Blogtexte2020
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Camps das die Ordnungskräfte zu räumen
hatten, zugeschlagen hat. Mit einem harten,
gerade gestreckten Faustschlag direkt gezielt
in das Gesicht des schwarz bekleideten jungen
Mannes, schlug der Polizist zu. Natürlich
wird es ein Verfahren gegeben haben, Uniformierte
sind leichter zu identifizieren als Chaoten,
obwohl: unter Kollegen wird man Verständnis
geäußert haben. Schließlich macht
der Beamte einen Anti-Aggressionskurs (das
wird nichts ändern) und eventuell wird er
suspendiert. Auf der anderen Seite, egal ob
links- oder rechtsextrem – solche Bilder werden
lustvoll gepostet, und die Emotionen gehen
hoch. Das ist der Mensch.
Ich habe mich mit paranoider Angst auseinandergesetzt.
Das ist, wenn man denkt, die Leute
reden über einen, aber die reden über was
ganz anderes. Paranoia ist Einbildung. Man
denkt dran, Feinde zu haben, aber in Wahrheit
interessiert sich gerade gar niemand für einen.
Das Problem ist umgekehrt. Man möchte
gemocht werden, und das scheint zu misslingen.
Zwei Lösungen gibt es – man wird so toll
mit was, und alle rennen dir die Bude ein. Der
andere Weg: Du beginnst auszuleben, was in
dir steckt.
Man beginnt auszusprechen was man denkt,
schreibt es auf, entwickelt eine eigene Meinung.
Malt was man meint – und dann trifft
man ja nicht den Nerv der Welt. Ein Beginner
ist kein Könner darin. Man geht nur den
Nachbarn auf die Nerven. Dann reden die
Nachbarn aber wirklich! Hast du keine, mal
dir Feinde. Das ist das Ende der Paranoia. Ich
habe gelernt, mit offenen Grenzen zu leben.
Ich kann das.
Beim Aktzeichnen lernten wir, genau hinzuschauen.
Der Professor erklärte: „Die Kontur
ist eine zufällige Grenze.“ Die Schwierigkeit
besteht darin, sich entweder sicher dem Talent,
es zu können, hinzugeben oder mühsam
zu lernen. Wenn man zeichnen kann, muss
man nicht bewusst denken. Dann fährt die
Hand mit dem Stift entsprechend dem was
du siehst zielsicher über das Blatt. Dann sollte
man nicht viel nachdenken und gutes Tempo
vorhalten.
Während ich gelernt habe, konnte und durfte
ich so nicht arbeiten. Bevor ich studierte,
zeichnete ich einfach so, und ich war recht
gut. Im Studium kam es dann aber nicht darauf
an, schöne Bilder zu machen. Wir lernten
die Räumlichkeit der Körper zu begreifen, wie
etwa ein talentiertes Kind die Harmonien in
der Musik studiert, statt nur zur Freude der
Eltern Stücke aufzuführen.
Wir lernten, im Akt eine Binnenzeichnung zu
machen. Das bedeutet, die Kontur, was jeder
zunächst denkt zeichnen zu müssen, wegzulassen.
In erster Linie schauten wir, wo die
unveränderlichen Meridiane der Figur sind.
Wir stellten uns eine Mitte vor. Eine Linie,
über den Nasenrücken hinunter, das Kinn
in zwei Hälften mittig geteilt, zwischen den
Brüsten durch, den Buckel des Bauchs in
der Mitte beim Bauchnabel passierend bis
in die Scham. Wir sollten lernen, diese Mitte
zu zeichnen, den Körper im Raum verstehen.
So entstand ein inneres drei dimensionales
Modell.
Ein Scan, den ich in vielen Stunden zeichnend,
dem Professor zuhörend, eingebrannt bekam.
Das hilft, die Kontur außen, dort wo die Figur
sich vom Hintergrund abhebt, exakt zu sehen.
Die Idee ist Verlässlichkeit. Eine Mittellinie
verläuft immer in der Mitte des Körpers. Aber
nicht immer in der Mitte meiner Zeichnung. In
dem Moment, wo ich die Abweichungen von
dem was ich sehe nachvollziehen kann, wird
das Sehen leicht. Wenn das Modell schräg zu
mir steht, ist von der vorderen Brust mehr zu
sehen, sie sieht breiter aus, wird deswegen
größer gezeichnet. Und aus meiner Perspektive
ist der Bauchnabel in Richtung des Hintergrundes
verschoben, nicht in der Mitte des
Körpers zu sehen, wo er sich doch befindet.
Die andere Methode ist, sich blind auf Intuition,
Erfahrung zu verlassen. Manchmal ist das
wirklich besser! Das kann man nicht gut unterrichten.
Das hieße zum Schüler zu sagen:
„Geh los und zeichne!“ Theoretisch kommt
dabei auch das Beste heraus. Das Bild korrigiert
sich selbst. Wenn man irgendwo anfängt
zu zeichnen, müssen die Formen dessen, was
man zeichnet und die von dem was dazwischen
nachbleibt, insgesamt stimmen.
Wenn also vorn ein Mensch steht und dahinter
ein Auto, geht das Ganze nur auf, wenn
das, was links der Figur als „Mercedes“ angefangen
wurde rechts entsprechend fertig
wird. Der innere Anspruch, eine ästhetische
Idee auf der Fläche umzusetzen, wird immer
dazu führen, die Grenzen der Form genau zu
definieren. Das gilt auch für gegenstandslose
Kunst. Nach einer gewissen Zeit der Beschäftigung
damit, wird man bemerken, dass
willkürliches Pinseln einem selbst nicht
gefällt. Was als spannend oder kraftvoll,
kühl oder hitzig, strukturiert oder flächig
gefällt, wird den banalen Geschmack
der Laien vergessen lassen. Es entsteht
künstlerische Identität: „So genau möchte
ich das haben!“
Die Auseinandersetzung mit der Fläche führt
zur Bestimmung persönlicher Grenzen. Damit
entsteht über die Malerei hinaus eine Standortbestimmung.
Nicht jede Situation kann
stereotyp nach Regeln gemeistert werden:
Wir fahren auf der rechten Straßenseite, und
alle sollen sich daran halten. Das klappt prima,
bis das Müllauto seinen Zwischenstopp
macht. Wir warten den Gegenverkehr ab, bis
dort eine Lücke kommt. Dann entscheiden
wir selbst, ausnahmsweise kurz die linke
Seite der Fahrbahn zu nutzen, überholen das
Hindernis.
Das ist ganz einfach. Wir kennen unser Fahrzeug,
haben gelernt, beherzt Gas zu geben
und einen passenden Gang dafür einzulegen,
und wir fahren dem Müllmann nicht ans Bein.
Wenn jemand unsicher ist, bildet sich eine
Schlange hinter dem Müllauto, und
die Leute hupen: „Mensch, fahr doch!“
Selbstbewusstsein heißt, die eigenen
Grenzen zu kennen und was möglich
ist, kraftvoll zu tun.
Neue Sicherungen sollen die Welt
besser machen. Man stelle sich vor,
die Müllwerker müssten in Zukunft
zusätzlich ihrer normalen Arbeit noch
jeweils zwei kleine Ampeln bei jedem
Kurzhalt aufstellen, die den Verkehr
regeln. Vielleicht kommt eine Zeit,
in der Fußgänger auf dem Gehweg
Helmpflicht haben, weil Drohnenverkehr
zugenommen hat. Der Helm
muss zwingend in der Wohnung aufgesetzt
werden: weil die meisten Unfälle
schließlich im Haushalt passieren.
Kameras werden es überwachen.
Die Hamburger Morgenpost war die
Zeitung, die vor vielen Jahren einen
Namensfindungswettbewerb ausgerufen
hat. Seit geraumer Zeit gab es
diese Trennstäbe an der Supermarktkasse.
Die waren schon einige Jahre
im Einsatz, und nur wenige ganz alte Menschen
(wie ich zum Beispiel) werden sich daran
erinnern, dass wir früher zur Kassiererin
sagten: „Stopp. Jetzt kommen meine Sachen.“
Der Name heute: Corona?
:)
Mrz 30, 2020 - Corona? 28 [Seite 24 bis 28]