Blogtexte2020
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ser Film ist kaum besser als der der anderen.
Es gibt immer gute Gründe, Regeln zu brechen.
Niemand ist nett. Eine gefährliche Illusion,
man sei gut und alle anderen schlecht.
Genauso gefährlich ist der Glaube, alles gehöre
wie es ist, weil der Mensch als göttliches
Wesen deswegen schon gut ist. Gut und
menschlich zu sein, ist eine echte Herausforderung.
Neue Empathie zu entwickeln, nach
dem Schock des Erwachsenwerdens, ist eine
Aufgabe – und nicht zu vergleichen mit dem
unbegrenzten Vorrat davon, den ein Kind
möglicherweise verschleudern kann, weil ein
attraktiver junger Mensch gelegentlich mal
leicht in die Zukunft spaziert.
Im Akzeptieren und Begreifen der Realität
haben wir die Wahl, unser Selbst zu formen.
Es steht uns zu, entrüstet zu sein, verletzt! Ist
doch wahr. Die anderen sind schuld. Und? Was
nützt es, das zu beklagen? Da ist ein Mann in
meiner Heimatstadt Wedel unterwegs. Tag
für Tag geht er durch die Bahnhofstraße (ich
habe dort gelegentlich zu tun, man kommt ja
nicht umhin, Leute zu bemerken, die irgendwo
typisch sind). Er hat eine Tüte bei sich und
eine längere Greifzange. Er trägt Handschuhe.
Ein komischer Hut sitzt schräg auf seinem
Kopf. Der Mann ist nicht gerade groß und im
Auftreten bescheiden, ein wenig unscheinbar.
Er ist schon älter. Er geht, den Boden absuchend
im Zickzack den Gehweg entlang, vom
Bahnhof in Richtung Elbe. Er pickt mit dieser
Zange am verlängerten Arm jeden Müll auf,
den er bemerkt. „Warum machen Sie das?“,
habe ich ihn gefragt. „Mich stört der Dreck.“
Ich wollte dann wissen: „Sind Sie bei der
Stadt angestellt?“ „Nein.“ Er antwortet wortkarg
(nicht unfreundlich). Jetzt sage ich einfach,
wenn ich ihm begegne: „Schön, dass Sie
da sind!“ Er schaut kaum auf. Seine Augen
wandern über die Pflastersteine. Ein Zigarettenstummel
klebt am Boden. Schließlich
gelingt es ihm, das Ding aufzusammeln.
# Kunst ist Selbsthilfe
Was ist Kunst? Erst nach dem Tod berühmt,
vorher brotlos? Ich weiß nicht, bin Maler
und Zeichner. Von sich selbst sagt man nicht
unbedingt, man sei Künstler. Das ist wie mit
dem Namen des Indianers: Stampfender Büffel?
Die anderen bewerten, und dann ist man
Künstler. Ich war schon vor dem Kindergarten
gut. Talentiert. Ich konnte: „Schiffe schräg
von vorn“ – Perspektive ist nicht allen gleich
gut zu eigen. Beim Zeichnen ist es ein Vorteil.
Es gibt Menschen, die nie einen falschen Ton
singen. Sie finden es leicht, eine neue Melodie
zu lernen, hören sicher, wo die anderen
sind, begreifen sofort, in welcher Tonart und
mit welcher Note ein Stück beginnt. Da bin
ich nicht gut. Auch die Farbe: Das Malen ist
nicht gerade das, was mir selbstverständlich
gelingt.
Der großartige M. C. Escher sagt, eigentlich
könne er gar nicht zeichnen! Angesichts dieser
wunderbaren und zauberisch verdrehten
Meisterwerke, die der ja geschaffen hat, darf
ich mir nicht anmaßen zu sagen, ich wüsste,
was er gemeint hat. Aber – ich zeichne
anders. Escher zeichnet, wie ich male. Er
zeichnet ausgefeilte Kunstwerke. Ich zeichne,
besonders wenn ich gerade fit bin, also
tagtäglich zeichne und viel mache, treffsicher
und schnell. Ich zeichne mit nur einer
einzelnen, nicht gestrichelten, gut sitzenden
Linie alles runter. Ich kann dafür einen Kugelschreiber
nehmen. Ich radiere nicht. Wenn ich
male, habe ich Deckfarben und viel Zeit, und
ich zeichne nach einer anderen Zeichnung
ab oder nach einem Foto. Das ist etwas ganz
anderes.
Es gibt Berufe, bei denen nicht gut sichtbar
wird, was „du“ heute getan hast. Im traditionellen
Handwerk hast du schlussendlich
ebenfalls ein Ding geschaffen, etwa wie der
Maler ein Bild. Wenn du fertig bist, kannst
du’s dir anschauen und sagen: Das habe ich
gemacht! Wenn ich Musik mache, verfliegt
der Ton, aber ich kann wiederholen, was ich
drauf habe und die Musik aufnehmen. Wenn
ich eine Melodie gut beherrsche, kann ich
Varianten erfinden, die genau so gut wie der
Chorus selbst zu den Akkorden passen. Ich
kann schaffen ohne Ende. Wenn ich einen
Roman schreibe, habe ich soviel gelernt, um
das zu tun! Wenn das Buch fertig ist, kann
ich mich selbst lesen, noch umformulieren,
bis ich ganz genau sage, was mir vorschwebt.
Wenn ich „im Job am Arbeitsplatz“ nur das
Gefühl habe, dass es möglichst schnell Feierabend
oder Wochenende werden möge, weil
meine Arbeit mich in jeder Hinsicht fertig
macht, dann wird das wohl dazu führen, dass
ich mich nach einer Verbesserung umsehe?
Mein Vater wollte selbstständiger Unternehmer
sein. So haben meine Eltern umgeschult,
ein Fischgeschäft eröffnet. Erich (ich
nannte ihn beim Vornamen) hat sich über die
aufkommende Formulierung „Arbeitsplätze
schaffen“ aufgeregt. Auch über das seinerzeit
neue Wort „Job“ (anstelle Beruf), das
mein Vater vorn wie J-ogurt (nicht englisch)
aussprach, machte er sich lustig; über alles
modische sowieso. Männer mit Bart waren
ebenfalls Ziel seines Spotts. Ich glaube, dass
es eher Angst vor Veränderung war als Stärke.
Arbeitsplätze würden nicht geschaffen, sagte
mein Vater. Das erinnere an Spielplätze. Die
würden geschaffen, für Kinder. Zu erwachsenen
Wählern solle man ehrlich sein. Arbeitsplätze
schaffen, eine Forderung der damals
populären sozialdemokratischen Politik:
„Willy wählen!“ – das empfand mein Vater
als verdrehende Idiotie, niemand schaffe Arbeitsplätze.
Wer eine Firma führen wolle, versuche
doch, mit so wenig wie nötig an Kosten
und Gehältern, effizient zu produzieren.
Auch: Unkrautvernichtungsmittel sei dazu
da, unliebsames Kraut zu vernichten, sagte er.
Deswegen müsse es so genannt werden. Man
hätte jetzt „Pflanzenschutzmittel“ drauf geschrieben,
was für ein Blödsinn, noch einer!
So ging es jeden Tag. Mein Sohn bemerkt,
dass auch ich stereotyp über die gleichen
Dinge schimpfe. Ein Zeichen, dass ich offenbar
alt bin. Das beunruhigt mich.
„Bassi“ (so nannte man Erich unter den Seglern)
wollte ein eigenes Boot, wollte selbst
steuern, auf einer Regatta und auch am Wochenende,
wenn er mit Greta (meine Mutter
nannte ich ebenfalls beim Vornamen) oder
später mit uns allen in Familie auf Tour segeln
ging. Erich wollte selbst steuern. Meine
Mutter musste ihm viel zuarbeiten. Auf Regatten
hatte er gern einen guten Mitsegler,
der ihm taktische Tipps geben konnte. So war
es auch im Geschäft. Mein Vater hatte große
Ideen, unternehmerischen Mut und ein fröhliches
Auftreten (als er jung war), meine Mutter
musste alles durchrechnen.
Vielleicht bin ich ja ein Künstler und werde
berühmt? Vielleicht auch nicht. Ich habe
bereits so viele große Bilder geschaffen, das
hätte ich niemals gedacht. Was mir alles
schwierig war und fertig wurde! Ich war fleißig
und einfallsreich. „Ich würde gern malen,
aber – “, höre ich gelegentlich. Was aus diesen
Bildern einmal wird? Keine Ahnung. Es ist
mir kaum noch wichtig. Kunst ist Selbsthilfe.
Niemand macht soviel nutzlosen Kram, wenn
er nicht irgendwie muss. Kunst kommt von
„nicht anders“ können. Die Fachhochschule
für Gestaltung Armgartstraße, an der ich
mein Diplom als Info-Grafiker gemacht habe,
ist schon immer Teil einer Reihe verschiedener
Fachbereiche gewesen, und dass wir
ein „Diplom“ erworben haben, ist dem Problem
geschuldet, dass die angewandte Grafik
nicht als Kunst und nicht wirtschaftsnah zu
bezeichnen ist. Heute heißt es dort HAW,
das ist die Hochschule für angewandte Wissenschaften.
Mir gefällt daran, dass ich sagen
kann, ich wäre Wissenschaftler, eine Art
Kunst-Forscher. Ich suche Lösungen, grabe in
meiner Fantasie, wie der Archäologe in der
Wüste. Das gefällt mir. Ich habe an anderer
Stelle gesagt, dass Glück nur der Gipfel des
Fühlens sein kann, und das kommt bei mir
durchaus vor. Immer glücklich sein, geht das?
Man würde es ja wohl gar nicht mehr bemerken.
Die krampfhafte Suche nach Glück!
In einem Armstrong-Buch erzählt der Trompeter,
wie ein amateurhaft musizierender Fan
ihn anspricht: „Mein ganzes Leben habe ich
versucht dir zu folgen Louis“, und Pops antwortet
aber: „Dann bist du wohl zuallererst
dir selbst gefolgt, oder?“
# Macht Glaube krank?
Alex; sie lügt wie meine Mutter, denke ich.
Aus Angst, nicht aus Bosheit, sie kann es
nicht anders. Es war so vertraut. Was hilft
wem? „Religion ist heilbar“, das habe ich auf
einem schäbigen VW-Bus gelesen, mit einem
großen Peace-Symbol, hinter dem ich eine
Zeitlang fuhr, bis der dann abgebogen ist. Ich
bin wieder in die Kirche eingetreten. Das kam
im Zuge der Erkrankung von Greta. Es war
schon absehbar, dass sie bald sterben würde.
Eine Beerdigung mit einem professionellen
Redner anstelle eines Geistlichen? In diesem
Moment wir das ernsthaft planten, wurde
klar, dass es nicht ging.
Als wäre es für immer gleich, ein Moment
wie eine Ewigkeit, in die ich jederzeit eintreten
kann, so beständig ist diese Erinnerung:
Meine schon sterbenskranke Mutter und ich
sitzen nebeneinander in dunkelbraunen Ledersesseln
im Wohnzimmer in Wedel. Gegenüber
ist der große Mahagoni-Einbauschrank
mit dem Fernseher. Ich sitze nah am Fenster,
sie mehr in der Mitte vom Zimmer. Ich spüre
links die Wärme des langen Heizkörpers. Es
steht eine schmale Keramikschale mit Wasser
darauf. Aus drei kreisrunden Öffnungen
soll die Feuchte in die Raumluft verdunsten.
Das milchige Licht eines herbstlichen Nachmittags
erhellt uns noch durch das breite
Fenster an der Seite. Meine Mutter, traurig
– aber auch mutig und gefasst – ein unvergesslicher
Augenblick in dieser Zeit. Als wäre
dieses Zimmer noch immer so eingerichtet
(und jederzeit aufzusuchen), und sie sitzt
dort, wie oft. Ich kann einfach hingehen, die
Erinnerung ist ein Zimmer in meinem Kopf.
Sie hat die Beine hochgelegt, auf dem passenden
lederbezogenen Schemel dafür, und
zwischen uns ist der kleine Tisch auf dem
auch der Tannenbaum in der Weihnachtszeit
stehen konnte. Unten ist er gefüllt mit den
Zeitungen der letzten Zeit (im schmalen Fach
die aktuelle vom jeweiligen Tag, im breite-
Feb 13, 2020 - Ein Ideal ist unerreichbar 18 [Seite 15 bis 20]