzutreten,

darin sind wir frei.

„Das hat er sich doch selbst ausgesucht“, hat

mein früherer Nachbar einmal gesagt, als ich

Kümmernisse von jemandem aufzählte; zu

jedem Beruf und Existenz gehören auch unangenehme

Sachen.

Aug 13, 2020 - Die Gipfel der Freiheit 66 [Seite 66 bis 66]


Mein Russland

Aug 24, 2020

Wir sehen es in den Nachrichten, jemand

hat alles verloren. Ein Brand in Kalifornien,

Buschfeuer haben das Wohngebiet erreicht.

Eine Frau steht fassungslos vor den verkohlten

Resten. Nur Metall hat dem Feuer standgehalten.

Das runde Guckloch in der Front

einer schwarzen Form scheint zu beweisen,

dass das wirklich einmal ihre Waschmaschine

war. So können wir uns vorstellen, was es für

uns selbst bedeuten würde. In den verbrannten

Resten rundherum ist keine Struktur erkennbar.

„Hier war die Küche“, sagt die Frau

und bricht ab – dann kommt anderes, zum

Schluss der Wetterbericht; uns geht es gut!

Wir sind gerade im Urlaub, in der Ferienwohnung.

Die kleine Welt. Unsere gewohnte Umgebung,

in der wir uns zurechtfinden. Leicht

nehmen wir ein Urlaubsdomizil in Besitz und

kehren dann zurück, selbstbestimmte Wechsel

sind einfach. Existenzverlust, wie es sich

anfühlt? Das zieht uns den Boden unter den

Füßen weg. Ich erinnere mich: Ich war noch

klein, etwa elf Jahre alt oder zwölf, da wurde

ich nach Marktschellenberg in eine Kur verschickt

(das hieß wirklich so). Ich sei zu leicht,

zu dünn und auch für mein Alter zu schwach,

hatten Hausarzt und Barmer-Ersatzkasse

festgestellt.

War das wirklich der Grund?

Die großen Ferien fanden erzwungenermaßen

bei Berchtesgaden statt, Kinderheim

für einen Sommer. Die Leitung durften wir

„Charlotte“ nennen, eine ältere Dame. Sie war

schon einmal an der Elbe zu Besuch gewesen,

kannte unser Fährhaus und Schiffsbegrüßungsanlage,

tatsächlich!

Wedel – meine Heimatstadt mit unserem

verwinkelten Altbau mitten in der belebten

Einkaufsstraße, die vom Bahnhof bis beinahe

an die Elbe führt. Als ich zurück kam, war das

vertraute Haus mit unserem Fischladen an

der Straße, der Wohnung darüber und der von

Oma Lina ganz oben unter dem Spitzgiebel

(wo jedes Jahr die Schwalben ihre Nester in

die Winkel kleisterten), weg.

Eine Baugrube gähnte mich an.

Zwei große Berge dahinter zerstörten das gewohnte

Bild aus Obstbäumen, Erdbeer- und

Gemüsebeeten, den Spargelreihen auf der

anderen Seite vom schmalen Weg im Gras.

Der vordere, ein reichlich fünf Meter hoch

geschütteter Kegel aus gelbem Sand, Lehm.

Der andere ein schwarzer Dreckhügel, aufgetürmt

aus klebrigen Mutterboden. Sie besetzten

den Platz, wo Garten und Schuppen

für das Boot gewesen waren. Rechts hatte

der große Birnbaum gestanden. Der war auch

weg. Immerhin, mein Lieblingskletterbaum,

unsere Kastanie ganz hinten im Garten, hatte

das von den eigenen Eltern angezettelte Verbrechen

gegen meine vertraute Heimatumgebung

überlebt. Sie stellten alles anders dar,

betonten bis zu ihrem seligen Ende die Sinnhaftigkeit

des Neubaus, alternativlos wäre es

gewesen. Die Eltern waren

ja nicht meine Feinde oder

so: „Dafür bist du noch zu

klein“, sagten sie vielleicht

auf verstörende Fragen, so

sind Eltern. Später waren

sie dann Oma und Opa für

ihre Enkel und machten

sich ganz gut.

Einmal war während unseres

Urlaubs an der Ostsee

zuhause in Schenefeld ein

schweres Gewitter niedergegangen,

und sie riefen

uns im Ferienort an, würden sich kümmern,

helfen, ordnen und alles aufwischen, damit

wir bleiben konnten, wo wir waren. Sie (und

einige ebenfalls betroffene Nachbarn) mussten

den Keller trocknen. Wenige Zentimeter

hoch (nur) hatte dort Wasser gestanden und

doch reichlich Schaden angerichtet. Das vertraute

Zuhause ist ein wesentlicher Teil unserer

Existenz.

Meine Eltern sind seit einigen Jahren verstorben,

und ich denke viel nach über Familie

und gesellschaftliche Struktur. Wir helfen

einander in der Not, aber

die Nachrichten sind voll

von Gewalt und Betrug.

Menschen, was sind wir:

Ist die Gesellschaft (an

sich) böse? Das wollte ich

herausfinden. Für mich

eine wichtige Frage: Warum

werden Menschen

psychisch krank? Eine

verworfene These aus

den vierziger Jahren. Die

modernen Psychologen

tappen weiter herum, im

Dschungel der Diagnosen

und Lösungsansätze.

Ich habe schon viele auf unterschiedliche

Weise psychisch Kranke kennengelernt: „Hier

in der Klinik bekomme ich täglich Therapie,

mache die Aufgaben, aber irgendwann ist es

ja fertig. Dann bin ich wieder zuhause, und

dann ist Mama ja wieder immer da“, sagt eine

junge Frau und fährt fort: „Dann beginnt sowieso

alles von vorn.“ Sie zeigt mir verheilte

Narben auf dem Unterarm.

„Ritzen“ ist ihre Diagnose.

Wenn das Buschfeuer unser Haus niederbrennt,

das Gewitter den

Keller flutet oder Terroristen

– der Feind von draußen

– wer auch immer

unsere Existenz vernichtet:

Das wird uns stärker

machen. Wir werden Hilfe

bekommen und sie nutzen

können. Entscheidend

ist die Grenze, was wir als

unser Leben definieren

und ob die Bedrohung

fremd ist oder der Gegner

auf untrennbare Weise mit

uns zusammen wohnt?

Mama ist wieder „immer“ da – wie hilflos und

frustrierend – es ist nur jeweils eine Mutter

die eigene. Eine bessere ist nicht zu bekommen.

Liebe ist eine Pflicht? Dann wird ein

abhängiger Mensch krank. Kinder benötigen

Jahre, bis sie erwachsen sind und selbst für

sich sorgen können. Wenn das nach der in unserer

Gesellschaft als angemessen empfundenen

Zeit nicht

gelingt, wird es

schwierig für

die jungen Erwachsenen

und

genauso für die

Eltern.

Eine Möglichkeit

Ansätze zu

finden, um Probleme

in den Griff

zu bekommen,

ist zunächst

eine Theorie zu

formulieren, die erklärt wie die Schwierigkeiten

entstehen. Das zeigt schon deswegen

Lösungen auf. Wir können Beispiele aus

verschiedenen Bereichen beschreiben und

deutlich machen, wo innerhalb von Grenzen

einerseits und Beziehungen zu fremden Mitgliedern

andererseits das Netzwerk des Lebens

erkennbar ist. Das skizziert fremde, aber

verwandte Bilder, um ähnliche Systeme wie

Modelle nutzen zu können. Wir schauen auf

Staaten, ihre Regierungen und Gesellschaft,

um ein vergleichbares Bild der Familie, dem

einzelnen Organismus und den individuellen

Problemen zeichnen

zu können.

Ein System ist

eine Verbindung

von strukturierten

Abteilungen

mit einem gemeinsamen

Ziel.

Ein Schiff mit

der Fähigkeit

dem Meer und

Wetterbedingungen

zu trotzen,

auf einer Fahrt

zu einem fernen

Hafen? Es hat eine Mannschaft an Bord,

transportiert Fracht oder Passagiere und wird

letztlich in seiner Bewegung durch den Kapitän

verantwortet; das ist ein System. Eine Firma

ist eins, ein Staat oder eine Familie ist ein

System. Ein Mensch, begrenzt durch die Haut,

mit seinen Armen und Beinen, den Muskeln,

Knochen und den inneren Organen, der leitenden,

Sinn gebenden Zentrale im Kopf, ist

ein System. Um eine psychische Erkrankung

zu verstehen und in den Griff zu bekommen,

müssen Muskulatur und Bewegung genauso

wie familiäres Umfeld und Jobsituation in

das Denken miteinbezogen werden.

Beispiele aus anderen

Strukturen

können eine gute

Illustration der

Problematik sein.

Was sind nicht

änderbare Widerstände,

und

wo sind flexible

Grenzen? Wenn

es beispielsweise

in Europa

Schwierigkeiten

Aug 24, 2020 - Mein Russland 67 [Seite 67 bis 70]


gibt, Verantwortung zwischen einzelnen

Staaten anderen gegenüber geltend zu machen,

werden schnell Unterschiede deutlich.

Ein Mensch wird sich schwerlich von einem

schmerzenden Fuß trennen. Aber ein Staat

wie Großbritannien kann die Europäische

Union verlassen. Dasselbe geschieht in Firmen

mit finanzieller Schieflage. Die funktionierenden

Abteilungen können von einem

Käufer in die eigene Struktur integriert werden,

aber einige Filialen etwa einer Bäckereikette,

die aufgrund ihrer Lage keinen Umsatz

machen, werden geschlossen. Innerhalb der

Familie werden einzelne Mitglieder nicht so

einfach die Struktur aus Eltern, Großeltern,

weiteren Verwandten verlassen können, und

ein Mensch als ebenso systemisch erklärbare

Einheit, trennt keine Körperteile ab, die nicht

gefallen. Selbstverletzungen und Schönheitsoperationen

gehen in diese Richtung,

wo aber ist ein Bein zu finden das von sich

aus das Weite sucht, wie etwa die Katalanen

Spanien verlassen wollen oder die Briten Europa?

„Ich, dein Fuß – halte es nicht mehr aus bei

dir, mag nicht länger deinen (fetten) Leib

zum Döner-Laden schleppen. Ich gehe fort“,

das ist eine Sprache, die wenige verstehen.

Theoretisch reizvoll sind diese Gedanken

trotzdem, weil das Denken in Bildern überraschende,

neue Gedanken hervorbringt. Ob

jemand bewegliche Hüften hat und ansprechend

herumspaziert, kümmert den Psychiater

nicht. Er gibt eine gute Erhaltungsdosis

seiner Medizin und versteift den Geisteskranken

damit extra. Dann solle der sich mal wo

bewerben und bitte verschweigen, er sei grad

in Behandlung. Das wird geraten. Tunnelblick

vom Fachmann, und beim Behandelten ist es

genauso. Es einmal mit intelligenten Ansätzen

probieren?

Fehlanzeige.

Wenn sie an einer Regatta teilnehmen und

es auf Details ankommt, das Boot optimal

zu trimmen, gehen manche Bootsbesitzer

vorher eine Liste durch. Kein Flugzeug hebt

ab, bevor nicht die Piloten ihre Checkliste abgehakt

haben, was unbedingt funktionieren

muss, vernünftigerweise in Ordnung ist und

worauf man eventuell verzichten kann, wenn

es nicht störungsfrei arbeitet. Ein System ist

bestrebt, Fehler zu vermeiden. Die Triebwerke

müssen fehlerfrei Schub bringen. Der Höhenmesser

muss das Team im Cockpit korrekt

informieren, und die Treibstoffanzeige muss

ihren Dienst tun. Es werden aber auch Geräte

überprüft, die für das sichere Fliegen nicht

unbedingt nötig sind. „Noch nie bin ich abgehoben

und wirklich alles an Bord hat vollständig

funktioniert“, sagte mir einmal ein

erfahrener Pilot. Fehler im System gehören

dazu, und es ist an der Leitung zu entscheiden,

wie damit umgegangen wird.

Der schlimmste Fall kann eintreten. Als eine

Maschine mit Regierungsmitgliedern gegen

die Warnungen vom Flughafenpersonal trotz

schlechtem Wetters landet, haben der Pilot,

die kleine Besatzung und die wenigen Passagiere

das mit dem Leben bezahlt: Landebahn

verfehlt oder darüber hinaus geschossen.

Man hat bereits einen vergeblichen Anflug

auf die Piste im Nebel erfolglos abgebrochen?

Dann ist, möglicherweise auf Anweisung

der hochrangigen Passagiere an Bord

aus der Politik, die den wichtigen Termin in

der Stadt unbedingt wahrnehmen wollen, ein

weiteres Mal der im Unwetter nicht sichtbare

Flughafen angesteuert worden – und die

Landung in einer Katastrophe geendet.

Das Unglück liegt bereits einige Jahre zurück,

wie auch der Absturz der Concorde oder die

Challenger-Katastrophe. Trotzdem habe ich

eine Erinnerung daran, die ich nicht vergessen

kann. Wir kennen dramatische Filmszenen,

das ist nicht real. Wie die Maschine in

„Cast Away“ abstürzt, die Propellerschaufeln

des riesigen Triebwerks vor Hanks in Notschwimmweste

bei aufgewühlter See letzte

Umdrehungen machen, ist Kino. Das hier war

ganz normales Fernsehen im Zweiten Programm,

mit Klaus Kleber oder so.

Ich erinnere mich.

Im heute-journal werden die Originalgeräusche

des später aus dem Wrack geborgenen

Voice-Recorders abgespielt. Es kracht und

knallt. Das Flugzeug schlägt Bäume um,

als die Tragflächen brechen, wir hören die

Schreie der Flugreisenden und Piloten an

Bord. Die Insassen begreifen, dass die Sache

schließlich schief geht! Die unüberhörbare

Angst der Menschen – die verstehen, dass

sie sterben und zwar jetzt sofort, ihre Panik

– eine schrille Frauenstimme war auch dabei,

ist mir unvergesslich.

Abhängig sterben, das denke ich.

Mitgerissen in den Tod, das ist die extremste

Form von Gewalt gegen uns, weil wir ein Teil

des Apparates sind und unfähig, seinen Kurs

zum Besten abzuändern und zudem wissend

oder zumindest ausgestattet mit der Annahme,

dass da ein besserer Weg ist. Wir lernen

in der Schule, was es bedeutet die Stimme

kritisch zu erheben und werden dazu ermuntert.

Die moderne demokratische Politik

erkennt die Opposition als unerlässlich und

notwendig an. Manche glauben, dass bei uns

gute Menschen verantwortungsvolle

Staatsführung betreiben

und einige

andere Länder von

bösen Machthabern

geführt sind? Ich

glaube nicht, dass

wir bessere Anführer

haben, sondern

an unser stabiles

System, das einzelne

zwingt, zum

Nutzen aller zu

handeln.

Ist die Welt ein von

Gott zusammengehaltenes

Ganzes?

Menschen die annehmen, dass ohnehin geschieht

was passieren muss, können nicht

definieren, wo das eigene ich beginnt und

aufhört. Das wäre eine Welt, die vollkommen

vom Zwang das jeweilige zu tun beherrscht

ist. Ist das bei uns so? Ausgeliefert dem

Schicksal, gingen wir willig sogar bis in den

Tod wenn die „Macht“ das fordert. Geführt wie

auf einer Eisenbahnschiene und ohne Möglichkeit

durch Eigeninitiative abzubiegen?

Das Leben zu meistern bedeutet, gerade diese

Lücke für die eigene Wahl zu bemerken in

der Umgebung, die zugegebenermaßen nicht

selten wenig Platz für gerade unsere Interessen

frei macht. „Du stellst meine Füße auf

weiten Raum“ – zu glauben, bedeutet nicht

zwanghaft und blind vorwärts zu traben. Den

Körper, die Gefühle wahrzunehmen und mit

dem lenkenden Gehirn entscheiden zu können,

ist unsere gesunde Aktion, die dem Kranken

nicht gelingt. Dazu gehört die eigene

Handlungsfähigkeit in Relation der Umstände

einzuschätzen. Politische Strukturen, Management

und verlässliche Freundschaften

können als Beispiele genutzt werden, dem

Leben einen individuellen Weg abzuschauen.

Die Tendenz Macht auszuüben, Eitelkeiten

auszuleben und fachlich schwach aufgestellt

zu sein, ist bei unserer Politik genauso

erkennbar. Wer es je am eigenen Leib erfahren

hat, beiseite gedrückt zu werden, kann

bestätigen, dass auch unsere Gesellschaft

(in einzelnen Gruppen) böse ist. Der Mensch

wird immer der Versuchung erliegen, seine

schlechte Seite zum persönlichen Vorteil einzusetzen

und Macht missbrauchen. Die Frage

ist weniger, ob es gute und böse Menschen

gibt, Strafen verschärft werden müssen. Der

theoretische Ansatz zur Erklärung von Missbrauch

und die daraus resultierenden Traumata

derer die sich dem nicht entziehen

können, findet sich dort, wo die Möglichkeiten

gegeben sind. Die Motive von einigen,

für die gezielte Unterdrückung anderer eine

gute Methode ist, Befriedigung zu erlangen,

sollten wir begreifen.

Wenn wir einen stabilen Rechtsstaat pflegen,

ist Machtmissbrauch durch die Verwaltung

und Politik des Systems nur begrenzt möglich.

Genauso wenig, wie wir sexuellen Missbrauch

in Sportvereinen, Kinder- und Jugendbetreuung

oder kirchlichen Organisationen

grundsätzlich abschaffen können, müssen

wir begreifen, dass es keine bösen Menschen

gibt und wir selbst nicht gut sind, sondern

eine komplizierte Struktur der Beziehungen

im System die Grundlage ist, wenn Einzelne

fertig gemacht werden, die sich nicht wehren

können.

Systeme haben unterschiedliche

Ansätze, mit Kritik umzugehen. Zur

Zeit beherrscht die mögliche Vergiftung

eines russischen Regimekritikers

unsere Nachrichten. Eine gute

Möglichkeit, unterschiedliche Individuen

systemisch zu betrachten,

sehen einige darin, Personen wie

Staaten einzuschätzen, Nationalitäten

auf die Schippe zu nehmen.

Jüdische Witze oder englischer Humor

sind die milde Form, spezielles

Verhalten auf Absonderlichkeiten

hin abzuklopfen. Familien können

als kleine Einheit durchaus mit

Gesellschaften verglichen werden:

„Oma und Opa klagen Urlaub mit

Enkelin ein, Eltern verlieren Prozess

um Umgangsrecht“, titelt die

BamS. Präsidentenwahl, Aufruhr in Weißrussland

und die Mahnung aus Moskau, Europa

möge sich bitte mit Einmischung in innere

Angelegenheiten beim Nachbarn zurückhalten,

ist auch ein Thema.

„Der umstrittene Staatschef hatte am Samstag

eine Militärbasis in Grodno im Westen

des Landes nahe der Grenze zu Polen besucht.

Dabei erneuerte er seinen Vorwurf,

dass die Proteste ,von außen‘ gesteuert seien.

Nato-Truppen in Polen und Litauen seien

entlang der Grenze zu Belarus ,ernsthaft

in Bewegung‘, sagte Lukaschenko weiter. Er

habe deshalb die gesamte Armee seines Lan-

Aug 24, 2020 - Mein Russland 68 [Seite 67 bis 70]


des in Alarmzustand versetzt. Diese Angaben

wurden von der Nato als ,haltlos‘ zurückgewiesen.“

(Fehmarnsches Tageblatt, Montag,

24. August 2020).

Es sind unbestritten Politiker in europäischen

Ländern, zahlreiche Aktivisten und Journalisten

angetreten, die sich außerhalb des Landes

in Stellung bringen, den Regierungschef

ihres Nachbarlandes zum Rücktritt auffordern.

Ob uns es etwas angeht oder nicht,

verhindert kaum, dass Menschen solidarisch

mit anderen empfinden. Die Bilder der vielen

Oppositionellen auf den Straßen von Minsk

bewegen uns. Natürlich befinden sich (wie

auch sonst) Soldaten der Nato in der Region,

und es liegt nahe, das für die amtierende

Regierung als gefährlich für die Stabilität zu

begreifen. Tatsächlich bedeutet es auch eine

Gefahr für die Stabilität von Belarus insgesamt,

und insofern hat Lukaschenko zunächst

recht. Ob er will oder nicht, er befindet sich

mit seinem Land inmitten anderer, die ein

Interesse daran haben, dass er geht. Ob seine

politischen Nachbarn in Moskau (die ihn

stützen) entscheiden können was passiert,

bleibt unsicher.

Das Beispiel kann durchaus dazu herangezogen

werden, die Empfindungen eines

psychisch Kranken nachzuvollziehen. Ein gesunder

Mensch kann oft ohne Einmischung

von anderen seine Aktivitäten umsetzen.

Je sicherer jemand auftritt, desto weniger

Kritik gibt es von außen, aber auch was das

„Bauchgefühl“ betrifft; klare Motivation fühlt

sich gut an. Hier sehen wir, was wirkliches

Selbstbewusstsein ausmacht: Es benötigt

keine Willensstärke. Gute Aktivität wird bewundert,

hartes Durchgreifen fordert Kritik

heraus, und verrücktes Tun wird Helfer auf

den Plan rufen, die schließlich die Kontrolle

übernehmen. Der Kranke wird sich definitiv

als fremdbestimmt und bevormundet fühlen

und gegebenenfalls wehren. Natürlich

kann die Umgebung den Anfang machen, so

wie die Auflösung der Sowjetunion und die

inzwischen vermehrt auftretenden Demokratien

rund um Belarus Druck auf den alten

Diktator ausüben. Er hat recht, die fortdauernden

Angriffe, er solle sein Land den modernen,

freien Systemen anpassen, dringen

wie ein Virus in seine Bevölkerung ein. Die

gute Grippe, möchte man meinen. Im besten

Fall wandelt sich Weißrussland in einen freien,

gesunden Staat – im ungünstigen stürzt

das Land ins Chaos.

Der zunehmende Druck auf sein System,

welchen der Diktator fürchtet und grimmig

zurückweisen möchte, um stark und frei

von Schuld zu wirken, ist durch das lockende

Beispiel der auf sympathisch freie Weise

lebenden Menschen tatsächlich im Ausland

begründet. Auch ein verklemmter, unattraktiver

Jugendlicher, der den Besuch im Nachtklub

mit Freunden meidet, weil er dort sowieso

kein Mädchen trifft, das ihn attraktiv

findet, spürt unterbewusst, dass er prinzipiell

die Fehler selbst verschuldet. Das kränkt: Er

sieht den geilen Böcken zu, die ihre Mädels

klar machen, möchte auch, kann nicht – und

niemand scheint ihn darin unterrichten zu

können, wie die anderen zu sein? Lukaschenko

persönlich ist in Gefahr, nicht wirklich das

Land. Belarus kann nur gewinnen, und das

begreifen immer mehr im Land. Sie überwinden

die Furcht vor den Ordnungskräften. Das

Land entgleitet dem Diktator. Es entwickelt

eine neue, moderne, freie Identität. Wie närrisch

glauben seine Bewohner an die Freiheit

– und riskieren ihr Leben dafür, zuhause alles

gerade zu rücken. Eine verrückte Idee? Die

außer Rand und Band geratenen Dopaminströme

im Gehirn des psychotisch kranken

Menschen, finden ihre Entsprechung in diesem

Bild. Auch dann probieren alle Beteiligten,

Stabilität herzustellen: durch gutes Zureden,

Medikamente und fixierende Fesseln

– wenn sonst nichts hilft. Das Ergebnis sollte

besser sein und kein Rückschlag in traumatisierendes

Chaos, das Existenzen vernichtet.

Im großen wie im Kleinen, das ist das Leben.

Es sucht die befriedigende Ordnung, nicht

die erzwungene Stabilität, notfalls über den

Umweg Krieg. Der Druck entsteht zum Teil

von innen, die eigene, innere Bewegung der

zusammenhängenden Struktur selbst. Das

Bild von draußen als Vision, wie es auch bei

uns sein könnte, ist ein Eindruck; die Beule

in die Außengrenze des Systems bringt die

Kraft hervor, die schließlich innere Kräfte in

Bewegung setzt.

„Russen und Amerikaner“, die Kapitelüberschrift

im Klassiker der psychologischen

Literatur für jedermann, zitiert: „Von der

Anthropologin Margaret Mead stammt die

Scherzfrage, was der Unterschied zwischen

einem Russen und einem Amerikaner sei. Der

Amerikaner, sagte sie, neigt dazu, Kopfweh

vorzuschützen, um sich glaubwürdig einer

unerwünschten gesellschaftlichen Verpflichtung

zu entziehen; der Russe dagegen muss

das Kopfweh tatsächlich haben. Ex Oriente

lux, kann man da nur wieder einmal sagen,

denn Sie werden zugeben, dass die russische

Lösung ungleich besser und eleganter ist. Der

Amerikaner erreicht zwar seinen Zweck, weiß

aber, dass er schwindelt. Der Russe dagegen

bleibt in Harmonie mit seinem Gewissen. Er

hat die Fähigkeit, ganz nach Bedarf einen

Entschuldigungsgrund herbeizuführen, der

ihm nützlich ist, ohne aber zu wissen (und

ohne daher dafür verantwortlich zu sein), wie

er es schafft. Seine rechte Hand weiß sozusagen

nicht, was seine Linke tut. (Paul Watzlawick,

Anleitung zum Unglücklichsein, 1983).

Über das Verhalten von Musikern untereinander

ist schon viel geschrieben worden. Eine

Band ist ein Beispiel für ein funktionierendes

System mit einem gemeinsamen Ziel.

Besonders im Jazz, wo es neben arrangierter

Musik auch freie Improvisation gibt, müssen

die Musiker

exakt aufeinander

achten,

damit das

Ganze stimmt.

1962 gab es

unter strengen

Auflagen eine

Tournee mit

dem „King of

Swing“ in die

Sowjetunion.

Zitiert aus einer

Musikerbiografie

lesen

wir: „Ein seltsamer

Mensch,

dieser Benny

Goodman. Die Wunderkind-Karriere war ihm

offenbar früh zu Kopf gestiegen, und seine

Arroganz wurde sprichwörtlich. Das Gros der

Musiker, die für ihn arbeiteten, kam daher nur

schwer mit ihm aus: Bandleader Goodman

galt als launisch, jähzornig und geizig. Er kritisierte

gern und lobte nie, verlangte eiserne

Disziplin und gute Manieren, schnorrte bei

seinen Angestellten die Zigaretten und die

Klarinettenblättchen, verstand keinen Spaß

und verbreitete schlechte Laune. Er konnte

sich viele Namen und Gesichter in der Band

nie merken, setzte Stücke vom Programm,

wenn ein Solist ihm die Schau zu stehlen

drohte, und schickte beim Konzert am liebsten

strafende Blicke in die Runde. Ein Job

bei Goodman versprach viel Geld und wenig

Freude an der Arbeit. Als Zoot Sims einmal

nach seinen Erlebnissen mit Goodman in

Rußland gefragt wurde, sagte er nur: Jeder

Auftritt mit Benny ist wie Russland.“ (Hans-

Jürgen Schaal, 1999).

Sind alle Russen krank? Wohl kaum. Nach den

Sanktionen, die in Folge der Annexion der

Krim gegen das Land verhängt wurden, sagt

mir eine liebe Bekannte, Natascha, selbstbewusst:

„Was wollen die? Das war doch immer

unser.“ Wir dürfen gern annehmen, dass

Amerikaner nicht wie Russen sind. Die USA

sind das Einwanderungsland schlechthin, da

ist vieles anders. Ein nationales Bewusstsein,

eine individuelle Persönlichkeit, da gibt es

Parallelen – und wie mit Kritik und Fehlern

umgehen? In jedem Unrechtsstaat besteht

die Gefahr von Machtmissbrauch, der Verfolgung

von Kritikern. Das heißt aber nicht,

dass unser System von selbst läuft und hier

ausschließlich „die Guten“ leben (und selbstverständlich

so nachgeboren werden). Jeder

Staat muss sich nicht nur nach innen strukturieren,

sondern auch nach außen konkurrenzfähig

sein. Die Wirtschaftlichkeit eines staatlichen

Systems kann mit der Selbstständigkeit

eines Erwachsenen, seinen Lebensunterhalt

zu verdienen, verglichen werden. Und genau

hier ist es an uns – der Gesellschaft – die Parallele

zum großen Modell des Ganzen, relativ

zum Einzelnen in der Familie zu begreifen

und das gesunde Miteinander vom krank

machenden Verhalten zu unterscheiden. „Der

Fisch stinkt vom Kopf her“, sagen wir. Missbrauch

von Macht im Staat bedeutet eine

kranke Struktur. Sie handelt böse, aggressiv

nach außen, infiziert das System nach innen.

Mitglieder denunzieren sich dem Apparat der

Unterdrückung – wie sich auch der einzelne

selbst verrät, der psychisch krank ist.

Stärke kann nur gelingen, wenn sie nach außen

und innen gelebt wird. Urlaubszeit, ein

abschließendes Beispiel: In der Schlange

der Wartenden beim Bäcker sehe ich, hier

kaufen Menschen aus ganz

Deutschland ihre Sonntagsbrötchen

ein. Etwa zwanzig

locker aufgestellte, sommerlich

kurzhosige Zeitgenossen

unterschiedlichen

Geschlechts und Alter, haben

sich vor dem Geschäft

entlang des Kantsteins zur

angrenzenden Straße aufgereiht.

Immer, wenn jemand

zu uns heraus kommt,

takelt der nächste auf den

Treppenstufen vor der offen

stehenden Ladentür seine

Corona-Maske an und tritt

in den Verkaufsraum. Die

aktuellen Fallzahlen haben

leicht angezogen. Landesweit sind aktuell

etwa fünfzehntausend Menschen positiv auf

das Virus getestet. Die Gefahr, einem von ihnen

beim Bäcker zu begegnen, ist nicht allzu

groß – dementsprechend entspannt sind die

Urlauber hier an der heimatlichen Ostsee.

Aug 24, 2020 - Mein Russland 69 [Seite 67 bis 70]


Während ich als zweitnächster Kunde schon

eine der oberen Stufen der Treppe erreicht

habe, kommt es zum Wortwechsel hinter

mir. Ein intellektuell gebildet und äußerlich

modern und gepflegt erscheinender Mann

(er ist wohl um die Vierzig, trägt eine schön

geformte, etwas modische Brille, ein bunt

kariertes Oberhemd und eine feine, helle

Tuchhose, elegante Sommerschuhe) dreht

sich heftig um! Es fallen scharfe Worte gegen

den nächsten in der Reihe nach ihm: Ein kleinerer

Mann, älter, blaue Strickjacke. Er steht

schlicht, gelassen und friedlich da. Was ist

jetzt verkehrt, fragt er sich offenbar – und ich

versuche es genauso zu begreifen.

Wir schauen alle hin. Die laute Zurechtweisung

erheischt Aufmerksamkeit, schon durch

den fordernden Ansatz: „Von einsfünfzig haben

Sie noch nichts gehört?“ So fährt der Empörte

den Alten an – aber der (immerhin) einen

erkennbaren Meter hinter ihm stehende

Senior reagiert kaum. Eher leicht belustigt,

zeigt sein Gesicht den Anflug freundlicher

Anteilnahme am Zorn des Jüngeren. Als etwas

kleinerer, älterer Herr ist er ganz der liebe

Großvater – mit festem Stand und langer Lebenserfahrung.

Der wütende Mann redet sich

in Rage, ob der Senior nicht Bescheid wisse,

keine Nachrichten schaue, wo er herkomme

– und der Alte nennt nun schlicht seinen

Heimatort, mit dem unschuldigstem Gesicht,

das es nur geben kann. Ein wenig Abstand zu

nehmen, etwa einen Schritt nach rückwärts

zu machen, kommt ihm nicht in den Sinn?

Das wäre auch schwierig: Die ganze Schlange

der Wartenden steht eng zusammen.

„So siehst du aus! Wo du wohnst, ist man wohl

noch blöde“, geht der selbsterklärte Eiferer

für Abstandsregeln zum „Du!“ über und dreht

sich aber, weil kein Erfolg seiner Eruption der

Korrektheit sichtbar wird, resigniert weg. Er

schaut mucksch nach vorn, wohin er selbst

den Abstand vergrößern könnte, um die geforderte

Entfernung wiederherzustellen. Die

drei Meter zu mir auf der Treppe könnte er

leicht kleiner machen. Ein Musterbeispiel für

Schwäche: aufgeplustertes Tun, das niemand

interessiert, allenfalls belustigt. Angesichts

dramatischer Zustände in einigen Kliniken,

hatte er sich bestimmt mehr Unterstützung

erhofft – aber falls dieser Mann Kinder hat,

werden sie (und die Ehefrau) typischerweise

unter ihm leiden. Es ist anzunehmen, dass

er empfindlich ist und neurotisch den Weg

sucht, wo das funktioniert. Angestellt am Arbeitsplatz;

in seiner Firma wird er kaum eine

wesentliche Stellung inne haben. So jedenfalls

hat das Ganze auf mich gewirkt. Der heftige

Zorn am vollkommen falschen Ort.

Abgeblitzt.

Wo ist dieser Mann stark? Nach außen jedenfalls

nicht, seine gar nicht mal unbegründeten

Anwürfe prallen am fremden Senior einfach

ab – die anderen bleiben desinteressiert. Die

Leute sind erheitert, ein schimpfender Rohrspatz

spielt Männlein. Er kann mit seiner unbestritten

korrekten Kritik nicht überzeugen.

Dazu alternativ wäre gewesen, selbst einen

beherzten Schritt vorwärts und leise klar zu

machen, dass hier bitte nicht zu drängeln sei.

Schließlich hätte er bei weiterem Schieben

darauf hinweisen können, dass es so nicht

schneller geht und aktuell aus gutem Grund

verkehrt ist. Möglicherweise wäre der Senior

als unbelehrbar senil eingestuft worden, und

es hätten sich noch Unterstützer gefunden,

ihn kollektiv zurecht zu weisen.

Vielleicht einfach pubertär verspätetes Üben,

mal auf den Putz zu hauen?

Das wäre doch prima! Interessant ist an der

Szene, dass man weiter denken kann: die Beiden

sind sich fremd, werden es, weil es eine

Urlaubsbegegnung ist, auch bleiben. Das ist

kaum der Nachbar, den man jeden Morgen

trifft und gewohnheitsmäßig durch Drohgebärden

dominieren kann. Darum bleibt es interessant,

was ich zu erwarten hätte, wäre ich

sein kleines Kind, und dieser Mann hätte die

Macht über mich als Erzieher und Vater. Das

habe ich gedacht! Wenn Menschen sich ausprobieren,

können sie besser werden. Wenn

wir uns nur wiederholen, sind wir normal wie

alle. Sich selbst verrücken können, bedeutet

innere Kräfte gewähren lassen und ihnen

schließlich eine neue Richtung zu geben.

Wer hat die Macht, den schmerzenden Rücken

als Teil der eigenen Struktur wirkungsvoll

anzuschnauzen, dass dieser endlich normal

funktioniere, seinen deprimierten Geist

durch Alkohol auf Linie zu bringen oder den

Marathon zu gewinnen, weil er sich ein lahmes

Bein im vollen Lauf wegschneidet?

Wer kann seine Kinder stark machen, indem

er die Größe seines Erwachsenseins missbraucht

und doch vor jedem, fremden, älteren

Zeitgenossen einknickt, der einfach gelassen

standhalten kann, wenn er vom unreifen

Windbeutel angequakt wird?

Die Fähigkeit ein lautes Wort zu

erheben, ist notwendig, aber das

bei wenig Erfolg versprechenden

Gelegenheiten zu tun, sinnlos.

Die Gewohnheit andere regelmäßig

anzuzeigen, wegen allerlei

Regelverstoß, Ziele auf Kosten

der eigenen Gesundheit oder zu

Lasten der Familie zu erreichen,

wird als eitles Wichtignehmen

schließlich zum Scheitern führen.

Es sei denn, das umgebende

System hofiert und stützt dieses

Verhalten: Dann wäre die Gesellschaft

insgesamt krank und

böse, und meine Erfahrungen

haben das nicht bestätigt. Nur

in einem grundsätzlich bösen

Staat können armselige Mitläufer

selbst zu Bestien werden wie

der irre Anführer.

Die unterschiedlichen psychischen

Krankheiten sind gleichbedeutend

mit sozialen Problemen.

Es ist die Furcht vor anderen

Menschen, Unfähigkeit sich gegen

Kritik abzugrenzen und ein

Mangel an Geduld, sich mit der

jeweiligen Existenz abzufinden,

bis eine Verbesserung durch Lernen

und Aufstieg in der Gesellschaft

erreichbar sind.

Selbstbewusstsein fehlt.

Der Gang zum Arzt ist oft kontraproduktiv,

weil ein selbstbewusster

Mensch vergleichsweise

unabhängig ist und Therapie dieses Ziel in

der Regel nicht erreicht. Behandelt zu werden,

bedeutet abhängig zu sein. Dazu kommt

das Stigma. Die Erkrankung ist (darum das

Beispiel der undemokratischen Staaten und

die Furcht vor dem Existenz vernichtenden

Chaos) im Grunde nur der Versuch, das eigene

System auf eine gesunde Basis zu stellen.

Wenn die verschiedenen Wünsche, Träume

und realistische Ziele des Menschen im Einklang

sind (vergleichbar mit den verschiedenen

Individuen im gesunden Staat), ist das

Ziel selbstbewusster gesunder Existenz insgesamt

erreicht. So viele Menschen quälen

sich darin, normal sein zu müssen wie andere

und verfehlen ihre individuelle Freiheit. Sie

sind es gewohnt, sich selbst fertig zu machen,

unterdrücken Schwächere (oder ihre Kinder),

die von ihnen abhängig sind. Manche wollen

irgendwann sein wie ihre Vorbilder, die zeigen:

Es geht auch anders!

Schließlich zu erkranken, ist so gesehen eine

Chance.

Es hat sich gezeigt, dass es schwierig ist,

effektiv Hilfe zu bekommen, wenn wir psychisch

nicht auf der Höhe sind. Wir müssen

selbst gesunde Intelligenz entwickeln, und es

hat sich bestätigt, dass ein kranker Kopf das

Ergebnis einer undurchsichtigen und missbräuchlichen,

verschworenen Umgebung ist

– und dennoch ist es möglich für den Organismus,

Wege zu finden, die auf intelligente

Weise in eine gesunde Umgebung der Solidarität

führen. Bei uns zuhause im Rechtsstaat

mit guten Argumenten funktioniert es.

Es dauert aber viel zu lang.

:)

Aug 24, 2020 - Mein Russland 70 [Seite 67 bis 70]


Mehr als nur wahr ist der eigene Himmel

Aug 27, 2020

Jetzt tauchte er wieder auf, der Begriff: „Alternative

Fakten“, als die Trump Vertraute und

Sprecherin des Weißen Hauses überraschend

von ihrem Amt zurückgetreten ist.

„Washington – Kellyanne Conway tritt nur

einen Tag vor dem Beginn des Parteitags

der US-Republikaner zurück. Conway ist eine

hochrangige Beraterin von Präsident Donald

Trump. Die Juristin aus New Jersey erlangte

Anfang 2017 auch international große

Bekanntheit, als sie versuchte, Trumps Unwahrheiten

einfach zu „alternativen Fakten“

erklären. „Alternative Fakten“ wurde 2017 in

Deutschland und Österreich zum Unwort des

Jahres gekürt.“ (Merkur, 25.08.2020).

Die nachvollziehbare Empörung über die

skurrile Formulierung ist das eine. Zu begreifen,

dass es mehrere Wahrheiten schon deswegen

gibt, weil niemand im Besitz der einen

allumfassenden Realität ist und nur korrigieren

kann, was zu beweisen ist, das andere. Es

ist nicht leicht einzusehen, sich getäuscht zu

haben, in Zukunft täuschen wird und keine

Chance hat, Antwort auf brennende Fragen

der eigenen Geschichte zu bekommen.

Ein Geschenk, der Person zu begegnen, die

uns (das) verrät …

Eine Erfahrung ist wie ein Schatz. Wenn ich

tauche, erlebe ich in jedem Fall was, na klar.

Wenn ich dabei aber einen Eimer mit Goldmünzen

fische, nehme ich nicht nur die Erinnerung

an das faszinierende Unterwassererlebnis

mit, sondern einige echte Dublonen.

Das ist ein Fakt, alternativlos und unbestritten

harte Realität. Ich kann auf die Goldmünzen

beißen, wie der Cowboy im Film und sie

klimpernd durch die Hände gleiten lassen.

Wenn ich frage, ob ich geliebt werde (sogar

bei Fragen, ob ich selbst liebe), wie intelligent

oder faul ich oder jemand anderes sei,

kann es keine vergleichbar harte Antwort

geben. Aber eine Erfahrung bedeutet, auch

wenn das genauso ein intellektueller Begriff

ist, viel mehr als ein

Erlebnis. Erfahrung ist allgemein.

Aus Erlebnissen erwächst

eine Formel, bereit

in anderen Fällen Lösungen

anzubieten, die sonst

unkalkulierbar blieben. Was

ich selbst weiß und eigenhändig

prüfe, ist mein Teil

Wahrheit.

Zitat: „Nach der Amtseinführung

im Januar hatte

Trump-Pressesprecher Sean

Spicer auf Geheiß des Präsidenten

verkündet, bei

der Amtseinführung seien

mehr Menschen anwesend gewesen als bei

jener von Barack Obama. Aber weder Luftaufnahmen

noch die Zählungen im Personennahverkehr

in Washington bestätigten die

Aussage. Doch Trump-Beraterin Conway hielt

dagegen: „Sean Spicer hat alternative Fakten

dargestellt.“ Es gebe kein Verfahren, um

Menschenmengen sicher zu quantifizieren.

Seitdem ist der Begriff alternative Fakten zu

einem Synonym für gefühlte Wahrheiten und

falsche Behauptungen geworden.“ (Frankfurter

Allgemeine, Anna Friedrich, 09.08.2017).

Klar, dass bei der Amtseinführung von Donald

Trump nicht so viele Menschen waren

wie bei seinem Vorgänger Barack Obama.

Das ist durch Videos der Nachrichtensendungen

belegt. Oder sagen wir mal so: auf

den Aufnahmen, die wir zu sehen bekommen,

ist es so. Das Interessante ist, dass Trump so

oft einfach zu widerlegen ist und trotzdem

kein Gegenkandidat für das Präsidentenamt

bereitsteht, der ganz eindeutig die Wahl gewinnen

wird. Nicht nur in den Vereinigten

Staaten, die Unwahrheit öffentlich zu machen,

bedeutet zunächst nicht mehr als das.

Auch im Fall des mutmaßlich vergifteten Regimekritikers

in Russland: Trotz fortdauernder

Anschuldigungen gegen den russischen

Präsidenten ist zweifelhaft, ob Nawalny ein

guter Präsident für Russland wäre und ob er

gewählt würde.

Im typischen Krimi scheint der Hergang der

Ereignisse am Ende klar. In der Realität gehen

die Geschichten aber weiter. Nicht nur,

dass findige Verteidiger den Angeklagten vor

langen Strafen schützen können, zur Empörung

der Boulevardpresse kommt es vor, dass

Menschen mangels Beweis freigesprochen

werden.

Alternative Fakten sind nichts Neues.

Es ist viel mehr so, dass wir uns über diesen

treffenden Ausdruck freuen sollten, führt er

uns doch auf zupackende Weise vor Augen,

wie unsicher unsere Wirklichkeit ist. Die

Wahrheit ist abhängig von sozialer Stärke

und der Fähigkeit, gute Argumente

zu liefern. Wie einfach es ist, sich zu empören,

aber wie schwierig, an eine verantwortungsvolle

Position zu gelangen

und diesen Job anschließend gut zu machen,

zeigt der Begriff. Menschen erfassen

nur einen Ausschnitt ihrer Realität.

Auch wenn es eindeutig scheint, dass

Trump im Fall der Größe der Menschenmasse

gelogen hat, bleibt das faszinierende

Phänomen der Fake-News ein

Teil unserer modernen Realität. Obwohl

überall Kameras Begebenheiten festhalten

und wir deswegen annehmen

könnten, Sicherheit zu bekommen, wie

etwas gewesen ist, schafft das Medium

Video auch zweifelhaftes Material heran

und Unklarheit, wo es keine geben

sollte. Wer war bei der Amtseinführung

des Präsidenten vor Ort und kann sagen,

er wüsste wie es war, habe das selbst

gezählt?

Der aktuelle Wetterbericht für Schleswig-Holstein:

„Heute Vormittag wechselnd

bewölkt mit einzelnen Schauern.

Nachmittags zunehmend trocken mit

längeren Aufheiterungen bei kühlen

18 bis 19 Grad. Anfangs mäßiger, an der

See frischer bis starker und in Böen teils

stürmischer Nordwestwind, abflauend.“

(DWD, 27.08.2020)

Was sind kühle 18 Grad?

Mir tut weh, wenn mir jemand persönlich

Schaden zufügt, ich belogen werde,

und das ist schon vorgekommen. Ich

kann mich zur Wehr setzen, wenn mich

kein schlechtes Gewissen plagt, es mir

gelingt, mich abzugrenzen, Gegner ins Leere

laufen zu lassen. Am meisten wehgetan hat

immer, Kränkungen hinnehmen zu müssen,

weil Mittel gefehlt haben, die Fehler eindeutig

bei den anderen zu sehen und die

Kraft, Anschuldigungen zurückzuweisen. Ich

kann damit leben, auf einiges was gut wär’

zu verzichten – Empörung? Die breite Brust

Aug 27, 2020 - Mehr als nur wahr ist der eigene Himmel 71 [Seite 71 bis 72]


zu haben, von „Alternativen Fakten“ zu reden,

ändert nicht, dass etwa die Hälfte der Amerikaner

darin Stärke sieht und keine Lüge. Sie

haben Donald Trump gewählt und werden es

wieder tun.

Gelesen, als es neu war: „Hendrie Weisinger,

Kreative Kritik: mit negativen Werturteilen

positiv umgehen“, Heyne 1991). Das

war auf einer Segelyacht Teil der Bordbibliothek.

Ich war für zwei Monate

in der Karibik segeln und nicht wenig

überrascht, um nicht zu sagen persönlich

angegriffen, als die Tante meines

langjährigen Freundes, die Ehefrau

meines Skippers auf der „Capella“, mir

dieses Buch mit dem Hinweis „natürlich

gebe es mehrere Wahrheiten“,

empfahl.

Getäuscht zu werden ist das eine, und

es zu bemerken tut weh. Andererseits:

Das hat den Vorteil, in den Besitz einer

neuen, erweiterten Wirklichkeit zu gelangen

Ich finde: Ein Stück der Wahrheit zu kennen

ist (besser als ein Stück vom Mond zu kaufen

und) fast so schön, wie ein Stück Himmel zu

besitzen.

:)

Aug 27, 2020 - Mehr als nur wahr ist der eigene Himmel 72 [Seite 71 bis 72]


Ocean Cancel Culture

Sep 13, 2020

Ein nicht verzeihlicher Fehler wurde bekannt,

das geht gar nicht. Schlussmachen,

sogar bevor eine Beziehung überhaupt erst

beginnt? Auftritt abgesagt, die Veranstaltung

findet ohne dich statt. Ausstellung

gestrichen, Absender geblockt: „Du bist

hier nicht erwünscht.“ Sich zu trennen, ist

das Ziehen einer Grenze; normalerweise

beenden wir eine Beziehung auf irgendeine

Art, und das ist nicht grundsätzlich

verkehrt. Wenn wir nicht länger mitgehen

wollen, machen wir Schluss. Das ist unser

gutes Recht. Spätestens, wenn wir dermaßen

bedrängt werden, dass es unsere Gesundheit

angreift, müssen wir gehen und

einen Schlussstrich ziehen. Einen Vertrag

kann man kündigen.

# Als Cancel Culture wird ein systematischer

Boykott von Personen oder Organisationen

bezeichnet, denen beleidigende

oder diskriminierende Aussagen bzw.

Handlungen vorgeworfen werden. Wegen

der ihr unterstellten gravierenden Auswirkungen

ist sie durchaus ambivalent

und heftig umstritten. (Wikipedia).

Zunächst fanden wir dich toll, aber nun wissen

wir, wie du wirklich bist – so etwa.

Wirklich? Schlussmachen; wenn die Begründung

der anderen Seite gegenüber ausbleibt,

die Kündigung nicht gemäß verabredeter

Regeln erfolgt oder nicht nachvollziehbar

für den Partner ist, wird ein Bruch der Beziehungen

zuverlässig Unverständnis, Zorn

oder rechtliche Schritte heraufbeschwören.

Aggression ist die Regel, wenn Erwartungen

enttäuscht werden. Je nebulöser das Ende,

desto heftiger das Unverständnis. Es kann

passieren, dass eine Absage dem Gekränkten

zu kreativsten Verbalisierungen, Produktion

ästhetischer Druckmittel anregt. Diese Lautmeldungen

werden solidarische Mitstreiter

auf den Plan rufen und eine neue, bessere

Verbindung oder die Rücknahme einer Kündigung

kann gelingen: Die neue Wirklichkeit

ist größer.

Ein Bumerang ist Cancel Culture immer dann,

wenn nicht nur der Geschasste den Bruch

nicht nachvollziehen kann, sondern sich

leicht andere finden, denen es genauso geht.

Es kommt darauf an, ob die Umbebung Mobbing

aus reiner Bosheit darin erkennt und

die Schuld umgekehrt eher beim kündigenden

Partner, Veranstalter sieht. Wenn etwa

vorausschauende Feigheit offensichtlich der

Grund gewesen ist: ein kantiger Mitmensch

könnte Probleme machen? Nur wenn schließlich

klar wird: Nein – mit demjenigen geht’s

auch wirklich gar nicht – ist sein Schicksal

besiegelt.

Wenn Kinder erwachsen werden, ist der Bruch

mit dem Elternhaus insofern erwünscht, als

dass der Nachwuchs nun bitte eigene Wege

gehe. Ein befristeter Vertrag. Das setzt voraus,

dass Erwachsensein in der üblichen Zeit

stattgefunden hat und das Kind in der Lage

ist, seine Existenz eigenverantwortlich zu

gestalten und finanzieren. Sich trennen zu

können, ist eine Fähigkeit. Wenn wir einander

gegenüberstehen, können wir uns sagen,

dass es zu Ende ist. Es geht am Telefon, per

Brief, auch digital. Probleme entstehen, wenn

Menschen wie eingeschlossen in ihrem Auto

dem anderen Fahrer zeigen wollen, dass etwas

nicht stimmt. Damit Kommunikation

funktioniert, sollte sie nachvollziehbar sein,

und je weniger zwischen uns steht, desto

klarer kommt die Botschaft an. Nun wissen

wir alle, dass das in der Regel Schwierigkeiten

macht. Wenn ich meine Ansicht „es ginge

nicht (länger) zusammen mit uns“ kommunizieren

möchte, ist der Wunsch nach einer Art

Scheibe dazwischen, die nur einseitige Kommunikation

möglich macht, und zwar von mir

weg, nachvollziehbar. Irgendwann beruhigt

sich die Sache, schmerzhaft ist es; schließlich

kehrt Ruhe ein.

Unter Umständen ist die Schuldfrage,

woran es liegt, sich zu trennen, auch im

Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit

begründet. Dann ist eine Trennung noch

belastender, weil Schuldgefühle das an

sich klare Empfinden „ich muss da raus“

trüben. Was ist, wenn sich zu trennen beinahe

unmöglich ist? Falls ich mit einem

Schiff unterwegs bin und mitten auf dem

Meer, ist es kaum möglich aus dem Projekt

auszusteigen.

Zur Zeit kommt Seefahrerromantik auf.

Die „Peking“, eine alte Viermastbark der

Reederei Laisz, kommt als Museumsschiff

in ihren ursprünglichen Heimathafen

Hamburg zurück. Ein großes Spektakel in

allen Nachrichten, und schön restauriert

und sauber angemalt ist das Schiff wunderbar

anzuschauen, nachdem es in Wewelsfleth

monatelang auf Vordermann

gebracht wurde.

Schiffe fliegen ja nicht (außer dem

„fliegenden Holländer“ vielleicht), sie

schwimmen. Zu schwimmen bedeutet

aber weniger fest mit der „Mutter Erde“

verbunden zu sein – und dadurch dem

„Vater“ im Himmel ein wenig näher? Erst

im Sturm bemerken Menschen in einem

Haus die Bewegung, die der Wind ausübt.

Auf dem Wasser treibt oder segelt man

schon bei einem leichten Hauch davon.

Damit ein Schiff gut am Ende einer Reise

ankommt, gehört es dazu, im Hafen

sicher festzumachen oder auf Reede zu

ankern. So eine feste Verbindung zum

Land bedeutet, dass das Schiff immer noch

schwimmt und sich ein klein wenig bewegt.

Nur im Dock zur Reparatur (wenn es kein

Schwimmdock ist) oder über eine Slip auf das

Werftgelände hochgezogen, wird das Schiff so

unverrückbar mit dem Land verbunden wie

ein Haus. Aktuell: Das Forschungsschiff „Polarstern“

treibt fest eingefroren in der Arktis,

die Mannschaft spaziert auf eigener Scholle

drumherum, und auch damals schon haben

wagemutige Abenteurer mit dem Segelschiff

sich am Pol eine feste Bleibe geschaffen für

ihre Erkundungen. Erst wenn die Natur das

Schiff wieder freigibt, können die Mutigen

diese Verbindung lösen. Ein Vertrag mit der

Kälte, der nur einseitig gekündigt werden

kann, immerhin vorausschauend befristet,

durch Jahreszeit und bekannte Drift.

Ein Mensch, der eine Straße entlang geht,

löst sich mit jedem Schritt vom Boden und

verankert den Fuß im nächsten Moment am

erreichbaren Platz. Je nach Alter und Geschick

ist das eine mehr oder weniger sichere

und elegante Sache, die wir gelernt haben.

Den Fuß zu heben, bedeutet sich vom Boden

zu trennen, es kostet ein wenig Anstrengung

gegen die Schwerkraft loszukommen, und

wir canceln die Verbindung mit Mutter Erde

wieder, ohne groß darüber nachzudenken.

Wir kommen ja sofort zurück und wieder

an, mit dem nächsten Schritt. Zu begreifen,

dass wir hier nicht wegkönnen wie ein Vogel

(und selbst die Vögel können die Atmosphäre

nicht verlassen), ist ein Teil unseres realen

Selbstverständnisses. Dass wir uns schwerfällig

herumschleppen, weil wir zu viel essen,

schwanken, weil wir immer betrunken

sind oder schlicht gewohnheitsmäßig eine

schlechte Haltung haben, die uns schließlich

zwingt so „deppert“ zu latschen, muss ja nicht

sein.

Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 73 [Seite 73 bis 81]


Zu begreifen, dass zu leben bedeutet, an die

Erde gebunden zu sein, eröffnet die Möglichkeiten

zu erforschen, wie fest das sein soll.

„Cancel Culture“ bedeutet anders interpretiert:

Der Kulturmensch fand zahlreiche Methoden

zivilisiert und technisiert diese unvermeidliche

Bindung durch die Schwerkraft

zu nutzen, die Bremsen zu lösen und nun zu

gleiten. Mit einem elektrischen Fahrrad noch

ein wenig zügiger und ohne sich anzustrengen

unterwegs zu sein, ist ein Boom. Es hat

vornehmlich Senioren gepackt, die nun mit

einem tollen Helm auf dem Kopf abdüsen.

Sie radeln im festen Glauben, damit sei das

eine sichere Sache. Mit fixiertem Blick und

starr gehaltenem Kopf, ausgestattet wie für

ein ganz besonderes, modernes Abenteuer,

tragen sie vorsichtshalber eine gelbe Weste.

Ein Rückblickspiegel ist am Lenker montiert.

Eine bunte, bombige Rakete im fortgeschrittenen

Rentenalter donnert elektrisch vorbei.

Ständig müssen sie klingeln, das heißt:

„Platz!“ Die sind nicht leicht zu stoppen und

haben recht. Sie werden die Erfahrung machen,

dass am Ende der Reise noch ein Bein

sicher an den Grund gesetzt werden muss. So

viel Sportlichkeit müssen wir selbst mitbringen,

ankern quasi – oder einen Ampelmast

ergreifen, wenn das rote Licht zum Halten

zwingt.

Dass die „Peking“ jetzt für immer fest als Museumsschiff

im Hamburger Hafen „vor Anker“

ginge, schreibt eine Zeitung. Die haben es

immer noch nicht gelernt, diese Journalisten.

Sie fahren Auto und landen es in der Garage?

Das Flugzeug landet, das Auto parkt, das

Schiff macht fest. Es ankert nicht, wenn es

am Kai festgemacht hat. Nur im schlimmsten

Sturm wird der Kapitän einen Anker zusätzlich

nach Luv ausbringen, damit der Abstand

zur Pier reguliert werden kann, falls der Wind

den Rumpf dagegen drückt.

Ich bin von klein auf mit Schiffen vertraut und

segelnd auf der Elbe unterwegs. Zu Pfingsten

lag der Großsegler noch am Kai der Peters-

Werft in der Stör, und wir sind mit unserer Jolle

hingesegelt, um das Schiff aus der Nähe in

Augenschein zu nehmen. Anschließend ging

unser langes Segelwochenende noch weiter,

und wie es beim Segeln so ist: Nicht alles gelingt.

Wir waren mit einer ganzen Reihe von

Elb-H-Jollen unterwegs. Es war recht windig,

und auf dem Weg nach Haseldorf blieben wir

im kleinen Priel, in den flott die erste Flut hineinströmte,

stecken.

Die Schwierigkeit war der nördliche Wind,

der uns zwang im gewundenen, schmalen

Priel zu kreuzen, auf einer Fahrwasserbreite,

die kaum mehr als die Länge des Bootes hatte.

Unsere durch das Reff verkleinerte Segelfläche,

die der Jolle eine im Vergleich größere

Vorsegelfläche als gewöhnlich bescherte,

ließ das Schiff in der Wende nicht so freudig

drehen wie sonst. Und natürlich: die geringe

Wassertiefe. Bernd machte es vor. Blieb man

hängen, hatte die Mannschaft mit aller Kraft

zu paddeln, damit die Fahrt nicht verloren

ging. Der Steuermann musste das Schwert

hochreißen, mit dem die Jolle steckengeblieben

war. Und dann sollte der Vorschoter auch

noch geistesgegenwärtig die Fock back halten,

damit das Boot wieder in den Kanal zurück

drehte. „Siehst du!“ sagte ich zu meiner

Mitseglerin: „So machen wir es auch, wenn

es uns passiert“, als den anderen voraus das

kaum zu vermeidende Malheur geschah. Wenige

Augenblicke später machte ich tatsächlich

den Fehler, fuhr zu weit an die Kante an

Backbord, und wir stoppten abrupt, als unser

Schwert im Schlick schrammte. „Halte

die Fock back!“ rief ich, während ich am

Schwertfall riss, die Pinne nach Backbord

stieß, um in das tiefe Wasser steuerbords

zurückzugelangen. Aber das Ganze nahm

eine fatale Wendung, buchstäblich – wir

drehten schwungvoll noch weiter nach

Lee, und als ich begriff wieso, schrie ich

verzweifelt: „Nicht auf dieser Seite!“ aber

es war zu spät. Die guten Willens an Steuerbord

backgehaltene Fock besiegelte

unser Schicksal. Wir schoben backbordseiteitig

schwungvoll in den Schlickberg,

direkt neben einer Pricke, die noch hoch

im Modder stand. So wenig war es erst

aufgelaufen. Dann blieb, obwohl wir einiges

versuchten, freizukommen, das ganze

Manöver verkorkster Mist.

Wir steckten vorn fest. Das reichlich aufgefierte

Großsegel stand trotzdem gut

voll, die Fock knatterte im frischen Nordost,

und die nach Haseldorf einströmende

Flut drehte die Jolle achtern nach Luv, bis

wir wirklich quer mit satt stehenden Segeln

und dem Steven vorn festgesteckt,

hilflos und hoffnungslos barrikadiert dalagen.

Das Ruder gab dem Wasser achtern

einen hervorragenden Angriffspunkt. Unser

Großsegel konnten wir nicht weiter auffieren,

der achtern zupackende Strom hatte uns

nun so weit gedreht, dass wir raumschots mit

der Spitze des Bootes in den Schlick bohrten.

Nahm ich’s Schwert höher, glitten wir

einige Zentimeter voraus und noch weiter in

den Matsch. Ich nahm das Ruder hoch und

legte die Pinne ganz nach Backbord. Es änderte

gar nichts. Inzwischen sah es fast aus,

als hätte das Schiff in diese Richtung gedreht

beschlossen, eigenmächtig zurückzufahren.

Dafür, und um gar zu Halsen, damit

eine komplette Drehung gelänge, reichte die

verflixte Zwickmühle, in die wir geraten waren,

nicht. Das Boot saß fest! Wir paddelten

blöde rum. Nahm ich das Großsegel dicht, um

etwa eine Drehung in die richtige Richtung

zu unterstützen, begann die Jolle stattdessen

mit neuem Druck den Schlickwall vor uns

zu erklimmen und machte sich auf den Weg,

quer weg vom Priel auf das hohe, matschige

Land zu gleiten. Wir probierten von der Backbordseite

aus nun mit aller Kraft das Schiff in

den Wind zu drehen. Ich nahm das Schwert

abermals höher, und das brachte uns wieder

nur weiter rauf, auf den dämlichen, grauen

Schlickwall. Es half nichts, wir nahmen alle

Segel weg, und fanden es dann im Abendlicht

gar nicht mehr so windig, als das Knattern

der Fock aufgehört hatte. Es war einfach, die

Riemen unter dem Vordeck herauszuklauben

und unser Boot nur kleine hundert Meter bis

in das flache Becken des verwunschenen

Elbhafens zu pullen. Wir wurden von denen,

die bereits nach einem Liegeplatz stakten,

mit ihren Paddeln den schlickigen Hafen umgruben,

amüsiert empfangen und durften die

Geschichte auch noch den anderen erzählen,

die draußen eine Weile gewartet hatten, bis

das Wasser gestiegen war und man komfortabel

hineinkreuzen konnte.

Was tun, wenn der Kapitän den Fehler macht;

fremdschämen? Typischerweise sehen Steuerleute

nicht gern ein, dass immer sie es sind,

die die Fehler machen. Schon der legendäre

Manfred Curry, der Regatta-Profi, wusste:

„Schimpfe nicht auf deine Mannschaft,

hättest du sie halt besser trainiert!“

Es gibt fatale Schilderungen, was es

bedeutet sein Schiff und den Kapitän,

der den Kahn ins Unglück navigiert,

nicht verlassen zu können. „Titanic“ ist

so eine Geschichte. Diese Reise konnte

niemand mehr „canceln“. „Rette sich

wer kann“, hieß es, als das Schiff mit

hochaufragendem Heck im Eiswasser

trieb, bis zum unvermeidlichen Ende.

Misslungene Manöver des Schiffsführers,

die dann alle mittragen; es gibt

Schilderungen, die illustrieren, wie das

Leben an Bord zur Zeit frachtfahrender

Segelschiffe war.

Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 74 [Seite 73 bis 81]


Ein (amüsantes) Zitat dazu, aus einem authentischen

Buch, das von einer Reise erzählt, die

mit der unscheinbaren, kleinen zweimastigen

Brigg „Pilgrim“ 1834 deutlich vor der Zeit der

bei uns aktuell so bekannten „Peking“ stattfand.

Es ist der Versuch unter Segeln, wie es

üblich war, einen Ankerplatz zwischen zahlreichen

anderen Schiffen, die dort bereits auf

einer Reede liegen, anzusteuern.

# „Fallen Anker“, rief der Kapitän. Ob wir nun

nicht genügend Kette

überholt hatten, ob der

Anker nicht fasste, oder

ob wir zuviel Fahrt voraus

machten, das Schiff kam

nicht zum Stehen. „Steck

Kette!“ schrie der Kapitän.

Wir steckten willig weg,

aber es half nichts. Bevor

wir den zweiten Anker fallen

lassen konnten, trieben

wir breitseits auf die „Lagoda“.

Ihre Besatzung war

gerade beim Frühstück,

nur der Koch sah uns herankommen. Er stürzte

aus der Kombüse heraus und rief Steuerleute

und Matrosen an Deck. Glücklicherweise

wurde nicht viel Schaden angerichtet. Ihr

Klüverbaum ging zwischen unserem Vor- und

Großmast durch, riss uns einen Teil des Wants

weg und drückte unsere Reling ein. Sie selbst

verlor ihren Stampfstock. Der Anprall brachte

uns zum Stehen. Da sie auf der „Lagoda“ Kette

steckten, kamen wir klar von ihr und ließen

den zweiten Anker fallen. Wir hatten aber

nun einmal Pech. Bevor es irgend jemand

gewahr wurde, trieben wir auf die „Loriotte“.

Der Kapitän gab nun rasch und aufgeregt

seine Befehle. Die Marssegel wurden vorgeschotet.

Er ließ die Segel abwechselnd bald

back kommen, bald wieder vollstehen, in

der Hoffnung, die Anker klar zu bekommen.

Aber alles war umsonst. In seiner Ratlosigkeit

setzte er sich auf die Reling und wartete

erst mal in Ruhe ab, was nun kommen sollte.

Dem Kapitän Nye rief er zu, dass er ihm jetzt

einen Besuch abstatten würde. Der Bug der

„Loriotte“ traf uns Steuerbord achtern und

brach uns einen Teil der Heckreling weg. Sie

selbst wurde nur wenig beschädigt. Durch

Stecken der Ketten kamen die Schiffe voneinander

frei. Ihre Anker waren aber zweifellos

unklar. Wir besetzten das Gangspill und

hievten und hievten – ohne Erfolg. Wir trieben

jetzt auf die „Ayacucho“ zu. Da legte von

dort ein Boot ab, das den Kapitän Wilson zu

uns herüber brachte. Wilson war ein kleiner,

lebhafter Mann von etwa fünfzig Jahren. Da

er ein tüchtiger Seemann und etwa zwanzig

Jahre älter war als unser Kapitän, so zögerte

er keinen Augenblick, Ratschläge zu erteilen.

Bald hatte er Thompson das Kommando aus

der Hand genommen. Er fing an, mit dem

Schiff zu manövrieren, wie er es für richtig

hielt. Einige Male versuchte Thompson sich

einzumischen. In freundlicher, väterlicher

Weise gab Wilson Gegenbefehle. „Oh nein,

Kapitän Thompson, Sie dürfen jetzt nicht den

Klüver setzen“, oder „Noch nicht hieven.“ Nun

gab es unser Kapitän auf. Wir waren mit dem

Kommandowechsel sehr zufrieden. Wilson

war ein freundlicher Mann und hatte eine

aufmunternde Art zu sprechen. Alles ging

soviel leichter. Nach zwei oder drei Stunden

beständigen Hievens bekamen wir einen

Anker hoch, an dem der kleine Buganker der

„Loriotte“ hing. Wir klärten unsern Anker, ließen

ihn dann wieder fallen und hievten den

anderen auf. „Nun werde ich Ihnen einen

guten Liegeplatz suchen“, sagte Kapitän Wilson.

Er setzte beide Marssegel und brachte

das Schiff in tadelloser Weise zu Anker, dem

Schuppen gegenüber, der für uns bestimmt

war. Dann erst verabschiedete er sich. Wir

machten die Segel fest und gingen zum

Frühstück. Bis zum Abend hatten wir damit

zu tun, die Boote auszusetzen und das Schiff

zu vermuren.

Abends fuhr der Kapitän auf die „Lagoda“. Als

er längsseits kam, nannte er seinen Namen.

Der Obersteuermann

rief zum Kapitän Bradshaw

hinunter: „Kapitän

Thompson kommt an

Bord.“ Die rauhe Stimme

Bradshaws war von

vorn bis achtern zu hören:

„Hat er seine Brigg

mit herübergebracht?“

Das ärgerte Thompson

nicht wenig. Bradshaws

Ausspruch war bald an

der ganzen Küste bekannt,

und Thompson

bekam ihn immer wieder zu hören, solange

er an der Küste war. (Richard H. Dana, Zwei

Jahre vor dem Mast – aus dem Kapitel „Ein

unmenschlicher Kapitän“, 1840).

Mit einigen wollen wir nichts zu tun haben

und trennen uns oder beginnen gar nicht

erst, etwas mit ihnen zu machen. Mit „solchen“

gehen wir auf keine Reise. Manchmal

ist gar nicht klar, was nicht stimmt, aber einige

erscheinen schon vom optischen Eindruck

aus der Ferne wie „daneben“. Wir nehmen hin,

dass viele Menschen sich auf eine eigentümliche

Weise verhalten und bewegen, solange

sie nicht wirklich stören. Als ich klein war, gab

es meiner Heimatstadt Wedel eine „komische“

Frau: „Das ist die Zilla“, sagte meine Oma als

Erklärung, wenn wir Kinder fragten, was mit

ihr sei. „Da kommt die Zilla-Tante“, sagten wir

schließlich genauso – ohne sie wirklich zu

kennen. Die war stets im langen Mantel (ihr

Haar hatte sie mit einem auffällig üppigen,

bunten Kopftuch bedeckt) unterwegs, schon

älter und ziemlich beleibt. Typischerweise

irgendwie abwesend, mit sich selbst redend,

seltsam aussehend und mit müdem Schritt

latschend, eventuell mit einem Fahrrad schiebend,

kam sie daher. Auf dem Bürgersteig war

sie schon von weitem erkennbar. Sie fütterte

die Tauben auf dem Gehweg, und das macht

man nicht: So habe ich es gelernt.

Später fiel mir ein Mann auf, der schon im Erwachsenenalter

zu sein schien. Er war stets in

Begleitung mit einer älteren Frau unterwegs,

ich vermute, dass es seine Mutter gewesen

ist. Über die Jahre, mit dem Älterwerden des

komischen Paares, änderte sich wenig am

infantil-folgsamen Erscheinungsbild des inzwischen

nicht mehr jungen Mannes. Er trug

nun Bart. Das konnte sein fliehendes Kinn

und den braven Ausdruck nicht erreichter

Männlichkeit kaum verbergen.

Gelegentlich begegne ich heute einem Mann,

dem es (möglicherweise) ähnlich geht. Er

scheint sich gar nicht daran zu stören, immer

noch der Mama zu folgen. Es gibt diese Paare

häufiger? Groß, beleibt und in forstfreudiger

Kleidung unterwegs, ist dieser Typ immer ein

wenig reichlich angezogen, auch wenn es

warm ist. Er sieht zunächst gemütlich und

zufrieden aus. Der tut bestimmt keiner Fliege

was zuleide: Ein gemütlicher Bär. Seine

Füße dreht er gut fünfundfierzig Grad aus

der Richtung, in die er gerade betont bedacht

stapft. Der fällt nicht um. Ein eitler Beau geht

anders. Der Mann trägt ebenfalls Bart, aber

es sieht nicht wirklich gut aus. Der Eindruck

des verzottelten Kumpels hält sich nicht bei

näherer Betrachtung. Lieber Abstand halten?

Eine alte Frau ist an seiner Seite, oft.

Das wird die Mutter sein? Man sieht

die beiden beim Einkaufen, und auch

allein fällt die seltsame Gestalt auf,

weil er irgendwie kein „richtiger“

Mann ist.

Ohne noch mehr ins Detail gehen zu

wollen, kann man sagen, dass beide,

der von damals und dieser hier, in

ihrer gesamten Erscheinung, obwohl

vollkommen verschieden im Typ,

doch auf die gleiche Art unreif und

eigenartig vom Bewegungsmuster

auftreten. Selbst wenn Mama einmal

nicht dabei ist, da stimmt was nicht,

das sieht man gleich. Eine unerlaubte

Einschätzung, die mir nicht zusteht,

natürlich. Es ist möglich, dass

hier keine Krankheit von wem auch

immer erkannt wird.

Wenn sich niemand dran stört, bleibt

es jedem selbst überlassen, was er

aus seinem Leben macht – denken

wir das?

Von meinem Kapitän und Schiff kann

ich mich trennen, wenn die Reise beendet

ist: Abgemustert. Aus einem

Vertrag oder einer Firma komme ich

raus, und eine Ehe kann geschieden

werden. Was, wenn ich nicht von

Mama loskomme? Für meinen Großvater

war es schwierig, einen eigenen Weg

zu gehen. Die Mama war in dieser Hinsicht

unproblematisch. Opa „Bur“, wie wir meinen

Urgroßvater nannten, den ich noch kennengelernt

habe, war das Problem. Der Vater von

Heinz war einfacher Volksschullehrer, und

sein Sohn sollte „was Besseres“ werden. Nach

Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 75 [Seite 73 bis 81]


dem Abitur hatte der Vater eine Position als

Oberstudienrat an einem Hamburger Gymnasium

im Visier, dahin sollte es gehen. Heinz

aber wollte „nach See zu“, und das passte dem

Vater nicht. Mein Opa hat sich durchgesetzt,

und als er schließlich Kapitänspatent hatte

war dann auch der Vater zufrieden. Heinz fuhr

als Dritter, Zweiter und auch als Erster Offizier

mit seinem A6-Patent, aber nicht als Kapitän.

Der Vater von meinem Vater hatte auch

Patent, aber nicht für „Große Fahrt“; er hat

Schlepper gefahren. Er sei ein hervorragender

Kapitän im Hafen gewesen, hieß es (wenn

mein lieber Erich da nicht übertrieben hat).

„Mit denn Sleper kann’s reknen un sriven“,

hätte „der Alte“ gesagt, und das sollte wohl

heißen, wie kunstvoll er bugsieren konnte.

In einem alten Klassiker aus dem reichhaltigen

Bücherschrank von meinem Großvater

(ich möge doch bitte nicht „Opa“ sagen)

Heinz ist vorn (mit der mir noch gut vertrauten

Handschrift) die Wohnadresse in Wedel

notiert; SVAOe steht drunter, und das ist ein

bekannter Segelverein. Es ist das Buch „Spiegel

der See“ von Conrad, und natürlich habe

ich es gelesen. Es enthält eine Geschichte,

die der von Dana ganz ähnlich ist. Seemann

Joseph Conrad sagt

dort auch etwas

über Kunst. Verbindende

Pinselstriche,

die meine

Vergangenheit, Segeln

und Bilder die

ich liebe, lebendig

werden lassen!

Der Steuermann

erzählt; er ist (wie

oft mein Großvater)

als Offizier verantwortungsvoll

angemustert, aber

sein Kapitän ist vom Reeder als Schiffsführer

eingesetzt und gibt die Anweisungen, wie alles

zu machen sei.

# Und ein Künstler ist ein Mann der Tat, ob

er nun schöpferisch tätig ist, Entdeckungen

macht oder den Ausweg aus einer schwierigen

Lage findet.

Die ganze Kunst anderer Meister, die

ich auch kannte, bestand im Vermeiden

jeder erdenklichen Schwierigkeit. Es

versteht sich von selbst, dass sie es in

ihrem Fach niemals zu großen Leistungen

brachten, aber verachten konnte

man sie deshalb nicht. Sie waren bescheiden,

sie kannten ihre Grenzen. Ihre

Lehrmeister hatten das heilige Feuer

nicht der Hut ihrer kalten, geschickten

Hände anvertraut. An einen dieser

Männer erinnere ich mich besonders

gut. Er ruht sich nun schon von der See

aus, die sein Temperament zur Kulisse

recht friedlicher Bilder gemacht hatte.

Nur ein einziges Mal versuchte er eine

verwegene Pinselführung, das war an

einem frühen Morgen bei stetiger Brise,

als wir in eine Reede einliefen, die

voller Schiffe lag. Aber er war bei der

Ausführung, die durchaus zur Kunst

hätte werden können, nicht ganz echt.

Er dachte an sich selbst, es verlangte

ihn nach dem billigen Ruhm einer auffälligen

theatralischen Leistung.

Als wir eine dunkle, bewaldete Landspitze

umsegelten, die sich in frischer Luft und

Sonnenschein badete, bekamen wir den Blick

auf eine Menge

Schiffe frei, die

vielleicht eine

halbe Meile voraus

vor Anker lagen.

Er rief mich

von meiner Station

vorn auf der

Back nach achtern,

drehte das

Doppelglas in

seinen braunen

Händen hin und

her und sagte:

„Sehen Sie dieses

große, schwere

Schiff mit den

weißen Untermasten? Ich will zwischen ihm

und dem Land ankern. Lassen Sie die Leute

klarstehen, dass sie auf den ersten Befehl

springen.“

Ich antwortete: „Ay, ay, Sir“, und glaubte wirklich,

das würde eine nette Vorstellung werden.

Wir rannten quer durch die Flotte in

glänzendem Stil darauflos.

Es muss allerlei

offene Mäuler

und hinter uns herstarrende

Augen an

Bord dieser Schiffe

gegeben haben –

es waren holländische,

englische,

dazwischen ein

paar amerikanische

und ein oder zwei

deutsche –, und sie

alle heißten um

acht Uhr ihre Flaggen,

als geschähe

es zu Ehren unserer Ankunft. Es würde auch

eine nette Vorstellung geworden sein, wenn

sie zustande gekommen wäre, aber leider

kam es nicht ganz dazu. Dieser bescheidene

Künstler mit seinen unbestrittenen Verdiensten

wurde durch eine selbstsüchtige Regung

seinem inneren Wesen untreu. Er tat seine

Kunst nicht um der Kunst, sondern um seiner

selbst willen, und ein elender Misserfolg war

die Strafe, die ihn für die größte aller Sünden

traf. Die Strafe hätte sogar noch schwerer

ausfallen können, aber zufälligerweise setzten

wir weder unser Schiff auf Strand, noch

rannten wir dem großen Schiff mit den weißgestrichenen

Untermasten ein großes Loch

in die Seite. Aber ein Wunder ist es, dass wir

nicht beide Anker samt den Ketten verloren,

denn man kann sich denken, dass ich nicht

lange fackelte, als er mir mit bebenden Lippen

und einer zitternden, ganz fremden Stimme

den Befehl „Fallen Anker!“ zurief. Ich ließ

sie beide mit einer Geschwindigkeit fallen,

über die ich heute noch staune. Niemals sind

die Anker eines gewöhnlichen Handelsschiffes

mit einer so wunderbaren Schneidigkeit

nach unten gegangen. Und die beiden hielten.

Ich hätte ihre rauhen, kalten Eisenflunken

vor Dankbarkeit küssen mögen, wenn sie

nicht unter zehn Faden Wasser in Schlick und

Mudd vergraben gelegen hätten. Im letzten

Augenblick ließen sie das Schiff aufdrehen;

zwar hatte der Klüverbaum einer holländischen

Brigg unser Besansegel durchspießt,

aber vor Schlimmerem blieben wir bewahrt.

Immerhin, verfehlt ist so gut wie verspielt.

Aber nicht in der Kunst. Der Meister murmelte

nachher kleinlaut: „Es wollte nicht rechtzeitig

anluven. Was kann mit dem Schiff nur

los gewesen sein?“ Ich antwortete nicht.

Doch die Antwort

war klar. Das Schiff

hatte die zeitweilige

Schwäche seines

Herrn gespürt.

Von allen lebenden

Geschöpfen

zu Wasser und zu

Lande lassen nur

die Schiffe sich

nicht von falschen

Vorspiegelungen

betören, lassen sie

allein sich von ihren

Meistern keine

schlechte Kunst

gefallen. (Joseph Conrad, Spiegel der See –

aus dem Kapitel „Die hohe Kunst“, 1906).

Conrad sieht im Schiff beinahe ein Lebewesen,

und das kann jeder, der schon ein wenig

mit Booten vertraut ist, sofort nachvollziehen.

Der Körper des Menschen sollte wie der

Rumpf eines Schiffes begriffen werden, und

unser Gehirn ist das Achterdeck oder die Brücke,

auf der Schiffsleitung und Kapitän die

Anweisungen geben, der Steuermann steht.

Manche glauben, dass eine psychische Erkrankung

therapiert werden kann, weil das

üblich ist.

Dabei wird gern ausgeblendet, dass nicht

etwa das Gehirn eines Patienten krank ist,

sondern ein ganzer Mensch. Wenn man einem

Kranken Dinge sagt, die ganz logisch

sind, finden sie

nicht den Widerhall

in seinem

Verstand, den wir

uns wünschen. Wir

sollten begreifen,

dass ein Mensch

mit Problemen nur

dann verbal trainiert

werden kann,

wenn sein Organismus

gesund

ist, wie etwa beim

Fußball, oder ein

Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 76 [Seite 73 bis 81]


Team in der Wirtschaft wird von einem

Unternehmensberater gecoacht. Das

kann gut funktionieren.

Wenn wir die Firma als ein System betrachten

oder das Team auf dem Spielfeld

in der Bundesliga, können wir einen

Bogen spannen, über die Besatzung auf

einer Rennyacht, die optimiert werden

kann, schneller mit dem Schiff zu sein,

und wir können den Körper eines Menschen

als System begreifen, der gesteuert

vom Gehirn auch eine Art Apparat ist,

unterwegs in Zeit und Raum. Die unfassbare

Größe unserer Welt können nur die

ausblenden, die das Ganze spüren und

diejenigen, die nichts merken. Der Rest

ist krank dazwischen.

Systeme im System, um das zu beschreiben

sollten wir die gut fassbaren Strukturen

nutzen und die schwer erklärbaren

Bereiche der Realität hinnehmen. Angefangen

beim großen Ganzen, bis zum

kleinen Menschengehirn und den Zellen,

finden sich beschreibbare Netze. Wenn

wir größer denken, heißt das nicht auf die

Erkenntnisse spezialisierter Forschung

zu verzichten. Es ist nötig zu verstehen,

dass Schubladen ohne Schrank keinen

Sinn machen und ein Schrank im Urwald

fehl am Platz ist. Warum wir leben, können

wir kaum wissenschaftlich erklären.

Im Interview mit Mario Adorf zu seinem

neunzigsten Geburtstag (aus dem Internet

kopiert) antwortet der Schauspieler

auf die Feststellung:

# „Der Gegenpol dazu wäre Gott. Aber an

den glauben Sie nicht, wie Sie mal gesagt

haben.“

Adorf: „Ich habe eigentlich gesagt, dass ich

nicht an den von den Religionen erfundenen

Gott glauben kann. Das heißt, den lieben

Gott, von dem viele Menschen glauben, dass

er auf irgendeine Art an ihrer Existenz teilhat,

auf sie Einfluss nimmt und die trostreiche

Aussicht auf eine Existenz nach dem Tod

bietet. Eben dieser Trost wird mir durch mein

Nichtglaubenkönnen nicht zuteil. Das heißt

aber nicht, dass ich ungläubig bin.“

„Sondern?“

Adorf: „Ich meinte vielmehr, dass ich an eine

unbegreifliche, unvorstellbare Kraft glaube,

die das Universum geschaffen hat, die so viel

größer ist, als dass sie sich um unsere winzige

Existenz kümmern könnte. Daher darf ich

die noch umfassender als Gott nennen.“

(Berliner Morgenpost, 07.09.2020, Rüdiger

Sturm).

Um einen Menschen zu optimieren, können

wir einen Spezialisten beauftragen, und da

wäre es doch sinnvoll, dem ganzen Menschen

gutes zu tun und nicht nur verbal Rat

zu erteilen. Es kann doch gar nicht sein, das

nur das Gehirn krank ist, bei einer der vielen

Störungen, die nicht unter die physischen

Krankheiten fallen. Das Gehirn steuert genauso

die organischen Funktionen als auch

die bewegende Muskulatur in den Beinen

und Armen.

Obwohl alle wissen, dass ein kaputtes Knie

nicht nur ein Schaden am Bein ist, sondern

den Betroffenen unglücklich macht (über

den Verlust einer Fähigkeit) und damit auch

seine Gefühle betroffen sind, blenden wir

das gern aus. Ein Geisteskranker fällt durch

eigentümliches Verhalten auf? Dann ist nicht

nur sein Verstand getrübt, sein Bewegungsmuster

wird ebenfalls gestört sein. Das ist

ausnahmslos der Fall (auch wenn es immer

heißt „er war vorher unauffällig“, nachdem es

zu einer psychischen Ausnahmetat gekommen

ist). Das sind Fehlurteile, wir sollten genauer

hinsehen:

# Bemühen Sie sich nicht, das Vergangene

zu vergessen; man kann, was war, nicht vergessen,

ohne zugleich auch sich selbst auszulöschen.

Man mag meinen, diese oder jene

unerwünschte Einzelheit vergessen zu haben,

aber irgendwo ist sie unserem Körper eingeprägt.

Und doch kann diese Erfahrung aus der

Vergangenheit, so schrecklich sie auch gewesen

sein mag, jetzt verwendet werden, um

Ihre Gegenwart zur Grundlage einer erfüllenderen

Zukunft zu machen. Was war, lässt sich

nicht ändern, wohl aber unsere Einstellung

dazu: unsere Art, es zu sehen, es zu

bewerten, damit umzugehen. Wenn

Sie gelernt haben, die Vergangenheit

zu akzeptieren, und Ihren Frieden gemacht

haben mit ihr, dann wird sie Sie

in Frieden lassen. (Moshe Feldenkrais

„Das starke Selbst“ – Vorwort, posthum

erschienen 1985 / Ein anderes,

lesenswertes Buch von Joachim Bauer,

in dem es darum geht, dass Beziehungen

und Lebensstile unsere Gene

steuern, diese mitnichten festgelegt

immer auf die selbe Art agieren, sagt

diese Weisheit im Titel: „Das Gedächtnis

des Körpers“ Piper, 2004).

Wenn wir andere Systeme, etwa Schulen, Firmen

oder Staaten betrachten, können wir die

Bewegungen der Menschen und ihre Motivationen

wie Ströme verstehen, die das Ganze

formen. Mobbing im Bereich der modernen

Cancel Culture führt uns vor Augen, wie einer

dem anderen weitersagt, was zu tun sei. Wie

etwa ein Veranstalter beschließt, eine Künstlerin

aus dem Programm zu werfen, nachdem

negative Beurteilungen bekannt wurden und

das ein Risiko für das Team bedeutet. Das

können wir auch innerhalb einer undemokratischen

Struktur feststellen, wenn etwa

eine Opposition die autoritäre Regierung so

massiv in Schwierigkeiten bringt, dass die

staatliche Ordnung in Gefahr ist; es werden

Gegenbewegungen mobil machen. Dann ist

es zunächst reine Bewertung, welche Seite

im Recht ist, bis eine neue Stabilität deutlich

macht, welches die stärksten Kräfte im Land

sind. Das ist dann das Rechtsverständnis dort.

Es wird sich immer von anderen unterscheiden.

Einige sind immer unfrei in jedem System.

Das Recht in Deutschland heute ist nicht

gleich dem Rechtsverständnis früher bei uns.

Selbst die Katholische Kirche ändert sich,

und ob Gott sich ändert?

„Ich bin stehengeblieben“, sagte mein Vater

gern (mit resigniertem Achselzucken),

wenn wir seine gelegentlich eigenwilligen

Ansichten hinterfragten, als könne er durch

seine Sicht eine Insel finden, in der es noch

wie früher ist. Es gibt bessere Methoden, die

Vergangenheit spürbar werden zu lassen und

trotzdem in der Gegenwart zu leben. Durch

intellektuellen Selbstbeschiss hat noch nie

jemand die Zeit angehalten. Aktive Bewegung,

Selbsterfahrung ist der handfeste Weg,

rauf und runter durch die Empfindungen von

damals bis in die Gegenwart zu navigieren

und die Ströme der Emotionen wie Gewässer

zu kartografieren, auszuloten und nicht hängenzubleiben

mit dem kleinen Schiffchen

unserer Bewusstheit, sondern alle Riffe im

Selbst nach und nach zu besuchen.

Immer entstehen Ströme aus kleinen Elementen

im System, die verschworen Druck in ihre

Richtung ausüben. Die Muskulatur im Körper

eines Menschen ist vergleichsweise ähnlich

unterwegs. Mit Spannung wird bewegt, was

bei weitem nicht nur zweckmäßiger Tätigkeit

genügt. Emotionen motivieren die Kraft

ebenfalls. Einzelteile im systemischen Verbund

schaffen Wellen, die verstanden werden

können wie die Meuterei auf einem Schiff

einerseits und die Bestrebungen der Leitung

andererseits. Sie finden ihre Entsprechung im

menschlichen Organismus. Wenn wir uns vorstellen,

dass Aktive im Körper unterwegs sind,

die Weisungen der Zentrale im Gehirn aus-

Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 77 [Seite 73 bis 81]


zuführen, können wir mental trainieren,

unseren Bewegungsapparat zu optimieren,

entspannen und rückwirkend wieder

Einfluss auf das Gehirn nehmen.

Das ist eine gute Möglichkeit, psychische

Probleme zu entzerren.

Ein bewusstes hin und her zwischen Körper

und Geist lehrt uns, dass keine Dämme

zwischen dem Gefühl und der Gegenwart

gemauert wurden, die Emotionen

aufstauen, die schließlich losbrechen. Da

ist kein dickes Fell, das der Verdrängung

gute Dienste leistet. Vielmehr sind Spannungen

der Muskulatur zu finden, wenn

wir lernen darauf zu achten. Ein Versuch

wie Vogel Strauß, als hielten wir uns die

Hände vor die Augen, wie ein Kind wenn

es ruft: „Ihr seht mich wohl nicht!“ sollte

dem Erwachsenen nicht genügen. Wenn

wir Scheuklappen und Staudämme im

Gehirn hätten, könnten wir uns blind

und taub gegen Gefahren einstellen. Das

hätte die Evolution wohl kaum erlaubt.

Bedingungen zu schaffen, mit denen wir

merken wovor wir Angst haben, ist klüger.

Wenn ich rücklings auf einem Behandlungstuhl

beim Zahnarzt an die Decke starre

und der Doktor sich mit sirrendem Bohrer

meinem aufgerissenem Mund nähert, hilft

es kaum, nach der attraktiven Helferin Ausschau

zu halten damit man(n) sich entspanne.

Während dicke Schaum- und Watterollen

den Mund verkeilen, der silber glänzende

Folterstift herangeführt wird, zieht sich mein

ganzer Körper spürbar zusammen. So steif

wie möglich machen; bis ich begreife: So

schlimm ist es (diesmal) nicht. Das sind die

einzigen realen Staudämme, hinter denen

wir Emotionen zurückhalten können. Wir

können die Muskulatur hart und fest machen.

Es ist etablierte Gewohnheit, vom Losbrechen

aufgestauter Aggressionen zu sprechen:

Nur Psychopharmaka können die Rezeptoren

im Gehirn mit einer Hülle ummanteln. Das ist

etwa so, wie den Briefkasten zuzukleben, anstelle

„Bitte keine Werbung“ auf den Deckel

zu schreiben.

Die Alltags-Maske gegen das Corona-Virus ist

auch eine Erfindung des Menschen in aktueller

Not. Wir können die Augen zum Schlafen

schließen, aber nicht zusätzlich die Ohren

wegklappen. Menschen, die eine dunkle Maske

zum Einschlafen benötigen oder Pfropfen

in die Ohren machen, sind krank. Wir können

unsere Hände dafür nehmen, die Ohren zuzuhalten,

wenn der Krankenwagen mit lautem

Martinshorn kommt, aber probieren Sie das

eine Nacht lang? Elefanten (ohne Schweißdrüsen)

wedeln mit ihren großen Ohren, um

sich den Kopf angenehm kühl zu machen:

Wer bei uns noch mit den Ohren wackeln

kann, darf im Fernsehen auftreten? Die Natur

ist flexibel, und ein gesunder Mensch kann

dem Zusteller, der es partout nicht begreift,

verbal noch nachhelfen bis bestimmte Sendungen

nicht mehr eingeworfen werden. Das

ist „Cancel Culture“.

Wenn es ein Problem mit dem Partner gibt,

sollte es gelingen sich zu trennen. Wenn das

Problem die Vergangenheit ist, kann das bedeuten,

sich von jemand trennen zu müssen,

den es früher in unserem Leben gab und der

Einfluss hatte. So eine Art Kapitän auf früherer

Reise hält unser Denken noch immer fest.

Wenn „Mama“ das Problem ist, kann jeder

Neuanfang mit einer Partnerin davon belastet

sein. Eine schöne Beschreibung, wie wir

festgehalten sind und nur mit Mut und Kreativität

die unvermeidlichen Probleme lösen

können, passend zu den bisherigen maritimen

Geschichten, findet sich bei „Hornblower“. (Es

ist eine Frau an Bord). Forester schreibt:

# Gleichmäßig kam die Kette ein. Die Schiffsjungen

mit den Stoppern folgten ihr bis zum

Luksüll und rannten eilig zurück, um die Kette

und das Kabelar abermals zu packen. Doch

das gleichmäßige Klank-klank des Spills

wurde immer langsamer und hörte schließlich

auf.

„Zu-gleich, ihr Bastarde! Zu-gleich!“ brüllte

Harrison. „Die Leute von der Back hierher!

Angefasst! … Zu-gleich!“

Jetzt drückten zwanzig Männer mehr gegen

die Spaken. Ihre vereinten Kräfte entlockten

dem Gangspill ein einziges feierliches: klank

„Zu-gleich! Gott verdamme euch … Zugleich!“

Häufiger klatschte Harrisons Rohrstock.

„Zu-gleich!!“

Ein Zittern durchlief das Schiff; das Spill

drehte sich plötzlich so schnell, dass alles

in einem Knäuel durcheinanderfiel. „Kabelar

gebrochen, Sir“, rief Gerard von der Back her.

„Anker ist unklar, glaube ich.“

„Himmeldonnerwetter!“ murmelte Hornblower.

Er wusste, dass die Frau, die da hinter

ihm in dem Liegestuhl ruhte, sich über die

Verlegenheit lustig machte, in die ihn ein

unklar gekommener Anker angesichts ganz

Lateinamerikas brachte. Er dachte aber nicht

daran, den Spaniern einen guten Anker nebst

Kette zu hinterlassen.

„Setzt die kleine Bugankerkette als Kabelar

auf“, schrie er. Der Befehl bedeutete für eine

ganze Anzahl Seeleute eine unerträglich heiße

und peinvolle Arbeit. Drunten im Kabelgatt

musste die Kette des kleinen Bugankers

hervorgezerrt und dann durch Menschenkraft

zum Gangspill hinaufgeschafft werden. Die

Flüche der Bootsmannsmaate hallten bis zur

Hütte herauf; die Deckoffiziere waren sich

der unwürdigen Lage ihres Schiffes ebenso

bewusst wie der Kommandant. Aus Furcht,

dem Blick der Lady Barbara zu begegnen,

konnte Hornblower nicht hastig auf und nieder

gehen, wie er eigentlich zu tun wünschte.

Er stand nur da und kochte vor Erbitterung.

Mit dem Taschentuch wischte er sich den

Schweiß vom Gesicht und vom Nacken.

„Kabelar ist klar, Sir!“ grölte Gerard.

„So viel Leute an die Spillspaken, wie Platz

dran haben, Mr. Harrison, sorgen Sie dafür,

dass sie sich ins Zeug legen!“

„Aye, aye, Sir!“

Terrum-tum, terrum-tum, rasselten die Trommeln.

„Zu-gleich, ihr Hundesöhne!“ rief Harrison

und: Klatsch, klatsch, klatsch, traf sein Rohrstock

die angespannten Rückenmuskeln.

Klank, machte das Spill; klank-klank-klank.

Hornblower fühlte, wie sich das Deck unter

seinen Füßen ein wenig neigte. Die Anstrengung

der Mannschaft drückte das Vorschiff

nieder, vermochte aber nicht den Anker aus

dem Grund zu reißen.

„Gottver …“, begann Hornblower halblaut,

doch ließ er den Satz unvollendet. Von den

fünfundfünfzig Flüchen, über die er verfügte,

wurde nicht ein einziger der gegenwärtigen

Lage gerecht.

„Stop!“ brüllte er, worauf die schwitzenden

Seeleute ihre schmerzenden Rücken entspannten.

Hornblower zupfte an seinem Kinn, als wolle

er es abreißen. Es blieb ihm nichts anderes

übrig, als über den Anker zu segeln, und das

war ein schwieriges Manöver, bei dem Masten

und Takelage zum Teufel gehen konnten,

ohne dass man vorher wusste, ob das Ganze

nicht in einer lächerlichen Blamage enden

würde. Bis jetzt konnten drüben in Panama

höchstens ein paar Fachleute über die peinliche

Lage der Fregatte im klaren sein, aber sowie

die Segel losgemacht wurden, richteten

sich von den Mauern der Stadt aus natürlich

unzählige Fernrohre auf die „Lydia“. (...).

Er sah zum Verklicker, der kleinen, ganz droben

am Mast wehenden Windfahne, hinauf,

und dann blickte er über die Seite ins Wasser.

Der Wind wehte quer zum Strom. Dieser

Umstand wenigstens war günstig. Ruhig erteilte

er seine Befehle, wobei er sehr darauf

bedacht war, seine Unruhe zu verbergen und

der Lady Barbara nach wie vor den Rücken

zuzukehren. (...).

Mit dem hart zu Bord liegenden Ruder kam

das Schiff ein wenig herum; das Vormarssegel

gleichfalls. Blitzschnell wurden Klüver

und Stagsegel gesetzt. Ein Zittern lief durchs

Schiff, die Fahrt wurde abgebremst, einen

Augenblick zögerte die Fregatte, dann aber

Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 78 [Seite 73 bis 81]


begann sie dicht am Winde langsam zwar,

doch wie erfreut, wieder Fahrt aufzunehmen;

diesmal vorwärts. Droben kam indessen auf

Hornblowers laute Befehle jedes Stück Leinwand

zum Tragen, das den Zug zu verstärken

vermochte. Das Gangspill klankte begeistert,

indessen Harrisons Leute im Kreise herumrannten

und die Kette wieder eingehievt

wurde.

Dem Kommandanten verblieben ein paar

Augenblicke zum Nachdenken. Schneller

glitt die „Lydia“ vorwärts. Gab er ihr nur die

geringste Gelegenheit dazu, so würde der

Zug der Ankerkette die Segel back schlagen

lassen und das Schiff stehenbleiben. Er fühlte

sein Herz klopfen, als er das Vormarssegel

beobachtete, um das erste Zeichen des Killens

abzufangen. Ein solches Flattern würde

bedeutet haben, dass der Wind von vorn einfiel.

Mit aller Gewalt musste sich Hornblower

zur Ruhe zwingen, damit seinen dem Rudergänger

erteilten Befehlen nichts anzumerken

war. Die Kette kam sehr schnell ein. Die

nächste Krise stand dicht bevor; entweder

wurde jetzt der Anker aus dem Grund gebrochen

oder die „Lydia“ entmastet. Hornblower

wartete noch einige Sekunden, dann schrie

er den Befehl zum Bergen sämtlicher Segel

hinaus.

Nun trug das eifrige, wenn auch peinvolle

Segelexerzieren seine Früchte, mit dem Bush

die Besatzung eingedrillt hatte. Die Untersegel,

Marssegel und Bramsegel verschwanden

während der wenigen, noch zur Verfügung

stehenden Augenblicke, und als das letzte

Stück Leinwand festgemacht war, drehte

Hornblower das Schiff in den Wind, um geradeswegs

auf den widerspenstigen Anker

zuzuhalten, wobei die „Lydia“ von der noch

vorhandenen Fahrt langsam vorwärts getrieben

wurde. Mit höchster Spannung lauschte

Hornblower dem Geräusch des Spills.

Klank – klank – klank – klank …

Harrison hetzte die Leute wie die Irrsinnigen

um das Gangspill herum.

Klank – klank – klank – klank …

Merklich verlangsamte das Schiff seine Fahrt.

Noch immer vermochte Hornblower nicht zu

sagen, ob alle diese Anstrengungen nicht

schimpflich mit einem Fehlschlag enden

würden.

Klank – klank – klank …

Und dann ein wilder Schrei von Harrisons

Lippen:

„Anker ist aus dem Grund, Sir!“

„Mr. Bush, lassen Sie alle Segel setzen“,

befahl der Kommandant. Bush gab sich

keine Mühe, die Bewunderung für ein so

glänzendes Beispiel seemännischen Könnens

zu verbergen. Hornblower aber fiel es

nicht leicht, jenen harten Kommandoton

beizubehalten, unter dem er das Gefühl

seelischer Erleichterung verbarg. Die Untergebenen

sollten keine Sekunde daran

zweifeln, dass er von Anfang an mit Sicherheit

das Gelingen des Manövers vorausgesehen

hatte.

Er bestimmte einen Kompasskurs, und als

der anlag, warf er noch einmal einen prüfenden

Blick umher.

„Ha … hm“, machte er und verschwand unter

Deck, wo er sich entspannen konnte und wo

ihn niemand sehen konnte; weder Mr. Bush

noch … Lady Barbara. (C.S. Forester „Der Kapitän“

– Drittes Kapitel, 1937).

Hornblower ist ein verheirateter Mann, und

das ist der Grund, warum dieses Buch, dass im

englischen Original „The Happy Return“ heißt,

nicht ganz so endet wie der Titel suggeriert –

jedenfalls, was die Lady betrifft …

Der Anker der „Lydia“ hält die Fregatte unfreiwillig

fest, aber der mutige Kapitän führt die

Sache geschickt zum Erfolg. Er löst sich aus

der verhakten Geschichte, indem er den Anker

mit Gewalt ausbricht. Er riskiert das Rigg,

nimmt den beschämenden Ausgang einer

ungewissen Aktion in Kauf und geht das Problem

direkt an. Schlussmachen mit Geschick,

statt blinder Suche am falschen Ort? Das

schreibt Watzlawick:

# Unter einer Straßenlaterne steht ein Betrunkener

und sucht und sucht und sucht. Ein

Polizist kommt daher, fragt ihn, was er verloren

habe, und der Mann antwortet: „Meinen

Schlüssel.“ Nun suchen beide. Schließlich will

der Polizist wissen, ob der Mann sicher ist,

den Schlüssel gerade

hier verloren

zu haben, und jener

antwortet: „Nein,

nicht hier, sondern

dort hinten – aber

dort ist es viel zu

finster.“

Wer aber – fragten

Sie sich vielleicht

– würde sich schon

so absurd verhalten

wie der Mann

im Beispiel vom

verlorenen Schlüssel?

Er weiß doch

ganz genau und

sagt es dem Polizisten

auch, dass

das Gesuchte nicht

dort liegt, wo er es

sucht. Zugegeben,

es ist schwieriger,

etwas im Dunkeln

(der Vergangenheit)

statt unter

dem Lichtkegel (der Gegenwart) zu finden,

aber darüber hinaus beweist der Witz doch

gar nichts. (Paul Watzlawick „Anleitung zum

Unglücklichsein“ – Der verlorene Schlüssel

oder „mehr desselben“, 1983).

Gerade nun ist die „Peking“ frisch renoviert

auf ihren Liegeplatz in den Museumsbereich

des Hamburger Hafens verholt worden. Ein

Schwesterschiff, die „Pamir“, ist 1957 auf tragische

Weise verloren gegangen. In Kenntnis

einiger Details, nicht nur aus der Seeamtsverhandlung,

sondern auch durch Tatsachenberichte

von Fahrensleuten im Freundeskreis

und in meiner Familie, kann ich zusammengefasst

verschiedene Faktoren als Ursache

angeben, nicht zuletzt die Tatsache, dass

Getreide zum Ende der Segelschiffszeit ausschließlich

in der Form von Schüttgut die

Fracht an Bord war und nicht mehr in Säcken

an Bord kam, wie ursprünglich. Ein Dampfschiff,

das typischerweise auf ebenem Kiel

unterwegs fuhr, kam mit der losen Gerste zurecht,

das Segelschiff, welches durch den seitlichen

Wind die meiste Zeit gekrängt segelte,

kam mit der hineingeschütteten Ladung in

die Gefahr, dass diese nach Lee verrutschte.

Das war auf der „Pamir“ passiert, und nun fällt

es schwer, einen Schuldigen für die Katastrophe

zu benennen. Geschüttete Gerste kannst

du nicht bestrafen. Die Zeit der frachtfahrenden

Segelschiffe war 1957 definitiv vorbei.

Einen Schiffsuntergang kann man durchaus

mit jedem anderen Unglück in Vergleich

bringen, auch eine Erkrankung ist ein Unglücksfall.

Die Menschen lernten damals,

dass Seefahrerromantik nicht ausreicht, ein

großes Segelschiff in Betrieb zu halten. Die

Reederei Laisz hatte ihren großartigen Segler

längst ausgemustert, und es waren Enthusiasten,

die in den fünfziger Jahren einen

Neuanfang mit den Schwestern „Pamir“ und

„Passat“ aus ideologischen Motiven begannen,

mit dem fatalen Ende. Der „Passat“, die

heute in Travemünde als Museumsschiff erhalten

ist, erging es mit verrutschter Ladung

beinahe zur selben Zeit auf einer Reise mit

Getreide an Bord ganz ähnlich. Der Sturm war

weniger heftig, das Fluten eines Ballasttanks

in Luv mit Wasser stabilisierte das Windschiff,

und nach der Katastrophe mit dem Schwesterschiff

probierte niemand mehr, diese Art

der Seefahrt noch fortzuführen.

Wir können das

Beispiel nutzen,

darüber nachzudenken,

wie generell

Schwierigkeiten

entstehen und

wie die Situation

zum Besseren geändert

werden

kann, gerade weil

es oft der Fall ist,

dass aus einer Notlage

Schlimmeres

die Folge ist. Wie

kommt das?

Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 79 [Seite 73 bis 81]


Scheitern gilt verächtlich als nicht korrekt.

Cancel Culture, der nicht zu verzeihende

Fehler bedeutet das Ende? Härter als uns

die Natur mit ihrem Wetter und allerlei Gefahren

straft, urteilt und verurteilt manch’

Mensch den anderen: „Lass mich in Ruh!“

Die Post wird geblockt – Schluss! Beziehung

gescheitert. Texte aus dem Gebirge und vom

Menschen, der den eigenen Berg bezwingen

muss, wenn er überleben will: Reinhold Messner

im Interview, er hat ein Buch mit Briefen

aus dem Himalaja veröffentlicht.

# Manche Ihrer Briefe sind ja auch durchaus

Dokumente des Scheiterns, niemals aber der

Frustration.

„Ich habe früh gelernt, das Scheitern zu akzeptieren,

sonst wäre ich nicht am Leben geblieben.

Das Scheitern gehört ganz wesentlich

dazu und zum Teil schenkt es uns sogar

stärkere Erfahrungen als der Erfolg. Wenn

etwas so locker vom Hocker geht, vielleicht

sogar leichter als man es sich vorgestellt hat,

dann bleibt nicht viel an Erfahrung, Emotion

und Selbsterkenntnis. Wenn ich mich bemühe,

aber scheitere und das Scheitern auch

noch einen dramatischen Verlauf nimmt,

dann bleibt mir sehr viel. Im Grunde kommen

auch wir Bergsteiger nur mit Versuch und Irrtum

weiter. Und wenn ich den Irrtum und das

Scheitern nicht zulasse, sondern mich zwinge,

den Tod in Kauf zu nehmen, um Erfolg zu

haben, dann lebe ich bei diesem Tun nicht

lange. (Schleswig-Holstein am Wochenende,

Interview mit Reinhold Messner; Joachim

Schmitz, 12./13. September 2020).

Die „Pamir-Katastrophe“ – es gab nach dem

Untergang eine Seeamtsverhandlung, mein

Großvater war als Zeuge geladen. Er war

viele Jahre zuvor als Jungmann (das ist so

etwa wie Matrose) auf dem Schiff gefahren.

Damals war die „Pamir“ nur eines von vielen

Schiffen, die mit Salpeterladung aus Südamerika

unterwegs waren. Die „Pamir“ war zu der

Zeit mit nur etwa knapp dreißig Mann Besatzung

unterwegs wie üblich. Bei einer schnellen

Verschlechterung des Wetters benötigte

man die gesamte Besatzung, um eines der

großen Untersegel zu bergen. Das bedeutete

stets vorausschauend zu handeln. Auf der anderen

Seite galt es schon damals, schnell zu

reisen. „Zeit ist Geld“ ist keine neue Erfindung.

Und vor 1930 war es ein Geschäft, mit einer

Viermastbark Ladung zu segeln. Schnell zu

segeln, heißt die maximale Anzahl an Segeln

zu setzten. Segeln bedeutet aber auch heil

ankommen, wenn das Wetter schlecht wird.

Bevor mein Großvater in die Verhandlung

gebeten wurde, stand man mit einigen alten

Laisz-Fahrensleuten auf dem Gang des

Gerichts vor dem dafür bestimmten Saal,

der sich bereits mit vielen Beteiligten füllte.

„Wenn se di frogt, dann segg man, wi hebt dor

nix mehr mit to dohn“, gaben sie Heinz mit

auf den Weg. Das war mehr als ein guter Rat,

beinahe eine Anweisung. Das gibt die Möglichkeit

einen Bogen in die Neuzeit zu schlagen

und die Themen zu verbinden: „Bewährungsstrafe

nach Schock-Unfall“ titelt das

Schenefelder Tageblatt am Dienstag anfangs

der Woche. „Fahrer war in den Gegenverkehr

geraten / Richter sieht keinen Suizid-Versuch“

(Cornelia Sprenger, 08.09.2020). Der schwere

Unfall sollte nach Ansicht der Staatsanwältin

zu einer Haftstrafe von sechs Jahren führen,

da der Angeklagte bewusst den Tod eines

entgegenkommenden Fahrzeugs in Kauf

genommen habe, weil er durch den Unfall

Suizid begehen wollte. Der Richter beurteilte

den Fall anders und fand im Schuldspruch zu

einer Bewährungsstrafe aufgrund übermüdeten

Fahrens unter Alkoholeinfluss.

Wenn jemand Selbstmord begehen will und

scheitert, nimmt die Gesellschaft an, er sei

krank. Das allein ist bereits eine Bewertung,

denn wenn jemand Fieber hat und ein Test

das Ergebnis bringt, dass es sich um ein

bekanntes Virus handelt, ist es keine Frage

der Einschätzung des Arztes, sondern ein zu

belegendes Krankheitsmerkmal mit klar umrissenen

Faktoren. Es gibt kein Suizid-Virus

oder eine Krankheit, die Rahsegler versinken

lässt. Interessant für eine Verbesserung

der aktuellen Situation, wie mit psychisch

erkrankten Mitgliedern unserer Gesellschaft

umgegangen wird, ist die Erkenntnis, dass die

Vergangenheit zu einem Instrument wird, die

Zukunft zu gestalten. In einer Gerichtsverhandlung

wird das deutlich. Die Bewertung

der Katastrophe führt zur Weichenstellung,

nicht die Katastrophe selbst. Da sind also

zwei Faktoren, wer war aktiv beteiligt und

hat möglicherweise schlimmer gemacht,

was noch gut hätte ausgehen können, und

wer siegt schlussendlich im Bewerten des

Vergangenen? Das Bewerten soll der Findung

einer inzwischen vergangenen Wahrheit

dienen, die niemand kennt. Damit kann

ein Schuldspruch allenfalls die Fassung der

stärksten Argumente einer insgesamt unbekannten

Wahrheit sein. Es siegt also der

selbstbewussteste Bewerter und nicht die

Gerechtigkeit, was soll das auch sein?

Hier genau liegt die unglaubliche Chance,

unser Leben zum Besseren zu wenden. Nach

einem Schock anders weiterzumachen kann

nur dann gelingen,

wenn wir

die Möglichkeit

dazu bekommen.

Es liegt nicht in

unserer Macht,

die Vergangenheit

zu ändern.

Wir können sie

aber zu unseren

Gunsten bewerten,

und wir

können Unterstützer

finden.

Die Vergangenheit ist der Stoff, mit dem viele

Berufe arbeiten. Menschen sind das Material,

ihr früheres Verhalten ist, wie das Holz des

Tischlers für einen Stuhl oder Schrank, der

Stoff, aus dem der Staatsanwalt eine Bewertung

formt und womit er seinen Lebensunterhalt

verdient.

Kein Polizist könnte aktiv werden, wenn nicht

gegen das Gesetz verstoßen würde, kein

Brandmeister löschen ohne Feuer. Warum

wird ein junger Mensch den Beruf des Psychiaters

für sich aussuchen? Das wissen wir ja

nicht, aber es kann nicht bestritten werden,

dass einige Berufe bedeuten, Macht und Einfluss

über andere zu haben, in einer Art und

Weise, die nicht mit dem Verhältnis von Chef

und Angestellten verglichen werden kann,

wo ein Vertrag die Parteien direkt bindet. Der

Gang zum Arzt ist ein Schritt dahin, grundsätzlich

zu vertrauen. Das kann bitter enden.

Die Konfrontation mit der Polizei bedingt das

Vertrauen in den Rechtsstaat, und sich für

eine Politik zu entscheiden, indem wir wählen

gehen, ist mit einem Vertrauensvorschuss

begründet. Wer dem Arzt nicht vertraut, muss

sich selbst kurieren. Wer der Polizei misstraut,

muss zu schweigen lernen und nach den eigene

Gesetzen handeln, mit den möglichen

Konsequenzen. Und nicht mehr wählen gehen?

Je größer der Anteil derjenigen in der

Gesellschaft ist, die für sich diese Entscheidung

treffen, desto kranker ist das System

insgesamt. Es geht also immer um Vertrauen.

Abhängigkeit auszunutzen, ist ein Vertrauensmissbrauch.

Ein Reeder, der ein Schiff

unter Bedingungen in See gehen lässt, deren

Gefahren ihm klar sind, muss alles tun, die

Risiken in Relation zur Mannschaft an Bord

einzugrenzen. Das gilt im nächsten Schritt

für den Kapitän, denn die Matrosen an Bord

sind an seine Weisung gebunden. Eine Mutter,

die ihren Sohn nicht aus der Abhängigkeit

frei gibt, ist sich ihrer Fehler weit weniger

bewusst als ein verantwortungsloser Chef.

Und ein Kind das unter solchen Bedingungen

erwachsen werden soll, wird nur äußerlich

altern aber emotional unreif sein. Hier können

wir wieder die Frage nach der Normalität

und der Krankheit auf der anderen Seite

stellen. Es gibt erwachsene Muttersöhnchen,

die finden sich selbst normal. Bleibt die Frage,

wie lange es mit der jeweiligen Partnerin

funktioniert, und ab welchem Punkt die Abhängigkeit

zur Mama krank ist? Das Problem

ist vor allem dann eines, wenn das Abhängigsein

eines an die früher gewohnte Situation

ist. Dann ist die Vergangenheit der Klotz unter

Wasser.

Eine so gar nicht mehr aktive Abhängigkeit

bekommt gerade dadurch ihre fatale Dynamik,

dass sie nicht real im Raum steht. Die

Fantasie bindet, zieht uns unvermutet wie in

die Tiefe unter Wasser, wo der unterbewusste

Haken im Grund festgebissen

an die gar

nicht mehr existente

Bindung liegt. Das

lässt uns spontan den

Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 80 [Seite 73 bis 81]


Pfad des Normalen verlassen. Etwa, als wären

wir abgesegelt, ohne ankerauf zu gehen,

und nach einiger Zeit rucken wir in die Kette.

Wenn wir den Anker nicht mit der Fahrt des

Schiffes ausbrechen, werden wir unser Rigg

einbüßen. Nach der Entmastung können wir

mit dem Nachdenken beginnen und von vorn

zu leben beginnen. Was ist der ganz persönliche

Anker, an dem wir bösartigerweise und

unbekannterweise hängen?

Je unklarer das Problem ist, desto mehr Licht

benötigen wir, das Dunkel der Vergangenheit

zu beleuchten, um den Schlüssel zu finden,

der uns begreiflich macht woran wir krank

sind. „Der Seewolf“ von Jack London und

„Moby Dick“ von Hermann Melville sind maritime

Weltliteratur, und diese Bücher können

größer verstanden werden, als reine Abenteuerromane

von der See. Ich habe etwas

gefunden über einen alten Griechen:

# Sisyphos ist eine Figur der griechischen

Mythologie. Er soll um das Jahr 1400 v. Chr.

gelebt haben, König zu Korinth und Sohn des

Aiolos gewesen sein sowie sich durch große

Weisheit ausgezeichnet und stark zur Vergrößerung

Korinths beigetragen haben. Heute

bekannt ist er vor allem in seiner Funktion im

Volksglauben als Schalk, gerissenes Schlitzohr

und Urbild des Menschen und Götter

verachtenden „Frevlers“,

dem es durch

skrupellose Schlauheit

mehrfach gelingt,

trickreich den

Tod zu überlisten

und den Zustrom

zum Hades zu sperren,

indem er den

Todesgott Thanatos

fesselt. Nach dessen

Befreiung wird Sisyphos

festgesetzt,

aber es gelingt dem

Toten mit einer List

erneut ins Leben

zurückzukehren: Er

befiehlt seiner Frau,

der Plejade Merope,

ihn nicht zu bestatten

und keine Totenopfer für ihn darzubringen.

Um dieses Ärgernis zu regeln, entlässt

Thanatos ihn noch einmal ins Leben, woraufhin

Sisyphos dem Tod ein weiteres Mal

entgeht. Sprichwörtlich ist die Sisyphos ereilende

Strafe geworden. Homer nennt keinen

Grund für die Strafe, weshalb schon in der Antike

verschiedene Autoren unterschiedliche

Gründe dafür angeben: Einmal wird Sisyphos

für seine Renitenz dem Gott Thanatos gegenüber

bestraft, einmal für seine Verschlagenheit,

einmal weil er den Göttervater Zeus an

den Flussgott Asopos verrät, weil jener dessen

Tochter Aigina geraubt hat. Schließlich

wird er von Hermes für seinen Frevel in die

Unterwelt gezwungen, wo er zur Strafe einen

Felsblock auf ewig einen Berg hinaufwälzen

muss, der, fast am Gipfel, jedes Mal wieder ins

Tal rollt. Dieses Motiv ist schon in der Antike

prägend für die Sisyphosrezeption gewesen,

heute ist Sisyphusarbeit bzw. Sisyphusaufgabe

ein geflügeltes Wort für eine ertraglose

und dabei schwere Tätigkeit ohne absehbares

Ende. In der Neuzeit wurde Sisyphos

durch Albert Camus’ Essay „Der Mythos des

Sisyphos“ zu einer Leitfigur des Absurdismus.

Diese radikale Neuinterpretation belebte die

Sisyphos-Rezeption und regte viele weitere

neue Deutungen der Sisyphosfigur an. (Wikipedia).

Da sind nicht wenige, die das Wochenende

herbeisehnen, an dem sie nicht arbeiten müssen.

Vielen kommt ihr Beruf vor, als müssten

sie sinnloses tun? Während der Corona-Krise

hat sich für manche eine neue Situation ergeben:

Diese Menschen wären froh, wenn

sie Arbeit hätten. Stellen wir uns einmal vor,

Sisyphos fand’s nicht schlimm aufzuräumen,

was gestern schon perfekt war? Im Film „Täglich

grüßt das Murmeltier“ mit Bill Murray

aus dem Jahr 1993, findet der Protagonist

eine sportliche Einstellung zum Problem. Er

ist in der Gegenwart gefangen.

Die Beschäftigung mit dem Selbst führt zur

Entdeckung des persönlichen Musters, das

uns behindert spontaner, angstfreier und beweglicher

zu sein.

Wir können die Vergangenheit nicht vergessen,

haben sie in Fleisch und Blut gespeichert.

Wir haben uns Bewegungsmuster angeeignet,

die bei jedem anders organisiert sind.

Niemand geht auf die gleiche Art. Einer zieht

das rechte Bein ein klein wenig nach, hat

einen Fuß bei jedem Schritt ein ganz klein

wenig mehr nach

außen oder innen

gedreht, und eine

Schulter wird etwas

vorgeschoben,

die andere hängt?

Es wäre ein Idealzustand,

sich

vollkommen fließend

und leicht

zu bewegen, ohne

unsere gewohnheitsmäßig

eingenommenen

Bremsen,

die schon

deswegen unnötig

sind, weil wir leicht

bemerken könnten,

dass welche

sich anders bremsen.

Wenn wir unsere Macken kombinierten,

kämen wir wohl gar nicht mehr vom Fleck?

Und wenn wir nur die guten, fließenden Bewegungen

jeweils nutzten, so wie wir uns ein

Menü zusammenstellen, dann ist das ein Bild,

wie wir durch Beobachtung und Selbstbeobachtung

lernen können.

Schließlich kommen wir dem Ideal, dass unsere

immer bekannteren Spannungen sehr

gering werden können, immer näher. Ein

wunderbarer Zustand, aber nicht immer. Am

nächsten Tag sind wir scheinbar wieder der

Alte, mit den bekannten Bewegungsmustern.

Was ist Feldenkrais-Training? Nachdem uns

die Methode vertraut geworden ist, begreifen

wir schließlich den Vorteil darin, dass wir

(bildlich) immer dieselbe Halle vom bereits

bekannten Müll entrümpeln. Das faszinierende

Erlebnis steigert sich von Mal zu Mal.

Nach einiger Zeit finden wir stets neue Reste,

an immer denselben Klemm-Stellen, die

noch ein wenig weiter entrümpelt werden

können. Da geht es nicht um Gymnastik. Alles

im Menschen hängt aneinander. Gefühle sind

in die Muskulatur eingefleischte Geschichten,

die mit Erfahrungen verwoben sind. Es ist

beinahe in die Vergangenheit zu reisen und

dort anpacken. Wir entdecken verspannte Angewohnheiten

und können sie heute lösen!

Das ist viel mehr, als Ratgeber zu lesen oder

einen Therapeuten aufzusuchen, der Trost

spendet in seiner Reflexion. Das ist aufräumen,

wegbaggern, den Anker ausbrechen und

alte, schlechte Zähne ziehen.

Es tut sich was im Körper, und wir verhalten

uns anders. Als wären wir im Raum der

Vergangenheit unterwegs und können ihr

auf der Straße begegnen. Als hätten wir ein

Modell unserer eigenen Geschichte. Wir können

in eine neue Welt gehen, als wäre wieder

„Damals“ – und entfernen Macken, die uns

behinderten. Wir kennen uns. Die Gerümpel

sind kleiner geworden. Sie liegen immer

in denselben, vertrauten Ecken. So wie die

Hausfrau weiß, wo der Staub zuerst wiederkommt,

nach dem wöchentlichen Putzen.

Morgen fangen wir von vorne an, die bekannten

Brocken von früher aus unsren Zimmern

wegzuräumen. Die Berge sind wieder kleiner

geworden. Wer freut sich da nicht, Ordnung

zu schaffen? Es ist leicht, wenn die Räume

vertraut sind und die Aufgaben schrumpfen.

Heute Hügel, und morgen schwache Bodenwellen,

die wir locker überfahren? Auf See

hieße das: Aus Sturm wird Gutwetter und

bald eine angenehme Brise!

Ahab fuhr los, den weißen Wal zu töten, und

sein Schiff versank, riss die Mannschaft in

den Tod – bis auf Ismael. Der schwamm noch

Tage im Meer, bis ein Schoner ihn aufgefischt

hat. Ahab, die harte Nummer. Rache an der

Vergangenheit, und da war kein friedlicher

Ankerplatz im Ozean zu finden. Moby Dick;

nicht jeder kennt seinen eigenen Walfisch –

das ist die innerste Motivation, die uns immer

wieder treibt, morgens das Bett zu verlassen,

aufzustehen und in den neuen Tag hinauszusegeln.

# „Und ich bin allein entronnen, dass ich dir’s

ansagte.“ Hiob (Hermann Melville „Moby Dick“

– Nachrede, 1851).

:)

Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 81 [Seite 73 bis 81]


Mehr gute Sachen machen

Sep 25, 2020

Kinder werden Jugendliche, schließlich Erwachsene,

sind nun eigenverantwortlich unterwegs.

Andere ziehen uns zur Rechenschaft,

wenn wir Fehler machen. Wir leiden darunter,

wenn wir etwas schlecht tun. Daraus

erwächst der Wunsch, keine Fehler machen

zu wollen. Träume wachsen begleitet von

der Vorstellung, noch Jahre lang Zeit für ihre

Umsetzung zu haben. Wir sind auf der Suche,

Ziele zu erreichen und Dinge umzusetzen, die

gerade uns glücklich

machen. Der

persönliche Erfolg

erwächst aus

der Erfahrung,

Erfüllung durch

eigene Entscheidungen

herbeizuführen.

Dass keine Fehler

mehr passieren,

wir weniger Fehler

machen oder

dass üble Momente

ausbleiben,

weil die Umgebung

vergisst

uns zu ärgern,

ist unrealistisch.

Mehr befriedigende

Dinge tun zu

können, ist möglich. Wünsche zu entwickeln

und Schritte in Richtung ihrer Erfüllung zu

machen ist besser, als sich auf das Vermeiden

der Fehler zu fokussieren. Mehr gute Sachen

zu machen geht; weniger Fehler oder keine

zu machen ist kaum möglich. Nach Überschreiten

der magische Grenze gesetzlicher

Volljährigkeit, wird verantwortungsbewusstes

Handeln erwartet. Ein Erwachsener muss

herausfinden wohin der individuelle Weg

führt, der sich vom allgemeinen durch eigene

Ziele unterscheidet und deswegen definiert

werden muss.

# Ein guter Weg fühlt sich gut an

Das bedeutet sich wahrnehmen und fühlen

zu können, damit die Unterschiede zum

normalen Rat und dem Gesetz spürbar

werden, für eine präzise Ausrichtung:

Die grobe Richtung wird durch die Erziehung

gegeben: „brotlose“ Kunst oder

besser die sichere Info-Grafik erlernen,

was gibt das Talent her? Was willst du:

alternativ den Fischladen der Eltern

übernehmen oder etwa den Segelsport

zum Beruf machen? Wir haben die Wahl

zu wählen nur dann, wenn wir uns die

Möglichkeiten wohin es gehen könnte

– relativ zu unseren Fähigkeiten und

der Kapazität dessen, was wir an Belastungen

vertragen können – richtig

einschätzen. Sonst werden wir tun, was

andere uns raten. Und damit sind sie es,

die eine Wahl für uns treffen. Es ist nötig

zwischen Risiken, die eine Entscheidung mit

sich bringt, und dem zu erwartenden emotionalen,

finanziellen oder anderweitig die

Stellung aufwertenden Gewinn abzuwägen.

Keiner geht von zuhause weg, um woanders

zu scheitern. Wir möchten unser Dasein gut

und besser machen.

Junge Menschen, die

ihre Gefühle wahrnehmen

können, sind

klar im Vorteil. Sie

haben, während sie

groß geworden sind,

eine Umgebung erleben

dürfen, die ihnen

genügend Raum gegeben

hat, ihr Selbst

kennenzulernen.

Es ist müßig, Eltern

zu belehren. Paartherapie

stößt schon

zu Beginn an Grenzen,

weil die Begriffe

„Paar“ oder „Eltern“

einen Rahmen beschreiben,

obwohl

Mann und Frau für

sich zunächst allein empfinden. Kinder sind

abhängig vom Ort ihrer Geburt. Schließlich

bleiben sie abhängig, bis sie erwachsen sind.

Wie unabhängig und gefühlt frei jemand

wird, hängt immer von der Vergangenheit ab.

So ist klar, dass mit dem Tag der Volljährigkeit

die Möglichkeiten der jungen Menschen

schon deswegen verschieden sind, weil manche

sich ihre gar nicht vorstellen können.

Sie haben bisher nicht lernen können, eigene

Ideen zu entwickeln und entsprechende

Risiken einzugehen (obwohl sie die Schule

möglicherweise mit einer guten Note verlassen

haben).

Ein wenig Glück gehört dazu, und was ist

eine glückliche Kindheit? Das hier gemeinte

Glück ist eine Kombination unterschiedlichster

Faktoren: Es gibt das Beispiel von gelungenen

Lebenswegen, die in bitterster Armut

und emotionaler Not ihren Anfang genommen

haben. Mit ein paar griffigen Erklärungen

wird der psychologische Ratgeber der

Realität selten gerecht.

Diejenigen, die nur unter den Bedingungen

ihrer Erziehung angepasst klargekommen

sind, werden es schwierig finden, nach Schule,

Studium oder in einer Ausbildung den

Weg in die Zukunft allein zu finden. Denn

nun müssen wir uns selbst erziehen: zu dem,

was wir individuell als „gut“ empfinden. Wer

möchte scheitern oder schlecht sein? Niemand

sucht den Weg in die Katastrophe, das

passiert nur dann, wenn der gute Weg nicht

mehr zu sehen ist. Ins Verderben läuft man in

der Absicht, hier noch gerade eine Verbesserung

zu finden! Was uns gut tut und wie es zu

erreichen ist (dort zu sein wo’s gefällt), müssen

wir lernen. Zunächst schaffen die Eltern

Orte, an denen es der Familie gut geht. Das

ist aber vom Ideal dessen, was sie dafür halten,

bestimmt. Gut zu sein, ist zunächst eine

Forderung der Erwachsenen an ihre Kinder.

Wie es gemeint ist, wird individuell unterschiedlich

aufgefasst. (Wenn ich in einem

speziellen Clan heranwachse, kann „gut zu

sein“ bedeuten, grundsätzlich mit dem Gesetz

im Konflikt zu leben).

Gut im Sinne von anständig, was immer damit

gemeint ist, gut im Sinne von Leistung:

In jedem Fall werden Eltern und Lehrer eine

Vorstellung zu vermitteln suchen, die ihren

eigenen Idealen oder Absichten entspricht.

Es kommt vor, dass Eltern die Zukunft ihrer

Kinder fest an das eigene Alter binden, sie die

weiterzuführende Firma im Blick haben oder

die Erwartung an einen bestimmten Karriereabschluss.

Auf diesem guten Weg mögen

sie das Kind sehen, etwa wie die staatliche

Ordnung den guten Bürger dort erkennt, wo

er Gesetze befolgt. Religion sieht den Gläubigen

dort, wo entsprechende Regeln eingehalten

werden. Das Mitglied einer Partei ist

gut im Sinne des speziellen Verbunds: Grüne

grün, Rote rot, usw. – sonst droht ein Konflikt.

„Gut“ ist zunächst eine Definition, ein Trend?

Sep 25, 2020 - Mehr gute Sachen machen 82 [Seite 82 bis 84]


Trendnamen 2020: Olivia, Amalia, Levin und

Adam besonders beliebt – Greta stark gesunken.

(Presseportal; news aktuell Hamburg/

fabulabs Berlin, 19.09.2020). Chantal, Mandy

oder Kevin sind grundsätzlich out. (Adolf geht

gar nicht). Das ist eine aktuelle Nachricht.

Meine Mutter hieß Greta, und

mir kommen einige Dinge in den Sinn,

wenn ich das höre. „Greta Thunberg

werfe einen zu großen Schatten“, sagen

die Forscher. Deswegen „schreckten

Eltern davor zurück“, ihr Kind so

zu nennen, meinte der Sprecher im

Beitrag einer Nachrichtensendung. Ein

Foto von einer Mutter mit Zwillingen

wurde eingeblendet: Corona und Covid

heißen ihre Kinder.

Bevor die Corona-Pandemie die Medien

beherrscht hat, war „Fridaysfor-Future“

ein wesentliches Thema,

und gelegentlich werden wir daran

erinnert, dass es immer noch höchste

Zeit ist, die Umweltprobleme wichtig

zu nehmen. Wichtig für wen? Die Sender

ordnen die Nachrichten im Sinne

von gut oder schlecht (für alle) ein. Gewalt

ist böse. Toleranz wird eingefordert. Der biologische

Fußabdruck muss nachhaltig sein.

Der böse Trump oder Putin, Erdogan – und

mehr von diesen Dingen. Frauen erfahren

Wertschätzung dafür, dass sie Frauen sind:

Sprache wird gern gut gegendert. Wir finden

es gut, dass die Kirche Missbrauchsopfer

entschädigt. Alle Paare werden

akzeptiert und böse ist, Menschen auszubeuten,

zum Beispiel in der Fleischindustrie.

Das sind die immer gleichen

Themen. Ach ja: Wir stehen zusammen,

wenn wieder ein Attentäter oder ein böses

Netzwerk „uns“ angegriffen hat. Das

wiederholt regelmäßig (mit Nachdruck)

der Frank-Walter-Präsident, dafür ist er

da (und gut genug).

Manche nervt es, aber man stelle sich

vor in einem dieser Länder zu leben, in

denen die jeweilige Regierung noch Öl

ins Feuer der Unruhen gießt. Bei uns

sind die Anführer schwach. Die einstmals

staatstragende Volkspartei SPD ist

zu einem unprofilierten Haufen verkommen.

Mit Schrecken bemerken einige

das Machtvakuum, wenn unser Außenminister

neben dem amerikanischen,

russischen oder chinesischen Kollegen

bemühte Moral zum Besten gibt.

Ich kann nicht gut sein wie Greta Thunberg

und auf Fleisch verzichten oder

das Auto. Ich kann nicht alle Werte verinnerlichen

und im Alltag umsetzen wie der

sauberste Frank-Walter, den du dir denken

kannst. Ich habe einige Sachen herausgefunden,

die ich mag und denen folge ich. Ich

male, was ich mag und probiere nicht auszustellen,

weil das nur Ärger gibt. Ich bewundere

Greta Thunberg unendlich, aber nicht weil

ich die Umwelt retten möchte und sie deswegen

mein Leitbild ist. Ich bewundere sie, weil

sie über den Atlantik gesegelt ist. Ich beneide

sie, weil sie die Chance hatte, Donald Trump

zu sagen, was sie von ihm hält, und man hört

ihr zu. Eitel, eingebildet und dumm sind Politik

und ihre MacherInnen (die ich persönlich

kennengelernt habe).

Greta! (Du bist gut).

Sie ist da hingesegelt – auf einer Art Rakete

ist sie durch die Wellen geschossen (ich

kann dieses Boot von meiner Jolle unterscheiden).

Ich bin schon sehr viel gesegelt

und weiß, wie man es macht. Ich weiß auch

genau, wovor ich Angst habe; vor schlechtem

Wetter zum Beispiel.

# Europa ist von den Socken

Was ist der richtige Name für das persönliche

Motiv? Ich bin lieber im sicheren Atelier

unterwegs. Während nun endlich die

Arbeit an meinem großen (100 x 120 cm)

Bild „Grüneres Gras“ weitergeht, nachdem

es einige Wochen unfertig herumgestanden

hat, weil wir im Urlaub waren und ich anderes

zu tun hatte, schaue ich jede Menge

Video, um Wasser und Wellen zu studieren.

Es bedeutet immer, sich einen Ruck zu geben

und die besondere Motivation für einen

neuen Anfang zu finden, wenn es gilt,

die Beschäftigung mit dem Gemälde wieder

aufzunehmen.

Die Schwierigkeit das Wasser „gut“ zu malen,

ist so ein Anreiz für mich.

Eine Geschichte erinnere ich, wenn ich diese

Filme sehe. Mein Großvater hat eine Reise

als Passagier gemacht, und zwar auf einem

Frachtschiff. Das muss so Ende der Fünfziger

gewesen sein. Reederei Hamburg-Süd

oder Hansa, das kann ich nicht sagen. Er war

mit dem Kapitän befreundet und hatte Patent

wie dieser, aber die erwähnte Reise fuhr

er nur so mit. Er war bereits am Hydrographischen

Institut angestellt. Die Überfahrt

mit dem seinerzeit modernen Stück- oder

Schwergutschiff ging von Hamburg aus über

den Nordatlantik. Das Ziel lag irgendwo an

der amerikanischen Ostküste, möglicherweise:

New York.

Nach einigen Tagen auf See wurde Abends

das Wetter rapide schlechter. Heinz konnte

nicht schlafen, weil das große Schiff merklich

unruhig war und kam nachts auf die Brücke.

Rose, so mag der Freund und Kapitän geheißen

haben (ich bin mir unsicher), stand breitbeinig

neben den nautischen Geräten und

schaute in die Finsternis voraus. Man machte

Bemerkungen über den Sturm. „Wir haben

schon einige Risse“, sagte der Kapitän und

erklärte meinem Großvater, dass im übelsten

Bereich überkommender Seen einige Männer

an Deck waren.

Sep 25, 2020 - Mehr gute Sachen machen 83 [Seite 82 bis 84]


Am Steuerstand war es ungemütlich, aber

dann bugsierte der Kapitän seinen Passagier

ins Freie. Der Sturm brüllte! Mein Großvater

klemmte die Hände an die gewölbte Kante

der Brüstung auf der Brückennock. Auf dieser

Seite gab das Steuerhaus ihnen ein wenig

Lee. Rose zeigte mit ausgestrecktem Arm in

das Dunkel. Er legte die andere Hand zum

Windschutz und wie einen Schalltrichter an

den Mund: „Da!“, grölte er derb – normal zu

sprechen war gar nicht möglich – während

kalter Regen in ihre Gesichter peitschte und

die feindselige Nacht schrie und fauchte wie

ein wütendes Tier. Sie mussten sich anstrengen,

etwas zu sehen. Hier im Freien konnten

sie das Licht vorn in wehender Gischt so

gerade erkennen. Ein kleiner Trupp schien

da geduckt hinter der Schanz beschäftigt.

Die Männer huschten jeweils einige Meter

vorwärts, wenn gerade kein Brecher hindonnerte

und wieder alles überschwemmte.

Sie hatten die unerfreuliche Aufgabe, nachts

nach frischen Sturmschäden Ausschau zu

halten. Wenn sie einen neuen Riss im Deck

bemerkten, sollten sie zügig am Ende davon

ein Loch in den Stahl bohren. Im traditionellen

Ölzeug der damaligen Zeit unterwegs, mit

primitivem Werkzeug ausgerüstet, waren sie

um den Job bei kümmerlicher Beleuchtung

sicher nicht zu beneiden.

Ich habe die Reise von Greta Thunberg im

letzten Jahr im Tracking angeschaut, wo sie

täglich jeweils war, welcher Wind herrschte,

wie schnell sie in die günstigste Richtung

vorankamen – erst mit Boris Herrmann und

dann mit La Vagabonde – und die wenigen

Sequenzen aus dem Cockpit und einige Fotos

gern angeschaut. Unglaublich! Ich selbst hätte

eine solche Scheißangst vor einer derartigen

Überfahrt und parallel aber jede

Menge Ahnung, wie alles an Bord zu

tun sei – ich glaube, das Beste, was

der jungen Aktivistin passiert ist, war

beherzt diese Rolle anzunehmen und

alles wirklich durchzuziehen. Das ist

so dermaßen großartig, es gibt keine

Worte dafür, die genügen. Nicht weil

sie die Welt rettet; sie hat sich selbst

gerettet. Sie hat erkannt, was sie tun

kann und macht es tatsächlich. Sie

hat ihr Leben, ihr ganz persönliches

Schicksal, angenommen.

:)

Das Loch sollte verhindern, dass der Riss

noch länger würde.

Das Schiff mag ähnlich dem Hamburger Museumsschiff

„Cap San Diego“ gewesen sein,

und ich bin schon darauf herumspaziert. Es

liegt friedlich an den Landungsbrücken. Ich

habe mir einen Eindruck verschaffen können

(als gewöhnlicher Besucher wie jede andere

Landratte). Natürlich, ich bin schon auf See

gewesen, einige Monate in der Karibik und

dann nach Bermuda. Unzählige Tage habe ich

auf Nord- und Ostsee und auf der Elbe gesegelt.

Wenn ich entsprechende Schlecht-Wetter-Filme

auf Youtube schaue, weiß ich, dass

ich niemals wirklich zur See fahren möchte

(auch nicht auf einem idiotischen Kreuzfahrtschiff).

Das schon gar nicht. Nicht wegen der

Umwelt. Sondern, weil man dort mit lauter

idiotischen Menschen wie in einem Hotel

herumfährt und dazu noch auf einem Ozean,

der schlimmstenfalls einen Orkan bereithält.

Und dann ist nix mit Party; es gibt entsprechende

Bilder im Netz.

Sep 25, 2020 - Mehr gute Sachen machen 84 [Seite 82 bis 84]


Wie diese Texte entstehen

Okt 1, 2020

„Wir basteln uns einen Kriminellen“ – (oder

einen Geisteskranken)? Im Duktus altmodischer

Anleitungen kann ich am Besten ausdrücken,

was mir gerade im Kopf rumgeht.

Was steht hier im Blog, worauf muss man

sich einlassen weiterzulesen? Text ist eine

Kunstform, und zu Malen bedeutet ebenfalls,

farbige Geschichten zu erzählen. Jedenfalls

ist das meine Auffassung von dieser Sache.

Geschichten sind nur zum Teil Tatsachenberichte.

Erzählungen, die mit Erfahrungen

verknüpft sind, entwickeln im Wortbild ihre

eigene Realität. Oft geschieht das sogar erst

im Prozess, beim Versuch wirklich genau zu

sein und diese Texte perfekt und individuell

zu formen. Eine Bereicherung, die zum gelungenen

Ergebnis führt, ist aber zunächst ein

Lustgewinn für den Schreibenden selbst, weil

man lernt – und ein guter Grund, es immer

wieder neu zu probieren.

Wenn ich ein fertiges Bild nach vielen Wochen

oder Monaten an die Wand hänge, beginnt

anschließend eine mehrtägige Phase,

morgens beim Wiedersehen aufzumerken,

ob es mir noch gefällt. In der Regel kommt

das Gemälde noch einige Male auf die Staffelei,

um kleinere Korrekturen vorzunehmen.

Manchmal arbeite ich daran direkt vor Ort an

der Wand, wo es hängt. Wenn ich einen Text

in den Blog stelle, ändere ich das Veröffentlichte

noch oft. Tagelang gehe ich in die Sätze

und formuliere sie um, kürze Absätze oder

füge Überleitungen ein. Das mache ich, weil

ich es liebe, exakt zu arbeiten.

Meine Malerei und die Arbeiten der anderen,

großen und weniger großen Kollegen; dem

normalen Zeitgenossen ist schon klar, dass

die Kunst bei vermögenden Sammlern, in

Staatsgalerie, Kunsthalle oder im Museum

hängt und bestenfalls dort gehandelt wird,

wo entsprechend gezahlt wird. Kunstkreise,

Galerien, die aus Liebhaberei betrieben

werden, zeigen in erster Linie Dekobildchen,

Landschaft (vom Foto abgemalt) oder

Quatsch. Um zu verkaufen, ist eine Strategie

unumgänglich.

Ich hatte nie eine.

Ich habe Zeit benötigt zu begreifen, dass ich

nicht ins Geschäft komme. Schließlich ist mir

klar geworden, was besser zu mir passt, wichtig

ist, und ich will nicht länger meine Zeit

damit verschwenden, mich um’s Ausstellen

zu bewerben. Es fällt mir nun leicht; habe

ich aufgegeben? Wie man’s nimmt, aber: Man

kann immer malen – auch für sich zuhause

allein. Mir gefällt das Malen. Darauf kann ich

nicht verzichten. Das Leben und die Umgebung

zu studieren, daraus etwas Eigenes zu

schaffen, ist eine individuelle Wissenschaft.

Verkaufen ist ein Geschäft. Das Prinzip ist

dem Verkäufer bei Fleisch, Fisch oder Autos

immer gleich: Günstig einkaufen, mit Gewinn

veräußern, und die Ware muss seinen

guten Ruf stützen. Wem am Verkauf gelegen

ist, sollte zügig und kostensparend malen.

Er sollte, da er sich als Person untrennbar

mitverkauft, alles tun, einen Eindruck zu

hinterlassen, der dem Œuvre zuträglich ist.

Der Gangsta-Rapper hat bestenfalls Knasterfahrung,

der Blümchenmaler muss

lieb sein usw. – konsequent am Ruf arbeiten

soll, wer’s braucht.

Das macht bei uns die

Bürgermeisterin, der gute

Geschäftsmann und jeder

erfolgreiche Galerist. Politiker

wissen sich effektiv

zu paaren und umgeben

sich mit Menschen, die

ihnen nützen. Die Königin

hält sich einen Hofnarren.

Wenn’s ihr nach einem

neuen Lover verlangt,

enthauptet sie den bisherigen.

(Wenn sie’s denn

schafft). Und der Wissenschaftler

arbeitet einfach

nur. Der Unterschied ist dieses

Detail: Die einen laufen ihrem

Krieg hinterher, die anderen suchen den Frieden

des Schaffens und jagen dem nach. Dazu

muss man die Schlachtfelder zunächst genau

kennenlernen, um sie schließlich (vom Rande

aus) zu verspotten, und das ist die Zeit in der

wir noch Kundschafter sind. Danach können

wir uns entspannt zurücklehnen und an die

Arbeit machen. Beobachten und Erkenntnisse

zu erlangen befriedigt.

# Und: Ich kann mich individuell ausdrücken

Vorkommnisse zu beschreiben, als hätten wir

selbst etwas begriffen (und andere verursachten

die Fehler) ist typisch. Das machen

einige. Viele sagen oft lieber gar nichts oder

„so etwas gelingt mir nie“, wenn sie in Gesellschaft

sind. Geschickt lanciert, um Aufmerksamkeit

zu bekommen, ist es nur umgekehrte

Eitelkeit. Auf diese Weise entstehen Gewohnheiten.

Daraus resultieren Reflexionen, alles

sei wie immer – das stimmige Bild. Es fühlt

sich richtig an, weil es sich nicht ändert: So

bin ich eben; Stabilität beruhigt. Das hat parallel

den Nachteil jeder Angewohnheit, dass

wir uns nicht entwickeln können und die eigenen

Fake-News glauben. Es kollidiert mit

der Realität, wenn Zivilcourage gefordert ist.

In der Regel nehmen wir uns nicht so wahr,

wie es der größeren Realität entspricht und

wie andere uns sehen. Wer sich traut, die gewohnte

Rolle zu verlassen und eine Blöße

gibt, hat die Chance zur Veränderung selbst

in der Hand.

Einige könnten es ausnutzen, „bist du blöd!“,

sagen sie, „wisst ihr, der spinnt.“ Wir stellen

uns vor, wie unangenehm es ist, angreifbar

zu sein und Bekanntgewordenes uns zum

Nachteil geraten kann. Manche schönen den

Lebenslauf, vermeiden zurückzusehen. Ich

finde es wichtiger herauszufinden, wovor

genau man sich ängstigt. Wer oder

was holt mich ein? Die Vergangenheit

jedenfalls nicht. Das ist nur ein abstrakter

Begriff; obschon eine bekannte

Redensart. Es kommt darauf an, wie

wir heute handeln und wo. Zukünftige

Erfahrungen mit alten Ängsten

bieten eine Chance. Unablässig zu

fürchten, versehentlich Unangenehmes

von früher irgendwo anzutreffen,

verewigt die Probleme. Einen Fehler zugeben

können, macht menschlich. Bei unauffälligen

Gelegenheiten fällt es leicht. „Mein Kuchen

plumpst auch immer zusammen“; über Anteilnahme

kommt man ins Gespräch.

Als ich Schwierigkeiten

hatte, Kritik an meinen

Illustrationen zu akzeptieren

und es nicht durch

besseres Arbeiten in den

Griff bekam, glaubte ich

mit freier Malerei ein Ventil

gefunden zu haben. Die

überraschende Antwort

ist, dass nicht etwa guter

Verkauf (das ist mir nie

gelungen) meine Probleme

gelöst hat, sondern

spezielle Ausdrucksfähigkeit,

die ich wie nebenbei

erlangt habe, und die Einsicht

in einige Befindlichkeiten

bei mir und anderen.

Ich muss vollkommen blind gegen alles

gerannt sein; von der Trivialität einer Umgebung

schockiert, der es nichts ausmacht,

zur einen Seite hin dies zu meinen, zur an-

Okt 1, 2020 - Wie diese Texte entstehen 85 [Seite 85 bis 94]


deren das Gegenteil zu tun.

Ich habe es gar nicht nötig,

beim jeweiligen Gutsein

verschiedener Renommisten

mitzulaufen – und so geht es

viel besser und macht sogar

Spaß. Ich bin grundsätzlich

zufrieden, wenn auch nicht

immer glücklich und manches

bedauerlich ist.

Durch einen Zufall begriff ich, wie verletzlich

man im Krankenhaus ist, wenn nicht die Patientengesundheit

obenan steht. Angreifbar zu

sein, ist auch nützlich. Auf diese Weise kommt

der Mensch in die Position, Detektiv und Kern

seines Falls in einem zu werden. Im Zentrum

der Reuse, wo die Ungereimtheiten zusammenkommen,

kann man prima Unwahrheiten

fischen. Das trennt die Einbildung, es würde

über uns geredet, von der Realität – weniger

die Wahrheit an sich, als wie wir sie fühlen.

Das ist dann unsere eigene Wirklichkeit, die

schließlich, klar herausgeschält, sogar gemalt

werden kann. Der Unterschied liegt

darin, dass wir einen Rahmen aktiv gestalten

und nicht Opfer zwanghafter Gewohnheiten

sind. Besser als zu verkaufen,

ist die Entdeckung individueller

Bedürfnisse.

# Das Prinzip der Kunst

Zum Beispiel dieses Bild, das

nicht gezeigt wird, mit den

Nacktwanderern im Gebirge.

Es ist ein weiteres Mal

der Versuch, den Katalysator

Kreativität anzuwerfen. Man

bekommt eine Erfahrung

aus der Vergangenheit, die

so noch nutzbar ist, anstelle

der gewöhnlichen Abgase,

dem faden Nachgeschmack

den eine üble Geschichte

hinterlässt, wenn alles unwiederbringlich

verloren ist. Eine gute Bekannte

sagt zu diesem Thema: „Ich war auch

auf Ihrer Webseite, Herr Bassiner. Ich bin in

einem Dorf aufgewachsen (Holm) und in ein

anderes gezogen (Hetlingen).“ Über die Idioten

sagt sie: „Haben diese Leute kein eigenes

Leben?“ Ich finde: Menschen beobachten, sie

beutegeil (und voyeuristisch) zu tracken und

womöglich anzuzeigen, sollte den Fachleuten

vorbehalten bleiben, die Ergebnisse müssen

dem Recht standhalten.

„Gurken und Rosen“ ist ein Bild, das thematisiert,

wie findige Ankläger den Täter selbst

dort erschaffen können, wo (noch) keiner ist.

Sie inszenieren sich und das Umfeld, bis die

Sache passt. Eine Fernsehsendung vor einigen

Jahren hat mich dazu angeregt, meine

eigene Version vom flachgeistigen Dorf hoch

in ein oberbayrisches Gestein zu transponieren.

Splitternackt klettern diese Gestalten,

ihre Gurke jeweils als Waffe in der Hand am

nach vorn gestreckten Arm oder locker vorrätig

im Bandolier, mit einer fixen Hypothese

im Hirn am fiktiven Guttenberg rum. Sie

spießen ihren süßen Lockvogel ans verbogene

Gipfelkreuzchen wie der Fischer seinen

Wurm und hoffen auf den bösen Mann. Eine

Mannschaft (mit Frauen) unterwegs, als wär’s

ein Schiff, gleiten sie mit

wehender Flagge abwärts,

im steinernen Meer. Wespen

piesacken die Nackten, wir

müssen da durch, denken sie,

aua – au. Ein Stich ins Genital

– was soll’s. Die Sonne verbrennt

ihre Haut, die sie ihr

großflächig anbieten. Für ihre

Vision, bei den Guten zu sein,

leiden sie gern. Diese skurrilen

Nackten (mir ist noch detailreich

allerhand Blödsinn

eingefallen, um sie lächerlich

zu machen), tragen wie zum

Willkommen freundlich rote

Rosen in ihren Händen und

ein schleimiges Lächeln im Gesicht, aber den

Hintergedanken, eine Falle zuschnappen zu

lassen, im Herzen. Verbissen und blind für

die Wirklichkeit, missbrauchen sie

das Gute selbst, warten gleich dem

Kommisär Matthäi auf den letzten

Tag, der dann nie kommt. (Das

Versprechen, Friedrich Dürrenmatt,

1958).

# Während der Fokus im Film auf

dem Verbrechen lag, liegt er in der

Erzählung nun auf dem Ermittler.

Aus einem bestimmten Fall wurde

der Fall des Detektivs, eine Kritik

an einer der typischsten Gestalten

des neunzehnten

Jahrhunderts. „Kommissär

Matthäi

übernimmt eine

Tankstelle an der

Straße von Chur nach Zürich,

bei ihm als Haushälterin sei

die ,stadtbekannte Dame‘

Heller.“ (zitiert Wikipedia).

Und weiter: Erfolglos hatte

Matthäi versucht, ein Mädchen

aus einem Waisenhaus

zu adoptieren; Matthäi sagt,

er fische – kriminalistische

Arbeit.

Schließlich: (…) realisiert,

dass die Tochter der Heller,

Annemarie, Matthäi als Köder dient, und dass

die Tankstelle der richtige Ort ist: Damals

gab es nur eine Straße, die von Graubünden

nach Zürich führte – würde der Täter irgendwann

wieder einmal nach Zürich fahren,

dann musste er (…) vorbeifahren. (Wikipedia,

F. Dürrenmatt; gekürzt).

Der verbindende Aspekt meiner persönlichsten

Erfahrung (mit einer Studentin hier im

Dorf und ihren „Freunden“, die nur so getan

haben, als wären sie auch meine, was

schließlich zum Gemälde führte) und dem

Roman von Dürrenmatt, findet sich in der

Beschreibung des Polizisten und seiner fixen

Idee. Anfangs war es ein brillanter Einfall, der

die ganze Abteilung mitgerissen hat, um einen

schier unlösbaren Fall voranzubringen.

Das unausweichliche Fiasko ist einem Zufall

geschuldet, der lange unentdeckt bleibt. Dem

Detektiv und Spürhund entgeht nichts, aber

er kann nicht wissen, dass sein Mörder im

entscheidenden Moment verhindert ist – und

nie zurückkommen wird, in die perfekte Falle

zu gehen. Daran zerbricht der Kommissär,

er bleibt psychisch stehen; eine beschädigte

Uhr, die ihre Funktion für immer eingebüßt

hat und optisch noch eine ist, funktionell

nicht mehr. An dem Tag, wo sein arrangiertes

Date nicht zustande kommt, verlässt er unsere

Welt. Während das

Leben aller weitergeht,

bleibt von ihm

nur die menschliche

Hülle. Er handelt nun

Tag für Tag, als wär’s

immer noch Matthäi

am Letzten.

Er betreibt die Tankstelle,

und ohne das

Buch jetzt noch zur

Hand zu nehmen; ich

meine mich zu erinnern,

dass „die Heller“

und ihre inzwischen

erwachsene Tochter,

ein Teenager oder

schon über zwanzig Jahre alt, weiterhin mit

ihm zusammen an diesem schäbigen Ort

wohnen. Das Mädchen betankt die Autos an

der öden Straße. Lang dahingezogen, beinahe

schnurgerade, mit gelegentlich eingestreuten

Fahrzeugen, teilen die Spuren zwischen

Graubünden und Zürich eine ausgedehnte

Ebene. Eine baumlose Platte. Die typische

Berglandschaft der kleinen Demokratie ist

in dieser Szene nur Kulisse, stellt die nötige

Kante gegen den Himmel im Hintergrund, erinnert

uns gerade noch daran, wo wir sind.

Nicht weit entfernt, haben sich einige Bäume

zum Wäldchen versammelt. Der dunkle

Fleck in der Wiese, und ein finsterer Ort für

den Krimi. Der Kantonspolizist ist zum verbitterten

Pächter der windschiefen Anlage mutiert.

Ein Schweizer Original. Der Mann „wirkt

verblödet und rieche nach Schnaps“, zitiert

Wikipedia das Buch. Er schlurft in schietigen

Sachen rum, und die Heller – zapft und

serviert Bier, mit verhärmten Gesicht huscht

sie ins Interieur, im Halbdunkel vom Flur

und Küche am zugehörigen Schankraum –

sie runden das absurde Bild von Einsamkeit,

Abhängigkeit und gewohnter Verzweiflung

ab. Eine schlappe Wäscheleine mit einigen

Kleidungsstücken an schiefen Stecken, eine

schlecht verputzte Hütte oder Baracke

hinter den Gerätschaften für das Tanken;

so ungefähr könnte der Erzähler

es notiert haben.

Ich erinnere eine vom Wahn des geistig

abwesenden Alten geprägte Atmosphäre.

Alkohol und Frust bestimmen

das fixe Arrangement. Der frühere

Polizist ist unfähig, die Gegenwart zu

realisieren. Es hatte einen dramatischen

Wendepunkt in seinem Leben

gegeben. Von Gefühlen überrannt, war

er aus der für ihn typischen Rolle als

Okt 1, 2020 - Wie diese Texte entstehen 86 [Seite 85 bis 94]


rationaler Taktiker gefallen und hatte einen

an die Kollegen abgegebenen Fall erneut an

sich gezogen. Der Kommissär quittierte daraufhin

den Dienst, um das den Eltern spontan

gegebene Versprechen einzulösen, den Mörder

ihres kleinen Kindes zu fassen.

Das Buch beginnt mit dem Ende: Der vollkommen

verwandelte Mann, bei dem schneidiges

Auftreten als gnadenlos korrekter

Jäger und steile Karrierepläne bei der Kripo

inzwischen unmöglich vorstellbar sind, lebt

ausschließlich für seine Idee. „Er wird kommen“,

nuschelt dieser Tankwart, während er

stumpf Öl kontrolliert oder die Windschutzscheibe

eines Fahrzeugs putzt. Leicht kann

man es überlesen; nur für eine Momentaufnahme

blitzt das andere Verbrechen durch:

Annemarie ist im Roman gleichermaßen

aufreizend wie verwahrlost vom Schriftsteller

gezeichnet. Kaum ein paar hingeworfene

Worte skizzieren ihr armseliges Dasein.

Für mich der berührendste Aspekt am ganzen

Buch.

Das Mädchen ist (meine) Hauptfigur in dieser

Geschichte, und wesentlich ist eine Szene

die, glaube ich, wie nebenbei eingestreut

wird, wo die Mitbewohnerin vom Kommissär

das Spiel begreift – und im hilflosen Zorn die

ganze Schäbigkeit der Konstruktion realisiert.

Die Mutter erkennt, als es nicht klappt

den Täter zu schnappen, wie ihre kleine Tochter

von der Polizei als Lockvogel missbraucht

wird – nicht etwa vom bösen Mann (von Gert

Fröbe im Film dargestellt). Davon weiß sie

gar nicht. Matthäi sagt ihr nur ungefähr, was

er tut, und vielleicht hat sie sich Hoffnung

auf eine bürgerliche Existenz mit dem Kommissär

an ihrer Seite gemacht. Möglicherweise

entwickelte sie Zuneigung zu dem Mann.

Frau Heller konnte ja nicht wissen, dass Polizisten

immer lügen (wenn sie eine verdeckte

Rolle übernehmen).

Sie bemerkt die Kripoleute im Wald, die ohne

Wissen der Mutter den Ort beobachten, wo

unbedarft die kleine Anne spielt. Trickreich

wird sie vom findigen Team auf eine von

Bäumen (die Deckung bieten) gerahmte Lichtung

gelockt, wo nun ununterbrochen ihr unschuldiges

Lied „Maria saß auf einem Stein“

erklingt. Dort im Gebüsch versteckt, hoffen

die verborgenen Fahnder, dass die kindliche

Weise noch nützen wird, den Täter zu ködern,

gerade an diese Stelle zu gehen. Nach dem

Eklat nehmen sie anschließend eine Strohpuppe

und machen noch eine Zeitlang weiter.

Die schockierte Mutter bleibt wie erstarrt an

der Seite des unbelehrbaren Kriminalpolizisten

Matthäi und betankt die Fahrzeuge,

brät Mahlzeiten zusammen, putzt. Der

kantonale Kunstgriff wird zur absurden

Farce. Die drei sind in den Grenzen von

Wald, Tankstelle und der schnurgeraden

Landstraße wie isoliert im eigenen Kosmos

gefangen. Eisig und irrational ist

ihre Beziehung, vollkommen kalt und

manisch unauflöslich. Schließlich bleibt

der Kommissär allein dabei, die Puppe

zu drapieren, weil die Kollegen realisieren,

dass es nichts mehr wird.

Dass die drei nun weiter jahrelang

zusammen an diesem gruseligen Ort

wohnen, bringt mir mein wichtigstes

Motiv in allen Bildern, Texten in den

Vordergrund, weil es genauso mein Leben

geprägt hat: Abhängigkeit. Der subtile Missbrauch

von Macht und meine (und oft unser

aller Unfähigkeit), den Zwängen zu entkommen,

beschäftigt mich immer wieder neu.

Meine Kunst ist eine verzwickte Angelegenheit,

auf dem Misthaufen persönlicher

Erfahrung gewachsen. Gutmenschen sind

Gurken, finde ich. So kommt es mir vor: Auf

dem Niveau des Boulevards sind sie unterwegs,

immer auf derselben Straße. Einfallslos

provozieren die ehrenamtlichen Dorftrottel

arrangierte Szenen. Da ist das immer gleiche

abgehalfterte Stammpersonal einer müden

Amateurbühne, verstärkt durch wechselnde

Statisten, die bestens informiert nach dem

Motto „wir schauen hin, passen auf“ den Bühnenrand

garnieren.

Pappkameraden dekorieren eine Welt für

ihren Truman vom Dorf und das Mädchen.

Mal ist sie chaotisch als rote Diva unterwegs,

dann wieder huschig auf der Flucht. Mir fällt

der Himmel auf den Kopf und eine Drohne

vor die Füße. Sie setzt die Karaoke-Mütze auf

und spricht das soufflierte Wort fließend. Unglaublich:

Diese Menschenretter konstruieren

Person(en)-Schutz in paranoiden Begegnungen

(eine Schmierenkomödie, die durch neu

angeheuerte Helfer kaum abwechslungsreicher

wird) für ihr vermeintliches Opfer, nachdem

sie’s extra (wie eine Marionette, gehirngewaschen)

platziert hatten. Als Rufmörder

wollen sie nicht gesehen werden. Sie haben

den üblichen Tratsch erst kultiviert, schließlich

überhöht, bis in die finstere Einbildung,

sie seien eigentlich Weltretter.

Ich musste es malen: Das Bild zeigt den kleinen

Trupp dummer Dörfler, vertraute Tröpfe,

wie in jedem Kaff bekannt, am abschüssigen

Hang. Die verbohrte Königin einer Provinzverwaltung

führt die Armseligen über den

Schotter schlitternd abwärts. Ich sehe sie

nackt wie in „des Kaisers neue Kleider“ – unterwegs

nach Absurdistan.

Gurken scheitern vor Gericht, und das ist

auch gut so. Im Glauben zu handeln, unser

Leben verliefe konstruiert wie im Krimi, ist

mehr als naiv. Polizist sein (oder Politiker)

kann man nur im Amt. Wer abgewählt

wird, kann allenfalls noch

am Stammtisch polemisieren.

Wenn Polizisten im Ruhestand

„den Kaufhausdetektiv geben“,

bleibt der Eindruck hängen, solche

Menschen wissen mit sich selbst

nichts anzufangen.

Texte: „Die Leute lesen die Bücher

gar nicht“, meinte kaum resigniert

ein lieber Autor zu mir, als ich

noch fleißig Info-Grafik machte.

„Sie kaufen ein Buch, weil es (deine)

schöne(n) Illustrationen hat

und verschenken es (ungelesen)

zu Weihnachten. Danach steht es dort nur im

Regal.“ Er hätte sich darüber mal mit M. (dem

Bergsteiger) unterhalten. Ein Rat, sich den

Leser zwar vorzustellen, aber nicht auf sein

vollumfängliches Verständnis zu hoffen und

weiter zu tun, was man liebt.

Danke!

Der wirkliche Schatz, den wir durch

Beobachtung, Schreiben und das Malen

von Bildern erlangen – es bedeutet

nicht zuletzt, eine eigene Ansicht zu

entwickeln, sich eine Meinung bilden

können, die polarisiert und überrascht;

ist Erfahrung. Man lernt eine Grenze

zu ziehen. Nicht nur was Nachbarn, das

Dorf und die Politik betrifft – auch: Geschwister,

Verwandte – nie wieder! Nie

wieder abhängig mitgerissen werden,

wenn es möglich ist, eine eigene, harte

Entscheidung zu treffen. Über unliebsame

Familienstreitigkeiten sagte derselbe

Verfasser (zahlreicher Fachliteratur

und Segler), pensionierter Jurist: „Das BGB.

Es kommt immer zur Zwangsversteigerung,

John, immer.“ (Noch einmal danke). Du bist

weise Bobby (und ein Freund).

# Wer vorher weiß, was man gar nicht glauben

kann, hat noch Zeit klug zu werden

Okt 1, 2020 - Wie diese Texte entstehen 87 [Seite 85 bis 94]


Früher habe ich viel gelesen. Heute konsumiere

ich noch die Zeitung, ich lese keinen

Roman mehr. Ich kaufe mir keine Ratgeber.

Damals habe ich sie geradezu verschlungen:

„Anleitung zum Unglücklichsein“ hat Paul

Watzlawick sein schmales Büchlein genannt.

Das wörtlich zu nehmen, ist bislang kaum jemandem

eingefallen, mir schon. Ich habe diese

intelligente Erörterung gelesen, nachdem

ich studierte, Anfang der Neunziger.

Nur durch Fehler lerne man, heißt

es. Watzlawick mag von der Hoffnung

angetrieben worden sein, es

genüge, seine kluge Zusammenstellung

menschlicher Blödheiten

einfach zu lesen. Dachte er, es reiche

aus, Dummheiten bei sich wiederzufinden

und einfach wegzulassen?

Schon beim Niederlegen des Textes

befreit durchzuatmen, ohne das

Glück noch studieren zu müssen; mir

ist das nicht gelungen. Ich erkannte:

Da stehen ein paar gute Sachen –

aber das Glück habe ich seinerzeit

nicht gefunden. Ich begriff schon,

dass der Mensch seine Übel selbst

erschafft.

Ja, es kommt vor. Schönes Wetter hebt meine

Stimmung. Ich kann den Sommer nicht

ziehen lassen, bin weiter in Flip-Flops unterwegs.

Vor kurzem verweile ich als einziger

Gast bei „Nur Hier“ auf der Terrasse, bade

noch in herbstlicher Abendsonne und trinke

einen Tee (im Glas). Da sitzt man direkt am

Geländer (wie an einer Schiffsreling), und auf

der anderen Seite ist ein Weg ohne Stufen

für Radfahrer (eine sanfte Rampe), die hier

das Plateau vor dem Einkaufszentrum verlassen

können. Es gehen dort auch viele zu

Fuß, ohne ein Rad dabeizuhaben. Da kommt

Anastasia vorbei! Ich freue mich. Und sie

nimmt ihre (regenbogenfarben schillernde)

Sonnenbrille ab: „Ist das Whisky, genießt du

dein Leben?“, fragt sie – wir lachen. Zufriedenstellend

sehe ich wohl mindestens! aus …

offenbar bin ich gerade glücklich – und man

sieht es mir an.

Das gefällt mir.

Hey!

:)

Mich interessiert die Themen, passend zu

meinen Empfindungen und in Relation zu

den bisherigen Fähigkeiten, als Entwicklung

zu begreifen, mit der ich mich reflektorisch

formen kann. Diese Texte dienen nun wieder

dazu, mir selbst klar zu machen, inwieweit

das auch passiert, und die Webseite ist das

entsprechende Schaufenster. Ohne sich einen

Leser vorzustellen, kann man nicht schreiben.

Das passiert beim Malen auch. Es bedeutet

aber nicht, dass es nötig ist, einen Betrachter

wirklich zu erreichen; es genügt, die Möglichkeit

dafür zu schaffen.

Also die Bilder, gleich nachdem sie gemalt

wurden, wieder wegzuwerfen oder diese

Blogtexte nach dem Schreiben zu löschen,

wäre wohl extrem. Der Buchladen als eine

verwunschene Holzkiste am Feldrand ist mein

Ideal. Auf Fehmarn habe ich so einen Schrank

schon gesehen, und auch in Backnang gibt es

ein offenes Regal mit Büchern. Einigermaßen

gegen die Feuchtigkeit geschützt, tauscht

man dort ausgemusterte Werke.

„Goethe war hier …“ steht auf einer grauen

Kiste.

Das macht neugierig! Man tritt näher heran …

dann steht noch ganz winzig klein darunter:

„Nie!“

# Was kann man nun von einem

Menschen … erwarten? Überschütten

Sie ihn mit allen Erdengütern,

versenken Sie ihn in Glück bis über

beide Ohren, bis über den Kopf, so

dass an die Oberfläche des Glücks

wie zum Wasserspiegel nur noch

Bläschen aufsteigen, geben Sie ihm

ein pekuniäres Auskommen, dass

ihm nichts anderes zu tun übrigbleibt,

als zu schlafen, Lebkuchen zu

vertilgen und für den Fortbestand

der Menschheit zu sorgen – so wird er doch,

dieser selbe Mensch, Ihnen auf der Stelle aus

purer Undankbarkeit, einzig aus Schmähsucht

einen Streich spielen. Er wird sogar die Lebkuchen

aufs Spiel setzen und sich vielleicht

den verderblichsten Unsinn wünschen, den

allerunökonomischsten Blödsinn, einzig um

in diese ganze positive Vernünftigkeit sein

eigenes unheilbringendes phantastisches

Element beizumischen.

Gerade seine phantastischen

Einfälle, seine banale Dummheit

wird er behalten wollen. (Fjodor

Michailowitsch Dostojewski, 1821-

1881 – so finde ich es im Internet,

und bei Paul Watzlawick steht das

als einleitendes Zitat im erwähnten

Buch).

Tatsächlich male ich weiter, habe

die dumme Angewohnheit, andere

zu-zu-texten – obwohl ich damit

keinen Erfolg habe.

Wenn Bekannte zusammenkommen und „wie

geht’s“ fragen, gehört es sich: „Gut, Danke!“ zu

antworten. In dem Moment, wo unser Gegenüber

ausweicht, haken wir nach: „Stimmt was

nicht?“ Mein Großvater hatte sich darauf trainiert,

die Frage ausnahmslos mit: „Zufriedenstellend!“

zu beantworten, um dieses Problem

wie ein guter Schauspieler grundsätzlich

zu vermeiden – daran denke ich manchmal.

„Bist du glücklich?“, werde ich selten gefragt.

Okt 1, 2020 - Wie diese Texte entstehen 88 [Seite 85 bis 94]


Die Entdeckung der Angst

Okt 27, 2020

Es nieselt Bindfäden, und ich stülpe diese

derbe Kappe auf meinen Kopf. Sie ist einigermaßen

wetterfest und fühlt sich grob an in

der Hand. Aus braunem Cord, eher noch im

dunklen Beige und entsprechend gerippt, ist

sie kräftiger als die leichte Baseball-Cap, die

man im Sommer trägt. Meine hat vorn ein

ausgefranstes Emblem: „New York Athletics,

The University of Freedom“ steht da in dunkelblau,

beinahe grau ist es, um genau zu sein

– rund um ein weißes Wappen in der Mitte. In

den Schirm ist dezent eine Macke geschnitten,

schon beim Kauf war sie so. Der kleine

Riss lässt die Mütze alt und holzfällermäßig

aussehen.

New York, ich war schon einmal in der Stadt,

aber nur auf dem Kennedy-Airport. Etwa eine

Stunde warteten wir, bis der Anschluss-Flieger

kam. Erinnerungen vagabundieren,

dann drängt ein Motiv nach vorn.

„Das ist alles nur in meinem Kopf“,

singt Andreas Bourani. Ohrwürmer

sind Bilder gemeinsamer Fantasie,

begleiten für immer: „New York, New

York … Ol’ Blue Eye, Frank Sinatra. Und

Schlagersänger Udo Jürgens war noch

niemals dort? Vermutlich nur bis in

das Jahr 1982. Dann hat er sich einen

Ruck gegeben. Im Herbst kam sein Hit

heraus – wie jemand sich entschließt,

der Spießigkeit ein für alle Mal zu entfliehen.

Alle können das singen. Zehn

Jahre später endete mein Ausflug

in die Karibik mit einem Zwischenstopp

in der Metropole. Damit kann

ich nicht überzeugend behaupten,

dort gewesen zu sein. Weil der kurze

Aufenthalt nur das Umsteigen in das

andere Flugzeug bedeutete.

Das ebenso faszinierende Chicago

und den seinerzeit berühmten Sears

Tower, bestaunten wir ein Jahr vorher

tatsächlich „in echt“. Mein Besuch einer

Freundin aus Blankenese, dort im

Au-pair-Jahr, ermöglichte viele aufregende

Momente in der windigen Stadt. Ich war auf

dem benachbarten John Hancock Building,

um die atemberaubende Höhe zu erleben

(weil die Aussicht noch etwas besser sei, sagte

man uns) mit Uli. Erinnerungen in meinem

Kopf, auch hier. Das sind heute Geschichten.

Höhepunkte der Vergangenheit – warum

werden Berge erklettert, warum bauen wir

Kirchtürme, Wolkenkratzer?

Die modernen Babel: Das Empire State Building

in NY und das WTC konnte ich damals

nicht live erleben. Ein neues Jahr, und eine

andere Geschichte mit anderen Menschen.

Heute ist alles bloße Erinnerung. Es hat mein

Leben nachhaltig geprägt: Segeln auf der

Yacht „Capella“ in der Karibik. Wir waren nach

ein paar Tagen auf See von den Virgin-Islands

nördlich segelnd in Bermuda angekommen,

hatten Hans-Jürgen mit der Aufgabe, die

Heimreise zu organisieren, schließlich allein

gelassen. Zwei Monate Karibik lagen hinter

mir. Der Flug nach New York war kurz, und

nun wollten wir zurück in die alte Welt. Der

Kennedy-Airport liegt ein klein wenig außerhalb

des Zentrums. Aber es ist eben nur ein

Flughafen. Von dort, wo wir waren, konnten

Lars (der mit an Bord gewesen war) und ich

gerade mal die Skyline sehen. Ich erinnere

sie als blasse Kontur in einem dunstigen,

gelben Himmel. Die Zacken schienen doch

zu weit weg, um individuelle Einzelheiten

auszumachen. Aber sie waren nah genug im

Fokus, ihre Mächtigkeit im Vergleich zu Bäumen,

Gestrüpp oder normalen Gebäuden in

der Entfernung zu begreifen. Einige Yellow-

Cabs standen müßig am Rand vom Rollfeld.

Das war alles.

# Fragmente unterschiedlichster Erinnerungen

werden zum Bild einer Erfahrung

Da ist zunächst meine Idee, die „eine“ Geschichte

zu erzählen; und dann merkt man so

nach und nach, was dazugehört. Es ist eine

Herausforderung, dieses Puzzle der verschiedensten

Einfälle zum lesbaren Bild zu formen.

Schon ein Grund, es zu versuchen, finde

ich. Zeitungen, Fernsehen und das Internet:

Die Nachrichten konzentrieren sich aktuell

auf die sich zuspitzende Lage in der Pandemie

und die anstehende Wahl zum Präsidenten

der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald

Trump gegen Joe Biden. Weltpolitik ist

zunächst die von „denen da oben“ oder was

hinter dem „großen Teich“ passiert. An persönlichen

Schnittstellen verschmelzen die

großen Ereignisse mit den kleinen Dingen

des eigenen Lebens. Eine Melodie erfasst uns,

beinahe zufällig schlagen wir dieselben Töne

an, wie alles um uns herum, geraten mitten

hinein in die neue Welt.

Der Alltag erscheint oft grau und unspektakulär.

Schenefeld ist überschaubar.

Hier, in der Gegenwart, kann diese

Erzählung wohl am besten ihren

Anfang nehmen. Vor Kurzem bin ich

damit fertig geworden zu schreiben.

Etwa eine Woche steht dieser Text

online im Blog auf der Seite. Seitdem,

nicht zufrieden damit, suche ich weiter

nach Überleitungen, alles noch ein wenig

besser miteinander zu verbinden. Ich probiere

Fotografien, gezeichnete Bilder und passende

Gemälde von mir zu integrieren, um

das Geschriebene authentisch zu illustrieren.

Vor einigen Tagen bin ich wieder unterwegs,

denke darüber nach und laufe wie so oft den

bekannten Weg.

Das ist eine Strecke entlang bebauter, kleiner

Straßen und überschaubarem Verkehr –

selbst die „Hauptstraße“ hier, ist ja so großartig

nicht – mit viel Grün zwischen Wohnblocks

und Einzelhäusern. Ich muss etwa einen Kilometer

weit, und die gewohnte Bahn führt

mich letztlich in das „Stadtzentrum“. So bezeichnet,

kennen wir unser Einkaufszentrum.

Es steht protzig in silbernen Lettern an der

Front. Ein Geschenk für die Armseligen, denen

kein Stadtkern natürlich hingewachsen

war? Diese Bauern, die vergaßen, sich den

umtriebigen Mittelpunkt in ihr Städtchen zu

bauen wie andere Dorfgemeinschaften, und

seinerzeit auf einen Investor angewiesen waren.

Es muss ein Schilda (bei Hamburg) sein.

Anderes spricht ebenfalls dafür, aber zu weit

würde es führen, in die Details zu gehen. Das

„Zentrum“ ist eine Shopping-Mall. Es liegt in

der Mitte zwischen der „Siedlung“ und dem

„Dorf“. Gewichtiger als die erwähnte Hauptstraße

trennt uns die LSE, die gleich nach der

Luninez-Brücke am „Staddi“ zur Rennbahn

wird. Ein gar nicht schönes Erbstück zweifelhafter

Visionäre von damals im „schönen

Feld“ Schenefeld. Außerhalb gibt mancher

gern Gas. Drinnen bei uns Verstopfung, Stau.

Leichter Regen schreckt mich nicht, die Strecke

wie immer zu gehen, vorbei am Lindos-

Grill, der kleinen Dorfkirche, bei Timmse,

Hotop und am Kräla entlang. Meine grobe

Holzfällerkappe genügt schon, das Geniesel

abzuhalten. Dünne Regenkleidung ersetzt

meinen Hoodie, den ich für gewöhnlich trage.

Es ist nicht kalt.

Es gibt gerade keinen Stadtkern, und unsere

Bürgermeisterin probiert, sich ein Denkmal

zu setzen, einen zu kreieren. Das geht Jahre

lang, beschäftigt Planungsbüro und Tageblatt,

brachte uns den „Bürgerkongress“ und

mehr. Leider stockt das Projekt aktuell, weil

ein OD-Stein übersehen wurde. Ich habe ihn

gerade gefunden. Er steht zugewachsen im

städtischen Randgras zwischen der den Ort

zerschneidenden Straße und dem Rathaus.

Der Stein, der bislang nicht berücksichtigt

wurde, könnte Schwierigkeiten machen.

Grenzstreitigkeiten mit Kreis und Land wer

zahlen muss, wie weit ab und hoch was werden

darf. Ich habe nur quergelesen, bin nicht

konstruktiv und gefalle mir im Spott. Keine

Worte mehr dafür, aber nicht wegen dem

Kern. (Geht mir am Arsch vorbei).

Ich kaufe im Supermarkt ein, und Arzu, an deren

Kasse ich am liebsten zahle, stutzt: „Ich

haben Sie nicht gekannt, wegen Sie haben

Mütze – und Haare ist abgeschnitten.“ Wir

lachen. Sie ist vor vielen Jahren aus Afghanistan

nach Deutschland gekommen, hat anfangs

beim Bäcker verkauft. Dort trinke ich

Okt 27, 2020 - Die Entdeckung der Angst 89 [Seite 89 bis 94 ]


Kaffee oder Tee, esse belegte Brötchen, sitze

oft draußen. Je nachdem, wie viele Becher

ich über den Tag auftanke, mag ich gegen

Ende des Nachmittags lieber Tee. Weil nun

Arzu nicht gerade groß ist, musste sie sich

nach dem Earl Grey, der weit oben im Fach

untergebracht ist und selten gewünscht wird,

extra strecken. Und die Kollegen neckten sie

ein ums andere Mal. So fing auch ich gern an,

Späße drüber zu machen.

Wir mögen uns. Ich habe sie schon im Wagen

mitgenommen, nachdem ich sie an der

Bushaltestelle bemerkte. Wir sind noch einen

Umweg ins Wohngebiet gefahren, weil sie extra

für einen Kunden etwas erledigen mochte

und nicht recht wusste, wo das Haus genau

ist. Wir treffen uns auch, wenn wir beide im

Bus unterwegs sind. Es gibt leicht etwas, worüber

wir uns gern unterhalten, und immer

lachen wir viel. Sie hat tiefschwarze Haare,

und ich finde, sie sieht ägyptisch aus. Sie ist

selbstbewusst und schön. Ich mag an ihr, dass

sie so lebensklug und fröhlich ist.

Sie hat mir erzählt, dass ihr Name „ein

Wunsch“ bedeute. Sie sei das letzte mehrerer

Kinder. Ihre zahlreichen Brüder, einer nach

dem anderen geboren – und dann geschah es

endlich: ein Mädchen! Da war ein ganz großer

Wunsch ihrer Mutter in Erfüllung gegangen,

beinahe ein Wunder. Ich wäre unsicher,

meinte ich, ob mein Hiersein gewünscht sei

oder es schlicht passierte, dass meine Mutter

mit mir schwanger wurde, und eigentlich

behält man so etwas für sich, das weiß ich

schon. Ich sagte ihr weiter noch, dass meine

Mutter selbst jedenfalls kein Wunschkind gewesen

wäre. Der „Führer“ hätte damals dem

Volk gegenüber deutlich gemacht, er benötige

Männer für den Krieg. Entsprechend ungelegen

kam die Geburt einer Tochter. Damit

sah man sich gezwungen, unter Bekannten

zuzugeben, dass man es nicht hinbekommen

hatte, Adolf Hitler einen Jungen zu schenken.

Ich bezahle, packe meine Lebensmittel ein,

gehe weiter. Ich schaue bei Erika in den Laden

und finde sie nicht gleich. Die Tür zum

Hinterraum ist angelehnt. Wir sind vertraut

miteinander, und ich nehme mir raus, einen

Fuß in den Bereich für das Personal zu setzen,

schiebe die Tür auf. Ich habe Arbeitsgeräusche

gehört, und das flotte, rhythmische

Klopfen ihrer hochhackigen Schuhe auf

dem Boden ist mir lieb geworden und unverkennbar.

Erika ist aus Frankreich, ich vermute,

dass ihre Familie im Elsass beheimatet

ist. Genau weiß ich es nicht. Wenn keine

Kunden im Laden sind, reden wir ein wenig.

Eine kurze Pause machen, dann erzählt sie

manchmal auch von Besuchen zu Hause. Ich

liebe ihren Akzent.

Sie ist klein, hübsch und immer beschäftigt

zu ordnen. Sie muss katalogisieren, für die

Inventur, neue Ware bestellen und Sachen

auspacken, die gerade geliefert wurden. Für

gewöhnlich ist sie vormittags allein im Geschäft.

Da kommt es vor, dass sie nicht überall

gleichzeitig sein kann, obschon Kunden

und Vorgesetzte es möglicherweise möchten.

Erika ist unersetzlich. Ihre Kollegin (aus

Polen glaube ich) sagt: „Erika ist ein Pferd.

Klein, zart wie Edith Piaf der Spatz von Paris,

aber stark wie ein kräftiger Gaul; sie arbeitet

uns an die Wand.“

Sie schaut kaum auf, während sie einen

mächtigen Pappkarton zerteilt. „Ich wollte

nur guten Morgen sagen.“ Sie antwortet

nicht, schaut mich finster an, reißt vernehmlich

eine Klappe vom Karton ab. Sie

umklammert die Pappkiste vor dem Bauch.

Der Gegner ist so groß, dass ihre gestreckten

Arme eben genügen, die Kanten mit den

Händen zu greifen. Erika nimmt eine Schere

zur Hand, umfasst das Ding wie eine Waffe

zum Dolch geschlossen und sticht heftig mit

aller Gewalt fünf, sechsmal in den Karton,

presst ihn fest an ihren schmalen Leib.

Ihm den restlichen Atem vollends abschneidend,

drückt sie zu, dass es nur

so knackt, und unübersehbar ist ihre

Absicht, solange zuzustechen bis der

Feind auch wirklich tot ist. Ich lache

(verdeckt durch die Mund-Nase-Maske),

sie grinst mich böse an. Töte ich

einen, bin ich fähig, noch mehr von

euch abzustechen, nimm dich in Acht!

heißt das. Immer noch schenkt sie mir

kein einziges Wort. Als läge die Lunte

am Dynamit, bereit angezündet zu

werden, für den Wumms, der hier aber

auch wirklich alles in winzig kleinsten

Staub zerpulvert, wenn ich nur eine

Sekunde bliebe? Diabolisch funkeln

ihre Augen; und ich liebe sie sehr für

diesen Moment. Ich gehe, ohne noch

etwas zu sagen, und rufe frech, als ich

sicher draußen bin: „Es sind zwei richtige

Kunden gekommen …“

Ich verlasse das „Staddi“, und es regnet mehr.

Ein Bus kommt gerade an. Spontan gehe ich

durch die offene Tür an Bord, weil es doch

recht nass ist, und bezahle für die kurze Strecke

nach Hause. Wir sausen einen Kilometer

über die Schnellstraße wie ein Reisebus auf

Überlandfahrt, weil am Kreisel Baustelle ist.

Eine Umleitung, der Busfahrer genießt es

sichtlich, so ungestört zu gleiten. „Kaffeefahrt“,

sage ich, „jetzt den ganzen Wagen voll

mit Senioren“, und er lacht. Wir nehmen die

Kurve der Abfahrt und klettern mit dem langen

Gelenkbus mühelos ein paar Meter auf

die Geest. (Mutmaßlich) Jörn hat hier Kühe

im Regen stehen? Verstreut bilden sie lockere

Grüppchen. Eine überzeugt nicht in ihrem

schwarzbunten Kleid, mehr grau verwaschen

sind diese Flecken. Ein schlappes Aquarell,

ungeschickt drauf gekleckert. Es sieht wie

nicht wasserfeste Farbe aus, die im nassen

Wetter allmählich runtergespült wird. Wenn

es weiter regnet, ist heute Abend alles abgewaschen?

Meine Gedanken treiben – bis

nach ganz weit weg, und es tut einmal mehr

weh zu träumen.

Und diese Kuh hier vorn, wird bald schlicht

weiß sein, glaube ich.

Jeder weiß, was Gefühle sind. Zumindest nehmen

viele an, das Normale zu verstehen, wie

es, so vermuten sie, wohl bei allen ähnlich

ist. Manches wird ausgeblendet. Gewalttaten,

psychische Absonderlichkeiten sind Fehler

von anderen: „Das muss ich nicht begreifen“,

sagen sie und nehmen an „das verstünde niemand“,

wenn „Schlimmes“ in den Nachrichten

kommt.

Im „Hamlet“ aber, so um das Jahr 1602 herum

veröffentlicht, von William Shakespeare, dem

großen englischen Dramatiker, erfahren wir

bereits: „Einen anderen kennen, hieße sich

selbst kennen.“ Sinngemäß angewendet bedeutet

es, dass die meisten von uns sich nicht

kennen. Psychopathen sind auch Menschen,

genau wie Mörder und einfache Betrüger. Mit

der verbreiteten Annahme, man selbst käme

nie auf die Idee, ein Verbrechen zu begehen

und deswegen im Gefängnis zu landen oder

so durchzudrehen, dass die Aktion in eine

forensische Psychiatrie führt, blenden Menschen

viel aus. Sie finden mit dem Begriff der

Schuld oder Schuldunfähigkeit das befreiende

Wort. Es schafft eine Schublade, und fertig

ist das Weltbild.

Was genau Melancholie, Zorn oder Angst

dem Einzelnen bedeuten, hängt von individueller

Erfahrung ab. Einige können Gefühle

nicht einordnen. Zwischen der Bezeichnung

der Emotion, wie sie im Sprachgebrauch typisch

ist und dem eigenen Erleben, stehen

Erinnerungen, die das Empfinden maskieren.

Manche werden krank, weil sie nicht wissen,

dass sie nicht merken, wie es ihnen geht. Das

kommt möglicherweise durch Erfahrungen

im Zusammenhang mit Gefühlen und gleichzeitiger

Belehrung von Bezugspersonen. Weil

Kinder abhängig sind, können sie auf eine

subtile Weise unter Druck gesetzt werden. Ein

Einfluss der so machtvoll ist, weil die liebenden

Eltern annehmen, nur Gutes zu tun. Hier

beginnt bereits die Bewertung, was gut sei.

Wenn sich etwas für jemanden gut anfühlt,

muss das noch lang nicht heißen, universell

gültig zu sein.

Okt 27, 2020 - Die Entdeckung der Angst 90 [Seite 89 bis 94 ]


# Du willst es doch auch

Ein alltägliches Beispiel, das unspektakulär

daher kommt, fällt mir ein. Es kann zeigen,

wie wir übergriffig Einfluss nehmen, wenn es

einfach ist. Erwachsene missbrauchen unabsichtlich

elterliche Macht: Ich bin am Zeichnen,

und eine junge Mutter mit einem Mädchen,

das gerade erst laufen kann, erscheint.

Im Schatten der Waschanlage einer Tankstelle

beschäftig sich die Tochter neugierig mit

irgendetwas. Die Kleine bleibt immer wieder

am Boden hocken. Das Kind greift Blätter,

Steine oder sonst was vom Boden, um alles

genau zu untersuchen. Das nervt die Mutter

offensichtlich. Sie nimmt es bei der Hand und

sagt: „Komm weiter!

Wir wollen nicht im

Schatten gehen, hier

ist es viel zu kalt.“ Die

Schnute, die sie formt,

um dem Satz Nachdruck

zu verleihen, die

an eine Trutsche aus

den Fünfzigern denken

lässt, aber nicht an eine

zwanzigjährige Mutter

heute, der Tonfall, mit

dem sie „wir“ (als gemeinsame

Festlegung

des Empfindens) sagt

– böse! Dann zieht sie die Kleine wie einen

Hund an der Leine weiter. Mal davon abgesehen,

dass Eltern fürsorglich handeln, wenn

sie ihren Kindern die Risiken von Kälte oder

Schmutz am Boden lehren, haben Emotionen,

die mit der Situation nicht im Zusammenhang

stehen, sondern den Befindlichkeiten

des Erwachsenen geschuldet sind, hier nichts

verloren.

Zuerst kommen wir auf die Welt, dann lernen

wir zu sprechen. Für alles gibt es ein Wort.

Das ist der Tisch, der Stuhl, und hier ist unser

Wohnzimmer. Wir haben ein Auto, und Papa

kann es fahren. Der Hund bellt so laut, und

du fürchtest dich? Die Eltern geben auch den

Sachen einen Namen, die gar keine Sachen

sind.

Für mich und genau meine Gesundheit

wurde wesentlich herauszufinden, wie die

verschiedenen Gefühle im Organismus individuell

wirken. Ich musste lernen, wovon die

Allgemeinheit annimmt, dass es ein natürliches

Ding ist; mit dem Wort „Charakter“ geht

jedermann um, als wüssten alle Bescheid,

aber so einfach ist es nicht. Jetzt gerade ist

erneut ein furchtbares Attentat geschehen.

In Frankreich wurde ein Mann enthauptet.

Da diese Bluttat im Zusammenhang mit

Zeichnungen, also Kreativität und Kunst

geschah, berührt es mich kollegial. Der getötete

Mann war Lehrer gewesen. Er wurde

mutmaßlich zum Ziel der Attacke, weil er Karikaturen

im Unterricht zeigte, die Anlass für

den Anschlag auf die Redaktion

einer Satire-Zeitschrift gewesen

sind. Heiligtümer in irgendeiner

Weise zu verunglimpfen, ist riskant.

Aus gutem Grund wird auch

Christen nahegelegt, sich kein

Bildnis vom Herrn zu machen.

Ich muss an etwas ganz anderes

denken, möchte schnell weg

vom aktuellen weltpolitischen

Thema – und ein persönliches

Erlebnis erzählen. Vielleicht eine

viel bessere Idee, sich der Sache

anzunähern.

Eines meiner Probleme schien mir vor mehreren

Jahren zu sein, dass ich nicht Trompete

spielen konnte. Nun gibt es einige, die es

nicht können, und für viele ist es nicht wichtig.

Da sind welche, die würden sagen: „So

lerne ich halt Klavier.“ Andere fänden: „Was

soll mir die Musik (ich kann genau so wenig

mit dem Fußball treffen), male ich halt ein

Bild.“ Mir kommt dieser Spruch in den Sinn

(ein alter Witz), sagt der Lehrer zum Schüler:

„Sie werden’s lang üben müssen, bis Sie

merken, dass Sie kein Talent haben.“ Für die

Musik, und besonders die Trompete, habe ich

tatsächlich überhaupt kein Talent. Und ich

übe schon lange.

Manche meinen Talent wäre nebensächlich,

weil es das nicht gäbe, und man könne alles

erreichen, wenn man nur wolle? Ich konnte

gleich als Kind zeichnen und wurde spielend

besser. Das musste ich nicht wollen. Ich

habe es einfach so gemacht. Musikalisch

bin ich kaum, obschon ich es liebe, Jazz zu

hören. Ich tröte lustvoll, was ich nie wirklich

konnte – ich habe damit gar kein Problem.

Das war nicht immer so.

Um singen zu können oder ein Blasinstrument

zu beherrschen, muss man frei atmen.

Schnell und unspektakulär füllt sich

die Lunge mit Luft, vernünftigerweise bis

unten runter in den Bereich vom Unterleib.

Je nachdem, ob man zu denen gehört, die

gern volltanken oder den anderen, die oft

tanken, muss da ein praller Ballon voller

Energie sein. Für leise Töne sparsam ein

wenig Luft dabeizuhaben reicht nicht. Es

braucht grundsätzlich Dampf auf dem Kessel,

dem man wenig entnimmt, damit es

leise bleibt, wenn’s gewünscht ist. Einige

können es nicht, und es ist wohl kein Zufall,

dass ich auf die Trompete versessen bin.

Schließlich habe ich Wesentliches gelernt:

Atmen, Haltung und Wohlbefinden hängen

miteinander zusammen.

Gefühle und Körperhaltung sind bei manchen

zwanghafter verwoben als bei anderen,

und sie könnten geschickter Einfluss

auf die Qualität ihrer Bewegungen nehmen.

Wie sich’s anfühlt, etwas zu tun und

von den begleitenden Emotionen getrennt

wahrzunehmen, bedeutet Selbstbewusstsein.

Wer’s kann, dem geht es gut oder angemessen

selbst dann, wenn es Grund zu Traurigkeit,

Sorgen und anderem gibt, was nicht gefällt.

Fehler werden erträglich, wenn sie sich nicht

in die Haltung einbrennen, als hätten wir nun

das Recht zu leben verwirkt und müssten uns

erkennbar schämen oder extra auftrumpfen,

herumstapfen. Heute bin ich besser mit der

Trompete, aber ich kümmere mich kaum darum.

Es ist eine Geschichte wert zu erzählen,

wie es mir mit der Musik ergangen ist, und

was ich eigentlich gelernt habe.

Natürlich habe ich immer viel Musik gehört.

Das heißt aber noch nicht, dass jemand frisch

nach Gehör spielen kann, weil er viel hört. Ich

fand es schwierig, als Erwachsener einfache

Kinderlieder auswendig zu probieren. Andere

bekommen es mit. Um leise Trompete spielen

zu können, ist man entweder von Beginn an

dieser Typ Bläser mit leichtem Luftfluss und

maßvollem Geschick oder lernt es nach und

nach. Ich war grundsätzlich laut. Aber auch

für erfahrene Musiker gibt es Dinge, die sich

als typisch erwiesen haben, dass man weniger

Mundstückdruck benötigt, wenn man

ausgeruht ist oder: „Laut geht immer“, meinte

einmal ein verdienter Posaunist zu mir, der

sich im traditionellen Jazz einen Namen gemacht

hat.

# Übe ausnahmslos jeden Tag …

Es war im Herbst, ein Jahr nach der Jahrtausendwende.

Um zu üben, nutzte ich einen

Kellerraum. Darüber befand sich ein Geschäftshaus,

der Keller lag zur Straße hin.

Eine Kasematte mit Gitter in Höhe des Fußwegs

befand sich an der Außenwand vom

Nachbarkeller. Ich schloss regelmäßig die

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verbindende Stahltür, damit ich oben nicht

zu hören sei. Schritte im Laden über mir

waren zu hören, es ist anzunehmen, dass

umgekehrt meine Trompete bemerkt wurde.

Genau weiß ich es nicht.

Das muss ich erzählen, denn es gehört zu

dieser Geschichte ganz unbedingt dazu:

Jeder erinnert, wo er war – an dem Tag, als

die Flugzeuge in das World-Trade-Center

stürzten. Ich bin gerade im Elbe-Einkaufszentrum

unterwegs gewesen, und bei Wiesenhavern

lief es auf mehreren Fernsehern,

die dort zum Verkauf standen. Die Leute

waren noch ratlos, und erst als ich zu Hause

ankam, verstand man allmählich, was gerade

passierte.

Wir schauten stundenlang Fernsehen, bis es

nicht mehr ging.

# Der Kapitän fuhr noch in der Nacht mit dem

Schiff Deutschland quer über einen stürmischen

Nordatlantik, und ohne auch nur einen

Moment zu zögern, legte der Kanzler damit

direkt im Hafen von New York an. Noch aufgewühlt

wie das kriegerische Meer vor seinem

inneren Auge, mit dem er für uns die Zukunft

fokussiert hatte, trat er an die Mikrofone. Mit

Blick auf die rauchenden Trümmer sprach

Gerhard Schröder den Satz von der uneingeschränkten

Solidarität zu den Vereinigten

Staaten von Amerika –

Natürlich waren wir geschockt, es war unfassbar.

Mohammed Atta hatte in Harburg

studiert, hieß es, und er wäre Ägypter gewesen.

Islam-Wissenschaftler sprachen in

Talkshows: Der Heilige Krieg, er habe begonnen.

Etwa zu der Zeit ging mir eine Melodie im

Kopf herum, und ich probierte sie zu pfeifen,

überlegte, was es sei. Ich hatte gelegentlich

eine Horowitz-CD gekauft, und

dort war es drauf? Zunächst konnte ich das

Ding, eine Art Gassenhauer fand ich, nicht

recht unterbringen. Während ich mit unserem

Auto zum Probe-Raum unterwegs war,

pfiff ich die Melodie immer treffender vor

mich hin, meinte ich. Ein richtiger Ohrwurm

in meinem Kopf.

Draußen stand New York im Schock. Der Planet

in Panik. Er suchte die vertraute Linie im

trüben Licht um eine vollverschleierte Sonne.

Die Zivilisation schien gefährdet. War ich

noch sicher auf meiner gewohnten Straße?

Gestern erst war die Welt aus den Fugen geraten

– meine eigene Welt aber schien doch

gerade ganz in Ordnung zu sein, und ich freute

mich auf die Trompete! Es ging so leidlich

und begann mir schon Spaß zu machen. Ich

hatte ein paar Stunden genommen. Mein

Tonumfang wurde größer, ich war routiniert

und bildete den Ansatz zuverlässig mit meinen

schon geübten Muskeln.

Im vertrauten Keller angekommen, machte

ich mich entspannt bereit zu spielen. Ich

wärmte ein wenig auf, beschloss, die Notenhefte

sein zu lassen und den vertrackten

Ohrwurm Musik werden zu lassen. Es war gar

nicht schwer. Ich fand eine passende Tonart

und schmetterte allmählich immer lustvoller

los. Hei, das war ja was zum Spielen! Es

kam mir irgendwie bekannt vor, was war es

nur? Das gefiel mir nun gerade – das konnten

die Leute da oben doch gern hören, denn ich

klang gut wie selten.

Dann war mal Schluss, und ich fuhr zurück

nach Bahrenfeld, wo wir unsere Wohnung zur

Miete hatten. Nun musste ich aber wissen,

was ich eigentlich geblasen hatte. Ich summte

es weiter vor mich hin, während ich die

Treppe nach oben nahm. Dann hatte ich eine

erste Idee, das Thema war doch mal in der

Werbung gewesen? Ich probierte zu singen.

Schnaps!

„Komm – doch – mit auf den …?“

„Underberg“ vielleicht? „Schmeckt zwar ganz

schön bitter, aber …“ So irgendwie hatte es

geklungen.

Die „Fünf-Minuten-Terrine“ von Maggi, keine

tolle Idee – e. Nee.

Ich grübelte ratlos, suchte ein dickes Buch

über den Klavier-Virtuosen, der mir als Urheber

verdächtig vorkam, fand es nicht, ärgerte

mich allmählich, wegen der penetranten Töne

im Hirn, die mehr und mehr zu einem billigen

Jahrmarktlied mutierten, das jede Kirmes

beträllern konnte und begann meine Musik

insgesamt durchzusehen. Es war noch ganz

üblich, einen CD-Player zu verwenden. Dann

bekam ich die Horowitz-Platte in die Finger,

ja – ich überlegte. Das könnte es sein.

Jetzt muss ich an anderer Stelle weitererzählen,

sonst geht die Pointe der Geschichte

nicht auf. Als Überschrift habe ich „Die

Entdeckung der Angst“ nicht ohne Grund

gewählt, möchte vorsorglich daran erinnern.

Damit ein roter Faden das Ganze

zusammenhalten kann.

Der schon erwähnte Laden über dem

Probe-Keller, wo ich mit der Trompete

übte, war ein nur schummrig ausgeleuchtetes,

etwas fremd für diese Straße

anmutendes Bekleidungsgeschäft,

das den Anschein erweckte, man kaufe

dort auf einem orientalischen Basar

ein. Bunte Klamotten, wehende Tücher

und der Inhaber – hier muss ich einen

(langen) Satz einschieben: Wenn ein

Däne in Deutschland lebt, ist es ein

Däne, ein Skandinavier meinetwegen.

Ein Schotte ist einer aus Schottland und

rothaarig wie einige hier bei uns auch.

Französinnen finden wir attraktiv, sie

sprechen charmant, und wir alle können

liebevoll imitieren, was sie typischerweise

aus unserer Sprache machen. Mit

den Niederländern, den Österreichern

geht es uns genauso. Ein Amerikaner

bleibt ein „Ami“ und kann blond sein, hat

einen Akzent, der uns angenehm nachzuahmen

ist, wenn er bei uns lebt. Aber

ein Türke, ein Perser oder ein Ägypter,

Araber, Afrikaner, sie sind: „Ausländer!“

Eine etablierte Unsitte; ich probiere taktvoll

etwas zu sagen, was nicht ganz einfach

ist, und möchte mich auch distanzieren, von

pauschalen Blödheiten dieser Art, Menschen

abzustempeln – der Laden über dem Keller

wurde also von jemandem geführt, der dem

Namen und Aussehen nach von vielen allgemein

als „Ausländer!“ eingeordnet würde. Ich

gebe gern zu, dass ich nicht mehr über ihn

weiß.

Ich habe kein Problem damit wie einige,

die Gegend rund um das Hansa-Theater am

Steindamm durchzuspazieren, war im Süden

von Chicago zu Fuß unterwegs, und dort gehört

es sich, im Auto zu fahren, um sicher zu

sein. Ich bin möglicherweise gefährlich naiv,

trotzdem: Seit der Flüchtlingskrise begreifen

wir, wie viele dieser sogenannten Ausländer

langjährige Leistungsträger unserer Gesellschaft

sind, hier arbeiten, gut integriert sind.

Der Klamottenladen, keine Ahnung, was für

ein Landsmann das genau gewesen ist: gut

möglich, dass der Betreiber dieses Geschäfts

gläubig dem Islam angehörte. Es

gab keine Berührungspunkte. Hat mich

überhaupt jemand gehört? Zugehört,

wie ich selbst alles immer empfunden

habe: Oh – peinlich, ein falscher Ton,

schon wieder! Möglich, dass gelegentliches

„guten Tag“ sagen dem Verkäufer,

oben im vermeintlichen Orient-Basar,

gedanklich anderweitig beschäftigt, gar

nicht für eine ohrenscheinliche Verbindung

genügte.

Mit dem Abspielen der CD, dem Begreifen

des Titels, kam mir die Erinnerung:

Ich hatte mal etwas über das bekannte Stück

gelesen, und zwar in einer Biografie des berühmten

Pianisten. Das war ursprünglich

nicht für Klavier-Solo notiert, und Vladimir

Horowitz hat daraus eine Glanznummer

entwickelt, ein Markenzeichen seiner Virtuosität.

Er konnte, beim in dieser Nummer

stets machtvoll aufbrandendem Applaus

des begeisterten Publikums, bravourös ein

ganzes Orchester imitieren. Und wirklich, ir-

Okt 27, 2020 - Die Entdeckung der Angst 92 [Seite 89 bis 94 ]


gendwelche Piccoloflöten wären scheinbar

so klar herausgekommen, wie wenn weitere

Musiker tatsächlich welche gepfiffen hätten,

schrieb der Biograf in seiner Hommage,

als habe nicht der tolle Alte ganz allein mit

seinem Flügel losgedonnert. Auch ich pfiff

noch fröhlich mit, und dann erinnerte ich allmählich

den Slogan aus der Werbung: Es war

nicht „Underberg, ganz schön bitter“, das ging

mehr in Richtung „… wäscht nicht nur sauber,

sondern rein!“

Ich spülte Gedanken wie eine Waschmaschine

und grübelte intensiv, dachte an „Ariel“

und alternativ an den konkurrierenden weißen

„Riese“. Eine lange Leine erschien vor

meinem inneren Auge. Wind wehte Wäsche

– und hat mir ein Lied erzählt? Ein blödes

Rauschen vom Meer etwa, hätte mir inzwischen

besser gefallen. Nicht nur sauber, sondern

rein und aufdringlich präsent erklang

die Melodie in meinem Kopf. Es wollte mir

nicht einfallen. Bitter!

Bitter, Magenbitter … „Fernet-Branca, man

sagt, er habe magische Kräfte“ – nein. Mir kam

nun jeder Spruch aus den Tiefen der Erinnerung

hoch: „Hast du keinen, leih dir einen!“

Eine Brandmauer am Fischmarkt war damit

bemalt. Ein Autofahrer sitzt im Nichts der

Fläche, ohne Auto, mit einem Lenkrad

in der Hand. Der Slogan wurde typografisch

vom Kopf des Mannes – der

einen Hut aufgesetzt hatte, wie man

ihn früher beim Fahren trug – unterbrochen.

Die Zeichnung war einfach

konzipiert und gut für den Maler einer

Fassade geeignet, in diese Größe

übertragen zu werden, im Stil des

bekannten HB-Männchens.

Es gab viele dieser leeren Fassaden

ohne Fenster und alte Brandmauern.

Heute sind sie nahezu vollständig

aus dem Stadtbild verschwunden.

Lücken des Krieges sind nicht mehr

auffindbar. Die Werbung, die viele

(bis es allgemein verpönt war) noch

als „Reklame“ bezeichneten, kommt

anders daher. Graffiti waren in Hamburg

selten und entwickelten sich

erst mit der Zeit. Sie sind nicht mehr

wegzudenken und werden nie mehr

verschwinden, solange wir wie gewohnt

leben. Dass sie als Straftaten

geahndet werden, ruft Freude bei

denen hervor, die Säuberungen der

Gesellschaft grundsätzlich begrüßen.

Graffiti ist authentisch, kein „Schmierkram“.

Fassadenwerbung war genauso

gekonnt. Wir vergessen

gern, dass echte Motivation

die Schaffenden bewegt, um

kreativ zu überleben.

Unsere Welt ist der Faszination

des Perfekten erlegen.

Wir steigern uns, indem wir

das Falsche bekämpfen. Da

scheint es erfreulich zu sein,

wenn nicht nur geschimpft

wird. Schülerinnen und

Schüler sprühen im Kurs –

ich sehe das kritisch: brav

und stets bemüht, meistens

eine Beleidigung für das

Auge. Initiiert von lieben

Lehrern und Lehrerinnen,

um das verpönte Straßenkunstwerk

schon im Ansatz unmöglich

zu machen? Graffiti ist nicht

lieb. Kommt immer wieder, wie das

Unkraut.

Die Unfähigkeit der Gesellschaft zur

Integration, der Ärger über Fehlverhalten

und daraus resultierende

Anstrengungen, Randfiguren zu eliminieren,

werden nicht verhindern,

dass ihre Zahl noch wächst. Feist

integrierte Reiniger verkennen, dass

unsere Gesellschaft beängstigende

Typen mit unerträglichen Lebenswegen

selbst erschafft. Niemand wird asozial

geboren, wählt den schlechten Weg gern.

Wir tun nur, was plausibel erscheint. Fantasie

infiziert, zeigt Anderen kreative Wege. Ich

habe nicht den Eindruck vom Vorhandensein

starker zeitgenössischer Kunst, die Nachahmer

bei der Jugend hervorbringt: Nerven

strapazierende Kulturförderung des Banalen.

Beschmierte Wände kann ich gut tolerieren.

Frust ist ein vertrauter Partner der Motivation.

Wo ich auf die alten Ansichten verzichten

muss, die meine Kindheit belebt haben, freue

ich mich an jeder Ursprünglichkeit. Ich bin

bestimmt nicht darauf versessen: korrekte

Kunst. Jonathan Meese ist da schon herzerfrischend.

„Miese Stimmung, saurer Wein – schwüles

Klima, ganz allein? Da fällt mir was Wunderbares

ein: Langnese Eiskrem!“ reimte Gerd

Vohwinkel für einige Hamburger Jazzer, die

„ihre Seele verkauft hätten“, sich sponsern

ließen, meinte dazu ein Saxophonist. Und

mir fällt der singende Rudi Carrell ein, dem

ich sogar einige Male begegnet bin. Er fragte

damals: „Wann wird’s mal wieder richtig

Sommer? Ein Sommer, wie er früher einmal

war.“ Ohrwürmer bohren Löcher ins Hirn.

Diese Leihwagensache und „Pack den Tiger

in den Tank“, von Schlotfeldt, den ich später

ebenfalls kennenlernte, als Kind verstand ich

das alles nicht und nahm etwa an, man solle

doch einen Hut leihen. „Hast du keinen Hut,

leih dir einen“, schien dort auf der Mauer

zu stehen.

Das las ich, wenn mein Vater das Auto beladen

hatte und der Heimweg nach Wedel

begann, wir die große Kurve am Berg vom

Altonaer Rathaus in Angriff nahmen. Der

VW-Transporter war das erste Fahrzeug,

das uns gehörte, nachdem „Bassiner-Wedel“

(so nannte man Erich am Fischmarkt)

seinen Führerschein gemacht hatte. Die

Großhändler mochten bei Bestellungen

wohl Klarheit haben, um wen es ging,

weil es noch den Cousin in Othmarschen

gab, bei dem Bassi seine Ausbildung gemacht

hatte. Bevor wir den eigenen Laden

schließlich eröffneten, kaufte mein Vater

sein „Fischauto“. Von da an fuhr er jeden

Morgen los nach Hamburg (Altona) „zum

Markt“. Wir verschlissen mehrere davon im

Betrieb über die Jahre, bis meine Eltern ihr

Geschäft später aufgaben, und der Klassiker

mauserte sich allmählich zum modernen

Fahrzeug. Anschnallgurte wurden Pflicht;

und heute wäre wohl undenkbar, mit einer

Horde Kinder auf der Ladefläche zu fahren,

die fröhlich winken? Während mein Vater

mit uns an der Wache der örtlichen Polizei

vorbei düste, hatten wir einen Mordsspaß.

Anfangs kennzeichnete das Modell noch

Okt 27, 2020 - Die Entdeckung der Angst 93 [Seite 89 bis 94 ]


eine getrennte Frontscheibe und war blau.

Der letzte einer langen Reihe dieser Bulli-

Pritschenwagen war schließlich auch das

erste Auto, das ich selbst fuhr, nachdem

ich die Prüfung bestanden hatte und den

grauen Lappen bekam. Einen Pkw hatten

wir zunächst gar nicht.

Das Fischauto. Jeden Morgen muss ein

guter Händler, der was auf sich hält, damit

zum Markt. Einige Male war ich dabei, ja.

Anfangs bin ich noch klein gewesen, und

das war immer so toll! Ein Abenteuer, allein

so früh aufzustehen, unglaublich.

Selten habe ich Erich in die morgendlich

immer sehr früh anberaumte Auktion begleitet,

wo das spannende Bieten faszinierte,

aber die Einkäufe bei Hanzi Krause, Willi Walter

oder Goedeken, Will’em Bassing und vielen

anderen Großhändlern, hauptsächlich in

der langen Ladenstraße, sind unvergesslich.

Sogar an den Betrieb in der alten Fischauktionshalle

mit dem regulären Verkauf dort, zum

Beispiel bei Aal-Ilse und dem Matjes-Händler,

bei dem mein Vater am liebsten einkaufte, erinnere

ich mich. Und das ist wirklich sehr lange

her. Heute ist das eine restaurierte Halle

für Veranstaltungen. Ein begehbares Museum

und ein Stück Hamburger Geschichte.

Nachdem wir alles erledigt hatten, aßen mein

Vater und ich manchmal noch eine Fischmarkt-Wurst

in der „Klappe“. Unzählige Erinnerungen

kommen mir, und dies ist nicht die

Geschichte, sie alle darin unterzubringen. Es

gab im Wagen keine extra integrierte Kühlung

für die Ware. Satt in reichlich Eis eingebettet,

lag der frische Fisch in flachen Kisten

aus billigem Holz, wie man es früher ganz

selbstverständlich normal fand und das von

allen Händlern üblicherweise so gemacht

wurde, die Ladefläche abgedeckt mit einer

blauen Plane. Ein Fischauto von heute

muss vorschriftsmäßig über eingebaute

Kühlgeräte verfügen. Der Transporter, wie

wir ihn verwendeten, hatte eine extrabreite

Pritsche mit hölzernen Ladeklappen. Wir

hämmerten ihre verzinkten, manchmal eisig

kalten Bügel an den Ecken mit der Hand

fest, nachdem alle Kisten aufgeladen waren.

Bevor wir starten konnten, mussten wir

die lange, etwas dehnbare Reihleine, deren

schmiegsamen grauen Gummiüberzug ich

noch gut erinnere, rundum in die Haken an

den Klappen zwängen. Das waren manchmal

böse „Aua-Haken“.

Wenn wir fuhren, erzählte mein Erich von früher.

Der Krieg? Für ihn nur ein Spiel, er wäre

zu jung zum Begreifen gewesen, meinte er.

Brandbomben

sammeln, die

nicht angefan-

gen hatten zu brennen. Im Fanfarenzug marschieren

und dabei tuten, kaum militärisch

unterwegs mit der verpflichtenden Hitlerjugend

und dann Kohlenklauen in der schlechten

Zeit. In der Schule wurde man verprügelt,

normal damals.

Ob mein Vater wusste, was Angst ist?

Später trabten alle nur aufwärts, als hätten

sie’s verdient erfunden: das Wirtschaftswunder.

Es ging uns gut in Wedel! Ich habe auch

davon profitiert. Kindheit bleibt gegenwärtig.

Das kannst du nie vergessen: Es ist frühmorgens,

und nun zurück nach Hause. Die

Sonne geht auf, der Transporter ist voll mit

Fisch, der Motor röhrt mächtig los am steilen

Hang, dass alles vibriert, wenn wir den Berg

zur Elbchaussee rauf nehmen – und ich darf

mitfahren!

Erinnerungen formen noch heute mein visuelles

Repertoire. Es ist wichtig für Kreative,

zurückgehen zu können, einen Brunnen voller

Einfälle finden, Imaginäres zu schöpfen und

wie ein Kind mit alten Bildern zu spielen.

# Da passiert es

Wir stoßen unversehens drauf, begreifen

zunächst gar nicht was geschieht

– und öffnen irgendwann die

Büchse der Pandora, begegnen der

eigenen Angst! Nur einen Spalt weit

mag unsere Fantasie die Wirklichkeit

beiseite drücken. Furcht betritt den

Raum. Dann ist es gut, eine eigene

Vision dem Bösen strategisch entgegenzustellen.

In Bildern zu denken,

sich eine noch größere Wirklichkeit

mit eigenen Chancen auszudenken,

ist nun wieder besser, als akribisch

die Wahrscheinlichkeit auszurechnen,

mit der man die Risiken besteht.

Die Schule ist aus, und was nun? Kinder

lesen noch Bilder: Hut = Wort wie

in (Sesamstraße oder) der Fibel „Fangt

fröhlich an“, die wir zum Lesenlernen in

der Grundschule bekamen. Jeder kannte:

„Ich bin zwei Öltanks“, ganze Schulklassen

und zahlreiche Lehrer hatten empört

Brandbriefe geschrieben.

„Falsches Deutsch!“

Diese gelbe Tonne stand auf vielen Feldern

am Straßenrand, aber niemand sang dazu.

Das war es also auch nicht.

Ah, jetzt … endlich. Da fiel es mir wieder ein

– ja!

Jaaa – Ha!

Daa, da da-da-da … dadada – !!

„Der Ge-ener-aal; (Rumms-Bumms) – !“

Das war’s.

„Denn nur was richtig sauber ist, kann

richtig glä-ä-ää-nzen!“

„The Stars and Stripes Forever“, composed

by John Philip Sousa in 1896.

It is the national march of the United

States of America and probably Sousa’s

greatest composition.

God bless America!

:)

Okt 27, 2020 - Die Entdeckung der Angst 94 [Seite 89 bis 94 ]


Die Wendlertreppe

Nov 4, 2020

„Eine Karriere kann nicht nur nach oben gehen.“

Die Schlagzeile ist mir ins Auge gefallen.

Ein Interview mit Howard Carpendale.

Ungefähr zur selben Zeit findet sich eine

Randnotiz im Schenefelder-Tageblatt: „Psychotherapie,

Notizen gehackt“, vertrauliche

Notizen aus Sitzungen beim Arzt gestohlen,

Patienten per E-Mail erpresst. Natürlich, das

eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Aber

diese Themen sind nicht so weit auseinander,

wie es scheint. Wir leben in Beziehungen.

Damit steht es nicht allein in unserer

Macht, eine Karriere gradlinig zu leben. Andere

können empfindlich stören. Manche von

uns lassen sich zudem leichter aus dem Tritt

bringen und segeln die Stufen abwärts, bis

sie sich und ihr Leben wieder im Griff haben.

Der Schlagersänger Michael Wendler macht

gerade vor, wie es gehen kann. Nachdem eine

atemberaubende Entwicklung ihn und seine

Laura an die Spitze des Entertainments

schiebt – was tut der Mann! Verschworen

postet er zur Corona- und Medienlage in

Deutschland, macht sich unmöglich. Nach einiger

Zeit kommen erste Versuche der Schadensbegrenzung,

eine Entschuldigung beim

Sender, der mit ihm viel geplant hatte. Die

Reaktionen seien eindeutig, und ohne den

Artikel zu lesen ist klar: Wer den Schaden hat,

braucht für den Spott nicht zu sorgen.

Hochmut käme vor dem Fall, heißt es. Gestrauchelte

zu verspotten, scheint passend.

Es ist aber zu einfach und kurz gedacht,

das Drama zu begreifen. Die Grenzen zwischen

Erfolg, Dummheit und Krankheit sind

fließend. Wer seine Karriere mit unsinnigen

Behauptungen aufs Spiel setzt, gilt nicht als

krank. Wir verspotten Dummheiten und können

mit „Geisteskranken“ nicht umgehen. Wer

kurzfristig psychotisch wird, kommt gezwungenermaßen

in Behandlung. Da eine psychische

Erkrankung mehr als jede andere eine

Definition darstellt, gibt es eine erhebliche

Grauzone, in der jemand weiter eigenverantwortlich

bleibt. Der Übergang vom Spott in

vollständiges Unverständnis und die Angst

vor unkontrolliertem Verhalten,

möglicherweise Gewalt,

erzwingt schließlich die Diagnose.

Krankheit ist zunächst

ein Wort. Viele leben mit allerlei

Beeinträchtigungen, und

manche gehen nicht so gern

zum Arzt, andere ständig. Man

wird beim Psychiater nicht gesund.

Dort ist man vor allem,

weil die Gesellschaft einen

Berufszweig erfunden hat, ein

Problem wegzudelegieren. Die

Klinik oder der Arzt können ein

Schutz- und Genesungsplatz

sein. Dauerhaft bessere Wege

muss der Patient schließlich

selbst finden. Natürlich gibt es

gute Angebote. Die bessere Perspektive wird

sichtbar, wenn eine Therapie verstanden wird,

Anreize schaffen zu wollen. Das Duo aus Arzt

und Patient ist leider oft eine Dauerlösung.

Das Manko der „Psychos“, man spricht nicht

drüber. Ein Fehler, denn: Auf der anderen

Seite unserer Gesellschaft sind beispielhaft

Menschen, die sich lustvoll im Netz ausbreiten

und ein gutes Einkommen mit der Selbstdarstellung

erzielen, einige auch nackt vor

der Webcam. Die sind nicht krank. Das Problem

ist kaum, dass Daten gehackt werden, die

niemanden etwas angehen: Das Problem ist

eine falsch verstandene Realität, in der das

Gute die Bösen aufhält. Das gibt es nur im

Film.

Meine Oma verwendete noch den Ausdruck

der schiefen Bahn, auf die ein junger Mensch

abrutschen könne. Damit war kriminelle

Gesellschaft gemeint, Menschen, mit denen

man sich nicht abgeben solle. Das Virus der

Gauner stecke an, und dann ginge

das Leben abwärts. Ist das so, und

wo ist oben? Im Bereich der Kleinund

Drogenkriminalität und im extremen

Fanatismus berühren sich

Straftaten und krankes Handeln,

dass erst ein Gutachten die Bewertung

vereinfacht, ob der Betreffende

bewusst das Gesetz übertreten hat.

Einen Vertrag mit Partnern zu brechen,

begründet mit Inhalten aus

dem Bereich der Verschwörungstheorie,

wird beinharte finanzielle

Konsequenzen auf den Plan rufen.

Ganz offensichtlich ist kollektiver

Wahn etablierte Methode geworden,

das Internet ermöglicht einem

beachtlichen Teil der Gesellschaft

gemeinsam wegzudriften. Menschen,

die, wären sie für sich isoliert,

unzweifelhaft als krank bewertet

würden, stärken sich im verschworenen

Denken. Die Gruppe hält sie

soweit am Boden, um im Alltag integriert zu

existieren. Ein modernes Phänomen. Wem es

gelingt, das Leben finanziell auf irgendeine

Art zu sichern, dem liefert das digitale Netz

ein perfektes Modell dazu, kollektiv mit anderen,

abgefahrene Träume und sogar individuelle

Albträume zu leben wie beim Schlafwandeln.

Aber: Nicht aufwecken; sonst bricht

Aggression sich den Weg.

Wenn man ein wenig drüber nachdenkt, ist

es immer so gewesen, Enttäuschte flippen

aus, nachdem ihnen klar wurde, dass es anders

ist als sie’s empfunden haben. Im Falle

moderner Massen auf Abwegen liegt die Verantwortung

bei der Gesellschaft insgesamt

für Realität zu sorgen. Sie muss zu ihrer Logik

stehen, die Macht der Wirklichkeit und Wahrheit.

Faszinierend, wie im Fall der amerikanischen

Präsidentenwahl, zeigt sich erst zum

Schluss, wo die wahre Stärke liegt. Obwohl

zahlreiche Fakes des amtierenden Präsidenten

und seiner Regierung belegt werden können,

bleibt lange offen, wo sich die Mehrheit

findet. Wird bewertet, wer stärker lügen kann

als eine Qualität oder gewinnt der Glaube

an die Wahrheit, über Zweifel, dass ein alter

Mann sie umsetzen kann? Dass es keinen

eindeutig beliebteren Konkurrenten für Donald

Trump gibt, zeigt einmal mehr, wie die

Dynamik einer Gruppe einen verschworenen

Block formt. Eine Abwahl des Despoten, mit

jemandem, dem die nötige Energie fehlen

könnte, es besser zu machen – daran glaubt

keine deutliche Mehrheit.

Wer ist böse, wer krank, und wer darf ausrasten?

Der Enttäuschte in seiner Wut bekommt

nur dann recht, wenn andere ihn bewusst

täuschten. Wenn sich die Umgebung nachweislich

gegen Einzelne verschwört, wird aus

der Theorie schließlich die Praxis, und die

kollektiv Gemeinen bekommen ihre „Haue“

zu Recht. Greta Thunberg ist ein gutes Beispiel

dafür, die entstandene Bewegung der

Jugend, die vernünftigerweise um ihre Zukunft

fürchtet: Die Welt der Erwachsenen betrügt

die Jugend und beschwichtigt, beschönigt

das Versagen, sich um den Fortbestand

einer gesunden Umwelt zu kümmern. Thunberg

und ihre Freunde finden es leicht, die

Lippenbekenntnisse der Verantwortlichen

mit Argumenten empfindlich zu torpedieren.

Es wäre jetzt an den verschiedenen Wendlers,

dasselbe effektiv für ihre verschworenen

Ideen durchzukämpfen, und da sieht es nicht

danach aus, als könnten sie’s.

Nov 4, 2020 - Die Wendlertreppe 95 [Seite 95 bis 97 ]


Der Computer stellt eine schräg verlaufende

Linie gezackt dar, Pixel sind eckig. Das mag

als Bild dienen. Eine psychische Erkrankung

ist eine Treppenstufe, ein Zacken in der Lebenslinie.

Erfolg sei keine Tür, durch die man

ginge, sondern eine Treppe, heißt es. Es gibt

einige, denen es nicht gelingt, aus ihrem Leben

einen Erfolg zu machen. Sie erreichen

keinen stabilen Platz in der Gesellschaft.

Obdachlose, Kriminelle, einfache Arbeiter, die

nie angemessen ihrer Fähigkeiten eine bessere

Position erreichen, bei allem übergangen

werden und sich’s gefallen lassen oder

latent psychisch erkrankte Menschen, die immer

wieder aus der Bahn geworfen werden.

Ein Sänger wie Carpendale oder Michel

Wendler, im Schlager beheimatet, sind sie

weniger selbstbestimmt als andere Künstler.

Sie müssen „liefern“, das ist die Herstellung

eines Produkts mit bestimmten Eigenschaften.

Als ich Kind war, lebte Louis Armstrong

noch, jeder kannte ihn. Ich habe einiges dazu

gelesen und liebe diese Musik – und ganz

besonders, wie Pops seinen Weg aus schwierigen

Verhältnissen fand, bewundere ich.

Puristen haben ihn dafür kritisiert, er spiele

populäre Musik anstelle Jazz. Viele liebten

es, ihn nicht nur zu hören, sie genossen seine

einmalige Bühnenpräsenz. Ein Entertainer,

und ich glaube wir könnten daraus lernen,

dass es möglich ist, ein dankbares Publikum

zu finden, sollten aber nicht den Fehler machen,

an Freundschaft, Liebe im selben Maß

zu glauben. So als würde uns eine Welt da

draußen gehören. Das kann niemand für sich

in Anspruch nehmen. Wir lieben in erster Li-

nie die Musik oder sehen jemandem gern zu.

Wenn wir Fußball mögen, ist es doch genauso.

Im nächsten Jahr kommen neue Akteure,

und dann schauen wir denen zu. Armstrong

bewundere den Kollegen Rex Stewart, heißt

es an einer Stelle, „es scheine immer, er drücke

das falsche Ventil und trotzdem käme der

richtige Ton raus“, meint Satchmo. „Vielleicht

hat er etwas, dass es für ihn macht“, sagt der

Weltstar in einer Biografie. Louis Armstrong

äußerte sich schon mal abfällig über Musiker,

die nach Europa gegangen waren, wo die

Verhältnisse für Schwarze in

mancher Hinsicht besser waren,

„sie würden nachlässig zu

üben“, meinte er. Schon Mark

Twain hat im „Bummel durch

Europa“ (1880) beschrieben,

wie vergleichsweise hart das

amerikanische Business ist.

Sich auf Musik oder Kunst

einzulassen, birgt die Gefahr

über den Wunsch nach Anerkennung

ins Straucheln zu

geraten – und beinhaltet die

unglaubliche Chance, darüber

hinauszuwachsen und die Tätigkeit

selbst zu lieben.

# Die Unabhängigkeit der

Kunst; im Wesentlichen eine

Freiheit des Denkens

Kranke sind auf Hilfe angewiesen,

sind angreifbar, können

ausgenutzt werden. Der Organismus

funktioniert als System,

das einen großen Teil des

Selbsterhalts autonom leistet.

Wir können nicht sagen, wie

wir atmen, schlucken oder was

genau mit uns auf der Toilette

passiert. Wir merken, wann wir

aufs Klo müssen. Wer zu ersticken

droht, wird alles tun, um weiter zu atmen.

Aber nur ein ausgebildeter Sänger oder

Interessierter ist in der Lage, die Atmung zu

beeinflussen. Wir atmen ununterbrochen,

ohne uns deswegen Gedanken zu machen.

Und erst bei funktionellen Schwierigkeiten

beginnen wir nachzudenken, was los ist. Für

gewöhnlich geht ein Betroffener zum Arzt.

Der beginnt den Patienten zu untersuchen

und diagnostiziert aufgrund der Befunde.

Etwa, als käme ein Auto in die Werkstatt. Vielleicht

der Grund, warum wir überhaupt von

psychischen Erkrankungen reden und sie von

körperlichen unterscheiden. Denn obwohl es

psychosomatische Störungen gibt und jeder

„Geisteskranke“ auch körperliche Auffälligkeiten

zeigt, wird deutlich, wenn es nicht

gerade um ein gebrochenes Gelenk oder

Grippe geht, dass unser Leben ein Prozess ist.

Wir entwickeln uns weiter, und zu altern bedeutet

mitnichten, dass es nun grundsätzlich

abwärts geht.

Unser Auto kennt nur eine Richtung: Unfall,

Verschleiß, Durchrostung. Menschen

entwickeln sich, und wir neigen dazu, es zu

vergessen, besonders beim Arzt: „Sie haben

die Soundso-Krankheit“, wird er sagen und

verschiedene Verläufe prognostizieren. Das

liegt daran, dass jeder Mensch ein wenig

anders ist, und insofern ist es bedenklich,

Krankheiten zu definieren wie eine Sache.

Aus praktischen Gründen gehen Ärzte über

Diagnosen zu Krankheiten, weiter zu Behandlungen.

Hätten wir vollkommen identische

Menschen, wären wir so wie Automodelle

eines bestimmten Typs, wo Fahrweise und

Lebensalter exakt dokumentiert sind und

keine intelligente Entwicklung zu erwarten

ist, könnte es eine kalkulierbare Methode

sein. Je mehr wir den Bereich gebrochener

Knochen, Schnittverletzungen oder Infektionen

verlassen und Verhaltensauffälligkeiten

oder psychosomatische Befindlichkeiten

das Problem sind, desto fragwürdiger ist

jede Diagnose. Psychiatrische Gutachten in

der Forensik erwecken nicht selten den Anschein

vom Kaffeesatz-Lesen. Voraussagen,

ob jemand zukünftig gewalttätig wird, erneut

Sexualstraftaten begehen könnte, sind selten

verlässlich.

Darin liegt in erster Linie eine Chance für den

Kranken selbst. Ich habe in der Schule „März“

von Heinar Kipphardt gelesen. Wir sollten

das Buch analysieren und Referate halten. Es

war zu erörtern: „Ist März ein Narr, der andere

zum Narren hält?“ Das Buch erzählt die Lebensgeschichte,

der behandelnde Arzt heißt

Kofler. Er versucht zu verstehen, will helfen;

das Buch endet tragisch. Dennoch bleibt die

Frage im Raum stehen, inwiefern März selbst

sein Leben als unglücklich empfindet, und

man kann sogar seinem Suizid etwas abgewinnen,

als überraschende und selbstbestimmte

Aktion, eine Inszenierung.

# Selbstverwirklichung egal?

Vor längerer Zeit konnte eine Staatsanwältin

im Fernsehen glänzen. Sie hat geschafft,

was vorher keiner Anklage gelungen ist. Ein

junger Mann hatte in Folge eines innerstädtischen

Autorennens mit anderen einen Unfall

gebaut. Ein Unbeteiligter war gestorben. Die

Staatsanwältin plädierte auf Mord, und das

Gericht war dieser Einschätzung gefolgt. Direkt

nach dem Urteil konnte das Fernsehen

mit ihr sprechen. Ich erinnere mich an ihr Gesicht

und was sie sagte. Sie war nicht mehr

ganz jung. Der Charme eines ältlichen Fräuleins

stand ihr ganz gut, rot stachen ihre Lippen

im hellen, beinahe weißen Oval der Haut

hervor, gerahmt vom mädchenhaften Haar.

Das Porträt der Anwältin füllte meinen Bildschirm

aus. Ihre Stimme bebte leicht, sie war

sich bewusst, im Fernsehen zu sein. „Der junge

Mann habe durch sein Verhalten deutlich

gemacht, dass ihm sein und das Leben anderer

vollkommen egal ist. Da sei das Merkmal

für Mord“, begründete sie ihre erfolgreich zur

Verurteilung geführte Anklage.

Unsere Gesellschaft ist gewöhnt, Ordnung

zu schaffen: „Das Merkmal für Mord“ – das

bedeutet, eine vergangene Tat zu bewerten.

Damit ist eine lebenslange Zukunft im Gefängnis

für den Autofahrer von derjenigen

erreichbar, die mit dem Gesetz umzugehen

weiß. „Und ich habe es geschafft“, mag sie

gedacht haben. Das heißt wohl, dass ihr das

eigene Leben nicht egal ist und ihre Karriere

gerade einen tüchtigen Sprung nach oben

machte. Der Mann galt nicht als krank. Eine

Einschätzung, für die möglicherweise ein Gutachten

vorliegen musste, damit die Anwältin

glänzen konnte. So ein Urteil wäre überfällig

gewesen, diese Art Rennen hätten zugenommen,

sind sich viele Beobachter sicher.

Nov 4, 2020 - Die Wendlertreppe 96 [Seite 95 bis 97 ]


# Soziale Werte werden angemahnt

Es ist hier auf unserem blauen Planeten voll

geworden, mit Menschen. Wir sind nicht mehr

in der Savanne in kleinen Gruppen unterwegs.

Sich im Leben zurechtzufinden, bedeutet sich

eine individuelle Einstellung zur Umgebung

zu erarbeiten. Einigen mag Therapie

helfen, diese zu finden. Die

Werte ganz bewusst außen vor zu

lassen, kann nützen, um sich selbst

effektiv abzugrenzen. Solange

man im Rahmen der Gesetze sein

Wohl findet oder auch im Gefängnis

zufrieden ist, eventuell nach

der Logik „die Umgebung enge

ohnehin ein“, ist die Bandbreite

der Lebensentwürfe groß. Zufriedenheit

erlangen einige an Orten,

an denen andere niemals sein

möchten. Es sind Menschen, die

etwas dafür tun und wissen, wie

es geht, das Wohlbefinden selbst

im unvermeidlichen Schicksal einer

Erkrankung, Einweisung in die

Zelle vom Gefängnis oder Ähnlichem

aufrechtzuerhalten.

Wer sich beschäftigen kann, ist im

Vorteil. Ein Gefangener, im lichtlosen

Kerker vom mittelalterlichen

Kellerverlies weggeschlossen,

erfand sich offenbar eine kleine

Zahnbürste: Die faszinierende

Bastelarbeit aus einem dünnen

Knochen und zahlreichen Tierborsten mühsam

hingefriemelt, mutmaßlich von einem

Inhaftierten hergestellt, entdeckten die erstaunten

Archäologen in England! Das gute

Gefängnis und die sinnvolle Strafe dort,

haben dem wahrscheinlich mit einer unverwüstlichen

Frohnatur gesegneten Verurteilten

noch gestärkt. Der feuchte Knastkeller

hat dem Armen scheinbar so gut gefallen

und unverdrossen zur Einsicht gebracht, es

wäre ihm gerade nicht egal, ob er morgen

Zahnschmerzen bekäme. Ratten teilten sich

die Zelle mit dem Eingesperrten. Sicher

musste er zunächst einige kleine Nager finden,

totquetschen und roh verspeisen, um

den passenden Knochen für sein Bürstchen

aufzutreiben. Er hatte Hunger? Wie praktisch

sich’s ergänzt haben wird; erst einmal in Ruhe

essen. Eine Pause und ein Verdauungsschläfchen

machen. Das fällt leicht, wenn man satt

ist und mangelndes Licht ist willkommen.

Dann werkeln, das ist nun wieder ganz einfach,

wenn der erfahrene Knastling bereits

an die Dunkelheit gewöhnt ist. Gut gepflegt

halten sie ein Leben lang: Anschließend die

Zähne liebevoll putzen, vorbildlich. Die selbst

angefertigte Zahnbürste.

Er wird reichlich

Zeit gehabt haben,

das kleine Teil exakt

zu fabrizieren – und

sein Vergnügen daran.

Wie erfreulich sich

Menschen doch entwickeln

können.

Auch im Tageblatt:

Opernsänger René

Kollo (82) hat nach

eigenen Worten keine

Freunde. „Das mit den

Freunden ist ein bisschen

komisch. Ich war

ja nun 50 Jahre nur im

Flugzeug“, sagte er. Es

folgt eine Beschreibung,

dass er mit sich

allein zufrieden sei

und „überhaupt nicht

einsam“. Das gleicht

diesem Statement von

Niki Lauda, einige Jahre

vor seinem Tod, an

das ich mich noch gut

erinnere: „Er kenne zwar unglaublich viele

Menschen und nicht wenige nähmen vermutlich

an, mit ihm befreundet zu sein. Er rede

halt gern“, meinte Lauda. „Entscheidungen

träfe er aber allein, frage allenfalls mal seine

Frau um Rat oder schliefe eine Nacht drüber,

wenn Wichtiges anstehe. Er wüsste nicht, ob

er überhaupt einen Freund habe und gebe

nichts drauf“ – wer hätte das gedacht?

Wer erpressbar ist mit vertraulichen Aussagen,

die ihm in der Intimität der Situation

beim Psychiater anlässlich einer Therapie

über die Lippen kamen, möge sich vor Augen

halten, dass auch der Arzt selbst diese Details

kriminell verwenden kann, seine Macht missbrauchen.

Kein Freund oder Partnerin wird

immer zuverlässig treu zu uns halten. Genau

darin können alle psychischen Krankheiten,

wie kompliziert auch immer ihre möglichen

Verläufe sind, zusammengefasst werden: Betroffene

hoffen darauf, dass andere für sie

tun, was sie selbst für ihre Zufriedenheit leisten

müssten.

Hier bin ich, und da seid ihr.

:(

Nov 4, 2020 - Die Wendlertreppe 97 [Seite 95 bis 97 ]


Jimmy und andere Helden

Nov 26, 2020

„Sticks and stones may break my bones“,

immer neue Stolperfallen überraschen. Das

Leben ändert täglich sein Gesicht. Die alten

Vorbilder taugen nicht für jede Situation,

niemand kann immer alles richtig machen.

Versuchen wir „künstliche“ Intelligenz zu entwickeln,

weil die Natur zu klug ist, tückisch

geradezu, für ein Programm, das immer gilt?

Ich denke ans Zeichnen, das Malen und natürlich:

das Segeln. Die Regatten, was ich liebe

und verstehe, mein individuelles Bild der

Welt. Jeder hat seine Erfahrungen. Schnell

segeln … wahrscheinlich kann man ein Boot,

zum Beispiel unsere „Elb-H-Jolle“, auf drei

oder vier verschiedene Arten „schnell“ trimmen.

Man muss die Gaffel nicht unbedingt ganz

fest an den Masttopp klemmen, aber das ist

eine Methode, gut zu kreuzen. Das Unterliek

flach zu strecken, hilft ebenfalls an der Kreuz.

Es hat sich aber gezeigt, dass man „Am Wind“

auch mit beuteligem Unterliek und ein wenig

abgefierter Gaffel schnell sein kann. Da sind

einige Unterschiede, wie mit dem Traveller

umzugehen ist. Eine macht es so, und andere

machen es anders. Das ist nicht verkehrt.

Viele Wege führen nach Rom. Mehrere Wege

führen schnell zum Ziel.

Es kommt auch auf das Segel an, wie das Wetter

ist und wie schwer und versiert die Mannschaft.

Der Kurs den wir steuern, ob Welle ist

und einiges mehr entscheiden. Tatsächlich

gibt es individuelle Unterschiede, nicht nur

die eine, alleinige Methode mit der das Boot

wirklich „fährt“ und gut getrimmt ist. Sagen

wir, es gibt zehn Varianten, die etwas taugen.

Und das ist eine Einheitsklasse, kein Boot, in

dem es Freiheiten der Konstruktion gibt. Vieles

ist festgelegt.

Aber es gibt wahrscheinlich eine Million Methoden,

das Boot langsam zu machen. Vielleicht

noch ein paar Millionen mehr.

Kinder lernen laufen, aber Erwachsene müssen

weiter lernen. Neue Wege erfordern

neue Methoden. Nicht einmal diejenigen, die

scheinbar wie im Kreis laufen, gehen wirklich

einen. Es ist immer eine Spirale. Wie gut wir

planen: Unbekannte Stöcke ragen in die ungewisse,

zukünftige Bahn

unseres Lebens hinein. Es

liegen dort überraschend

viele Steine, die uns zum

Stolpern bringen. Ich erinnere

mich an die Ratgeber

früher, manchmal hilft das.

Aber nicht immer. Was wurde

uns alles gesagt, und

stimmt es noch, hat es je

gestimmt?

Damals.

Als ich klein war, hatten wir

schließlich einen Fernseher.

Andere Familien waren

durchaus schneller, moderner.

Einige besaßen vergleichsweise früh

schon großartige Farbfernseher. Es war nach

dem Krieg, und die Jungen orientierten sich

an Älteren, und gleichzeitig wurden alle von

der aufregenden Zeit des Wirtschaftswunders

mitgenommen. Die Zeiten haben sich geändert,

dass manches heute kaum vorstellbar

ist.

Mein Vater und seine Freunde hatten für

die Jollen einen gemeinsamen Bootswagen.

Etwa, wie mehrere Bauern zusammen nur einen

Mähdrescher kaufen und ihn dann wechselnd

verwenden und sich helfen. Früher

machte man solche Sachen. Das Wort „Trailer“

verwendete man noch gar nicht, aber keiner

der Segler konnte ein Auto fahren oder besaß

gar eines. Sie rollerten den Hänger mit der

Hand durch die Straßen von Wedel, halfen

sich gegenseitig, ihre Schiffe ins Winterlager

zu bringen.

Ich weiß noch:

# Die Männer schieben unsere Jolle den

Schloßkamp rauf. Er ist ziemlich steil. Eine

schmale Straße, alle lachen und sind fröhlich,

es ist noch warm, und ich sitze drinnen im

Boot. Der glänzende Lack; Mahagoni leuchtet

wunderbar ...

Ich war noch ganz klein und erinnere mich

doch genau.

Die Clique zerbrach, als „Reinhard“ (ich musste

die Geschichte oft anhören) als Handwerker

der erste mit einem kleinen Lieferwagen

war. Einige nahmen seine Unterstützung

gern an, einen Trailer dran anzukuppeln. Mein

Vater nannte seinen bis zu diesem Punkt

engsten Freund nur noch „Ignaz“, das war ein

Schimpfwort. Als Kind verstand ich’s nicht.

Uns wurde empfohlen „Zwölf Uhr Mittags“

anzuschauen, mit Gary Cooper, wenn es im

Fernsehen kam, und mein Vater hörte auch

gern (ergriffen) eine Kenneth-Spencer-Platte,

auf Deutsch gesungen: „Wenn dich die Freunde

verlassen.“

Ich vermute, dass es eigentlich um Frauen

ging und weniger um den Bootswagen. Aber

dass die Entwicklung nicht überall gleich

schnell in die neuen Zeiten führte, zeigte sich

in vielen Anekdoten. Mein Vater erzählte gelegentlich

eine Erinnerung, die sich bei ihm

eingebrannt hatte. Wir Kinder sollten lernen,

wie sich alles verändert hatte: „Hermann

Lauenstein“ begegnet „Kuddel Dutt“ am Steuer

vom neuen Auto am Hafen. (Das sind verdiente

Alte gewesen, noch einmal deutlich

ältere Segelkameraden, und man sagte natürlich

„Herr Rehder“ und nicht etwa Kuddel

Dutt, wenn man jung war). Sagt Lauenstein

zu Rehder, der den Motor abgestellt

hat, und die Seitenscheibe ist wohl

gerade herunter gedreht (er lässt locker

einen Arm heraushängen, raucht

eventuell eine Zigarre wie Winston

Churchill, der noch imponierte),

es ist eine Sensation: „Du hast ein

Auto!“ Und Rehder antwortet:

„Ja. Und ich kann es auch fahren.“

# Als ich bei Werner H. Praktikum

machte …

… kam oft Rudi Carrell in das Studio

und drehte Werbung. Ein ganzer

Supermarkt wurde aufgebaut, und

tatsächlich, ich durfte eine Requisite

entwerfen, einen Apfelbaum: „Da

kommt unser Künstler“, sagte der

bekannte Showmaster, wenn ich in

das Studio spazierte, um ihm dabei

zuzusehen, wie ein Spot aufgezeichnet

wurde.

Unvergessen ist sein holländischer

Akzent.

Der alte Profi H. simulierte Enttäuschung,

nachdem auch er einen

parallelen Entwurf für den Baum

machte, den ich als ein wenig zu routiniert,

kalt empfunden habe; tatsächlich, das wagte

ich zu sagen. Und er meinte, nachdem er

beim „Chef“ gewesen wäre, das behauptete

er jedenfalls, todernst: „Sie haben deinen genommen.“

Ich habe wirklich geglaubt, es besser

gemacht zu haben. So kam es, dass der

Berentzen-Apfel, den Rudi Carrell zu pflücken

hatte, an meine lebensgroß umgesetzte Kulisse

gehängt wurde.

Nov 26, 2020 - Jimmy und andere Helden 98 [Seite 98 bis 103 ]


Ein verschrobenes Maling mit

Filzstiften vom Praktikanten. Ich

besitze noch das Original davon.

Die Mappe sei „das Wichtigste für

den Grafiker“, wenn er sich bewirbt.

„Niemand interessiert sich für dein

Zeugnis“, sagte der Grafik-Designer.

Dass es stimmte, hatte ich bewiesen.

Ich war schon in der neunten

Klasse der Realschule mit einer

ansprechenden Sammlung kreativer

Arbeiten unterwegs und hatte

diese „Mappe“ zum Vorstellungs-

Gespräch ganz selbstverständlich

dabei gehabt. Das hat Eindruck

gemacht.

Werbung ist kleines Kino. Eine

Show der Produkte und Darsteller,

die sie präsentieren. Wir bekamen

einmal eine wirkliche, lebende Kuh

zu sehen, die trabte am Strick des

Landwirts in diesen Studio-Supermarkt

herein, was für ein Theater!

Eine echte „Milka-Kuh“ sollte es

werden …

Die haben wir mittels einer Schablone

lila gefärbt. Eine flexibles

Material, extra für diesen Zweck, wurde in der

Grafik von H. mit dem darauf gepausten Logo

vorgezeichnet, und einer von uns hatte mit

dem Cutter sauber drumherum zu schneiden.

Dann musste jemand die charakteristischen

Flecken auf die Kuh sprühen, und in weiß

blieb „Milka“ stehen. Wir kopierten den Original-Schriftzug,

nachdem jemand ermittelt

hatte, wie groß das Tier würde, das wir bekommen

konnten. Es gab nur einen Bauern

in der Nähe mit ungefleckten, weißen Kühen.

Der kam gern, und war auch die ganze Zeit

für sein Rind zuständig. Es hatte einen Kälberstrick

ums Maul, etwa einen guten Meter

lang, und der Bauer sah aus, wie solche eben

aussehen. Mit einem olivbraunen, beuligen

Cord-Hut auf dem Kopf und gleichfarbener

Weste bekleidet, trug er derbe Hosen und

stapfte in Gummistiefeln rum.

Der durfte nicht mit ins Bild!

Ein muffelndes Duo. Seine Aufgabe: Er musste

die träge Mu-uh im Laden exakt platzieren.

Dann war es soweit: Der Showmaster

im schicken weißen Edeka-Kittel trat an

das Tier und hatte etwas verkaufsförderndes

zum Thema der beliebten Schokolade

im Skript. Das probierte er zu sagen, brauchte

aber einige Anläufe, bis alles „im Kasten

war“. Es lag nicht am professionellen Carrell.

Der war ganz entspannt auf dem Punkt und

amüsiert. Die anderen schnauften, die Kuh

schnaufte mehr, und alle schwitzten ziemlich.

Die Scheinwerfer knallten ein schneeweißes

Licht herunter. Das brutzelte.

Die Kuh war zeitweilig störrisch.

Klappe! Sie stieß ein mühsam drappiertes

Regal um. Sie drehte ihren Achtersteven

in die Kamera oder sie präsentierte uns

ihre leere, falsche weiße Seite, auf der wir

sie nicht bemalt hatten. Klappe! Der Bauer

schimpfte, zog am Strick. Die Muh-Kuh

bockte, stemmte die Vorderbeine und blieb

verkehrt herum wie angenagelt stehen. Zeit

verging, und das kostet. Klappe!! Die Regie

stöhnte, der Showmaster blieb souverän dezent

im Hintergrund, wartete. Dann schiss

das Tier in den Laden.

Aus, aus, aus!

Es dauerte und war mehr als ein wenig

Loriot.

Mein Mentor H. erklärte einiges, konnte nicht

nur hervorragend zeichnen, er verstand auch

die Menschen. Er war im Krieg geflogen, und

seine Geschichten entsprachen denen von

Hartmann. Das war mein alter Skilehrer, und

an den erinnere ich mich sehr gern. Diese Alten

sind von anderer Qualität. Gelegentlich

treffe ich „von“ M. beim Italiener. Das sind

Erinnerungen an eine Zeit, die es nicht mehr

gibt. Er war ebenfalls in der Luft unterwegs,

ist etwa 1926 geboren. Er fliegt heute nicht

mehr.

Er fährt seinen roten Rollstuhl elektrisch.

H. ging mit mir in der Mensa essen und erklärte

sich gleich zu Beginn, „ich solle mich

nicht wundern, er bekäme zu den Mahlzeiten

immer diesen roten Kopf und beginne unterm

Ohr zu schwitzen.“ Tatsächlich lief ihm während

er kaute ein dünnes Rinnsal die Wange

und am Hals hinab. Eine Schussverletzung

im Krieg. Man hatte es operiert, und ein Nerv

war beschädigt worden. Beim Essen, wenn er

den Kiefer auf diese Weise bewegen musste,

schwitzte er, ohne das kontrollieren zu können

auf einer Seite. Um jede Peinlichkeit zu

vermeiden, sprach er das Übel also gleich

an. Ich war es gewohnt, genau hinzuschauen

wie er selbst; Künstlerkollegen sind wir,

entsprechend verwandt mit allen Zeichnern

dieser Erde. Und wir mussten ja noch zehn

Tage lang zusammen essen, für die Dauer

meines Praktikums. Das war so ungefähr im

Jahr 1980 am Rand der Großstadt Hamburg:

„Markenfilm“.

Viel Wald an schmaler Fahrbahn, es wirkt

ein wenig abgelegen. Ich weiß noch: H. hat

seinerzeit die Aufgabe bekommen, ein neues

Schild zu gestalten, das von der Hauptstraße

den Weg weisen sollte. Es entsprach gar

nicht seinen normalen Tätigkeiten. Er skizzierte

Storybords für Reklame-Filme, machte

schließlich die Eckzeichnungen für den

Trickfilm, und eine outgesourced-e Fremdfirma

füllte die Abläufe. (Es gab das Wort noch

nicht). Er war der letzte verbliebene Grafiker.

Zusammen mit einer Kollegin, die ihn teilweise

unterstützte, hatten die beiden ihre Büros

unten im hintersten Flur des umfangreichen

Gebäudekomplexes. Da waren einmal zwanzig

Trickfilmzeichner angestellt gewesen, als

H. sich gleich nach dem Krieg bewarb.

„Wenn du zeichnen kannst, ist es leicht.“

H. probierte im Entwurf, die sechs oder sieben

Firmen des Gewerbegebietes, die ebenfalls

Schilder an der Abzweigung hatten,

zusammen mit dem neuen Logo in ein einziges

zu integrieren. Er stellte sich vor, das

unübersichtliche Sammelsurium an der Ecke

im genialen Wurf zu beseitigen und das neue

Signet zum Anlass zu nehmen, ästhetische

Vorlieben, wie Hinweise elegant aussehen

könnten, umzusetzen. Das klappte (natürlich)

Nov 26, 2020 - Jimmy und andere Helden 99 [Seite 98 bis 103 ]


nicht. Er war enttäuscht: „Sieh nur, sie wollten

es nicht.“ Das neue Schild kam wieder zwischen

die verbogenen, schietigen und vielformigen

anderen.

Inzwischen hat sich einiges geändert. Gibt es

an dieser Stelle überhaupt noch eine Filmfirma?

Ich habe lang nicht mehr drauf geachtet,

aber einmal … mir ist dieser Richtungsweiser

aufgefallen:

„Woodland-Studios“.

Das klingt soo wichtig (ge)waldig, toll. Richtiges

Englisch macht gleich was her. „Hinterwäldler-Film“

passt ja wohl nicht. Die alten

Zeiten sind eben vorbei. (Karl Dall ist auch

gestorben. Wenn es mir weiter zu blöd wird,

gehe ich auch gern).

„Ich könne doch eine Zeichnung vom Carrell

machen?“, meinte H. und fand gleich eine

Vorlage. Er holte schnell eine Postkarte mit

dem Konterfei des Entertainers aus einer

Schublade. Die möge ich nicht wie die anderen

Leute nehmen, sondern für das Autogramm

eine Karikatur zeichnen! Carrell sei

nett, hieß es. Ich solle nur seinem Partner E.

aus dem Wege gehen. Der bliebe lieber für

sich und den Kollegen, arbeite: Fernsehen

ist ein Beruf. Ich kannte ihn vom „Laufenden

Band“, das war eine der beliebtesten Sendungen.

Sie konkurrierte mit der „Peter Alexander

Show“ oder „Dalli Dalli“. Rudi Carrell war

auf Augenhöhe mit den Kollegen Rosenthal,

Thoelke. Und „Wetten, dass ..?“ war noch gar

nicht erfunden. Frank Elstner musste jahrelang

„Montagsmalen“, bis ihm schließlich der

Durchbruch gelang, der Schmied von Attendorn

abhämmerte und die Fernsehlandschaft

grundsätzlich umdengelte, dass es nur so

glühte.

Von einem „Gottschalk“ hatten wir zu dieser

Zeit noch nichts gehört.

H. war stolz darauf, mich als Praktikanten zu

haben. Ich war der erste und vermutlich auch

in den folgenden Jahren einzige, der diese

„Stelle“ aufgrund seiner zeichnerischen Fähigkeiten

ergattert hatte. Ein Praktikum bei

„Markenfilm“ war eine gute Sache. Die anderen

seien alle auf Empfehlung des Chefs oder

anderer Vitamin-B-Arrangements gekommen,

meinten H. und Frau F. (nebenan) übereinstimmend.

Sie waren stolz und froh, dass es

ihnen gelungen war, für mich ein maßgebliches

Wort einzulegen.

# Mein Vater Erich und ich

Wir sind zunächst bei der selbstbewussten

Dame am Tresen des Empfangs gewesen.

Eine Persönlichkeit, ihre Telefonstimme war

unvergleichlich. Ich habe später oft die Nummer

angerufen: „Mm … arr-cckken-film; guten

Tag!“ Ich mochte sie. Schließlich durften wir

zum Grafiker, jemand würde uns hinführen.

Ein Gespräch. Das war ein erster Erfolg.

Ich hatte begriffen, dies ist nur der Eingang.

Es schien mir die erste Ebene einer großen

Anlage zu sein, die es zu schaffen galt, um

einen netten Spielplatz zu bekommen. Eine

Bühne für meinen Auftritt? Ein Trainer mit

Pinguin kommt. Eigentlich ist er der Bewerber

und wirft einen Fisch in die Luft.

Ich hüpfe herum, schnappe zu, zeige

ein Kunststück. So kommt man bis

zum Zirkusdirektor und wird engagiert.

Neben meinem Vater aufgebaut,

probierte ich naseweis damit

zu glänzen, ich könne nämlich zeichnen.

Da mussten wir doch einfach

zum Fachmann weiter, denn Sie hätten

tatsächlich einen …

Der Grafiker von „Markenfilm“.

Mein Vater hat ein erregtes Gespräch

mit H. geführt. Er wurde belehrt, das

sei ein Beruf wie jeder andere. Grafiker

würden normal arbeiten wie

alle und seien mitnichten brotlose

Künstler. Wir waren mit dem Fisch-

Transporter auf den großen Parkplatz

gefahren, nachdem mein Klassenlehrer

mir diesen Tipp gab, mich zu bewerben

und ich einen Termin bekam.

Dahin fuhr ich nicht etwa allein mit

dem Fahrrad oder bat meinen Vater

Erich, draußen vor der Tür zu warten.

Das hätte ich mich nie getraut.

# Ich war vollkommen unreif

Eine wunderbare Zeit. Ich erinnere Carrell

rauchend mit Tochter abseits, und

es stimmt, er respektierte mich, obwohl

ich ein fremdes Kind ohne irgendwelche

Gönner war. Man konnte sich gut mit ihm

unterhalten. Es schon sehr lange her, aber

es kam einige Male vor, dass er in Wedel

drehte, und wir haben dann immer ein

paar Sätze gewechselt. Ich war stolz darauf

und kann mich auch sonst an viele

Details erinnern. Einmal bin ich im Studio

herumgelaufen, und sie hatten eine komplette

Küche aufgebaut mit einem Fenster

nach draußen. Dort wäre aber gar kein

„Draußen“ gewesen, erzählte ich dem Grafiker.

Licht sei durch dieses Fenster auf die

Spüle und einigen Kram gefallen, dafür

hatte man spezielle Scheinwerfer montiert:

„Das sah aus wie echtes Sonnenlicht“,

meinte ich verblüfft. „Dann sag das mal.“ H.

nannte den Namen; ein „Beleuchter“ mit

dem er befreundet war, den jeder kannte.

„Man hört es doch so gern, wenn etwas

gelungen ist. Normalerweise bemerkt niemand,

was man leistet“, fand er.

Ich probierte, Carrell zu zeichnen, und es

war schwierig. Als es einige Male nicht

recht ähnlich wurde, begann ich allmählich

zu verzweifeln. Der erfahrene Zeichner riet:

„Wenn du die Augen schaffst, ist der Rest einfach.

Die Augen sind das Wichtigste. Der Rest

entwickelt sich dann schon.“ Als es weiter

nicht klappte, gab er mir dünnes Letraset-Papier.

Das schien ein wenig durch, war ansonsten

schneeweiß. Ich solle einfach mal eine

Zeichnung so ungefähr machen, das Blatt

vorn aus dem Block trennen und unter das

oberste Blatt wieder einschieben. Auf dieser

durchschimmernden Vorlage könne ich dann

eine weitere Zeichnung machen, Fehler korrigieren

als wäre es Bleistift, den ich gewohnt

war zu radieren. Das dürfe man auch zweioder

dreimal wiederholen, bis das Ergebnis

perfekt wäre. Er regte nun an, die nicht gelungene

Zeichnung ein wenig tiefer in den

Block zu legen. Unter mehreren Bögen Papier

sei die Vorgabe noch blasser. Ich wäre freier

für eine mutige, lebhafte Linie. Ich probierte

es aus und fand Gefallen daran, schließlich

klappte es, und dann bekam ich tatsächlich

Nov 26, 2020 - Jimmy und andere Helden 100 [Seite 98 bis 103 ]


mein Autogramm. Wie so vieles ist auch

dieses Frühwerk von mir verschollen,

und heute nicht mehr zum Renommieren

geeignet. Nur die Erinnerungen sind

geblieben.

Ich zeigte H. auch selbstgemachte Comics.

Dort imitierte ich Szenen, wie ich

sie aus „Flash Gordon“ oder ähnlicher

Heldenliteratur kannte. Werner H. zeigte

auf einen der (in dramatischer Situation:

Raumschiff stürzt ab oder so) dargestellten

Männer: „Sieht dieser wie dein

Vater aus?“, wollte er wissen. Mich erstaunte

die Frage. „Nein“, meinte ich. Er

probierte eine andere Figur, stellte die

Frage erneut: „Der etwa?“ Ich begriff das

nicht. Wir ließen es auf sich beruhen.

H. inspirierte mit Einfällen. Er meinte:

„Setz die Schatten kräftig, nicht so ein

Gelapper.“ Er zeigte mir und wies mich

an, die Linien immer ein wenig länger

zu zeichnen, als notwendig, dass am

Ende jeder Verbindung eine winzige

Kreuzung mit minimal überstehenden

Stummeln der Linien entstand. Das

wäre besser, als berührten sich die Linien

nicht. Mit zögerlichen Strichen, die

nicht „ankämen“ und für manche Karikaturisten

typischen Unterbrechungen an verbindenden

Eckpunkten, falle alles auseinander.

Das sei das Merkmal unsicherer Zeichner, die

es nicht richtig gelernt hätten.

Ich war händeringend auf der Suche nach

Vorbildern, und H. bemerkte es. Deswegen

die Frage, ob meine Zeichnungen etwas dazu

taten, den Vater zu heroisieren. Da es offensichtlich

nicht der Fall war, erprobte der hintersinnige

Alte interessehalber nebenbei die

individuelle Psychologie.

Mir fällt noch einiges ein. Einmal saßen wir

privat im Auto, aus irgendeinem Anlass, und

H. hatte seine Tochter auf dem Beifahrersitz,

die wir mitgenommen hatten. Ich musste

hinten sitzen, natürlich – es ging auch gerade

nicht um mich; ich war etwa sechzehn Jahre

alt. Keine Ahnung, wohin wir unterwegs waren,

aber auch nach dem Praktikum wurde ich

zur Aushilfe in der Grafik beschäftigt. Vielleicht

war es einige Jahre später? Ich beobachtete

alles fasziniert. Schummriges Licht,

vielleicht der beginnende Abend, eine Veranstaltung

folgte? Bilder der Erinnerung

sind wie Träume, ein klein wenig unsicher

und auch unscharf.

Was jahrelang konserviert wird, geschieht

nicht ohne Grund? Auch wenn wir es damals

noch nicht verstanden haben. Es wird

erst später wichtig und neues Leben geben,

wenn wir begreifen. Sie sprachen, und ich

konnte nicht glauben, wie Menschen so

ganz anders sind. Meine Familie schien mir

zu vermittelten, das „Leben“ insgesamt verstanden

zu haben. Stimmte das eigentlich?

In diesem Auto da vorn, direkt zum Greifen

nah, aber wie mit einer Scheibe zum Chauffeur

abgetrennt (das kannte ich: im Film)

saß eine andere Welt. Wir hatten nur den

Transporter. Ein grauer Pritschenwagen mit

breiter Ladefläche. Nebeneinander fanden

meine Mutter, die keinen Führerschein hatte,

und ich Platz. Gurte gab es nicht. Um

den Gang einzulegen, gab es einen dünnen,

langen Stengel mit Knauf. Ich war erstaunt,

wie kurz der Ganghebel bei anderen ist. So

tief und nah der Straße fuhren sie und waren

es gewohnt.

(Später leistete sich meine Eltern einen

zweihunderter Mercedes. „Der Fischhändler

hat uns ausgebeutet“, einige haben es „Bassi“

übel genommen? Der Mercedes war cremeweiß,

mit beigen Sitzen, roch so fein nach

Leder. „Limousine vorwärts!“, sagten wir. Das

war der Name eines selbstgemachten Brettspiels

in der Art vom „Mensch ärgere Dich!“

Mein lieber Vater hatte das auf einen Kartonbogen

gemalt. Kreative Gene in der Familie).

Wir stoppten in der Nähe vom Bahnhof. Die

beiden hatten noch zu reden. Das Mädchen

bei uns im Auto: Eine schöne, schlanke Frau.

Sie hatte langes, dunkles Haar, rot geschminkte

Lippen und war wohl gar nicht einmal so

viel älter … ich war ein Kind dagegen. Das

spürte ich, kann es bis heute nachempfinden.

Und da war noch ein Konzert, auf dass sie am

Abend wollte.

Das weiß ich auch noch.

1982 war Elton John in Hamburg? Das

kann es gewesen sein. Ich erinnere mich,

dass ich nicht wusste, wer das ist. Unglaublich,

aber zeitgenössische Musik

fand im Haushalt Bassiner nicht statt.

Mein Vater Erich war über Kid Ory kaum

hinausgekommen, mochte die Beatles

mit ihrem Gesinge und „Gitarrenkram“

nicht wirklich, und ich passte mich an. Er

schimpfte: „Dischderbummber!“, das liefe

im Radio. Ich wohnte weiter zu Hause,

obschon ich einen Wohnsitz bei Tante

Helga aus Blankenese im Ausweis hatte,

ansonsten nicht in Hamburg Abitur machen

durfte. Andere fanden sich zu einer

WG wie es mir nie in den Sinn kam, zogen

früh aus.

„Jump Up Tour“, ich habe eine Fan-Seite

gefunden, die alle Konzert-Termine auflistet.

Dann wäre es im Mai gewesen und

ich bereits auf dem Weg zum Fachabitur.

Im August bin ich 18 Jahre alt geworden.

Susanne mochte David Bowie, und ich

kannte ihn nicht. Sandra hörte „The Police“,

ich wusste nicht, was die machen. Ich

hörte Sting erst mit „Englishman in New

York“. Das Saxofon von Marsalis am improvisierten

Ende, ein seltener gesangsfreier

Moment im Radio auf den ich wartete, blendete

der NDR regelmäßig aus. Eine wunderschöne

Coda, und immer sabbelt einer rein.

Mitten im jazzigen Schluss, wenn der S-tingstar

nicht mehr singt, wird abgebrochen, und

Tiedemann wäre dieser junge, aufstrebende

Moderator, der so beliebt sei. Das sagte man.

Heute macht er Senioren-Radio.

Dixieland war bald out, gegenständliche Malerei

verpönt. Zu lernen ist, dass eine Kunst

nicht schlecht wird, weil sie den Bezug zur

Gegenwart verliert. Politiker werden abgewählt,

Stile des Ausdrucks veralten. Die Jazzer

verlernten zu spielen, und die Maler konnten

nicht an das heranreichen, was gewesen war.

Kunst muss sich im Reflex der Umgebung

verstehen. Deswegen ist die gewonnene Fähigkeit,

in bestimmter Weise kreativ vorzugehen,

gerade eine Qualität. Eine zeitgenössische

Mona Lisa wird nicht schlecht, weil wir

heute die Fotografie haben.

# Zeitgeist

Im Café, einige Zeit vor der Pandemie,

hörte ich irritiert ein paar Wortfetzen

vom Nachbartisch mit. Ein Kind fragt:

„Was ist das, Mama?“ Es dauert einen

Moment, bis die Mutter begreift: „Ach

du meinst die Musik? Das ist Jazz.“ Till

Brönner lief im Hintergrund und gab

eine softe Trompetenstimme. „Das ist

Musik?“

„Ja.“

Ich war gern mit meinem alten Reklame-Grafiker

zusammen. Ein talentiertes

Kind gilt manchem als Sonderling. Da

tat es gut, ein Vorbild zu treffen, kennenzulernen.

Einige Jahre kam es immer

zu kleinen Aufträgen für mich, oder

ich wurde jemandem weiterempfohlen.

Das wird eine gegenseitige Bereicherung

gewesen sein, und es ist ein wenig

schade, dass alles so lang her ist und

allmählich keine Kontakte mehr zustande

gekommen sind. Eine Welt von Gestern

für mich und eine Quelle der Inspiration.

Ein fester Halt nach wie vor.

Nov 26, 2020 - Jimmy und andere Helden 101 [Seite 98 bis 103 ]


Wir hielten also irgendwo, und bevor sie

schließlich ausstieg – der Vater gab ihr zur

Verabschiedung einen Kuss auf den Mund!

Das konnte ich nicht begreifen. Tatsächlich,

in einem Roman von John Irving (das Buch

mit den Cider-Haus-Regeln, meine ich) gibt

es diese „Vaterküsse“. Das habe ich dann Jahre

später gelesen. Mit der Wiederholung grub

sich eine Rune in meine Gehirnrinde, die

bleibt. Ein Film in der Bibliothek, den ich immer

abrufen kann. Vaterküsse, was sind das?

Im Buch als Besonderheit herausgestellt, ein

nicht-erotischer Liebesbeweis, dem eigenen

Kind zugedacht. Homer ist von Larch adoptiert,

vielleicht findet Irving es deswegen besonders,

und in anderen Familien ist es ganz

normal? Das gab es bei uns nicht. Deswegen

erinnere ich mich genau. Ich war fasziniert

und irritiert, das machte man doch nicht?

Mein Vater küsste uns nie; er schlug auch

nicht. Meine Mutter langte hin, verteilte Ohrfeigen.

Ist es so richtig, oder macht man es

anders? Auch sie küsste nie uns Kinder. Kann

es sein, dass mein alter Grafiker eine junge

Freundin hatte? Und ich habe den Fake nicht

mitbekommen.

Das bringt mich schließlich zu James Stewart,

dem berühmten Schauspieler. Jimmy, mein

Held. Der Große, der so langsam spricht. „Vertigo“,

er war der beste Mann vom alten Hitchcock,

der „zu viel wusste“, und in unzähligen

Western habe ich ihn gesehen. Normalerweise

ein vertrauter schwarzweiß Gesell bei uns

zu Hause und nicht in Technicolor. Ich begegnete

dem verehrten Idol meiner Kindheit auf

unserem kleinen Fernseher, mit seinen drei

einsamen Knöpfen die er nur hatte, für die

drei Programme, die er nur anbieten konnte.

Wie in der Politik. Das waren damals stabile

Verhältnisse, und Genscher war immer

Außenminister. Erstes, Zweites und Drittes

Programm, mehr konnte sich niemand vorstellen.

Helden im Alltag, unsere Vorbilder, was wurde

angeboten? Das Buch „Der Fünf-Minuten-

Manager“ erschien. Männer in der Politik, im

Fernsehen; bei genauerer Betrachtung hätte

ich bemerken können, dass es eine Entwicklung

gab: Auf den „Kommissar“ mit Erik Ode,

der in der Rolle noch Kette rauchen durfte,

folgte Tappert mit „Derrick“. Auf Tappert folgte

Lowitz. „Der Alte“ lief parallel, bekam Konkurrenz:

der „Tatort“ bereicherte die Fernsehlandschaft

mit wechselnden Kommissaren.

Aus Großbritannien eingekauft lief die „Task-

Force-Police“, aus den Vereinigten Staaten

„Kojak“, mit Telly Savalas. Hier sahen wir zum

ersten Mal jemanden mit Glatze, der noch

kein Opa war. Heute ist ein Drittel der Männer

ab dreißig oben blank. Zunächst glaubte ich,

das sei ein gewolltes Stilmittel. Coole Typen,

die eine breite Brust machen (wollen) und

ihre nackige Männlichkeit zur Schau stellen?

Aber es ist anders. „Nachbar“ Pavlos

dazu, beiläufig: „Wenn ich’s nicht abrasiere,

sehe ich aus wie mein Opa mit

seinem Resthaar. Ein Kranz schimmert

hintenrum wie beim alten Mönch oder

zottelt lang. Papa hat dicke schwarze

Haare und ist sechzig. Ich habe die

Glatze unfreiwillig, definitiv. Bei meinem

Bruder ist es genauso.“

Es schien nur, als wäre alles immer

gleich. Der bekannte Rahmen macht

blind. Klar auch, dass es einen Sendeschluss

gab. Die S-Bahn hörte nachts

zu fahren auf. Es gab keine Sommerzeit,

die Franzosen hatten sie, wozu

das denn? Alle Geschäfte schlossen zur gleichen

Zeit um sechs. Niemand sagte etwa

„achtzehn“ Uhr. Banken öffneten nachmittags

nur von drei bis vier für eine Stunde, vormittags

regulär wie heute. Mittags waren die Läden

geschlossen. Einiges hat sich geändert:

„Tschüssi“ oder gar „Tschü“ sagte niemand.

„Samstag“ oder „Das passt schon, alles gut!“

kannten wir nicht. „Sonnabend“ muss es heißen!

Man sagt „sii-eebzehn“, nicht „sibb“-zehn,

betont etwa „Spa-aß“ lang, niemand sagte es

so: „Spass“. Das klang verkehrt, wenn jemand

es machte, und seitdem es einen Fernseher

gab, hörten wir häufiger Laute aus fremden

Regionen. „Macht’s Spass Dicker?“ wurde Helmut

Kohl verarscht, die Spastiker, ohne dass

es jemanden störte, gleich mit verhöhnt. „Das

hat doch was mit Sex zu tun?“ Dumme, menschenfeindliche

Witze waren erlaubt.

Wir lebten nicht hinter dem Mond. Wir sprachen

wie Hamburger. Und lasen die Zeitung,

die hört man ja nicht. Keiner in diesen Jahren

„konnte Kunst“ oder ein „Stück weit“ Kanzler

sein, sagte: „Das ist nicht so meins“ und mehr

davon. Urlaub in Berwang? Die Österreicher

fuhren ihre Schi … mit „S-c-h“ geschrieben

(falsch!) typischerweise „para-lell“, dabei sagt

man es doch richtig: „paral-le-l.“ Und betont

das „e“ am Ende. Die beiden „ll“ sind in der

Mitte. Die können nicht sprechen. Wer sich

ärgerte schimpfte: „Schiet!“ Bis es modern

war: „Shit!“ zu rufen. Männer waren glatt rasiert,

bis diese Idioten überhand nahmen mit

Bart.

Die Erwachsenen amüsierte dies: In der langen

Nacht des Karpfenschlachtens vor Heiligabend

bekundete ich, „wir könnten gern

weitermachen.“ Nach einer Pause wäre ich

ausgeruht, könne noch lang mithelfen, obwohl

es spät in der Nacht sei, hätte wieder

„Lust“. Sie lachten sich kaputt, und ich verstand

gar nichts.

Das Wort „geil“ wurde noch nicht inflationär

verwendet wie einige Jahre später. Schimanski

mit dem andauernden „Scheiße!“ im

Fernsehen? Gab es noch nicht. Heute sagt

niemand mehr „stark!“ Immer gilt eine neue

Mode: „Geht gar nicht!“ – ich kenne einiges.

Menschen möchten „dabei“ sein. Der eingebildete

Tonfall mit dem sie alles blähen, ich

weiß noch wie „explizit“ aufkam, ist bis heute

gleich.

Was brauchte die Welt, etwas nun „stringent“

zu tun – wenn es bislang folgerichtig, logisch

und schlüssig, einleuchtend und überzeugend,

zwingend sowie authentisch … geradezu

direkt geradeaus und kurz und knapp

zupackend auf den Punkt genau, spezifisch

„exakt verbalisiert“ gesagt werden konnte?

Deswegen hat ein Spaßvogel das Wort „ephibriert“

erfunden? Irgendwo im Satz eingebaut,

taugt es platzhaltend verwendet für

alles, was ein wirklich Wichtiger braucht.

„In der Bahn siehst du lauter abgefahrene

Leute“, meinte mal einer … stimmt. Wasser ist

nasse Masse, krasse Sache eigentlich, oder?

Mich hat’s peripher tangiert, um nicht zu sagen

voll efibriert …

Ich habe mich jahrelang gefragt, was eigentlich

mein Problem sei, und damit meine ich

grundsätzliche Schwierigkeiten. Schön ist

eine Formel, etwa die von Einstein, mit der

ein ganzer Komplex von Problemen dargestellt

werden kann. Danach habe ich gesucht.

Ohne die hinzuschreiben, kann ich sagen, was

mich auf die Spur gebracht hat zu suchen. Ich

bewunderte Stewart oder Gregory Peck, Hornblower

– natürlich. Aber warum? Ich verehrte

Pops, das hat nie aufgehört. Aber erst heute

weiß ich, was es ist, mich fasziniert. Satchmo

ist ganz anders als Jimmy, da meine ich gar

nicht, dass sie einen Film zusammen gedreht

haben oder der dargestellte Posaunist Glenn

Miller weiß ist, Louis schwarz. Aber alle diese

Menschen, Männer, Helden im Film; sie haben

etwas gemeinsam, das mein Vater nicht

hatte. Das ist ganz offensichtlich, und etwa

so schwer zu beschreiben, wie die Quadratur

des Kreises oder was weiß ich dergleichen.

Fragmente einer langen Suche. Max Frisch

benötigt einen ganzen Roman, es aufzuschreiben,

kommt trotzdem nicht an: „… ein

Mann hat eine Erfahrung gemacht, was ist

die Geschichte dazu?“ (Die Geschichte wird

nie erzählt).

Irving war es nicht, aber ein Buch beginnt

damit, und er zitiert: „Alle unglücklichen Familien

sind auf eine eigene, ganz individuelle

Weise unglücklich. Aber alle glücklichen Familien

sind auf dieselbe Weise glücklich.“ Das

schrieb Leo Tolstoi in „Anna Karenina“. Die

neue Zeit ist so schlecht nicht: Du kannst es

googeln, wenn du es nur ungefähr weißt.

Junge Menschen verlassen die Familie, werden

selbst erwachsen. Das Rüstzeug klar

zu kommen, müsste ihnen nebenbei in der

Kindheit angeschneidert werden. Nicht immer

gelingt es. Eine Lösung für Jugendliche

kann darin bestehen, es „wie die anderen“ zu

machen. Viele junge Erwachsene gehen zunächst

einen rauhen Weg, werden bald immer

geschmeidiger darin, sich zu integrieren,

passen sich an. Wir haben schnell zu segeln

gelernt, weil wir schauten, wie es gemacht

wird und lernten. Wer anstelle „Zeitgeist“

kreative Sachen liebt, kommt unweigerlich

in den Konflikt, zwischen anderen ein Fremdkörper

und spürbares Individuum zu sein. Die

Kunst ist nicht ohne Grund als „brotlos“ bezeichnet

worden. Wem es leichthin genügt,

die Brote zu backen oder einfach Brötchen zu

verkaufen, die es schon gibt, hat vom Beginn

der Lehre an Geld in der Tasche und findet

sozialen Halt bei anderen: „So wird es bei uns

gemacht.“

Ein spürbarer Fremdling zu sein, bedeutet

nicht automatisch, es selbst wahrzunehmen.

Wer aneckt, sollte merken, dass er’s tut. Wer

extrovertiert daherstapft, wird schnell drauf

kommen, was es ihm bringt und schließlich

bewusst provozieren. Das ist eine gute Methode,

etwa „Kunst“ zu machen. Ein Nerd jedoch

eckt dadurch an, dass er den schicken

Nov 26, 2020 - Jimmy und andere Helden 102 [Seite 98 bis 103 ]


Stil der anderen nicht bemerkt und sich

selbst nicht spürt. Ein junger Mensch, dem es

nicht gelingt, seine liebgewonnenen Künste

zu verteidigen und offensiv nach vorn zu

tragen, scheitert, weil er den Dünnsinn der

Masse nicht nachplappert und gleichzeitig

seine möglicherweise altmodischen Vorlieben

nicht integrieren kann.

Das ist kein „Männerproblem“, das ist die

Schwierigkeit, individuell erwachsen zu werden.

In einer freien Welt hat der Mensch die

Wahl, sich Helden, denen er nacheifert zu

suchen. Darin liegt sowohl die Möglichkeit

allerbester individueller Entwicklung wie

die Gefahr, an die Falschen zu geraten. Wenn

ich mir die Wege, wohin ich wachsen möchte

nicht länger suchen kann, weil sie mir aufgezwungen

sind, fahre ich sicher wie die Bahn

auf einer Schiene, aber gebunden an die Weichenstellung

meiner Lenker. Uniforme Wesen

werden es leichter finden, sich anzupassen,

und insofern ist der fortwährende Drang

der Integrierten, die nachrückenden jungen

Menschen zu manipulieren bedenklich. Wir

sehen, wie erfolgreich China gegen die Corona-Pandemie

ist. Der Preis, weniger Freiheit

zu haben, sich dem Gesamten unterzuordnen,

wird dort scheinbar gern gezahlt. Sicherheit

innerhalb der Staatsgrenze, weil die Führung

umsichtig gehandelt hat, während die anderen

Staaten es nicht in den Griff bekommen,

verstehen die Chinesen als die Freiheit eines

siegreichen Teams, in dem jeder so handelt,

wie es dem Ganzen nützt. Gleichzeitig wird

der (abgewählte) amerikanische Präsident

nicht müde, ihren systemischen Fehler anzuprangern,

es so weit kommen zu lassen.

„Das China-Virus!“

Die schlanke Spitze der kommunistischen

Führung in Peking bestimmt ihre Nachfolger

selbst, das breite amerikanische Volk wählt

den Präsidenten der USA. Trump ist das Vorbild

vieler, die für ihn gestimmt haben. Menschen

folgen der jeweiligen Wahrheit, die

ihnen imponiert. Jugendliche generell, aber

auch speziell junge Frauen, werden von Älteren

(auch von Frauen) gezielt für ihre Motive,

die nur scheinbar hochgelobte, die Welt rettende

Projekte sind, geködert und instrumentalisiert.

Moderne Frauen, die viel erreicht haben,

Karriere machen und den Durchhänger

erleben, der bei Männern als „Midlife-Crisis“

bezeichnet wird, ertragen ihre nachlassende

Attraktivität nicht. Sie spannen Mädchen vor

ihren Karren – unter dem Vorwand eine „Gute

Sache“ müsse vorangetrieben werden. Das

Gute an der modernen Welt ist nicht der gute

Mensch. Es ist das System, das gut ist. Unsere

in zwei Weltkriegen leidgeprüften Vorfahren

haben uns das hinterlassen. Diese Struktur

hat eine gewisse Festigkeit und führt dazu,

dass „das Gute“ in der Regel gewinnt.

Der Mensch heute? Ist schwach, böse und

schlecht wie immer. Er sehnt sich nach Frieden

und kann sich glücklich schätzen, wenn

er in einem festen Haus oder stabilen Rechtsstaat,

einer gesunden Familie leben darf. Sich

das alles selbst zu schaffen, heißt nicht nur,

es den Vorbildern abzuschauen, sondern

auch zu begreifen und gegebenenfalls hart

zu verteidigen, was uns lieb und teuer ist.

# Hollywood, es liefen ständig Western

Nicht nur mit James Stewart. Auch mit John

Wayne oder Cooper. Wer ist Clint Eastwood?

Heute gibt es neue Filme, und andere Menschen

spielen darin, gibt

es heute andere Männer?

Stewart, ein alter Rancher,

das ist so eine Stelle im

Film, das erinnere ich: Es ist

wohl Thanksgiving oder so.

Eine ziemlich große, typisch

amerikanische Familie feiert

im schon einigermaßen

zivilisierten, nur noch wenig

wilden Westen.

Eine große Farm. Der Schauspieler

Stewart ist hier der

Hausherr eines beträchtlichen

Anwesens. Auf dem

Feld hat er einen amerikanischen

Cowboy-Hut auf dem Kopf, aber das ist

ein gestandener Mann. Einer der Cow-Boys,

ein Junge von achtzehn Jahren, ist in die

Tochter des Ranchers verschossen.

Es ist wirklich lang her, und ich habe den Film

nicht noch einmal gesehen. Ich fabuliere es

dahin: Der Junge; er sei verliebt, bekundet

er seinem möglichen Schwiegervater. Um

womöglich vorzufühlen, wie die Sache ausgehen

könne, wenn er „Betsy“ um „ihre Hand“

fragt? Ich weiß nicht mehr, wie sie hieß.

Der alte James Stewart ist mit was beschäftigt.

Ich kenne ihn nur mit dieser gedehnten,

langsamen Sprechweise seiner deutschen

Synchronstimme. Er schaut zunächst

kaum auf. Er törnt was auf an einem Sattel,

schmeißt Holzkloben beiseite oder schüttet

einen Kübel mit Wasser aus. Daran erinnere

ich mich nicht. Er wird nachgedacht haben.

Aber statt lamentierte Sätze in den Raum

zu stellen, sieht er den Jungen scharf an und

sagt hart und betont deutlich: „Liebe! Dummes

Zeug.“

Der junge Mann beteuert sein Anliegen wortreich,

und natürlich, ich weiß ja nicht, es kann

auch der eigene Sohn gewesen sein, und das

Mädchen war auf der Farm vom Nachbarn.

Und sicher waren es verfeindete Familien,

keine Ahnung.

Lang ist es her.

„Ich liebe sie!“, fleht er beinahe, und mit Überzeugung.

Jetzt erklärt der Alte: „Als ich Elizabeth,

Lizzy – er nennt einen Namen (oder

sagt er: deine Mutter?) geheiratet habe“ – er

macht eine Pause.

Und der verdutze Junge begreift nicht recht,

wie dieser Satz wohl weitergeht. „Heute“, sagt

der Alte, nach so vielen Jahren, wüsste er es

schließlich … er stößt die Worte nun schroff

raus, oder nuschelt er das Folgende nur undeutlich

– eventuell mit einer verborgenen

Träne, die der andere nicht sehen darf?

Ich erinnere mich nicht.

„Dass ich sie liebe.“

Ich komme drauf, dies hier überhaupt zu

schreiben, weil ich gerade auf Youtube: „The

funniest Joke I ever heard“ gesehen habe, mit

diesem Stewart. In Farbe, 1984 lebte der ja

noch. Der Schauspieler erzählt seinen Lieblingswitz.

# Ein altes Ehepaar beim Frühstück

Prächtig aufgefahrene Leckereien, gebratener

Schinken, Eier und vieles mehr. Die Alte

neigt sich zum lieben Ehemann, schaut forschend,

ein wenig boshaft, hat womöglich einen

Hintergedanken, fragt: „Was machst du?

Es passiert, ich wäre plötzlich tot, sterbe bald

– würdest du wiederheiraten?“ Er reagiert

ungewöhnlich schroff. „Was soll das jetzt und

hier?“ Der Mann ist gereizt: „Ein blödes, finsteres

Thema. Es ist ein schöner Morgen, die

Sonne bescheint unseren reichlich gedeckten

Frühstückstisch, und ich freue mich auf

das Ei.“ Margret, so nennt der Schauspieler

die Ehefrau im Witz, lässt nicht locker: „John“,

sagt sie, „würdest du noch einmal heiraten?“

Der blockt ab, und sie frühstücken. Dieses

Thema, an diesem (wunderbaren) Morgen,

terrible – furchtbar: „Forget about!“ Darüber

will er nicht reden. Abends beginnt sie von

neuem. Er geht nicht darauf ein, sie liegen im

Bett nebeneinander, und er dreht sich weg:

„Nicht. Nicht hier, nicht jetzt und gute Nacht!“

Einige Tage lässt sie nicht locker und fängt

wieder damit an: „John, wenn ich vor dir sterbe,

heiratest du dann noch einmal eine andere?“

Da, tatsächlich, bekommt sie schließlich

eine Antwort, einsilbig: „Ja“, brummt der Ehemann.

Sie hat beharrlich noch weitere Fragen.

„Und das Haus. Würdest du es verkaufen?“ Er

ist erstaunt: „Das Haus? Nein – wieso denn.“

Sie kommt voran, er lässt sich ein …

Sie interessiert sich: „Das Bett. Mein Bett, unser.

Das, in dem wir beide schlafen, würdest

du es weggeben, verkau-fen?“

„Nein.“

Nein, warum auch – und im Hintergrund lachen

bereits einige, weil dieser Jimmy Stewart

es so unvergleichlich erzählt.

„Und …?“

Sie will es wissen.

„And my golfclubs, would you let her touch

my golfclubs?“

Das ist das Equipment zum Spielen, Tasche

mit einem Set, die Schläger, so nennt man es

im Sport, nicht etwa die Gebäude, Anlagen,

also einige Clubs die sie eventuell besitzt.

Unfug – ich habe es gegoogelt (peinlich, ich

gebe es zu … mein Englisch ist schlecht).

Translation: „Stick for hitting the ball.“

„Nein“, sagt er, überlegt …

„Nein –

… sie ist linkshändig.“

:)

Nov 26, 2020 - Jimmy und andere Helden 103 [Seite 98 bis 103 ]


Querdenken

Dez 12, 2020

Wo ist der Einzelne in der Menge, wie groß ist

der beanspruchte Raum und Einflussbereich

eines Menschen? Bedürfnisse und die Suche

nach Befriedigung, unvermeidbare Verpflichtungen,

dazwischen spielt sich unser

Leben ab. Einige intellektuelle Begriffe wie

Körper, Geist, Verstand und Gefühle bemüht

der Mensch für einen Rahmen, sich selbst zu

erklären. Der Organismus ist eine Einheit, ein

komplexes System, begrenzt von der Haut.

Mit ein wenig Abstand vom Körper können

zusätzlich gedachte Grenzlinien beschrieben

werden. Einige typische Elemente erweitern

das Individuum. Da sind die Kleidung und

etwa eine Brille oder Schmuck. Zubehör, das

sowohl dem Schutz dient wie der Selbstdarstellung.

Als nächstes können wir den

Lebensraum und nahe Personen im Umfeld

mit heranziehen, wenn wir die intellektuelle

Größe einer Person definieren möchten.

Im Laufe ihres Lebens probieren die meisten

ihre Kontrolle, den Einfluss und sogar die

Macht über andere zu erweitern. Menschen

gründen Familien. Sie machen Karriereschritte.

Sie erkennen in der Gesellschaft eine

Spielwiese individueller Gestaltung. Anderen

fällt es hingegen schwer, sich einen festen

Platz in der Umgebung auszugestalten, warum?

Gründe dafür lassen sich im Verhalten

derer finden, die kaum Gestaltungsspielraum

haben, aber auch in der Umgebung, die ihnen

quasi die Luft zum Atmen

nimmt, wenn sie nicht

geschmeidig und angepasst

auftreten. Menschen, die polarisieren,

müssen Druck ertragen

können. Das bedeutet,

querköpfig zu sein, funktioniert

nur bei klarem Verstand.

Die Umgebung ist eine harte

Realität. Der dümmste Pfosten

kann es schaffen, einen

harten Hund zu geben, wenn er die

Ordnungskräfte im Rücken weiß. Ein

Verrückter kann ein ganzes Dorf auf

Trab halten, wenn die anderen nicht

begreifen, dass verrückt zu sein nur

eine Definition ist. Die Grenzen der

Macht? Im funktionierenden Rechtsstaat

verhindern sie das Umfallen

der Mitläufer zum extremen Rechtsverständnis,

sind fehlende Dominosteine

in einer langen Reihe.

# Jeder schiebt seinen Nächsten

Alles außerhalb der Haut drückt

auf den Menschen, wirkt mit einer gewissen

Stärke. Nicht abzuschalten ist die Schwerkraft,

und wir lernen in der Schule, dass die

Erde uns an sich zieht, wie Newton ein Apfel

auf den Kopf fiel. Für den Apfel bedeutet die

Landung auf der Wiese, dass es ihm einen

Schlag tut. Aus der Sicht des Apfels kommt

der Boden näher, bis es kracht. Unser Fußweg

ist ein Gegner, den wir uns mit jedem

Schritt vom Leib halten. Je nach Jahreszeit

belastet uns die Kleidung, was wir anhaben.

Eine dicke Winterjacke behindert mehr als

ein leichtes Shirt. Die Luft um uns

herum hat das Bestreben, in jeden

Menschen hineinzudrücken. Wir geben

ihr gern nach, erzeugen Unterdruck,

schaffen eine Höhle – atmen

ein und benötigen Muskelkraft, die

verbrauchte Luft wieder auszuatmen.

Eine flexible Grenze ist nötig. Der

Apparat Mensch regelt den Eingang

und Ausgang seiner Pforten. Wenn

der Organismus unterversorgt ist,

uns mit Hunger daran erinnert, werden

wir Nahrung zuführen. Ist diese

nutzbringend verarbeitet, scheiden

wir nicht zu gebrauchende Reste aus

und benötigen Kraft dafür. Wir sind

bedrängt, gestützt und gehalten vom

Drumherum.

Viren und Bakterien können in uns

eindringen. Männer dringen in Frauen

ein. Worte dringen in unser Ohr,

jemand fordert: „Hauen Sie ab!“, und

eventuell hauen wir dann ab. Die

Umgebung ist gegen uns, mal mehr,

mal weniger. Eine Segelyacht: Der

Wind ist gegen das Boot gerichtet und kann

genutzt werden. Aber auch bei achterlichem

Wind benötigt das Schiff ein festverstagtes

Rigg und der Windstärke angemessene Segel.

Der Erdboden ist kein Feind, den wir treten,

aber kranke oder sehr alte Menschen liegen

sich wund im Bett. Die Umgebung auf Abstand

zu halten, bedeutet gesundes Verhalten

gelernt zu haben. Liebende schmiegen

sich an. Geborgenheit und Zuverlässigkeit,

sanfter Druck ist angenehm. Als soziale Wesen

kämen wir uns verloren vor, wenn nicht

mal jemand sagte: „Komm gern näher.“

Um den Menschen zu beschreiben und

wissenschaftlich einzuordnen, ist es unumgänglich

die anderen und die Umgebung

insgesamt miteinzubeziehen. Gemeinschaft

ist der Halt gebende Rahmen, der persönliche

Gegner oder Unterstützer des Einzelnen.

Die Gesellschaft fordert und gibt Rechte. Der

Mensch muss sich in einen sozialen Platz

finden. Das ist je nach Umgebung und Individuum

verschieden. Was ist eine gesunde

Gesellschaft, ein gesunder Mensch? Natürlich

erleben alle Phasen von Krankheit, eine

Erkältung ist eine Erkrankung. Nach einigen

Dez 12, 2020 - Querdenken 104 [Seite 104 bis 107 ]


Tagen ist sie vorüber. Das Wort „krank“ wird

aber auch für „gestörtes“ Verhalten beschrieben.

Die Umgebung stört? Insofern ist die

Frage nach der gesunden Gemeinschaft zu

stellen, die einzelne Mitglieder als krank

aussortiert. Das macht die Gesellschaft, weil

manche eine Gefahr für das System darstellen.

Störer auszusortieren ist die typische

Lösung, anschließend Resozialisierung. Eine

gesamtgesellschaftliche Änderung anzustreben,

damit weniger Menschen den Staat von

innen angreifen, wäre die Alternative.

# Irrationalen Druck der Struktur auf einzelne

zu minimieren, ist ein Prozess

Die Corona-Pandemie zeigt dem modernen

Menschen die Wichtigkeit erfolgreicher

Grenzziehung. Systeme sind zunächst der einzelne

Mensch, dann die Bezugspersonen als

Gruppierung, Familie, Kollegen. Größer sind

Städte, Kreise und Bundesländer, schließlich

der jeweilige Staat. Zielführende Abgrenzung

muss nötige Versorgungswege frei lassen

und die Ströme kontrollieren. Etwa wie gute

Finanzpolitik meint, Geld gezielt zu investieren

oder als Lebewesen nur die Nahrung zu

sich zu nehmen, die eine ist. Der Mundschutz

zu Corona Zeiten; wir können sprechen, aber

die Aerosole werden aufgehalten.

Kontrolle ist uns überlebenswichtig,

wie die Bewusstheit wo wir sind, und

was wir dort gerade auf welche Weise

tun.

Zunächst sind in der Masse der gesamten

Menschen alle gleich in ihrer

grundsätzlichen Struktur: Kopf, Gliedmaßen,

Muskulatur und Knochenbau,

die Organe – das ist identisch,

über die verschiedenen Formen

des Menschen hinweg: Mann, Frau

und Hautfarbe. Es sind keine Verbraucher,

Autofahrer, Arbeitnehmer,

und obwohl wir unterscheiden

– Pädophile und Gefährder usw.

– sondern Menschen. Die Verbraucher

sind auch Produzenten von

irgendwas. Die Autofahrer gehen

auch zu Fuß. Die Arbeitnehmer haben

Freizeit, und dann gehen sie

einem Hobby nach. Die Gefährder,

von denen seit einigen Jahren geredet

wird, gefährden nicht nur die

anderen Menschen, sie sind ein

Teil der Gesellschaft und gehören deswegen

dazu.

# Es sind Menschen

Wir können eine Liste machen mit Personen,

die dem System Schaden zufügen

oder das planen, aber wir können auch

begreifen, dass die Gesamtheit der jeweils

anderen auf den Einzelnen einwirkt. Dann

könnten wir besser verstehen, was wirklich

gefährlich ist und mit einem guten theoretischen

Ansatz ist einer Gesellschaft mehr gedient,

als primitiv dem Boulevard zu folgen.

Die Spezialisierung hat zum Machtmonopol

des Staates geführt. Auseinandersetzungen

müssen den zivilen Gepflogenheiten entsprechen.

Mit dem Begriff der kriminellen

Energie wird versucht, denjenigen zu beschreiben,

der angreift. Das Wort Notwehr

erlaubt dem Angegriffenen über das Maß

verbaler Abgrenzung straffrei zu bleiben

bei Gewaltanwendung. Mit den Begriffen

Opfer und Täter versucht man einen Rahmen

zu schaffen, bewertet Streit rechtlich,

kann entsprechend der Regeln strafen.

Der moderne Rechtsstaat ist das Ergebnis

langjähriger Entwicklung. Der Unmut über

falsche, zu kurze oder ungenügende Strafen,

wie er gern aufkommt, zeigt

wie nötig wir Gesetze, Anwälte

und Richter haben. Wäre unsere

Polizei nicht an die Regeln aller

gebunden, hätten wir übergriffige

Verhältnisse wie anderswo. Macht

kann missbraucht werden. Wenn

wir zivilisiert leben, unbewaffnet

in die Stadt gehen, dem Schutz

durch Ordnungshüter vertrauen,

dürfen wir nicht blind gegen den

dienstleistenden Staat herumspazieren

und müssen das in der Kindheit

lieb gewonnene Weltbild von

Gut und Böse aufgeben. Wir müssen

die Fähigkeit haben, uns verbal abzugrenzen.

Wir müssen unseren Zorn

beherrschen und Handgreiflichkeiten

vermeiden, könnten wissen, dass es

keine vollumfängliche Sicherheit

gibt. Wir dürfen eigene Fehler akzeptieren.

Wir sollten begreifen, dass wir

einige provozieren, wenn wir individuellen

Raum beanspruchen.

Der Feuerwehrmann, der den Brand selbst

legt, die Krankenpflegerin die tötet und der

Polizist, der illegal zum persönlichen Vorteil

arbeitet sind gleichwohl Realität wie die

„normalen“ Kriminellen, die etwa in Sportverein,

Kirche oder Schule missbräuchlich Macht

über Schutzbefohlene ausüben. Mit den digitalen

Techniken für jedermann ist abfilmen,

gruppenweises Mobben und zu hetzen Alltag.

Wo viel möglich ist, wird auch viel gemacht,

und eine unübersichtliche Situation entsteht,

trotz aller Regeln des Datenschutzes. Imaginäre,

mit Vorurteilen beladene Schubladen,

die wir zügig zum Schrank unserer Weltschau

tischlerten, helfen nicht gegen eine reale Gefahr.

Ordnung beruhigt schon mal: Ein Vorurteil

ist gut, aber nicht gut genug. Wir nehmen

ein Werkzeug aus diesem Schrank, und wundern

uns, wenn es nichts taugt.

Dez 12, 2020 - Querdenken 105 [Seite 104 bis 107 ]


Wer der lieben Ordnung halber andere als

Sorte beschreibt, riskiert eine Entwicklung

außer acht zu lassen, die diese Personen

verändern wird. Wenn wir Menschen aufgrund

einer Annahme einen falschen Stempel

aufdrücken, können unsere Aktivitäten

scheitern. Statt die Gefährlichkeit zu kontrollieren,

schaffen wir eine andere, die uns kalt

erwischt. Du beschließt, es augenscheinlich

mit einem Tiger zu tun zu haben und wirst

hinterrücks von einer Schlange gebissen, so

ungefähr.

Attentate sind zum Problem geworden, aber

es gab sie schon immer. Seit wir den Eindruck

gehäufter Anschläge haben, probieren Verantwortliche,

die ihnen anvertraute Gesellschaft

zu sichern. Polizei und Staatsschützer

sollen im Voraus der Anarchie einen Riegel

vorschieben. Mit der Idee der Rasterfahndung

probiert man Ordnung zu schaffen und

stellt eine Struktur der Gefährdung auf. Die

Fachleute erkennen den „Islamistischen Gefährder“,

unterscheiden ihn vom „Politischen

Terroristen“ und haben es mit „Einzeltätern“

zu tun? Skepsis ist angebracht. Wer eine

Hypothese aufstellt, kann zu praktischen

Handlungen übergehen und

Ergebnisse präsentieren.

Das ist der Grund, warum es

gemacht wird. Die Theorie

könnte fehlerhaft sein, die erzielten

Beobachtungen falsch

interpretiert werden, mit bei

diesem Thema gefährlichen

Erfahrungen der Betroffenen.

Es werden unnötig Personen

verdächtigt als auch gefährliche

Situationen nicht im Voraus

erkannt, wenn die Annahme

jemand sei ein „Soundso“

falsch ist.

Obwohl gruppenweise Zuordnung

von Menschen intellektuelle Begriffserklärung

ist, nehmen die Bewerter

an, es mit Äpfeln und Birnen zu tun zu

haben, sind damit kaum besser als die

Nationalsozialisten im Rassenwahn.

Seitdem bekannt ist, wie einfach die

Gesellschaft von einer einzelnen Person

gefährdet werden kann, ein Auto

genügt, man muss nicht einmal eine

Waffe besitzen, kann dieses Verbrechen leicht

nachgeahmt werden. Es ist die Bestrafung

einer an den Wohlstand gewöhnten breiten

Masse, die meint nichts dafür zu können,

wenn sie angegriffen wird.

Vor längerer Zeit habe ich während

eines Aufenthalts in Backnang

einen Artikel in der Stuttgarter

Zeitung gelesen. Eine ganze Seite

reichte gerade aus, heftigen Streit

unter Nachbarn darzustellen. Immer

wieder war es in der Vergangenheit

zu Auseinandersetzungen

vor Gericht gekommen. Ein in der

Gegend beheimatetes Ehepaar

strengt immer neue Ermittlungen

wegen Beleidigung an. Der Mann

nebenan wehrt sich allerdings erfolgreich.

Er habe gute Anwälte und

Geld sowie hinreichende Ausdauer.

Vielleicht hatte er das Grundstück

geerbt und war dazugezogen, ich

erinnere mich nicht. „Der Mann sei

psychisch krank, bedrohe das Ehepaar,

singe nächtelang im Regen

auf einem Baum sitzend in seinem

Garten und müsse eingewiesen

werden“, so etwa die Vorwürfe.

Ein ähnlicher Fall hier im Norden: Eine Bekannte,

die mit dem Amtsgericht zusammenarbeitet,

erzählt von einer jungen Frau.

Die terrorisiere ein Mietshaus mit einigen

Parteien. Bepöbelungen, Beschmutzungen

im Treppenhaus, sie beschädige abgestellte

Fahrräder, den Kinderwagen einer Mutter,

lasse laute Musik laufen, gelte den Mitbewohnern

als krank. Man probiere, sie in die

Klinik einzuweisen. Es sei schon gelungen,

schließlich ist die Frau polizeibekannt. Ab

dem Moment des richterlichen Beschlusses

und ihrer Unterbringung in einer geschlossenen

Station der Psychiatrie, „sei die Dame

vollkommen normal“, verhalte sich mustergültig,

sagt die Juristin. Die ihren Nachbarn

so gefährlich erscheinende, psychopathische

Mieterin, die alle ausnahmslos nervt, mutiert

sofort zum allerbesten Teamplayer innerhalb

der Mitpatienten! Sie räumt das Geschirr

in die gemeinsam genutzte Spülmaschine.

Sie ist pünktlich zu den Mahlzeiten, nimmt

Therapieangebote wahr, erscheint zur angegebenen

Zeit, um das ihr zugewiesene Medikament

einzunehmen; und muss deswegen

nach wenigen Tagen entlassen werden. Der

Amtsrichter kann keinen Beschluss aufrechterhalten,

wenn ein in der Psychiatrie befindlicher

Mensch erkennbar normalgesund ist.

Daheim im Mehrfamilienhaus beginnt der

Terror auf der Stelle neu. Sie beleidigt die

Dez 12, 2020 - Querdenken 106 [Seite 104 bis 107 ]


anderen usw. – gute Beispiele, erfolgreich der

Masse zu trotzen? Die „Gesunden“ können mit

wenig Streit zurechtkommen, Grenzgänger

nicht. Da sind unendlich viele, die, wenn sie

einmal die Bekanntschaft mit dem Psychiater

gemacht haben, von diesem Zeitpunkt an ein

Leben in einer Parallelwelt führen. Sie finden

nicht zu (erfolgreich) trotzendem Zorn, haben

kein Grundstück geerbt oder gute Anwälte,

traurig.

Das ist meine Einzelmeinung? Ich

kann mir leicht vorstellen, wie diese

Nachbarn zusammenhaltend als

Ehepaar gegen „den Verrückten“

mobil machen oder im mobbenden

Verbund der Mieter: „Die muss

weg!“ skandieren. Glücklicherweise

ist ihnen nur ein Teilerfolg möglich.

Der Versuch gütlicher Einigung,

Vertrauen aufzubauen, scheitert an

den bornierten Integrierten; das ist

meine Meinung, und nur wenige

werden diese Ansicht teilen. Auch

im Fall schlimmster Gewalt vom

Ehemann gegen die Frau, wie es

vorkommt, und ein Näherungsverbot

ausgesprochen wird, erleben wir

immer wieder den extremen, auch

tödlichen Ausgang dieser Dramen,

wenn ein Streit um das Sorgerecht

der Kinder eskaliert oder ein neuer

Partner auftaucht. Es zeigt sich, dass die Gesellschaft

machtlos ist, überall reibungsloses

und geschmeidiges Miteinander zu garantieren;

und das ist auch gut so.

Meine Einzelmeinung, ich weiß das.

Das Offene der demokratischen, freien Gesellschaft

ist ihre Schwäche und Stärke zugleich.

Die Schwächen des Föderalismus in

der Pandemie: uneinheitliche Maßnahmen.

Beschließt ein Bundesland den Lockdown,

gehen die Einwohner der Grenzorte in das

benachbarte Gebiet und kaufen dort ein.

Auf dem Weihnachtsmarkt ist Glühweinverkauf

erlaubt, trinken darf man das Getränk

erst in einhundert Meter Entfernung vom

Ausschank? Jemand sagt im Fernsehen: „Das

verstehen wir nicht“ und „die Politik habe

versagt“ – wie blöd muss man sein, angesichts

der zunehmend dramatischen Bilder

aus Krankenhäusern weltweit, um die eigene

Verantwortung derart auszublenden? Wer alles

geregelt haben möchte, ist in jeder Welt

verloren.

:)

Dez 12, 2020 - Querdenken 107 [Seite 104 bis 107 ]


Wir gehen vergnügt alle drei die Treppe im

Turm hoch. Ich zeige ihr mit reichlich wechselseitigem

Erklären zwischen uns (der Mann

sagt nichts, und Mattern schnauft vorbei, erleichtert,

dass sie noch rechtzeitig kommt)

den neuen Platz der Orgel auf der Empore –

und verabschiede mich dann schnell wieder

nach unten. (Sie hat beste Laune und wirft

sich gleich an den Spieltisch). Kein Ton, sie

probiert nicht. Gar nicht. Eine Orgel ist eine

Orgel.

Stille.

Weihnachten ist eine alte Mail

Dez 18, 2020

Hallo G,

noch einmal vielen Dank für alles. Auslage

beglichen, danke auch dafür. Heiligabend haben

wir im Altersheim bei meinem Vater

Knackwurst und Kartoffelsalat gegessen.

Wir machten das Beste draus. Anschließend

war ich mit meiner lieben Frau

bei Mattern zur Andacht, um neun in der

Stephanskirche. Diese Organistin! Du

weißt schon: die gute aus dem Nachbardorf.

Halstenbek oder Rellingen, keine

Ahnung. Wie immer, kam sie erst in den

letzten Minuten vor der Predigt.

Wir sitzen nun unten, und Mattern kommt.

Still erwarten wir den Heiligen Abend.

Man sieht, dass es gleich losgeht, alle sind

gespannt. Ohne auch nur einen einzigen Ton

des Übens oder Probierens beginnt das allerschönste

und schwungvollste Orgelvorspiel.

Du kennst die Frau.

Das ist die mit der A-Klassifikation.

Auftritt. Fünf kleine Minuten vor Beginn,

eine schlanke Diva mit langen Beinen.

Zerzaust. Raus aus dem Auto! Im schief

auf einer Schulter hängenden, nachlässig

übergeworfenen Wintermantel,

rast sie herein. Ihr pechschwarzes Haar

weht flatternd wie eine Fahne im Crescendo.

Sie macht große Schritte, stürmt

aufgekratzt und bester Laune gerade

noch pünktlich, mit einem Herrn im

Schlepptau (wahrscheinlich Ehemann und

Notenwender), als wäre der nur ein extra Köchelverzeichnis,

mit den wichtigsten, schwer

zu spielenden Passagen (wie unter den Arm

geklemmt), in den bereits gut mit Besuchern

gefüllten Kirchenraum … und sucht ihre Orgel:

„Wo ist die denn? Sie stand doch immer da

vorne rechts.“

Ich kann es nicht lassen (denn ich finde sie

einfach toll) und stehe auf, zwänge mich also

(zum Unmut meiner Frau) aus der Mitte unserer

Bankreihe an den anderen vorbei … und

biete mich als Kenner der Stephanskirche

an.

Fehlerfrei in gutem Tempo und mit Feeling

geht eine Musik nach der anderen durch den

Gottesdienst, und natürlich gibt es zum Ende

hin wieder einen wunderbaren musikalischen

Ausklang.

Virtuos.

Dass man weinen muss – so schön.

Was ich eigentlich sagen wollte: Bitte melde

dich mal bei (…).

Guten Rutsch in das Neue Jahr!

John

Dez 18, 2020 - Weihnachten ist eine alte Mail 108 [Seite 108 bis 108 ]


Frohe Weihnachten!

Dez 25, 2020

Weihnachten, eine Standortbestimmung.

Ich bin Maler, ich war Grafiker:

Ein langjähriger beruflicher Partner ist

in Rente gegangen. Eine Mitarbeiterin

im dazugehörigen Büro fand, ich müsse

doch ein Gruppenbild malen, zur Verabschiedung.

Ich erklärte ihr meine Bedenken.

Menschen mit denen ich zwanzig

und mehr Jahre herzlich verbunden

bin, mit einigen nur per Telefon! Wenn

ich male, möchte ich die Ähnlichkeit

der Porträtierten erreichen. Tatsächlich

helfen mir Fotos dabei nur, wenn ich die

Leute kenne.

Eine kleine Geschichte: Ich habe einmal ein

Doppelbild für ein Paar zur Hochzeit gemalt,

und das Bild gefällt mir auch. Es wurde freudig

angenommen und gelobt. Freunde des

Paares haben das vereinbarte Honorar gern

gezahlt. Ich hatte an die zwanzig Fotos, die

beiden waren anlässlich der bevorstehenden

Hochzeit am Hafen fotografiert worden, und

die Freunde, die mich mit dem Bild beauftragten,

konnten an diese Bilder gelangen,

haben sie mir heimlich gemailt. Damit schien

ich perfekte Vorlagen zu haben. Das junge

Paar sah ich erst, als das Bild, auf das ich sehr

stolz bin, bereits an ihre Freunde übergeben

war. Dann konnte ich die Verlobten das erste

Mal betrachten, und das geschah, ohne dass

man mich bemerkte.

Ich begriff: „Ach – das sind sie“, ich kannte ja

die Fotos.

Dann habe ich mich über mich selbst geärgert.

„So!“ … sieht er aus, dachte ich. Der junge

Mann hatte den schmalen Kopf eines Jugendlichen.

Seine ganzen Bewegungen deuteten

darauf hin, dass er beweglich, fast schlaksig

war. Auf eine jungenhafte Weise unbedarft.

Auf meinem Bild war das ein Mann. Ein Sean

Connery, der durch alle Gezeiten seine Braut

schippert, und das war doch nicht schlecht

für das Motiv?

Ich habe mich trotzdem geärgert. Eine Frage

des malerischen Handwerks. Der Hochzeitsfotograf

hatte die beiden am Hafen zu einer

Einheit gepaart, die er schließlich aus einiger

Entfernung mit dem Teleobjektiv fotografierte.

Das machte, dass ihre Gesichter breit wurden,

man die Tiefe des Kopfes nicht sehen

konnte. Als das junge Glück nun (unbemerkt

von meinen neugierigen Blicken) auf der

Bühne einer Aula Musikinstrumente platzierte,

Notenständer auspackte, hatte ich reichlich

Gelegenheit, sie wie nebenbei zu sehen

und auch wie ihre Köpfe im dreidimensionalen

Raum ganz anders wirkten. Anschließend

sah ich mir zuhause die Fotos noch einmal

an. Nun war es einfach zu begreifen, dass ich

übersehen habe, was in der Realität ohne

Schwierigkeiten dem Auge eines Betrachters

übermittelt wird.

Ein Film ohne Ton, ein Foto in schwarz-weiß,

eine Musikaufnahme anstelle des wirklichen

Besuchs im Konzert; das sind Vergleiche, die

beschreiben sollen, wie ein Mensch glaubt,

etwas begriffen zu haben, wenn man ihm

nur einen Teil der Wahrheit präsentiert. Jedes

Wort, das wir nehmen, um zu beschreiben hat

auch diesen Mangel. Scheinbar ein anderes

Thema? Ich wollte eine Flaggenhalterung

auf meinem Boot haben „Leicht geneigt“, hatte

ich als Hinweis in die von mir gezeichnete

Skizze notiert. „Was heißt ,leicht‘ geneigt?“,

raunzte Mambo mich böse an, „zwei Grad

oder fünfzehn? Nachher bist du sauer und

sagst, es sei dir zu schief oder warum der

Flaggenstock so gerade ist!“

Deswegen kein Gemälde.

Die Verabschiedung von H. in die Rente;

ich habe also ein Modell der Bürogemeinschaft

gebastelt und zwar aus Fimo. Das ist

ganz nett geworden und gerade an meinen

Freund und zukünftigen Rentner erfolgreich

übergeben worden. Meine Lektorin schreibt,

sie habe „mit mir angegeben“, damit auch alle

wüssten, wer das tolle Ding fabriziert hätte.

Ich habe ihr geantwortet, die kleine Installation

trage doch am Rande meinen Namen.

Das Modell sei signiert, schrieb ich, an der

Seite befände sich ein kreativer Hinweis auf

den Schaffenden, mit Datum. Das ist für mich

ein Teil jedes Kunstwerks und gehört gestaltet

dazu.

Otto Ruths (mein Professor) schrieb seinen

Namen auf die Rückseite. Der malte auf dicke

Holzplatten. Damit sie nicht krumm würden,

nahm er am Abend nach der täglichen Arbeit

am Bild die Farbreste von der frischen Palette

und malte auf die Rückseite etwa soviel

Farbe, wie er über den Tag ins Bild gebracht

hatte hinten drauf. So wie man auch eine Tür

von beiden Seiten streichen muss oder die

Bodenbretter vom Boot beidseitig lackieren.

Wenn sein Ölbild fertig war, nahm Otto ein

gleichmäßiges, mittleres Grau und strich die

Rückseite einheitlich an, um dann mit breitem

Pinsel groß über die ganze Fläche sein

typisches „Ruths“ zu schreiben.

Was gehört dazu, ein Künstler zu sein? Manche

malen nicht, sie gehen einer anderen Leidenschaft

nach. Warum siegt die eine Kunst

in einem über die andere, und warum finden

manche, sie sollten kreativ sein, beginnen

trotzdem nicht mit dem, was ihnen eigentlich

liegt?

Weihnachten ist die Zeit, in der sogar im Supermarkt

Jazz läuft. Viele Menschen singen

Weihnachtslieder, selbst welche, die meinen

eigentlich unmusikalisch zu sein. Ein Bild

das meinen Namen trägt, ein Lied, dass ich

selbst singen kann, das ist für den Erwachsenen

die Möglichkeit, sich wieder wie im

Kindergarten zu fühlen. Etwas Eigenes gelingt,

ein Kunststück, das ich für gewöhnlich

kaufen muss. Als Rest vom Fest bleibt uns im

Jahr der Pandemie das gemeinsame Singen,

jedermanns Kunst. Das Tageblatt empfahl

seinen Lesern am Heiligabend „Stille Nacht“

bei geöffneter Balkontür zu singen, um das

durch die Pandemie beschränkte Fest ein wenig

sozial und gesellschaftlich verbindend zu

gestalten, wenn der Kirchgang in der Regel

ausfallen würde.

Ich hatte kurz vorher ein längeres Gespräch

mit Rinja, das ist meine Pastorin hier, nur wenige

Meter entfernt in der Stephanskirche,

und kann es nur begrüßen, dass sie sämtlich

die Gottesdienste abgesagt hat. Nicht allen

gefällt es. Ich finde, dass man Gott überall

nah sein kann. Was Scheinheiligkeit ist, führt

uns die Spitze im Staat vor, in jedem Staat

und jedem Dorf auf dieser Welt. Würdenträger

sind „Berufsgute“, und das geht nur zu oft in

die Richtung zur Schau gestellter Frömmigkeit.

Auch in der Führung einer Kirche und in

allen Kirchen der Welt kommt das vor. Nicht

zu ändern, aber den Preis zahlen diejenigen

selbst, wenn sie ihre Zeit mit dem Beten verschwenden

und es ihnen nur eine Pflicht ist.

Die einfachen Kirchgänger genauso blöd:

Die Schenefelder haben zwei Kirchen, und

etliche haben sich in allen Gottesdiensten in

beiden Kirchen angemeldet, als noch geplant

war, den heiligen Abend mit mehreren Veranstaltungen

entzerrt zu feiern. Unglaublich!

Unser Wohnzimmer, nach der Bescherung

öffneten wir die Tür zur Terrasse. Wir sangen

pünktlich zur Zeit das vorgeschlagene Lied.

Ich sang nicht, ich habe meine Trompete in

die Hand genommen und die paar Takte auch

leidlich hinbekommen. Ich habe in jedem

Winter unglaublich trockene, spröde Lippen,

und das behindert. Sicher ein guter Grund für

mich, stattdessen Bilder zu malen. Ich möchte,

dass ich gut bin, ganz egal, ob jemand

anderes sich für mich interessiert oder nicht.

Ich möchte gut malen. „Gut“ Trompete werde

ich nie spielen können, aus vielen Gründen.

Mir genügt es, ein wenig zu probieren, weil

ich meine eigentliche Kunst „gut“ beherrsche

und immer kreativ bleibe. Das ist ganz unabhängig

davon, ob ich ausstelle, verkaufe oder

die Bilder sonstwie gelobt werden.

Manche schreiben ihren Namen in das Bild,

einige signieren gar nicht. Es ist ein Muss zu

signieren, wenn man verkaufen will? Meine

Professoren lehrten, darauf zu achten, die Signatur

als einen Teil der Ästhetik zu verstehen.

Ein Student schrieb seinen Namen recht groß

(und von sich selbst begeistert) brachial hingezimmert

in jedes Bild unten in eine Ecke.

Das führte dazu, dass man die gute Zeichnung

gar nicht genüsslich anschauen konnte,

sondern das Auge unweigerlich sofort diesen

Dez 25, 2020 - Frohe Weihnachten! 109 [Seite 109 bis 110 ]


heftig geschluderten „Max Mustermann“ anvisierte.

Ich habe es mir gemerkt, den Freund

damit aufgezogen und später auch mal eine

Kürbismalerin im Einkaufszentrum belehrt.

Die stellte dort aus und arbeitete sogar vor

Ort. Sie hatte eine Staffelei neben ihren Bildern

und rundherum einige Kürbisse drapiert

und malte nun ein dekoratives Bild nach dem

anderen. Verglichen mit meinen Fähigkeiten,

war sie nur eine dieser Frauen, die in

der Volkshochschule angefangen haben und

dann toll finden Sonnenuntergänge, Bauernhöfe,

italienische Pinien oder Brandungsbilder,

Hunde bzw. Enkelkinder zu porträtieren.

Dass ich nur ein naseweiser Oberlehrer

war, der für einen maritimen Buchverlag illustrierte

und längst nicht selbstständiger

Künstler, denn diese Begegnung ist viele

Jahre her, begriff ich erst anschließend. Ein

Schlüsselerlebnis. Die Künstlerin, denn das

war ja tatsächlich eine, während ich zu dieser

Zeit „nur“ Illustrator gewesen bin, stieg

beherzt gleich einen Schritt hoch, auf eine

Holzpalette, damit sie mit mir auf Augenhöhe

gleichgroß selbstbewusst reden konnte.

Hübsch und klug; sie war etwa so alt wie ich,

und auf meine Fragen verriet sie mir einiges

über ihr Künstlerleben. Man würde ja nicht

nur malen, sondern müsse eben auch viel dafür

tun, um Ausstellungen zu bekommen und

entsprechendes Publikum, das kauft.

Danach habe ich selbst angefangen zu malen

...

Ich war doof genug gewesen – eine Malerin

zu belehren, die Signatur sei ein Teil des

Bildes, und selbst stocherte ich am Rechner

unterbezahlt Info-Grafik zusammen? Und

durfte mir vom Autoren in rot am Rand angemerkt

durchlesen: „Der Mond, wenn er es

denn sein soll, ist als solcher nicht zu erkennen.“

Unzählige Erinnerungen. Ich wurde

belehrt: „Vor dem Hotel (ein großer Name)

fahren keine Busse!“ Ein Küchen- und Möbelgeschäft

im Städtchen über meine Zeichnung

anschließend einer Korrektur: „Das sind wir

doch!“ (Nachdem ich das zuvor der Realität

entsprechende Gebäudebild ums dreifache

aufgeblasen hatte, damit es wie gewünscht

als Werbung neben den Großen der Branche

Bestand habe). Ein im Hintergrund integriertes

Segelschiff auf einer Zeichnung, das nur

illustratives Beiwerk war und dem Inhalt der

Info-Grafik ein wenig Leben geben sollte,

wurde kommentarlos nebenbei vom Verlag

zur modernen Yacht umgezeichnet. Das sah

ich im Belegexemplar. Ich begriff nicht, was

alle lernen müssen, die Aufträge erledigen.

Man ist in etwa Handwerker, kein Künstler

und liefert bitte wie gewünscht. Mein Freund

Uwe Jarchow, der zahlreiche technische Grafiken

für verschiedene Kunden machte, und bei

dem ich viel über Illustration gelernt habe,

schrieb diesen Satz in jede seiner Rechnungen:

„Sie bestellten und erhielten.“ Mit dem

erwähnten Abteilungsleiter meines großen

Kunden traf ich auf einer Weihnachtsfeier

(oder Bootsausstellung) zufällig den Kopf des

Familienunternehmens: „Das ist Herr Bassiner“,

stellte der verantwortliche Auftraggeber

(und heutige Freund H.) mich vor, lobte: „Der

gute Zeichner, er hat (…) illustriert“, aber der

andere hörte nicht zu. Er sah mich kaum an,

meinte: „Ach ja?“, und knüpfte sofort an anderes

an. „Wir wollten noch über … (irgendein

Projekt) sprechen.“ Er machte mit dem bisherigen

Thema weiter, ohne mich zu beachten.

Da stimmte was nicht. So ging ich auf die

Suche, ein besseres Leben zu finden. Es gibt

Menschen, denen hört man zu. Vielleicht ist

das nicht wichtig? Was kann alternativ befriedigen:

Ich probierte mich in freier Malerei.

Der Kommilitone „Mustermann“ genauso.

Während er einen überschaubaren, dennoch

aus meiner Sicht zu beneidenden

Erfolg hat,

bin ich schnell abgedriftet:

in die „Schmuddelecke“,

so werde ich

bewertet.

Ich habe mich auf vielerlei

Weise unmöglich

gemacht und bin dankbar

für dieses Schicksal.

Mein Vater, der als angestellter

Maschinenschlosser

unzufrieden

war und durch Selbstständigkeit

mit dem

Fischladen und dem

Bau eines großen Geschäftshauses

doch

nicht frei wurde, schaffte

es nie, seinen Ängsten

und Motivationen

auf die Spur zu kommen.

Er begann die Suche, aber verzettelte sich

in den allgemeinen Ratschlägen, ohne eine

individuelle Antwort zu finden. Er begann

gesund, endete depressiv. Ich dagegen wurde

gleich zu Beginn meines Lebens krank in

meiner Unzufriedenheit, verstand nichts, fing

an zu suchen und begreife mich auf einer

Art Treppe, der gute Weg ins Bessere mit seinen

Rückschlägen. Es geht nur aufwärts. Ich

zahle den Preis, die Vergangenheit mit ihren

verpassten Chancen exakt wahrzunehmen,

trotzdem wurde mein Leben befriedigender.

Die Lösung besteht für mich nicht darin, den

Ort des „alles ist gut“ zu erreichen, sondern

bewusst den Tag zu gestalten. Meine Freiheit

funktioniert genauso im Knast oder Krankenhaus,

wenn man um alles bitten muss. Macht

über andere zu haben ist kaum zufriedenstellend

oder gar die Freiheit an sich, wie etwa

ein großes Anwesen zu besitzen oder viele

Bewunderer, finde ich.

Der Heilige Gral oder die Blaue Blume befinden

sich nicht in Edinburgh.

Der Ort des Glücks ist dort, wo wir hingehen,

wenn wir Kummer haben und es besser wird.

Den Weg dorthin zu kennen, heißt weniger

von einem Platz zum anderen zu wechseln,

sondern innezuhalten und sich selbst verwandeln

können. Die Freiheit von der eigenen

personalisierten Angst zu erlangen bedeutet,

die Momente wahrzunehmen, in denen

wir die Wahl für eine Entscheidung haben,

und sie rückblickend von den Augenblicken

zu unterscheiden, in denen wir unmöglich

anders handeln konnten. Das bemerkt man

anschließend: Sonst würden wir ja den eigenen,

besseren Weg wählen. Spontanität und

Zwang in ihrer Unterschiedlichkeit zu begreifen,

ist individuelle Freiheit. Sich die verkackten

Situationen nicht übel nehmen, Professor

Otto Ruths (eingangs erwähnt) dazu:

„Wer seine Vergangenheit nicht kennt, hat

nur eine relativ dürre Zukunft.“

Wenn ich sowas erzähle,

betonen die

anderen immer, wie

toll meine Frau alles

mitgehe, und ich

sage: „Ja.“ Ich denke

aber, sich eine Umgebung

zu schaffen,

wo es gut ist, bedeutet

grundsätzlich auf

dem richtigen Weg

zu sein. (Wenn man

sie gut pflegt, hält

die Ehefrau ein Leben

lang). Insofern

gehe ich auch dieses

Mal von mir aus, das

ist falsch?

Greta Thunberg,

sie ist bestimmt

egoistisch, und viel dreht sich um sie, und

vermutlich ist es nicht leicht, mit ihr zusammenzuleben,

man sagt sie habe eine „Soundso-Krankheit“.

Aber sie konnte schaffen, dass

ihre Umgebung sich an sie angepasst hat.

Statt dass ihre Eltern sie in eine Zukunft drücken

konnten und sorgenvoll schauen, warum

das Kind nicht isst … geht der Vater mit

ihr über den Atlantik segeln, stürzt sich in die

reale Gefahr zu ertrinken. Das war kein Spaziergang.

Aber wir können annehmen, dass

er seine Tochter liebt. Es ist kein Machtverhältnis,

was sie bindet, es ist ihre ganz eigene

Gesundheit als Familie und Einzelwesen.

Dafür gibt es kein Modell: Sollen wir nun alle

„Bio essen und segeln gehen“ – das kann es

nicht sein.

Jedem seine Lösung. Am Schlimmsten sind

die dran, die sich nicht merken und nicht suchen,

wer sie sind.

Kunst? Ich stelle nicht mehr aus. Ich illustriere

nicht mehr. Ich bin jeden Tag kreativ.

An der linken unteren Ecke von dem Bild mit

dem Mädchen auf dem Floß male ich seit einigen

Wochen das Wasser, allmählich sieht es

dort ganz gut aus.

Frohe Weihnachten!

:)

Dez 25, 2020 - Frohe Weihnachten! 110 [Seite 109 bis 110 ]


an. Das ist nur ein Beispiel, wie Entspannung

ganz praktisch gelehrtes Nichtstun sein kann.

Die Bewegung, die ein Mensch dabei macht,

besteht darin etwas nicht zu tun, eine Last zu

Boden gehen lassen.

Der „Nackedei-Künstler“, das bin ich?

Dez 27, 2020

Zuhause bleiben ist einfach. Malen, Schreiben,

Lesen: Es gibt immer etwas zu tun. Glücklich

bin ich, in meiner Schmuddelecke, „Nackedei-

Künstler“ ist vergleichsweise freundlich kommentiert.

„Ist der doof?“, mag noch dahinter

stehen, weiß ich ja nicht. „Die Bullen ermitteln

gegen ihn, sieh dir doch seine Bilder

an, und das krude Zeug, dass er schreibt; er

ist bescheuert!“ Eine Blase wabert, Fantasie

weitet die Cloud …

Viele sind ihrem Unglück wie ausgeliefert. An

einen bestimmten Ort zu gehen, um etwas

loszuwerden, ist nicht das Zimmer zu wechseln

oder den Partner zu suchen. Kopfschmerzen

sind ein Beispiel, wie etwas, das man mit

sich herumträgt, bleibt. Manche gehen mit

ihren Schwierigkeiten hierhin, dorthin, wie es

geraten wird, und es geht ihnen wie denen,

die mit ihrer Migräne erleben, dass die Küche

nicht besser ist als das Wohnzimmer.

Menschen lösen Probleme. Anschließend

befinden sie sich an einem neuen Ort schon

deswegen, weil Zeit vergangen ist. Ein Platz

in der Zukunft wird immer ein neuer Ort sein.

Obwohl ich wieder in „die Bahnhofstraße“

laufe, kann ich nie zurück gehen und erleben,

wie es dort früher war. Von Napoleon kommt

der Rat: „Wenn du im Zweifel bist, tue nichts.“

Und Moshe Feldenkrais wusste: „Auch das

Nichtstun ist eine Beschäftigung.“ Wenn man

still auf dem Rücken liegt, fand er heraus, sollten

alle unnötigen Spannungen in der Muskulatur

zurückgehen und nach und nach das

Gewicht die Massen des Körpers aufliegen

lassen. Der Grad der Vollständigkeit mit der

es geschieht zeigt an, wieweit ein Mensch locker

lassen kann, etwas loszulassen, was unnötigerweise

gegen die Schwerkraft gehoben

ist. Der Bogen, den die Wirbelsäule nach vorn

in Richtung auf den Unterleib, den Bauch im

unteren Bereich macht, wenn jemand steht,

nützt dem Menschen im Liegen nicht, und

deswegen können alle Wirbel vom Hintern

bis zu den Schultern flach auf der Matte liegen.

Eine Hand, die man prüfend seitlich unter

diese Wirbelsäulen-Brücke schiebt, frisch

nachdem man sich hingelegt hat, passt nach

einiger Zeit der Entspannung nicht mehr unter

den Körper – wenn wir fähig dazu sind,

diese Stelle abzusenken. Dazu bietet das

bekannte Training verschiedene Lektionen

Während das geschieht, vergeht ein wenig

Zeit. In dieser Zeit dreht sich die Erde ein

Stück um ihre Achse, sie rast auch

eine gewisse Strecke auf der Bahn

um die Sonne. So gesehen, befinden

wir uns nach einer Entspannungsübung

auf der Matte in einem Raum

trotzdem zügig in Bewegung. Wäre

unser Haus, in dem wir das tun, ein

Wagen im Gefährt „Erde“ (und das ist

der Fall, das bemerken wir normalerweise

nur nicht), wird klar, was damit

gemeint ist, nach einer gewissen Zeit

woanders zu sein, an einem anderen

Ort, wenn wir nur herumliegen.

Es hat sich ja auch draußen etwas

geändert. Wir können es nicht beurteilen,

aber Dinge die uns betreffen,

können nach einiger Zeit, ohne dass

wir aktiv waren, anders sein. Eine Entscheidung

wurde getroffen, und wir

befinden uns anschließend in einer

neuen Situation. Deswegen sind wir,

nachdem Zeit vergangen ist, anders.

Wir änderten uns; nicht nur, dass

wir ein wenig älter geworden sind,

Muskulatur sich bewegte und neue

Gefühle aufgekommen sind, auch

das Drumherum hat sich gewandelt.

Ein anderes Wetter beginnt gerade,

oder ein Kündigungsschreiben wurde

uns zugestellt. Das zu begreifen,

kann helfen die Zeit einer Pause so

zu nutzen, dass wir individuell eine

positive Bewegung nach vorn, quasi

auf unser ganz persönliches Ziel

zu, machen. Wir begreifen, wie es

gut tut, etwas eigenes zu tun, einer

Kunstfertigkeit nachzugehen oder

eine Ruhezeit zu machen, in der wir

zu uns finden, die Welt ausblenden.

Mit ein wenig Klugheit können wir

(eventuell verschüttete) Intelligenz

dafür verwenden, dass wir uns nicht

ständig Zeitdruck einbilden, weil wir

anderen folgen, der äußeren Umgebung,

die uns herumzappeln lässt.

Wir meinen, durch bloßes Eilen ganz

schnell Gewinne einfahren zu müssen?

Das Wort „Entschleunigung“

wurde erfunden, man solle sich „zusammenreißen“,

heißt es, aber viele

müssen erst lernen, das auf eine eigene

Weise zu tun.

Zu malen, wie es mir gefällt, ist jedenfalls

keine schlechte Idee.

Feldenkrais-Training ist ein empfehlenswertes

Programm, viele Künstler

nutzen es. Eine Anstellung zu wechseln,

eine neue Arbeit zu finden, die

besser zu uns passt? Ich habe damit

begonnen, zu malen und vieles anders

zu machen, weil so ein natürlicher

Prozess unterstützt wird, Dinge

zu finden die Spaß bringen, unsere

Individualität ausmachen. Wie ich

heute male, das hätte ich mir früher

niemals ausdenken können. Eine abfällige

Bemerkung über etwas, das

man nicht begreifen kann, wäre mir

über die Lippen gekommen, wenn

ich mir begegnet wäre, damals:

Dez 27, 2020 - Der „Nackedei-Künstler“, das bin ich? 111 [Seite 111 bis 112 ]


„Was macht der denn!?“

Wenn es uns gelingt, die oben skizzierte Bewegung,

nicht nur im Bereich der Wirbelsäule

geschehen zu lassen, kann ganz praktisch

ein Problem gelöst werden durch Nichtstun.

Rumliegen macht glücklich, weil Schmerzen

nachlassen, wenn wir uns entspannen können.

Sich anschließend angenehm bewegen

können, wird die Stimmung heben und neue

Aktivitäten gelingen besser nach einer Pause.

Unterwegs sein durch abwarten? Etwa, wie

wenn wir wieder Kind wären, im Auto eingeschlafen

sind, der Papa fährt, es ruckt, wir

wachen auf – und wir werden stutzig: „Huch!

Wir sind angekommen?“

Wenn es mir gelingt, Probleme durch bewusstes

Verhalten in den Griff zu bekommen,

ist es vergleichbar damit, ein Spiel zu gewinnen.

Man versteht, dass man nicht gegen sich

selbst spielen kann, aber eine Einheit schaffen,

wenn alle Motivationen zu zaudern oder

sich gesundheitlich zu beschädigen, ausgeräumt

werden.

Ein Teil eines jeden Systems wird den Weg

des gemeinsamen Projekts bremsen, es fragt

sich nur, wie stark. Ein Mensch ist genauso

ein System wie etwa eine Firma, ein Team.

Wer nicht zu uns passt, fliegt. Die Kirche hat

ein Missbrauchsproblem. Die SPD hat Sarrazin.

Ein Autokonzern hat einen Dieselskandal,

die Polizei ein Problem damit, dass sie nicht

nur gut ist, wie wir’s gern hätten. Wenn mir

das Bein weh tut, gehe ich vielleicht zum Orthopäden,

aber ich schneide mir das dumme

Ding nicht weg. Die Einheit des Menschen

scheint sich von der etwa des Staates zu

unterscheiden, der Verbindung von Spielern

zum gemeinsamen Sportverein. Den Einzelnen

wie eine systemische Gruppe aus Körperteilen

mit ihren Muskeln, dem leitenden

Gehirn und seinen Ideen, die Organe mit den

typischen Erkrankungen betrachtet; das sind

wir nicht gewohnt. Das Team einer Mannschaft

oder ein Projekt: „Wir sind die gute, die

grüne Partei“ – (und du gehörst nicht zu uns),

scheinen nicht vergleichbar mit den Abläufen

in unserem Körper und der richtungsweisenden

Zentrale im Oberstübchen? Viele Zimmer

und einiges los im Menschen.

# Integration statt Amputation

Überzeugungen können wir doch ändern,

Gewohnheiten – und das wird den Körper

genauso betreffen, wie unser Denken. Es ist

schade, dass es nur selten gelehrt wird: Der

Mensch kann üben, ein nicht wie gewünscht

funktionierendes Bein danach zu fragen, warum

es nicht mitmacht, dorthin zu gehen, wo

alle anderen Teile, wie Rumpf, Schultern, Kopf

und Arme es tun. Warum hat mein Bein keine

Lust mitzuspielen? Wir lernen normalerweise

nicht zu denken, das Bein könne Angst haben,

aber das ist der wahrscheinlichste Grund …

Viele Menschen bitten nicht gern um Unterstützung,

wählen lieber den eigenen Weg.

„Ich weiß schon“, fallen sie anderen, nachdem

sie diese um was gefragt haben, schnell ins

Wort. Dabei möchten sie nur nicht zugeben,

wie es um sie steht. Allein klug zu sein, bedingt

Intelligenz und die Bereitschaft zu

lernen. Die typische Alternative ist nicht Individualismus,

sondern persönliche Dummheit.

Wir können innerhalb der Beziehung

Grenzen ziehen oder eine Gruppe verlassen.

Allein gehen, sich zu trennen, funktioniert

nur, wenn bestehende Abhängigkeiten aufgelöst

werden können. Beispiel Großbritannien:

Der Brexit ist ein Ehekrach, eine psychische

Ausnahmesituation, eine kollektive Blödheit.

In mehr als zwanzig Jahren wurden Abmachungen

ausgelotet, Gemeinsamkeiten und

Trennendes geschmeidig zur Europäischen

Union geformt. Um nun zu einem neuen Vertrag

zu finden, der dasselbe ist wie vorher. Wir

müssen nur kurz warten, dann werden alle,

die jetzt Nachteile vom Brexit haben, massiv

dafür kämpfen zu bekommen, was sie bisher

an Rechten und wirtschaftlichen Möglichkeiten

hatten.

Einen Weg selbst auf Risiko und möglichen

Gewinn hin einzuschätzen, ist wie Bergsteigen:

Wir sagen: „Das könnte ich nie“, der Kletterer

erkennt noch, welches Gelände speziell

für ihn geeigneter ist. Wir bleiben am Fuß

des Berges stehen, besteigen schließlich eine

Gondel, um auf den Gipfel zu gelangen. Reinhold

Messner kann auf alle Berge klettern.

Messner wird wissen, weshalb er es lernte,

wie ich weiß, warum ich „Nackedei“ male.

Menschen, die zum einen nicht gern Hilfe

annehmen, obschon sie andererseits nicht

spüren, was ihnen nicht gut tut, schaffen sich

die Probleme selbst. Obwohl sie nicht um

Hilfe bitten, ist ihnen jeder Tipp recht, den

sie sich irgendwo herbei suchen für ihr Problem,

damit sie anschließend einen blöden

Weg selbst gehen. Blöd, weil es ein Weg ist,

der nicht zu ihnen passt. Sie sagen protzig: „I

did it my way.“ Es heißt, das Sinatra das Lied

nicht mochte?

Ein Erfinder, der einiges vorausgesehen hat,

irrte sich: „In der Zukunft arbeiten die Menschen

nur noch zwanzig Stunden, weil Maschinen

ihnen die Arbeit abnehmen.“ Die

moderne Frau sieht sich einer Vielzahl von

Möglichkeiten gegenüber. Mit den nicht nachlassenden

Versuchen, die Gleichberechtigung

vollumfänglich in allen Bereichen unseres

Lebens zu erreichen, wurde bislang noch

versäumt, den Männern eine Gebärmutter in

den Leib hineinzuoperieren. Ich frage mich,

warum das kein Thema ist. Man kann heute

alles, da müsste doch gleich ein passendes

Gen herangezüchtet werden, damit die neuen

Wesen, die dieser Welt, die wir schaffen

möchten, von Geburt an perfekt angepasst

sind wie die Eier legende Wollmilchsau: in

diesem Fall der Unisexsaumensch. Männer

seien Schweine, heißt es, und Frauen wollen

auch welche sein? So kommt es mir vor.

Das Problem ist gar nicht, die Existenz zu

sichern, der Verpflichtung standhalten zu

können, sondern der Anspruch, nichts zu

verpassen. Darum male ich dieses Bild vom

Mädchen auf dem Meer, denke an die mutige

Greta Thunberg, die ihrer Krankheit durch

Intelligenz getrotzt hat, uns allen vorführt,

was Wahrheit ist, (und an A. denke ich auch

die ganze Zeit, wo immer sie ist), während

ich mich an meine Frau anschmiege, zufrieden

mit dem Erreichten. Ich gehe myway in

den Tag und mag das Lied nur wegen denen

nicht, die’s nur hinplappern.

:)

Dez 27, 2020 - Der „Nackedei-Künstler“, das bin ich? 112 [Seite 111 bis 112 ]


Fassade für Alex

Dez 30, 2020

Es ist ein Baustil, Häuser mit schmucken Vorderseiten

in die Straßen zu bauen und hintendran

wird pragmatisch darauf verzichtet,

mit Extras zu protzen, und so ist es ja auch

im übertragenen Sinn gemeint, wenn jemand

wie „hinter einer Fassade“ lebt.

Ich bin mit einem Freund verkracht, mit dem

ich als Jugendlicher viel Zeit verbrachte. In

einem längeren Streit wurde viel geschrieben,

und einmal rief er an, von den beiden

langen Mails die er mir geschickt habe, möge

ich die erste bitte löschen. Er habe versehentlich

zu früh auf „Senden“ geklickt. Unten

drunter stünde das, was er sich notiert

habe als Skizze, was an Argumenten hinein

müsste, und das sei nicht für mich bestimmt

gewesen. Deswegen solle ich es nicht lesen

und stattdessen die zweite Mail lesen, die sei

identisch bis auf seine Gedächtnisstützen.

Ein befremdlicher Anruf, wenn diese Mail

voll mit trickreichen Formulierungen das Ziel

hat, mich zu etwas zu bewegen, was ich nicht

möchte! Die erste Mail entsprach der zweiten

und hatte keine skizzierten Ideen unterhalb

vom regulären Text. Warum auch immer.

# Gepostet und gelöscht

Ein prominenter Sportler twittert zur Corona-

Pandemie und löscht den Tweet kurz darauf.

Einige haben Bildschirmfotos gemacht und

tragen die Botschaft weiter. „Seht mal, das

hat er gesagt – und dann gelöscht.“ Wenn

man selbst nichts zu sagen hat, kann man

damit noch ein wenig angeben. Unser Bundespräsident

ist ein gutes Beispiel dafür, wie

alltags eine Rolle gelebt werden kann (und

in seinem Fall muss), wenn man nicht gerade

von Beruf Schauspieler am Theater ist oder

im Film. Frank-Walter Steinmeier muss sich

als Bundespräsident wie einer verhalten. Der

Schauspieler wird je nach Thema vom Guten

zum Bösen wechseln. Von bekannten Sportlern

erwarten wir vorbildliches Verhalten in

der Öffentlichkeit. Sie können, wie der Präsident,

nicht wechseln. Sie werden von uns

zum Bösen gemacht, wenn sie etwas Falsches

sagen.

Als wir klein waren, älter als zehn Jahre aber

noch nicht siebzehn, würde ich sagen, fuhr

ich mit diesem Freund und seinen Eltern zum

Skifahren. Lang waren wir unterwegs, im

Mercedes vom Papa. Meine Eltern arbeiteten

um diese Jahreszeit und konnten sich

keinen Urlaub nehmen, da hatte es sich

angeboten. Auf der Hin- oder Rückfahrt

machte die Familie einen Zwischenstopp

in Bayern, wir besuchten eine Jugendfreundin

des Alten. Die Strecke bis Österreich

ist weit. Es bot sich an, auf eine

Einladung hin, dort zu übernachten und

die neuen Lebensverhältnisse kennenzulernen.

Die „kleine Karin“ (hier werde

ich als Kunstgriff beginnen, alle Namen

zu ändern) kam ursprünglich aus Norddeutschland

und hatte frischverheiratet

ein Einfamilienhaus in einem Neubaugebiet

bezogen. Ein kleines Kind machte das

junge Glück perfekt.

Wir verließen die Autobahn und hatten es

nicht weit.

Der Mann für’s Leben, sie hatte ihn gefunden,

Elbe, Nordsee und die alte Kugelbake für ihn

stehen lassen, um sich hier in Bayern neu

(und für immer) zu verwurzeln. Das kleine

Kind, das bereits laufen konnte und allerlei

Blödheiten machte, war dabei, während wir

unseren Besuch zunächst mit einem Spaziergang

starteten. Die Beine vertreten nach der

Fahrt, und wir sollten einander kennenlernen

und die Umgebung – verstehen, warum

das gerade hier ihre gewählte Zukunft und

Perspektive sei. Das war Ende der siebziger

oder Anfang der achtziger Jahre, so genau erinnere

ich mich nicht. Ein Neubau im noch

nicht zu Ende gebauten Terrain mit weiteren

Einheiten. Das Paar hatte sich ein Grundstück

gekauft, ein üppiges Einfamilienhaus errichtet.

Rundherum waren kleine, geometrisch

hingeplante Straßen und einige bereits fertige,

ähnliche Häuser. Wir spazierten herum

und sahen ausgehobene Rechtecke im Lehm

und matschige Lücken mit Unkraut, als Bauland

erkennbar und unvollständige

Häuschen, wo anderntags gearbeitet

würde, eine Mischmaschine hier, ein

Kran dort.

In der Entfernung rauschte die Autobahn.

Ein nahezu vollkommen menschenleeres,

ödes Totdorf mit alten,

schmutzigen Bauernhöfen, windschiefen

Fachwerkhäusern (ohne

Bewohner scheinbar) fand sich in

geringer Entfernung. Graue Wände,

riesige Spitzgiebel, verstaubte Gardinen

hinter den Fenstern und kaum

ein Bürgersteig: so dicht rauschte

der üppige Durchgangsverkehr einer

Bundesstraße durch das finstere

Dorf. Ein abgetakelter Maibaum, viele

Meter hoch, eine dünne Stange in einem

grauen Himmel in der Mitte auf

einem Sandplatz, das erinnere ich.

Weit und breit kein Mensch.

Die Karin und ihr Frischverliebter hatten einige

Straßen weiter im Neubauviertel, das

genauso menschenleer daherkam, zusätzlich

ihres Wohnhauses wo wir den Mercedes geparkt

hatten, in einem anderen Einfamilienhaus

den Kellerraum eingerichtet.

Es ist zu lang her, als dass ich wüsste, wie die

Besitzverhältnisse gewesen sind. Der Mann

hatte direkt auf der anderen Seite der Autobahn

einen sicheren Job in einer bekannten

Industrie. Das war der Grund, warum sie hingezogen

sind.

Dieser Keller, einige hundert Meter entfernt

vom Wohnhaus, er war tatsächlich komplett

mit Waren in Regalen als Laden (!) ausgestaltet:

Handarbeitsbedarf. Wolle, Stoffe und

allerlei Häkelkram – mit blauem Teppich

ausgelegt, und an der Seite bemerkten wir

einen kleinen Verkaufstresen. Es stand eine

zünftigen Kasse darauf, wie sie in ein ordentliches

Geschäft mit reichlich Kundschaft gehört.

Das alles fand man vor, nachdem man

hintenrum ums Haus (das sich oben noch im

Bau befand?) gegangen war.

Uwe, ihr Mann, schloss uns eine schmale Tür

dafür auf. Dann gingen wir die für nur eine

Person schmalen Betonstufen runter, um unten

eine weitere Tür zu öffnen, und dort war

dann der Laden. Ein Kellerraum, so groß wie

eine kleine Wohnung, und hier sollte und

wollte die kleine Karin sich selbst verwirklichen

– und Geschäfte mit der Wolle machen.

Wenn die anderen gebaut hatten. Wenn es

später hier Menschen geben würde, die dann

zu ihr in den Keller kämen, und alle wären

sicher freundschaftlich glücklich mit allen

verbunden im gleichen Schicksal in der Nähe

ihrer Autobahn und dem Arbeitsplatz bei der

„Firma“ da drüben?

Wir spazierten eine Stunde lang durch einen

kühlen Abend, ohne dass ein Windhauch

wehte, mit wie drübergespannt flächigem

Himmel, eine hellgraue Platte über uns. Ich

weiß noch: Keine Kuppel, kein Raum nach

da oben, eher bedrückend als erhebend. Ich

kann die ganze Stimmung abrufen, als wäre

es jetzt und hier. Das Wetter im bayrischen

Flachland? Ein trister Deckel anstelle frischer,

weiß-blauer Nordseeluft wie wir’s bei uns

hier oben gewohnt sind. Wir plauderten, und

Dez 30, 2020 - Fassade für Alex 113 [Seite 113 bis 114 ]


es stellte sich raus, diese beste, kleine Freundin

von Thorstens Papa (Name geändert)

hatte ursprünglich mit Blick auf das Meer gewohnt.

Immerhin, zum Ende des Rundgangs,

hob der gnädige Wettergott das Laken kurz

an, lupfte die Wolkendecke für eine schmale

Lücke, gab uns eine gelbe Kante für einen

schlappen Sonnenuntergang. Licht der Hoffnung!

Ich empfand bereits einen leichten

Grusel, war es nicht gewohnt anderswo zu

schlafen bei Leuten, die ich nicht kannte. Wir

drehten die große Runde durch die leeren

Straßen, aber es blieb dabei: Das tote Dorf,

die unfertige, geplante Siedlung, der seltsame

Laden für nicht vorhandene Kunden an

einem Ort den niemand finden würde – im

Hintergrund rauschten die Fahrzeuge vorbei.

Anschließend Heimkehr ins traute Häuschen,

essen: Es gab Raclette, das war damals ungewöhnlich

und ein neuer Einfall, Gäste zu

bewirten.

Die Kartoffeln präsentierten sie im lustig

switzerdütsch bestickten „Warmhaltesäckli“

aus Leinen.

Das Kind war ein hyperaktives Monster. Vor

vierzig Jahren waren solche noch ohne Bezeichnung

wie etwa: „Systemsprenger“ (der

Film). ADHS war uns kein Begriff. Zappelphilipp

nannten die Erwachsenen Störer. Sie

kamen nur ganz vereinzelt vor. Ein Mitschüler

etwa, in meiner Realschule, hatte „seine

wilden fünf Minuten“, aber das war eine Ausnahme.

Das anstrengende Kind der kleinen

Karin und dem Uwe; wir sollten es bespielen,

während die Kartoffeln kochten und das

Essen vorbereitet wurde. Das gritzige Wesen

explodierte ununterbrochen, ein Knallfrosch,

ein Teppich kleiner Chinaböller, Rattadazeng!

– ein Junge wie ein Feuerwerkskörper.

Er begann Attacken gegen alles. Schmiss mit

Bauklötzen, mit Legosteinen. Ein Alien, es zertrampelte,

was wir zum Spiel arrangierten, es

schrie, es brüllte.

Der Vater war drahtig, aber nicht sehr groß. Er

hatte einen kurzen, dornigen Bart, rothaarig.

Kleine, kalte Augen: Ein böses Wesen wurde

aus ihm, wenn er schließlich hart durchgreifen

musste, das Balg zu züchtigen. So etwas

hatte ich noch nicht erlebt. Das störte die

ganze, arrangierte heile Welt. Es war erst

besser, als der Störenfried mit Gewalt ins

Bett verfrachtet wurde, wir zum essen kamen.

Karin erinnere ich als attraktive, scherzende

Person. Sie lachte und schien erstaunlich

glücklich. Weil wir zu Besuch waren?

Ich fand alles furchtbar.

Im Flur hingen zwei oder drei Aquarelle, auf

denen die Duhnen von Cuxhaven, das Watt

oder die fern am Horizont erkennbare Insel

Neuwerk mit ihrem mächtigen Leuchtturm

abgebildet waren. Das habe ich mir angeschaut;

mein vertrautes, schönes, windiges

Segelrevier. Hier nur dieses öde Flachland an

der Straße. Kein See zum Angeln oder Bootfahren,

segeln, nicht einmal eine mäandernde

Aue fand sich in der Nähe?

Uns wurde doch all das Tolle

gezeigt, weswegen sie gerade

hier wohnten. Draußen öde,

und drinnen teuer: Im Haus

die heile Welt mit Kartoffelwarmhaltesäckli

und dem

kleinen Monster? Beim Essen

redeten die Erwachsenen

über die Wirtschaft, die Industrie,

die Geschäfte.

Und das Raclette schmeckte

vorzüglich.

Als wir „großen Kinder“ Thorsten

und ich zu Bett gingen,

bekamen wir ein Dachgeschoss

für uns, mit tiefdunklen

Holzverschlägen, in denen

zwei Gästebetten in Nischen

wie Höhlen Platz gefunden

hatten. Es gab ein gewaltiges

Bücherregal. Dort habe ich an diesem Abend

noch lang im Bett mit Hilfe einer kleinen

Lampe gelesen: „Chaplin, die Geschichte(n)

meines Lebens“. Das hatte ich im Regal gefunden.

Wieder zurück in Wedel, habe ich es

mir gleich gekauft. Das habe ich später einige

Male ganz durchgelesen, immer wieder.

Es hat wirklich geholfen.

:)

Dez 30, 2020 - Fassade für Alex © 2021 I John Bassiner, 22869 Schenefeld bei Hamburg

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