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Blogtexte2020

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Worte Empathie, Freundschaft,

Treue, Liebe sind

dehnbar, weil sie abstrakte

Begriffe sind. Solidarität

ist unverwechselbar. Das

ist die Freundschaft, die

besonders dann stark wird,

wenn du sie nicht erwartest.

Sich nicht erfüllende Erwartung

kränkt. Ich bin

mir sicher, dass jede psychische

Erkrankung, wie

immer wir sie benennen,

das Ergebnis nicht zu

begreifender Verletzung

durch andere Menschen

ist. Mehrmals wiederholt,

kann das ein traumatischer

Teufelskreis werden. Wer psychisch

krank ist, blickt die Ursache nicht, weil es aus

seiner Perspektive gar nicht geht, ist nicht

bescheuert oder gestört, sondern wurde

nachhaltig verstört. Ein böser Strudel saugt

uns tiefer ein. Schwindeln nannte meine Oma

das Lügen. Oma lügt nicht, aber du machst,

was man nicht tut, heißt es das? Wir lügen

einander nicht bewusst an, aber wir stellen

Sachverhalte so dar, wie es individuell zu uns

passt. Werbung für ein Produkt stellt es gut

dar und ist keine Lüge. Das ist die Wahrheit

der Hersteller.

Eine Firma will Erfolg.

Der kleine Familienbetrieb: Jedes Kind muss

erst lernen, was Worte bedeuten. Papa redet

anders als Mama und nicht immer kommt

dasselbe dabei raus. Was kannst du erwarten?

Du probierst es aus, manipulierst ein Preisschild

auf dem Spielzeug, das du eigentlich

nicht bezahlen kannst, weil einige Cent fehlen

– ein schwindelndes Gefühl. Tatsächlich:

Das Blut rötet deine Wangen, der Puls klopft

in den glühenden Ohren. Kommt man damit

durch, machen das alle? Fühlt sich Scheiße

an – oder ist es der Kick, den du brauchst?

Immer die Wahrheit sagen, damit niemand

strafen kann. Immer brav und den anderen

Menschen alles glauben? Mitschüler verpetzen,

die sich nicht an das halten, was die

Lehrerin sagt – das kann genauso schwierig

werden. Gefühle: ein Wirbel! Verrückt steht

keiner sicher, stürzt in den Graben. Erst abfüllen,

dann verspotten – die Gesellschaft ist

mal solidarisch und mal schadenfroh. Daumen

hoch oder runter wie im alten Rom.

# Im Kreis gedreht bis zum Kotzen!

Vor vielen Jahren, als das Fernsehen noch die

Masse der Zuschauer hatte, die heute mehr

das Internet nutzen, habe ich dies gesehen:

In einer Show wird ein Mann vorgeführt, der

zunächst nicht weiß, dass er im Mittelpunkt

der Sendung steht. Er sitzt im Publikum. Man

hat ihn in die Sendung gelockt. Die eigene

Ehefrau, die Kinder, die Freunde – sie haben

ihn beim Fernsehen „angezeigt“. Er hat einen

sozialen Fehler. Etwas an ihm nervt. Man

kann es ihm nicht erklären, so scheint es.

Seine „Bestrafung“ besteht schließlich darin,

dass er auf einem Bürostuhl mit verbundenen

Augen gedreht wird und unter allgemeinem

Gelächter sofort anschließend, als die

Augenbinde abgenommen wird, einen Weg

geradeaus durch seitlich aufgetürmte Tortenberge

finden muss, um am Ende einen Buzzer

zu erreichen. Dort winkt ein Preis! Natürlich

schafft der das nicht sauber.

Dieser Typ, an den ich mich

erinnere, macht schließlich

gute Miene zum bösen

Spiel. „Verstehen Sie Spaß“

ist ähnlich. Was bleibt dir

übrig in dieser Lage? Für

den Sheriff Kane in „High

Noon“ ist die sich nicht

erfüllende Solidarität seiner

Umgebung schließlich

harter Überlebenskampf.

Es ist kein Spiel. Er schießt

sich frei, mit dem Colt.

Ganz allein.

Wir sind zivilisiert und

dürfen nicht schießen,

schlagen. Die Polizei darf

es. Cool bleiben, nichts tun kann auch Stärke

sein: „Reiß’ dich zusammen!“ Manchmal ist es

möglich. George Floyd hatte keine Wahl. Er

konnte nur nichts tun, und Menschen haben

gerufen: „Aufhören! Der kriegt gar keine Luft

mehr.“ Es hat nicht gereicht. Man hätte einen

Polizisten wegtreten müssen, mit aller Macht

hätte man einen Ordnungshüter angreifen

müssen! Wer hätte das probiert? Die Polizei

war in Mannschaftsstärke, Floyd ein mutmaßlicher

Straftäter – und schließlich allein.

Frank Miller ist dargestellt als ein vielfacher

Mörder, eine Figur im Film. Miller kommt mit

einigen Freunden, um Rache zu nehmen, und

der gute Sheriff Will Kane bleibt allein.

Die Ironie des Lebens will es so: Plötzlich ist

Zivilcourage anders herum. Harmlose Zivilisten

sind spaßig, und gewaltfrei gute Menschen,

meinen sie. Solidarisch mit den Unterdrückten.

Im Fernsehen sein, vor aller Augen

bloßgestellt und noch dazu lachen müssen?

Anschließend zuhause. Wieder zur Arbeit, die

Kollegen – wir können uns das vorstellen.

Menschen sind so, und da

muss die Hilfe ansetzen,

wenn sie ernst gemeint

ist, die psychisch Kranken

wirklich nützt. Es

gibt keine Pille, die klug

macht, aber manche werden

nicht vorgeführt. Sie

sitzen nicht auf einem

Drehstuhl, bis sie’s nicht

mehr blicken und in die

Torte eiern. Sie fahren

Benz.

# Den Spieß umdrehen?

Das böse Spiel im Netz,

das kann man auch anders

herum spielen. Ich

habe den Fernseher damals

abgeschaltet. Diese

Sendung habe ich nie

wieder angesehen. Ich mag mit dem immer

noch populären Moderator nichts zu tun haben.

Die Freunde, die Ehefrau von diesem Typ

– die möchte ich nie treffen.

Aber ich habe darüber nachgedacht, was passiert,

wenn man ein derartiges soziales Vergehen

(der hatte immer mit den Fingern auf

dem Tisch getrommelt, während man gesellig

zusammen saß) bewusst ausprobiert. Es

muss so harmlos sein, dass aus einer Mücke

ein Elefant werden kann, ohne dass es diesen

Elefant je gegeben hat. Es ist etwa so, wie

die andere Hautfarbe. Unter Umständen genügt

ein banaler Unterschied für eine heimtückische

Attacke. Eine eigene Meinung ist

ausreichend, und erst recht eine Schwäche

zuzugeben, wird jemand auf den Plan rufen,

sie auszunutzen.

Anderen eine Unsicherheit zu offenbaren,

bedeutet eigentlich, diese zu kennen. Einmal

angenommen, wir kennen uns nicht. Unsere

Krankheit ist das Unwissen der eigenen Verletzlichkeit.

Narren fühlen nicht, ist ein hebräisches

Sprichwort. Es ist möglich, Gefühle

vor anderen zu verbergen: In einem Geschäft

verhandelnd, hat private Trauer keinen Platz.

Auf einer Beerdigung lachen wir nicht, und es

gibt Menschen, die eiskalt lügen.

Es kann zu einer Gewohnheit werden, die

Furcht vor anderen Menschen durch individuelle

Verhaltensmuster zu überspielen. Das

bedeutet die Gefühle nicht nur vor anderen

zu verbergen, sondern sich so in eine Rolle

einzuleben, dass wir unsere Natürlichkeit

aufs Spiel setzen. Eine Gefahr für die psychische

Gesundheit ist das in jedem Fall. Dann

wissen wir selbst nicht mehr, dass wir Angst

haben. Indem wir uns fortwährend treu zum

bisherigen Getue verhalten, maskieren wir

unsere Schwäche.

Der Grund eines Problems ist verborgen? Wir

können ausnutzen, dass andere uns zeigen

werden, wo genau wir verletzlich sind, wenn

wir annehmen, dass Bosheit mindestens so

menschlich ist, wie zu helfen in der Not. Es

ist leicht, Solidarität zu zeigen, wenn das

Böse fern im Ausland stattfindet, und es ist

schwer Zivilcourage zu beweisen, wenn der

soziale Druck hoch ist oder Gefahr für Leib

und Leben besteht.

Wenn die Angst des psychisch labilen Menschen

ist, von anderen und sich selbst in die

Pfanne gehauen zu werden, kann es nützlich

sein, bewusst in diese Lage zu geraten. Der

eigenen Angst zu begegnen, das wird uns

für immer verändern. Wir sind frei, uns so zu

verhalten, wie es angemessen ist, können uns

verteidigen, wo wir früher mit einem schiefen

Lächeln ausgehalten haben. Statt das Gesicht

zu machen, das alle von uns gewohnt sind,

können wir unser bisheriges Selbst verwerfen

und klare Worte finden oder kühl schweigen,

gegebenenfalls kämpfen. Mut muss erfahren

werden, wird solidarische Mitstreiter auf den

Plan rufen. Ein Narr sein, ist krank sein. Einen

Narren zu geben, bedeutet den Vorhang

selbst fallen zu lassen, wenn es reicht.

Jun 4, 2020 - Der schwarze Peter ist wieder tot 42 [Seite 41 bis 43]

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