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RA 02/2021 - Entscheidung des Monats

Der Beschluss des VGH Mannheim ist eine der ersten Gerichtsentscheidungen, die sich mit dem neu erlassenen § 28a IfSG und dessen Verfassungsmäßigkeit sowie den strengen Ausgangsbeschränkungen zur Bekämpfung der sog. 2. Welle der Corona-Pandemie befassen.

Der Beschluss des VGH Mannheim ist eine der ersten Gerichtsentscheidungen, die sich mit dem neu erlassenen § 28a IfSG und dessen Verfassungsmäßigkeit sowie den strengen Ausgangsbeschränkungen zur Bekämpfung der sog. 2. Welle der Corona-Pandemie befassen.

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<strong>02</strong>/2<strong>02</strong>1<br />

ENTSCHEIDUNGDESMONATS<br />

ÖFFENTLICHESRECHT<br />

Corona-Pandemie:Ausgangsbeschränkungen


90 Öffentliches Recht<br />

<strong>RA</strong> <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>1<br />

LEITSATZ (DER REDAKTION)<br />

1. Jedenfalls mit den in § 28a IfSG<br />

ergänzend normierten Vorgaben<br />

hat der Bun<strong>des</strong>gesetzgeber<br />

seiner sich aus dem Vorbehalt <strong>des</strong><br />

Gesetzes ergebenden Pflicht, die<br />

für die Grundrechtverwirklichung<br />

maßgeblichen Regelungen<br />

im Wesentlichen selbst zu treffen,<br />

ausreichend Rechnung getragen.<br />

2. § 28a IfSG ist keine spezielle Ermächtigungsgrundlage,<br />

sondern<br />

präzisiert § 28 I 1, 2 IfSG auf der<br />

Tatbestands- und Rechtsfolgenseite.<br />

3. Die mit dem sog. 2. Lockdown<br />

verhängten Ausgangsbeschränkungen<br />

sind rechtmäßig.<br />

Obersatz<br />

Beachte: § 28a IfSG ist keine spezielle<br />

EGL, sondern präzisiert<br />

§ 28 I 1, 2 IfSG auf Tatbestandsund<br />

Rechtsfolgenseite (vgl. Greve,<br />

NVwZ 2<strong>02</strong>0, 1786, 1788).<br />

Problem: Corona-Pandemie: Ausgangsbeschränkungen<br />

Einordnung: Grundrechte/Staatsorganisationsrecht<br />

VGH Mannheim, Beschluss vom 18.12.2<strong>02</strong>0<br />

1 S 4<strong>02</strong>8/20<br />

EINLEITUNG<br />

Der Beschluss <strong>des</strong> VGH Mannheim ist eine der ersten Gerichtsentscheidungen,<br />

die sich mit dem neu erlassenen § 28a IfSG und <strong>des</strong>sen Verfassungsmäßigkeit<br />

sowie den strengen Ausgangsbeschränkungen zur Bekämpfung der sog.<br />

2. Welle der Corona-Pandemie befassen.<br />

SACHVERHALT<br />

§ 1c der Verordnung der Lan<strong>des</strong>regierung von Baden-Württemberg über<br />

infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung <strong>des</strong> Virus<br />

SARS-CoV-2 (CoronaVO) vom 30.11.2<strong>02</strong>0 in der Fassung der Zweiten Verordnung<br />

der Lan<strong>des</strong>regierung zur Änderung der Corona-Verordnung vom<br />

15.12.2<strong>02</strong>0 sah für den Zeitraum 16.12.2<strong>02</strong>0 bis 10.1.2<strong>02</strong>1 Ausgangsbeschränkungen<br />

vor. Nach § 1c I CoronaVO war der Aufenthalt außerhalb der<br />

Wohnung oder sonstigen Unterkunft in der Zeit von 5 Uhr bis 20 Uhr nur<br />

bei Vorliegen triftiger, in Nr. 1 bis 16 im Einzelnen genannter Gründe oder<br />

(Nr. 17) aus sonstigen vergleichbar gewichtigen Gründen gestattet ist. Nach<br />

§ 1c II CoronaVO gilt in der Zeit von 20 Uhr bis 5 Uhr <strong>des</strong> Folgetags eine<br />

erweiterte Ausgangsbeschränkung. Der Aufenthalt außerhalb der Wohnung<br />

oder sonstigen Unterkunft ist in dieser Zeit nur bei Vorliegen der in Nr. 1<br />

bis 11 im Einzelnen aufgezählten triftigen Gründe oder (Nr. 12) sonstiger<br />

vergleichbar gewichtiger Gründe gestattet. Antragsteller A sieht darin<br />

einen unverhältnismäßigen Eingriff in seine Freiheitsrechte. Es bestehe kein<br />

Grund, weshalb er seine Wohnung nachts nicht mehr zu privaten Zwecken<br />

wie etwa der Pflege eines Schrebergartens, dem Beobachten von Hirschen,<br />

der Wahrnehmung sportlicher Aktivitäten oder dem Aufsuchen eines<br />

Zigarettenautomaten verlassen können solle. Durch solche Aktivitäten<br />

würden keine Krankheiten übertragen. Darüber hinaus verlange die<br />

Verordnung für jede Handlung, die außerhalb der eigenen Wohnung vorgenommen<br />

werde, eine Rechtfertigung durch den Bürger. Sie verkehre damit<br />

den Grundsatz, dass der Staat es begründen müsse, wenn er etwas verbieten<br />

wolle, in das Gegenteil. Sie greife damit unzulässig in die von Art. 1 I 1 GG<br />

geschützte Würde <strong>des</strong> Menschen ein.<br />

Ist § 1c CoronaVO rechtmäßig?<br />

LÖSUNG<br />

§ 1c CoronaVO ist rechtmäßig, wenn die Vorschrift auf einer wirksamen<br />

Rechtsgrundlage beruht, die formell und materiell rechtmäßig angewendet<br />

wurde.<br />

I. Rechtsgrundlage für § 1c CoronaVO<br />

Rechtsgrundlage für § 1c CoronaVO ist § 32 S. 1 i.V.m. § 28 I 1 i.V.m.<br />

§ 28a I Nr. 3, II 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG). Fraglich ist jedoch, ob<br />

diese Normen den verfassungsrechtlichen Anforderungen, speziell dem<br />

Parlamentsvorbehalt genügen.<br />

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<strong>RA</strong> <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>1<br />

Öffentliches Recht<br />

91<br />

„Im Parlamentsvorbehalt wurzelnde Bedenken, die sich in Bezug auf einige<br />

der seit März 2<strong>02</strong>0 zur Pandemiebekämpfung durch Rechtsverordnung normierte<br />

Maßnahmen wie beispielsweise umfassende Betriebsschließungen<br />

ergeben haben, bestehen in Bezug auf die vom Antragsteller im vorliegenden<br />

Verfahren beanstandeten Regelungen in § 1c CoronaVO aller<br />

Voraussicht nach nicht. Der Bun<strong>des</strong>gesetzgeber hatte schon bisher<br />

in § 28 IfSG selbst ausdrücklich normiert, dass die zuständige Stelle<br />

Personen insbesondere dazu verpflichten kann, den Ort, an dem sie sich<br />

befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen<br />

oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter<br />

bestimmten Bedingungen zu betreten (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 IfSG).<br />

In dem am 19.11.2<strong>02</strong>0 in Kraft getretenen § 28a IfSG hat er noch weiter<br />

konkretisierend geregelt, dass notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne<br />

<strong>des</strong> § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG zur Verhinderung der Verbreitung der<br />

Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) für die Dauer der - wie derzeit<br />

bestehend - Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler<br />

Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG durch den Deutschen Bun<strong>des</strong>tag insbesondere<br />

Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen im privaten sowie im<br />

öffentlichen Raum sein können (Absatz 1 Nr. 3). Er hat weiter geregelt,<br />

dass die Anordnung einer Ausgangsbeschränkung, nach der das Verlassen<br />

<strong>des</strong> privaten Wohnbereichs nur zu bestimmten Zeiten oder zu bestimmten<br />

Zwecken nur zulässig ist, soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher<br />

getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung<br />

der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erheblich<br />

gefährdet wäre (Absatz 2 Satz 1 Nr. 2).<br />

Jedenfalls mit den in § 28a IfSG nunmehr ergänzend normierten<br />

Vorgaben hat der Bun<strong>des</strong>gesetzgeber seiner sich aus dem Vorbehalt<br />

<strong>des</strong> Gesetzes in seiner Ausprägung als Parlamentsvorbehalt ergebenden,<br />

im Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot wurzelnden Verpflichtung,<br />

die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im<br />

Wesentlichen selbst zu treffen, in Bezug auf die Aufenthaltsbeschränkungen<br />

zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 voraussichtlich genügt.“<br />

Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass alle der in § 28a IfSG genannten<br />

Maßnahmen voraussetzen, dass der Deutsche Bun<strong>des</strong>tag eine epidemische<br />

Lage von nationaler Tragweite nach § 5 I 1 IfSG feststellt. Dadurch<br />

ist die Rolle <strong>des</strong> Parlaments im Vergleich zur alten Rechtslage signifikant<br />

gestärkt worden.<br />

Gleichwohl ließe sich erwägen, dass der Bun<strong>des</strong>gesetzgeber in Anbetracht<br />

der Grundrechtsrelevanz der Infektionsschutzmaßnahmen noch detailliertere<br />

Regelungen hätte erlassen müssen. So belässt § 28a IfSG der Exekutive weiterhin<br />

einen weiten Gestaltungsspielraum bei der <strong>Entscheidung</strong> über den<br />

Erlass von Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung, insbesondere lässt § 28a I<br />

IfSG keine Bewertung oder ein Stufenverhältnis der möglichen Maßnahmen<br />

zueinander erkennen. Dieser Überlegung kann entgegengesetzt werden, dass<br />

es dem Bun<strong>des</strong>gesetzgeber aufgrund der Dynamik <strong>des</strong> Infektionsgeschehens,<br />

das sich zudem in den Ländern, Kreisen und Gemeinden sehr unterschiedlich<br />

entwickeln kann, kaum möglich ist, abstrakt-generell vorausschauend<br />

alle Konstellationen und Entwicklungen zu regeln. Hinzu kommt, dass die<br />

Exekutive auf aktuelle Entwicklungen deutlich schneller reagieren kann,<br />

als dies in einem parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren möglich ist. Der<br />

Verwaltung müssen folglich <strong>Entscheidung</strong>sspielräume verbleiben, um zeitnah<br />

Vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom<br />

6.11.2<strong>02</strong>0, 1 S 3388/20, juris Rn 17-29;<br />

VGH München, Beschluss vom<br />

29.10.2<strong>02</strong>0, 20 NE 20.2360 Rn 28-37<br />

Parlamentsvorbehalt bzgl. Ausgangsbeschränkungen<br />

schon bisher<br />

gewahrt durch § 28 I 1 Halbsatz 2<br />

IfSG<br />

Letzte Bedenken jedenfalls jetzt ausgeräumt<br />

durch § 28a IfSG<br />

Weiteres Argument: Bun<strong>des</strong>tag muss<br />

epidemische Lage feststellen, damit<br />

§ 28a IfSG überhaupt anwendbar ist<br />

(vgl. OVG Münster, Beschluss vom<br />

23.12.2<strong>02</strong>0, 13 B 1707/20.NE, juris<br />

Rn 36)<br />

Noch genauere Detailregelungen<br />

als diejenigen <strong>des</strong> § 28a IfSG erforderlich<br />

(vgl. Kießling/Möllers/Volkmann,<br />

Zum Reformbedarf der Eingriffsbefugnisse<br />

im Infektionsschutzgesetz,<br />

Gutachten Oktober 2<strong>02</strong>0, S. 15)?<br />

Nein, dann besteht die Gefahr der<br />

„Überregulierung“, die ein schnelles<br />

Handeln der Verwaltung behindern<br />

könnte (vgl. OVG Münster, Beschluss<br />

vom 23.12.2<strong>02</strong>0, 13 B 1707/20.NE,<br />

juris Rn 37-39; Greve, NVwZ 2<strong>02</strong>0,<br />

1786, 1788 f.)<br />

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92 Öffentliches Recht<br />

<strong>RA</strong> <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>1<br />

und angemessen auf neue Entwicklungen der Infektionslage reagieren zu<br />

können. Nur so kann auch der grundrechtlichen Schutzpflicht für Leben<br />

und Gesundheit ausreichend Rechnung getragen werden.<br />

Demnach ist § 32 S. 1 i.V.m. § 28 I 1 i.V.m. § 28a I Nr. 3, II 1 IfSG eine wirksame<br />

Rechtsgrundlage für § 1c CoronaVO.<br />

Unproblematisch<br />

Obersatz<br />

Der Tatbestand liegt so eindeutig<br />

vor, dass ein Ergebnissatz genügt.<br />

Vgl. OVG Münster, Beschluss vom<br />

23.12.2<strong>02</strong>0, 13 B 1707/20.NE, juris<br />

Rn 49-51<br />

Problematisch ist allein die Vereinbarkeit<br />

mit den Grundrechten.<br />

Es liegt eindeutig ein Eingriff in<br />

den Schutzbereich <strong>des</strong> Art. 2 I GG<br />

vor, sodass sich die Prüfung auf<br />

das Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />

konzentriert.<br />

Legitimes Ziel<br />

Geeignetheit<br />

II. Formelle Rechtmäßigkeit <strong>des</strong> § 1c CoronaVO<br />

In formeller Hinsicht bestehen keine Bedenken an der Rechtmäßigkeit <strong>des</strong><br />

§ 1c CoronaVO.<br />

III. Materielle Rechtmäßigkeit <strong>des</strong> § 1c CoronaVO<br />

§ 1c CoronaVO ist materiell rechtmäßig, wenn die Tatbestandvoraussetzungen<br />

der Rechtsgrundlage erfüllt sind und das auf der Rechtsfolgenseite eröffnete<br />

Ermessen fehlerfrei ausgeübt wurde.<br />

1. Tatbestand<br />

Da der Deutsche Bun<strong>des</strong>tag eine epidemische Lage von nationaler Tragweite<br />

festgestellt hat, liegt der Tatbestand von § 32 S. 1 i.V.m. § 28 I 1 i.V.m. § 28a I<br />

Nr. 3, II 1 IfSG vor.<br />

2. Rechtsfolge<br />

Auf der Rechtsfolgenseite eröffnet § 32 S. 1 IfSG dem Verordnungsgeber<br />

ein Ermessen. Dieses muss er rechtmäßig ausgeübt haben. Dabei ist zu<br />

beachten, dass die Rechtsgrundlage nicht nur Maßnahmen gegen Kranke,<br />

Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige und Ausscheider, sondern<br />

auch gegen Dritte (sog. Nichtstörer) erlaubt. Fraglich ist aber die<br />

Vereinbarkeit der streitgegenständlichen Bestimmung mit den Grundrechten<br />

aus Art. 2 I GG und aus Art. 1 I 1 GG.<br />

a) Vereinbarkeit mit Art. 2 I GG<br />

Die durch § 1c CoronaVO verfügten Ausgangsbeschränkungen stellen zwar<br />

einen Eingriff in den Schutzbereich <strong>des</strong> Art. 2 I GG dar, der jedoch gerechtfertigt<br />

ist, wenn die Beschränkungen verhältnismäßig sind.<br />

„Mit […] der angefochtenen Vorschrift verfolgt der Antragsgegner […] insbesondere<br />

die Ziele einer zielgerichteten und wirksamen Reduzierung<br />

von Infektionsgefahren und der Gewährleistung der Nachverfolgbarkeit<br />

von Infektionsketten und der Aufrechterhaltung der medizinischen<br />

Versorgungskapazitäten im Land. Diese Ziele sind im Sinne <strong>des</strong><br />

Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes legitim. Ziel der Regelung ist im Kern der<br />

Schutz <strong>des</strong> Lebens und der körperlichen Unversehrtheit je<strong>des</strong> Einzelnen<br />

wie auch der Bevölkerung insgesamt, wofür den Staat gemäß Art. 2 Abs. 2<br />

Satz 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG eine umfassende Schutzpflicht trifft.<br />

Ein Gesetz ist geeignet, wenn mit seiner Hilfe der erstrebte Erfolg gefördert<br />

werden kann. Diese Voraussetzung erfüllt die angefochtene Vorschrift.<br />

Sie ist insbesondere dazu geeignet, Infektionsketten zu unterbrechen,<br />

das exponentielle Wachstum zu stoppen und die Verbreitung <strong>des</strong> SARS-<br />

CoV-2-Virus zu verlangsamen. Denn sie führt dazu, dass die Normadressaten<br />

für die Zeit bis zum 10.01.2<strong>02</strong>1 ihre Wohnungen wegen der bestehenden<br />

Beschränkungen nur noch in einem deutlich reduzierten<br />

Umfang verlassen werden, was in der gebotenen Gesamtschau zu einer<br />

Verringerung der Sozialkontakte führen wird.<br />

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<strong>RA</strong> <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>1<br />

Öffentliches Recht<br />

93<br />

Mit dieser Prognose hat der Verordnungsgeber den ihm bei der Beurteilung<br />

der Eignung einer Maßnahme zustehenden Beurteilungsspielraum<br />

aller Voraussicht nach nicht überschritten. Die im Frühjahr 2<strong>02</strong>0 in<br />

Deutschland während <strong>des</strong> sog. ersten Lockdowns sowie im Herbst in<br />

anderen europäischen Staaten gesammelten Erfahrungen belegen im<br />

Gegenteil, dass der Verordnungsgeber ohne Rechtsfehler davon ausgehen<br />

konnte, dass insbesondere umfassende Maßnahmen zur Beschränkung von<br />

Sozialkontakten zur Eindämmung <strong>des</strong> Pandemiegeschehens beitragen.<br />

Der Antragsteller kann dem nicht mit Erfolg seinen Einwand entgegenhalten,<br />

insbesondere nächtliche Ausgangsbeschränkungen seien<br />

„völlig sinnlos“, weil sich Krankheiten nicht übertrügen, wenn Menschen<br />

außerhalb ihrer Wohnung „individuellen Leidenschaften“ wie dem<br />

Spaziergehen oder der Erkundung der Natur nachgingen. Der Antragsteller<br />

erfasst bei diesem Einwand das von dem Verordnungsgeber mit<br />

§ 1a CoronaVO konkret verfolgte […] Ziel, die Anzahl physischer Kontakte<br />

in der Bevölkerung in der Zeit bis zum 10.01.2<strong>02</strong>1 umgehend und<br />

flächendeckend auf ein absolut erforderliches Min<strong>des</strong>tmaß zu reduzieren,<br />

nicht vollständig. Zur Erreichung dieses Ziels kann eine nächtliche<br />

Ausgangssperre […] schon <strong>des</strong>halb zweifelsfrei beitragen, weil<br />

damit zum einen unbeabsichtigte Kontakte von Menschen, die<br />

auch bei einem nächtlichen Spaziergang und dergleichen stattfinden<br />

können, verhindert werden. Hinzu kommt, dass mit solchen<br />

Ausgangsbeschränkungen andernfalls bestehende Anreize stark<br />

vermindert werden, soziale und gesellige Kontakte im privaten<br />

Bereich insbesondere in den Abendstunden zu pflegen, die sich in<br />

der Vergangenheit in infektionsbezogener Hinsicht vielfach besonders<br />

gefahrträchtig erwiesen haben. […]<br />

Ein Gesetz ist erforderlich, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich<br />

wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränken<strong>des</strong><br />

Mittel hätte wählen können, wobei dem Gesetzgeber […] ein<br />

Beurteilungsspielraum zusteht.<br />

Diesen Spielraum hat der Verordnungsgeber aller Voraussicht nach nicht<br />

überschritten. Mittel, die den Antragsteller weniger beeinträchtigen<br />

würden, aber zur Erreichung der genannten Ziele wenigstens ebenso<br />

wirksam wären, hat der Antragsteller […] nicht aufgezeigt und sind<br />

auch sonst nicht erkennbar. Insbesondere würde eine Regelung, die auf<br />

Ausgangsbeschränkungen generell oder in den Nachtstunden verzichten<br />

oder weitere Ausnahmetatbestände enthalten würde, offensichtlich nicht<br />

in gleichem Maße zu einer Reduzierung der Sozialkontakte und damit<br />

<strong>des</strong> Infektionsgeschehens beitragen, wie die vom Antragsgegner in § 1c<br />

CoronaVO normierte Vorschrift.“<br />

Schließlich muss die angegriffene Vorschrift angemessen sein, d.h. die mit<br />

ihr verbundene Eingriffsintensität darf nicht außer Verhältnis zum verfolgten<br />

Ziel stehen.<br />

„Der Senat misst den […] verfolgten Eingriffszwecken ein sehr hohes<br />

Gewicht bei. Er geht insbesondere davon aus, dass die Gefahren, deren<br />

Abwehr die angefochtene Vorschrift dient, derzeit in hohem Maße bestehen<br />

und das derzeit bereits bestehende exponentielle Wachstum in kurzer<br />

Zeit weiter ansteigen kann. […]<br />

Häufiger Einwand gegen die Ausgangsbeschränkungen<br />

Widerlegung <strong>des</strong> Einwands<br />

Erforderlichkeit<br />

Angemessenheit<br />

Wertigkeit <strong>des</strong> verfolgten Ziels<br />

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94 Öffentliches Recht<br />

<strong>RA</strong> <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>1<br />

Intensität <strong>des</strong> Eingriffs<br />

Allgemein gilt: Ausnahme-, Befreiungsund<br />

Härtefallregelungen führen fast<br />

immer dazu, dass eine gesetzliche<br />

Pflicht angemessen ist, weil sie im<br />

Einzelfall eine verfassungskonforme<br />

Auslegung ermöglichen.<br />

Die dem entgegenstehenden - grundrechtlich geschützten - Belange<br />

<strong>des</strong> Antragstellers, die für die Beurteilung der Zumutbarkeit der angefochtenen<br />

Bestimmung und <strong>des</strong> mit ihr bewirkten Grundrechtseingriffs zu<br />

berücksichtigen sind, sind zwar von einigem Gewicht. Diese Beeinträchtigungen<br />

- wie beispielsweise der von ihm hervorgehobene Verzicht auf<br />

nächtliche Spaziergänge und Tierbeobachtungen oder die Unannehmlichkeit,<br />

den eigenen Tabakbedarf vorausschauend tagsüber decken zu<br />

müssen - sind ihm aber bei der gebotenen Abwägung zum gegenwärtigen<br />

Zeitpunkt zumutbar. Seinen Belangen gegenüber stehen die gravierenden<br />

Folgen für Leib und Leben einer Vielzahl vom Coronavirus Betroffener, für<br />

die der Staat nach Art. 2 Abs. 2 GG eine Schutzpflicht hat, und die damit<br />

verbundene Erhaltung der Leistungsfähigkeit <strong>des</strong> Gesundheitssystems<br />

Deutschlands. Diese Ziele überwiegen in der gebotenen Abwägung gegenwärtig<br />

die beeinträchtigten Interessen <strong>des</strong> Antragstellers.<br />

Letzteres gilt umso mehr, als § 1c CoronaVO für zahlreiche wichtige<br />

Bereiche <strong>des</strong> sozialen und wirtschaftlichen Lebens Ausnahmebestimmungen<br />

trifft. Der Verordnungsgeber hat zudem in § 1c Abs. 1 Nr. 17<br />

und Abs. 2 Nr. 12 CoronaVO Auffangtatbestände geschaffen („sonstige<br />

vergleichbar gewichtige Gründe“), die einer Auslegung im Lichte der<br />

Grundrechte zugänglich sind. Diese Vorschriften gewährleisten zusätzlich,<br />

dass die Anwendung der Norm keine unzumutbaren Ergebnisse im Einzelfall<br />

bewirkt.“<br />

Somit verletzt § 1c CoronaVO nicht das Grundrecht <strong>des</strong> A aus Art. 2 I GG.<br />

b) Vereinbarkeit mit Art. 1 I 1 GG<br />

Inhalt der Menschenwürde<br />

Verstöße gegen Art. 1 I 1 GG werden<br />

im Zusammenhang mit den Coronaschutzmaßnahmen<br />

zwar oftmals<br />

gerügt, liegen aber nicht vor, weil<br />

die Betroffenen durch diese Maßnahmen<br />

nicht zum bloßen Objekt<br />

staatlichen Handelns degradiert<br />

werden.<br />

„Von der Vorstellung ausgehend, dass der Mensch in Freiheit sich selbst<br />

bestimmt und entfaltet, umfasst die Garantie der Menschenwürde insbesondere<br />

die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität.<br />

Damit ist ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch verbunden, der es<br />

verbietet, den Menschen zum „bloßen Objekt“ staatlichen Handelns zu<br />

machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität<br />

prinzipiell in Frage stellt. Einer solchen ihn zum Objekt degradierenden<br />

Behandlung wird der Antragsteller durch die in § 1c CoronaVO für<br />

gut drei Wochen geregelten und durch zahlreiche Ausnahmen relativierten<br />

Aufenthaltsbeschränkungen nicht ansatzweise unterworfen.<br />

Daran ändert auch der von dem Antragsteller hervorgehobene Umstand<br />

nichts, dass er aufgrund der Regelung unter Umständen gehalten sein<br />

kann, den Grund für das Verlassen seiner Wohnung anzugeben.“<br />

Folglich liegt auch kein Verstoß gegen Art. 1 I 1 GG vor, sodass § 1c CoronaVO<br />

rechtmäßig ist.<br />

FAZIT<br />

Bedeutsam an dem Beschluss sind zum einen die Überlegungen bzgl. <strong>des</strong><br />

Gesetzesvorbehalts, die vor allem seine Examensrelevanz begründen. Zum<br />

anderen werden gängige Einwände gegen die Ausgangsbeschränkungen vom<br />

Gericht überzeugend widerlegt. Vom VGH nicht endgültig geklärt wurde, ob<br />

auch ein Eingriff in die Grundrechte aus Art. 2 II 2 GG und Art. 11 I GG vorliegt,<br />

da er jedenfalls aus den im Beschluss genannten Gründen gerechtfertigt ist.<br />

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