EQUIPMENT & MODE › DAS SAGEN DIE STARS — ZU CARBON-SCHUHEN ‹ DIE LAUFSCHUH- REVOLUTION — Text: Jörg Wenig | Fotos: Imago (Aflosport), Hersteller Seit der Kenianer Eliud Kipchoge vor rund vier Jahren erstmals mit einem Schuh mit Carbon in der Sohle in die Nähe der zwei Stunden über die Marathon-Distanz lief, ist der Kohlenstoff aus den Laufschuhen nicht mehr wegzudenken. Er treibt die Athleten reihenweise zu neuen Bestzeiten. Wir haben uns bei den deutschen Laufstars umgehört, was sie über die Schuhe denken. Und ob neue Rekordlisten eingeführt werden sollten. 38
↦ Eine Flut von Rekorden, Bestzeiten und eine nie zuvor gesehene Breite in der Spitze: Ausgerechnet während der Corona-Pandemie produzieren die Top-Läufer trotz mangelnder Wettkämpfe immer wieder außergewöhnliche Leistungen. Doch neben der eigenen Leistungsstärke ist es noch etwas anderes, das die Läufer zu immer weiteren Höchstleistungen führt: die neuen Carbon-Schuhe. Die Wirkung der Schuhe lässt sich anhand der Bestenlisten ablesen: 2017 rannten vier Männer im Marathon Zeiten unter 2:05 Stunden, zwei Jahre später gab es 17 derartige Zeiten. Im Halbmarathon blieben 2020 vier Läufer unter 58 Minuten, was zuvor niemand geschafft hatte. Bei den Frauen ist es genauso: 2016 rannte eine Läuferin im Marathon unter 2:20 Stunden, drei Jahre später gab es 13 solcher Ergebnisse. Zudem brach die Kenianerin Brigid Kosgei mit 2:14:04 Stunden den damals 16 Jahre alten Weltrekord von Paula Radcliffe (Großbritannien/2:15:25 h). Ohne die neue Schuh-Technologie wäre Paula Radcliffe sicherlich noch die Weltrekordlerin. Wie schätzen die deutschen Top-Athleten den Vorteil ein, der durch die neuen Schuhe entsteht? Und wäre es angesichts der Entwicklungen nicht sinnvoll, die bisherigen Rekorde zu konservieren und neue Bestenlisten zu führen? Es besteht Einigkeit dahingehend, dass die neuen Schuhmodelle für deutliche Leistungssteigerungen sorgen. „Der Unterschied zu den früheren Modellen ist groß. Der Abdruck ist jetzt viel intensiver, du springst förmlich. Dadurch ist das gesamte Laufgefühl viel besser, und somit haben die Schuhe sogar einen positiven Effekt auf die Motivation“, sagt Amanal Petros (TV Wattenscheid 01), der bei Adidas unter Vertrag ist und sich bei seinem deutschen Marathon-Rekord von 2:07:18 Stunden in den neuen Schuhen um 3:11 Minuten steigerte. DREI BIS VIER SEKUNDEN PRO KILOMETER „Ich hatte besser trainiert vor meinem zweiten Marathon, aber die Schuhe haben geholfen. Ich schätze, der Unterschied könnte drei bis vier Sekunden pro Kilometer im Marathon betragen.“ Das wären rund zweieinhalb Minuten auf die komplette Strecke gerechnet. „Je kürzer die Strecken werden, desto geringer ist jedoch der Vorteil. Im Halbmarathon könnten es zwei bis drei Sekunden sein, über 10 Kilometer vielleicht rund zwei“, sagt Amanal Petros. „In einem Fünf-Kilometer-Rennen würde ich zurzeit sogar den alten Schuh vorziehen – aufgrund des etwas anderen Laufstils auf der Distanz.“ Auch Melat Kejeta (Laufteam Kassel), die neue deutsche Halbmarathon-Rekordlerin mit 65:18 Minuten, ist sich sicher, dass die neuen Schuhe die Situation verändert haben. „Die Energiebelastung der Beine wird verringert, jeder Schritt ist viel bequemer. Ich habe festgestellt, dass sich meine Zeiten sowie die anderer Sportler beim Tragen der Schuhe um Sekunden bis Minuten verbessert haben“, sagt Melat Kejeta, die mit einem Adidas-Schuh läuft. Hendrik Pfeiffer (TV Wattenscheid 01) läuft seit diesem Jahr in Puma-Schuhen. 2020 hat er sich beim Sevilla-Marathon (damals noch in einem Modell von Nike) um fast drei Minuten auf 2:10:18 Stunden verbessert. Eine klare Steigerung war ihm unabhängig von den Schuhen zuzutrauen, aber mit drei Minuten war sicher nicht zu rechnen „Ich denke schon, dass die Carbon-Schuhe ein technologischer Fortschritt sind, der sich auf die Zeiten auswirkt. Überbewerten sollte man die Technologie dennoch nicht. Ich bin sowohl meinen schnellsten als auch langsamsten Marathon mit Carbon-Schuhen gelaufen. Entscheidend ist und bleibt das Training im Vorfeld. Der Schuheffekt wird sich im Bereich der Differenz zwischen den Weltrekorden vor und in der Carbon-Ära bewegen“, sagt Hendrik Pfeiffer. Bei den Männern beträgt die angesprochene Differenz im Marathon zurzeit 1:18 Minuten. Pfeiffer nutzt in diesem Jahr das Puma-Modell Deviate Nitro, das in den nächsten Wochen mit einem noch leichteren Schuh (Elite Nitro) für Top-Athleten nochmals aufgewertet wird. Mit genaueren Schätzungen hält sich Richard Ringer zurück: „Wie viel die Schuhe ausmachen, müsste man in einer Studie zeigen“, sagt der Läufer des LC Rehlingen, der bei Asics unter Vertrag steht und bei seinem Marathon-Debüt in Valencia im Dezember auf Anhieb 2:10:59 Stunden erreichte. Ein neuer Asics-Carbon-Schuh steht den Athleten offenbar erst seit kürzerer Zeit zur Verfügung, sodass sie erst zukünftig von der neuen Schuh-Generation profitieren werden. Das dem so ist, davon geht Katharina Stein- NIKE ALPHAFLY NEXT% Der Alphafly von Nike ist mit einer Carbonfaserplatte ausgestattet. Hinzu kommen zwei sogenannte Nike Zoom Air-Pods zur Dämpfung unter dem Vorderfuß, viel ZoomX-Schaum sowie ultraatmungsaktives, leichtes Flyknit-Obermaterial. Wer diesen Schuh bei hohem Tempo zum ersten Mal trägt, merkt sofort, dass die Diskussion um den Effekt des Schuhs nicht aus der Luft gegriffen ist. Hatte man bei den ersten Carbonschuhen von Nike vom Typ Vaporfly schon das Gefühl, bei jedem Schritt vom Schuh nach vorn getrieben zu werden, hat sich das beim Alphafly noch einmal verbessert. Hinzu kommt die noch einmal verbesserte Dämpfung und mehr Stabilität. Während die Vaporfly-Schuhe sich oft ein wenig kipplig anfühlen und vom Läufer viel muskuläre Kontrolle fordern, rollt man im Alphafly deutlich stabiler ab. 39 ——— <strong>LÄUFT</strong>.