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WBG_Jahresbericht_2020_ES

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HUNDERT

JAHRE GELEBTE

SOLIDARITÄT

Die Corona-Pandemie ist ein Prüfstein für

unseren Gemeinsinn. Die Genossenschaftsbewegung

kann dabei auf eine lange Tradition

des Zusammenhalts zurückgreifen, wie ein

Blick in die Geschichte zeigt.

D

ie Zeichen standen alles andere als auf

Aussöhnung, als Europa nach einem langen

und zermürbenden Ersten Weltkrieg

einen neuen Frieden suchte. Als Hermann Müller,

gerade erst ins Amt des Aussenministers berufen,

in Versailles 1919 die deutsche Kapitulation unterschrieb,

war dies zwar das Ende eines militärischen

Konflikts, zugleich aber intensivierten sich

soziale Auseinandersetzungen, die letztendlich

zum Aufstieg des Faschismus und dem Ausbruch

des Zweiten Weltkrieges führen sollten. Die

Millionen von Heimkehrern, meist Soldaten fernab

der Heimat, wurden von ihren Landsleuten mit

Argwohn und meist ohne ein Zeichen der Solidarität

empfangen. Man wollte vorwärtsschauen

und sich durch die Kriegsversehrten nicht davon

abhalten lassen.

Die Schweiz war auch von diesem Krieg

grösstenteils verschont geblieben. Nicht aber von

dem schwelenden gesellschaftlichen Konflikt in

Europa. Nicht erst seit dem Ende des Ersten Weltkriegs

rollte auch auf das kleine Land inmitten

von Europa eine Bewegung mit grossem Konfliktpotenzial

und weitreichenden Forderungen zu.

Denn längst war ein heftiger Kampf entlang der

politischen Pole entbrannt, zwischen Arbeitnehmern

und Unternehmern, zwischen Konservativen

und Modernisten. Und hier stand die Schweiz für

einmal mittendrin und nicht aussen vor. Dies sollte

auch für die Entstehungsgeschichte und den Aufstieg

der schweizerischen Genossenschaftsbewegung

von zentraler Bedeutung sein.

Die Spannung zwischen vergleichsweise

starker Partizipation und relativ scharfer Ausgren-

zung war zwar nicht neu und prägte die Demokratiegeschichte

der Schweiz schon seit über drei

Jahrhunderten. Aber mit dem Aufkommen der

Arbeiterbewegung im Zuge der Industrialisierung

Mitte des 19. Jahrhunderts kam eine Kraft hinzu,

deren Anteil am Ende des ersten Jahrzehnts des

20. Jahrhunderts auf 46 Prozent der berufstätigen

Bevölkerung anwuchs. Und diese politisch-sozial

motivierte Bewegung musste nach eigenen

Strategien und Stärken suchen: Was ihr im politischen

Kampf gegenüber dem Freisinn und

den Katholisch-Konservativen fehlte, das Kapital,

machten sie wett mit der Solidarität innerhalb des

eigenen Milieus und dem Prinzip des kollektiven,

gewerkschaftlichen Handelns.

Und dies mit grossem Erfolg. Denn was

ab und an vergessen geht: Die Schweiz gehörte

vor dem Ersten Weltkrieg zu den streikfreudigsten

Ländern Europas. Am Generalstreik am

12. November 1918 standen einer Viertelmillion

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern knapp

100’000 Soldaten gegenüber. Der Tag gilt heute

noch als Ausgangspunkt eines solidarischen

Gesellschaftsmodells, der Gründung einer Altersvorsorge

und von humaneren Arbeitsbedingungen,

zum Beispiel der Reduktion der Arbeitszeit

von 59 zu 48 Stunden pro Woche.

E

benso dringlich gestaltete sich, gerade nach

den Entbehrungen des vierjährigen Kriegs,

die Verbesserung der eigenen Wohnsituation.

Städte boten zwar seit Längerem neue Industrien

und damit Arbeitsplätze; die Infrastruktur und

das Bewusstsein der Unternehmer, gerade beim

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