RA 02/2021 - Entscheidung des Monats
Der Beschluss des VGH Mannheim ist eine der ersten Gerichtsentscheidungen, die sich mit dem neu erlassenen § 28a IfSG und dessen Verfassungsmäßigkeit sowie den strengen Ausgangsbeschränkungen zur Bekämpfung der sog. 2. Welle der Corona-Pandemie befassen.
Der Beschluss des VGH Mannheim ist eine der ersten Gerichtsentscheidungen, die sich mit dem neu erlassenen § 28a IfSG und dessen Verfassungsmäßigkeit sowie den strengen Ausgangsbeschränkungen zur Bekämpfung der sog. 2. Welle der Corona-Pandemie befassen.
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<strong>02</strong>/2<strong>02</strong>1<br />
ENTSCHEIDUNGDESMONATS<br />
ÖFFENTLICHESRECHT<br />
Corona-Pandemie:Ausgangsbeschränkungen
90 Öffentliches Recht<br />
<strong>RA</strong> <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>1<br />
LEITSATZ (DER REDAKTION)<br />
1. Jedenfalls mit den in § 28a IfSG<br />
ergänzend normierten Vorgaben<br />
hat der Bun<strong>des</strong>gesetzgeber<br />
seiner sich aus dem Vorbehalt <strong>des</strong><br />
Gesetzes ergebenden Pflicht, die<br />
für die Grundrechtverwirklichung<br />
maßgeblichen Regelungen<br />
im Wesentlichen selbst zu treffen,<br />
ausreichend Rechnung getragen.<br />
2. § 28a IfSG ist keine spezielle Ermächtigungsgrundlage,<br />
sondern<br />
präzisiert § 28 I 1, 2 IfSG auf der<br />
Tatbestands- und Rechtsfolgenseite.<br />
3. Die mit dem sog. 2. Lockdown<br />
verhängten Ausgangsbeschränkungen<br />
sind rechtmäßig.<br />
Obersatz<br />
Beachte: § 28a IfSG ist keine spezielle<br />
EGL, sondern präzisiert<br />
§ 28 I 1, 2 IfSG auf Tatbestandsund<br />
Rechtsfolgenseite (vgl. Greve,<br />
NVwZ 2<strong>02</strong>0, 1786, 1788).<br />
Problem: Corona-Pandemie: Ausgangsbeschränkungen<br />
Einordnung: Grundrechte/Staatsorganisationsrecht<br />
VGH Mannheim, Beschluss vom 18.12.2<strong>02</strong>0<br />
1 S 4<strong>02</strong>8/20<br />
EINLEITUNG<br />
Der Beschluss <strong>des</strong> VGH Mannheim ist eine der ersten Gerichtsentscheidungen,<br />
die sich mit dem neu erlassenen § 28a IfSG und <strong>des</strong>sen Verfassungsmäßigkeit<br />
sowie den strengen Ausgangsbeschränkungen zur Bekämpfung der sog.<br />
2. Welle der Corona-Pandemie befassen.<br />
SACHVERHALT<br />
§ 1c der Verordnung der Lan<strong>des</strong>regierung von Baden-Württemberg über<br />
infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung <strong>des</strong> Virus<br />
SARS-CoV-2 (CoronaVO) vom 30.11.2<strong>02</strong>0 in der Fassung der Zweiten Verordnung<br />
der Lan<strong>des</strong>regierung zur Änderung der Corona-Verordnung vom<br />
15.12.2<strong>02</strong>0 sah für den Zeitraum 16.12.2<strong>02</strong>0 bis 10.1.2<strong>02</strong>1 Ausgangsbeschränkungen<br />
vor. Nach § 1c I CoronaVO war der Aufenthalt außerhalb der<br />
Wohnung oder sonstigen Unterkunft in der Zeit von 5 Uhr bis 20 Uhr nur<br />
bei Vorliegen triftiger, in Nr. 1 bis 16 im Einzelnen genannter Gründe oder<br />
(Nr. 17) aus sonstigen vergleichbar gewichtigen Gründen gestattet ist. Nach<br />
§ 1c II CoronaVO gilt in der Zeit von 20 Uhr bis 5 Uhr <strong>des</strong> Folgetags eine<br />
erweiterte Ausgangsbeschränkung. Der Aufenthalt außerhalb der Wohnung<br />
oder sonstigen Unterkunft ist in dieser Zeit nur bei Vorliegen der in Nr. 1<br />
bis 11 im Einzelnen aufgezählten triftigen Gründe oder (Nr. 12) sonstiger<br />
vergleichbar gewichtiger Gründe gestattet. Antragsteller A sieht darin<br />
einen unverhältnismäßigen Eingriff in seine Freiheitsrechte. Es bestehe kein<br />
Grund, weshalb er seine Wohnung nachts nicht mehr zu privaten Zwecken<br />
wie etwa der Pflege eines Schrebergartens, dem Beobachten von Hirschen,<br />
der Wahrnehmung sportlicher Aktivitäten oder dem Aufsuchen eines<br />
Zigarettenautomaten verlassen können solle. Durch solche Aktivitäten<br />
würden keine Krankheiten übertragen. Darüber hinaus verlange die<br />
Verordnung für jede Handlung, die außerhalb der eigenen Wohnung vorgenommen<br />
werde, eine Rechtfertigung durch den Bürger. Sie verkehre damit<br />
den Grundsatz, dass der Staat es begründen müsse, wenn er etwas verbieten<br />
wolle, in das Gegenteil. Sie greife damit unzulässig in die von Art. 1 I 1 GG<br />
geschützte Würde <strong>des</strong> Menschen ein.<br />
Ist § 1c CoronaVO rechtmäßig?<br />
LÖSUNG<br />
§ 1c CoronaVO ist rechtmäßig, wenn die Vorschrift auf einer wirksamen<br />
Rechtsgrundlage beruht, die formell und materiell rechtmäßig angewendet<br />
wurde.<br />
I. Rechtsgrundlage für § 1c CoronaVO<br />
Rechtsgrundlage für § 1c CoronaVO ist § 32 S. 1 i.V.m. § 28 I 1 i.V.m.<br />
§ 28a I Nr. 3, II 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG). Fraglich ist jedoch, ob<br />
diese Normen den verfassungsrechtlichen Anforderungen, speziell dem<br />
Parlamentsvorbehalt genügen.<br />
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<strong>RA</strong> <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>1<br />
Öffentliches Recht<br />
91<br />
„Im Parlamentsvorbehalt wurzelnde Bedenken, die sich in Bezug auf einige<br />
der seit März 2<strong>02</strong>0 zur Pandemiebekämpfung durch Rechtsverordnung normierte<br />
Maßnahmen wie beispielsweise umfassende Betriebsschließungen<br />
ergeben haben, bestehen in Bezug auf die vom Antragsteller im vorliegenden<br />
Verfahren beanstandeten Regelungen in § 1c CoronaVO aller<br />
Voraussicht nach nicht. Der Bun<strong>des</strong>gesetzgeber hatte schon bisher<br />
in § 28 IfSG selbst ausdrücklich normiert, dass die zuständige Stelle<br />
Personen insbesondere dazu verpflichten kann, den Ort, an dem sie sich<br />
befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen<br />
oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter<br />
bestimmten Bedingungen zu betreten (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 IfSG).<br />
In dem am 19.11.2<strong>02</strong>0 in Kraft getretenen § 28a IfSG hat er noch weiter<br />
konkretisierend geregelt, dass notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne<br />
<strong>des</strong> § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG zur Verhinderung der Verbreitung der<br />
Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) für die Dauer der - wie derzeit<br />
bestehend - Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler<br />
Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG durch den Deutschen Bun<strong>des</strong>tag insbesondere<br />
Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen im privaten sowie im<br />
öffentlichen Raum sein können (Absatz 1 Nr. 3). Er hat weiter geregelt,<br />
dass die Anordnung einer Ausgangsbeschränkung, nach der das Verlassen<br />
<strong>des</strong> privaten Wohnbereichs nur zu bestimmten Zeiten oder zu bestimmten<br />
Zwecken nur zulässig ist, soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher<br />
getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung<br />
der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erheblich<br />
gefährdet wäre (Absatz 2 Satz 1 Nr. 2).<br />
Jedenfalls mit den in § 28a IfSG nunmehr ergänzend normierten<br />
Vorgaben hat der Bun<strong>des</strong>gesetzgeber seiner sich aus dem Vorbehalt<br />
<strong>des</strong> Gesetzes in seiner Ausprägung als Parlamentsvorbehalt ergebenden,<br />
im Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot wurzelnden Verpflichtung,<br />
die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im<br />
Wesentlichen selbst zu treffen, in Bezug auf die Aufenthaltsbeschränkungen<br />
zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 voraussichtlich genügt.“<br />
Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass alle der in § 28a IfSG genannten<br />
Maßnahmen voraussetzen, dass der Deutsche Bun<strong>des</strong>tag eine epidemische<br />
Lage von nationaler Tragweite nach § 5 I 1 IfSG feststellt. Dadurch<br />
ist die Rolle <strong>des</strong> Parlaments im Vergleich zur alten Rechtslage signifikant<br />
gestärkt worden.<br />
Gleichwohl ließe sich erwägen, dass der Bun<strong>des</strong>gesetzgeber in Anbetracht<br />
der Grundrechtsrelevanz der Infektionsschutzmaßnahmen noch detailliertere<br />
Regelungen hätte erlassen müssen. So belässt § 28a IfSG der Exekutive weiterhin<br />
einen weiten Gestaltungsspielraum bei der <strong>Entscheidung</strong> über den<br />
Erlass von Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung, insbesondere lässt § 28a I<br />
IfSG keine Bewertung oder ein Stufenverhältnis der möglichen Maßnahmen<br />
zueinander erkennen. Dieser Überlegung kann entgegengesetzt werden, dass<br />
es dem Bun<strong>des</strong>gesetzgeber aufgrund der Dynamik <strong>des</strong> Infektionsgeschehens,<br />
das sich zudem in den Ländern, Kreisen und Gemeinden sehr unterschiedlich<br />
entwickeln kann, kaum möglich ist, abstrakt-generell vorausschauend<br />
alle Konstellationen und Entwicklungen zu regeln. Hinzu kommt, dass die<br />
Exekutive auf aktuelle Entwicklungen deutlich schneller reagieren kann,<br />
als dies in einem parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren möglich ist. Der<br />
Verwaltung müssen folglich <strong>Entscheidung</strong>sspielräume verbleiben, um zeitnah<br />
Vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom<br />
6.11.2<strong>02</strong>0, 1 S 3388/20, juris Rn 17-29;<br />
VGH München, Beschluss vom<br />
29.10.2<strong>02</strong>0, 20 NE 20.2360 Rn 28-37<br />
Parlamentsvorbehalt bzgl. Ausgangsbeschränkungen<br />
schon bisher<br />
gewahrt durch § 28 I 1 Halbsatz 2<br />
IfSG<br />
Letzte Bedenken jedenfalls jetzt ausgeräumt<br />
durch § 28a IfSG<br />
Weiteres Argument: Bun<strong>des</strong>tag muss<br />
epidemische Lage feststellen, damit<br />
§ 28a IfSG überhaupt anwendbar ist<br />
(vgl. OVG Münster, Beschluss vom<br />
23.12.2<strong>02</strong>0, 13 B 1707/20.NE, juris<br />
Rn 36)<br />
Noch genauere Detailregelungen<br />
als diejenigen <strong>des</strong> § 28a IfSG erforderlich<br />
(vgl. Kießling/Möllers/Volkmann,<br />
Zum Reformbedarf der Eingriffsbefugnisse<br />
im Infektionsschutzgesetz,<br />
Gutachten Oktober 2<strong>02</strong>0, S. 15)?<br />
Nein, dann besteht die Gefahr der<br />
„Überregulierung“, die ein schnelles<br />
Handeln der Verwaltung behindern<br />
könnte (vgl. OVG Münster, Beschluss<br />
vom 23.12.2<strong>02</strong>0, 13 B 1707/20.NE,<br />
juris Rn 37-39; Greve, NVwZ 2<strong>02</strong>0,<br />
1786, 1788 f.)<br />
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und angemessen auf neue Entwicklungen der Infektionslage reagieren zu<br />
können. Nur so kann auch der grundrechtlichen Schutzpflicht für Leben<br />
und Gesundheit ausreichend Rechnung getragen werden.<br />
Demnach ist § 32 S. 1 i.V.m. § 28 I 1 i.V.m. § 28a I Nr. 3, II 1 IfSG eine wirksame<br />
Rechtsgrundlage für § 1c CoronaVO.<br />
Unproblematisch<br />
Obersatz<br />
Der Tatbestand liegt so eindeutig<br />
vor, dass ein Ergebnissatz genügt.<br />
Vgl. OVG Münster, Beschluss vom<br />
23.12.2<strong>02</strong>0, 13 B 1707/20.NE, juris<br />
Rn 49-51<br />
Problematisch ist allein die Vereinbarkeit<br />
mit den Grundrechten.<br />
Es liegt eindeutig ein Eingriff in<br />
den Schutzbereich <strong>des</strong> Art. 2 I GG<br />
vor, sodass sich die Prüfung auf<br />
das Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />
konzentriert.<br />
Legitimes Ziel<br />
Geeignetheit<br />
II. Formelle Rechtmäßigkeit <strong>des</strong> § 1c CoronaVO<br />
In formeller Hinsicht bestehen keine Bedenken an der Rechtmäßigkeit <strong>des</strong><br />
§ 1c CoronaVO.<br />
III. Materielle Rechtmäßigkeit <strong>des</strong> § 1c CoronaVO<br />
§ 1c CoronaVO ist materiell rechtmäßig, wenn die Tatbestandvoraussetzungen<br />
der Rechtsgrundlage erfüllt sind und das auf der Rechtsfolgenseite eröffnete<br />
Ermessen fehlerfrei ausgeübt wurde.<br />
1. Tatbestand<br />
Da der Deutsche Bun<strong>des</strong>tag eine epidemische Lage von nationaler Tragweite<br />
festgestellt hat, liegt der Tatbestand von § 32 S. 1 i.V.m. § 28 I 1 i.V.m. § 28a I<br />
Nr. 3, II 1 IfSG vor.<br />
2. Rechtsfolge<br />
Auf der Rechtsfolgenseite eröffnet § 32 S. 1 IfSG dem Verordnungsgeber<br />
ein Ermessen. Dieses muss er rechtmäßig ausgeübt haben. Dabei ist zu<br />
beachten, dass die Rechtsgrundlage nicht nur Maßnahmen gegen Kranke,<br />
Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige und Ausscheider, sondern<br />
auch gegen Dritte (sog. Nichtstörer) erlaubt. Fraglich ist aber die<br />
Vereinbarkeit der streitgegenständlichen Bestimmung mit den Grundrechten<br />
aus Art. 2 I GG und aus Art. 1 I 1 GG.<br />
a) Vereinbarkeit mit Art. 2 I GG<br />
Die durch § 1c CoronaVO verfügten Ausgangsbeschränkungen stellen zwar<br />
einen Eingriff in den Schutzbereich <strong>des</strong> Art. 2 I GG dar, der jedoch gerechtfertigt<br />
ist, wenn die Beschränkungen verhältnismäßig sind.<br />
„Mit […] der angefochtenen Vorschrift verfolgt der Antragsgegner […] insbesondere<br />
die Ziele einer zielgerichteten und wirksamen Reduzierung<br />
von Infektionsgefahren und der Gewährleistung der Nachverfolgbarkeit<br />
von Infektionsketten und der Aufrechterhaltung der medizinischen<br />
Versorgungskapazitäten im Land. Diese Ziele sind im Sinne <strong>des</strong><br />
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes legitim. Ziel der Regelung ist im Kern der<br />
Schutz <strong>des</strong> Lebens und der körperlichen Unversehrtheit je<strong>des</strong> Einzelnen<br />
wie auch der Bevölkerung insgesamt, wofür den Staat gemäß Art. 2 Abs. 2<br />
Satz 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG eine umfassende Schutzpflicht trifft.<br />
Ein Gesetz ist geeignet, wenn mit seiner Hilfe der erstrebte Erfolg gefördert<br />
werden kann. Diese Voraussetzung erfüllt die angefochtene Vorschrift.<br />
Sie ist insbesondere dazu geeignet, Infektionsketten zu unterbrechen,<br />
das exponentielle Wachstum zu stoppen und die Verbreitung <strong>des</strong> SARS-<br />
CoV-2-Virus zu verlangsamen. Denn sie führt dazu, dass die Normadressaten<br />
für die Zeit bis zum 10.01.2<strong>02</strong>1 ihre Wohnungen wegen der bestehenden<br />
Beschränkungen nur noch in einem deutlich reduzierten<br />
Umfang verlassen werden, was in der gebotenen Gesamtschau zu einer<br />
Verringerung der Sozialkontakte führen wird.<br />
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Mit dieser Prognose hat der Verordnungsgeber den ihm bei der Beurteilung<br />
der Eignung einer Maßnahme zustehenden Beurteilungsspielraum<br />
aller Voraussicht nach nicht überschritten. Die im Frühjahr 2<strong>02</strong>0 in<br />
Deutschland während <strong>des</strong> sog. ersten Lockdowns sowie im Herbst in<br />
anderen europäischen Staaten gesammelten Erfahrungen belegen im<br />
Gegenteil, dass der Verordnungsgeber ohne Rechtsfehler davon ausgehen<br />
konnte, dass insbesondere umfassende Maßnahmen zur Beschränkung von<br />
Sozialkontakten zur Eindämmung <strong>des</strong> Pandemiegeschehens beitragen.<br />
Der Antragsteller kann dem nicht mit Erfolg seinen Einwand entgegenhalten,<br />
insbesondere nächtliche Ausgangsbeschränkungen seien<br />
„völlig sinnlos“, weil sich Krankheiten nicht übertrügen, wenn Menschen<br />
außerhalb ihrer Wohnung „individuellen Leidenschaften“ wie dem<br />
Spaziergehen oder der Erkundung der Natur nachgingen. Der Antragsteller<br />
erfasst bei diesem Einwand das von dem Verordnungsgeber mit<br />
§ 1a CoronaVO konkret verfolgte […] Ziel, die Anzahl physischer Kontakte<br />
in der Bevölkerung in der Zeit bis zum 10.01.2<strong>02</strong>1 umgehend und<br />
flächendeckend auf ein absolut erforderliches Min<strong>des</strong>tmaß zu reduzieren,<br />
nicht vollständig. Zur Erreichung dieses Ziels kann eine nächtliche<br />
Ausgangssperre […] schon <strong>des</strong>halb zweifelsfrei beitragen, weil<br />
damit zum einen unbeabsichtigte Kontakte von Menschen, die<br />
auch bei einem nächtlichen Spaziergang und dergleichen stattfinden<br />
können, verhindert werden. Hinzu kommt, dass mit solchen<br />
Ausgangsbeschränkungen andernfalls bestehende Anreize stark<br />
vermindert werden, soziale und gesellige Kontakte im privaten<br />
Bereich insbesondere in den Abendstunden zu pflegen, die sich in<br />
der Vergangenheit in infektionsbezogener Hinsicht vielfach besonders<br />
gefahrträchtig erwiesen haben. […]<br />
Ein Gesetz ist erforderlich, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich<br />
wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränken<strong>des</strong><br />
Mittel hätte wählen können, wobei dem Gesetzgeber […] ein<br />
Beurteilungsspielraum zusteht.<br />
Diesen Spielraum hat der Verordnungsgeber aller Voraussicht nach nicht<br />
überschritten. Mittel, die den Antragsteller weniger beeinträchtigen<br />
würden, aber zur Erreichung der genannten Ziele wenigstens ebenso<br />
wirksam wären, hat der Antragsteller […] nicht aufgezeigt und sind<br />
auch sonst nicht erkennbar. Insbesondere würde eine Regelung, die auf<br />
Ausgangsbeschränkungen generell oder in den Nachtstunden verzichten<br />
oder weitere Ausnahmetatbestände enthalten würde, offensichtlich nicht<br />
in gleichem Maße zu einer Reduzierung der Sozialkontakte und damit<br />
<strong>des</strong> Infektionsgeschehens beitragen, wie die vom Antragsgegner in § 1c<br />
CoronaVO normierte Vorschrift.“<br />
Schließlich muss die angegriffene Vorschrift angemessen sein, d.h. die mit<br />
ihr verbundene Eingriffsintensität darf nicht außer Verhältnis zum verfolgten<br />
Ziel stehen.<br />
„Der Senat misst den […] verfolgten Eingriffszwecken ein sehr hohes<br />
Gewicht bei. Er geht insbesondere davon aus, dass die Gefahren, deren<br />
Abwehr die angefochtene Vorschrift dient, derzeit in hohem Maße bestehen<br />
und das derzeit bereits bestehende exponentielle Wachstum in kurzer<br />
Zeit weiter ansteigen kann. […]<br />
Häufiger Einwand gegen die Ausgangsbeschränkungen<br />
Widerlegung <strong>des</strong> Einwands<br />
Erforderlichkeit<br />
Angemessenheit<br />
Wertigkeit <strong>des</strong> verfolgten Ziels<br />
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Intensität <strong>des</strong> Eingriffs<br />
Allgemein gilt: Ausnahme-, Befreiungsund<br />
Härtefallregelungen führen fast<br />
immer dazu, dass eine gesetzliche<br />
Pflicht angemessen ist, weil sie im<br />
Einzelfall eine verfassungskonforme<br />
Auslegung ermöglichen.<br />
Die dem entgegenstehenden - grundrechtlich geschützten - Belange<br />
<strong>des</strong> Antragstellers, die für die Beurteilung der Zumutbarkeit der angefochtenen<br />
Bestimmung und <strong>des</strong> mit ihr bewirkten Grundrechtseingriffs zu<br />
berücksichtigen sind, sind zwar von einigem Gewicht. Diese Beeinträchtigungen<br />
- wie beispielsweise der von ihm hervorgehobene Verzicht auf<br />
nächtliche Spaziergänge und Tierbeobachtungen oder die Unannehmlichkeit,<br />
den eigenen Tabakbedarf vorausschauend tagsüber decken zu<br />
müssen - sind ihm aber bei der gebotenen Abwägung zum gegenwärtigen<br />
Zeitpunkt zumutbar. Seinen Belangen gegenüber stehen die gravierenden<br />
Folgen für Leib und Leben einer Vielzahl vom Coronavirus Betroffener, für<br />
die der Staat nach Art. 2 Abs. 2 GG eine Schutzpflicht hat, und die damit<br />
verbundene Erhaltung der Leistungsfähigkeit <strong>des</strong> Gesundheitssystems<br />
Deutschlands. Diese Ziele überwiegen in der gebotenen Abwägung gegenwärtig<br />
die beeinträchtigten Interessen <strong>des</strong> Antragstellers.<br />
Letzteres gilt umso mehr, als § 1c CoronaVO für zahlreiche wichtige<br />
Bereiche <strong>des</strong> sozialen und wirtschaftlichen Lebens Ausnahmebestimmungen<br />
trifft. Der Verordnungsgeber hat zudem in § 1c Abs. 1 Nr. 17<br />
und Abs. 2 Nr. 12 CoronaVO Auffangtatbestände geschaffen („sonstige<br />
vergleichbar gewichtige Gründe“), die einer Auslegung im Lichte der<br />
Grundrechte zugänglich sind. Diese Vorschriften gewährleisten zusätzlich,<br />
dass die Anwendung der Norm keine unzumutbaren Ergebnisse im Einzelfall<br />
bewirkt.“<br />
Somit verletzt § 1c CoronaVO nicht das Grundrecht <strong>des</strong> A aus Art. 2 I GG.<br />
b) Vereinbarkeit mit Art. 1 I 1 GG<br />
Inhalt der Menschenwürde<br />
Verstöße gegen Art. 1 I 1 GG werden<br />
im Zusammenhang mit den Coronaschutzmaßnahmen<br />
zwar oftmals<br />
gerügt, liegen aber nicht vor, weil<br />
die Betroffenen durch diese Maßnahmen<br />
nicht zum bloßen Objekt<br />
staatlichen Handelns degradiert<br />
werden.<br />
„Von der Vorstellung ausgehend, dass der Mensch in Freiheit sich selbst<br />
bestimmt und entfaltet, umfasst die Garantie der Menschenwürde insbesondere<br />
die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität.<br />
Damit ist ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch verbunden, der es<br />
verbietet, den Menschen zum „bloßen Objekt“ staatlichen Handelns zu<br />
machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität<br />
prinzipiell in Frage stellt. Einer solchen ihn zum Objekt degradierenden<br />
Behandlung wird der Antragsteller durch die in § 1c CoronaVO für<br />
gut drei Wochen geregelten und durch zahlreiche Ausnahmen relativierten<br />
Aufenthaltsbeschränkungen nicht ansatzweise unterworfen.<br />
Daran ändert auch der von dem Antragsteller hervorgehobene Umstand<br />
nichts, dass er aufgrund der Regelung unter Umständen gehalten sein<br />
kann, den Grund für das Verlassen seiner Wohnung anzugeben.“<br />
Folglich liegt auch kein Verstoß gegen Art. 1 I 1 GG vor, sodass § 1c CoronaVO<br />
rechtmäßig ist.<br />
FAZIT<br />
Bedeutsam an dem Beschluss sind zum einen die Überlegungen bzgl. <strong>des</strong><br />
Gesetzesvorbehalts, die vor allem seine Examensrelevanz begründen. Zum<br />
anderen werden gängige Einwände gegen die Ausgangsbeschränkungen vom<br />
Gericht überzeugend widerlegt. Vom VGH nicht endgültig geklärt wurde, ob<br />
auch ein Eingriff in die Grundrechte aus Art. 2 II 2 GG und Art. 11 I GG vorliegt,<br />
da er jedenfalls aus den im Beschluss genannten Gründen gerechtfertigt ist.<br />
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