6«Solidarität gehört zu unserer DNA»:SP-Ständerätin Eva Herzog ist seit 2020 Präsidentinvon Wohnbaugenossenschaften Schweiz.
«SIND WIR HEUTEALLES EGOISTEN? ICHGLAUBE NICHT.»Braucht die Willensnation Schweiz besonders viel Solidarität?Bedrohen Hyperindividualismus und Polarisierung unserenGemeinsinn? Und wie trägt die Genossenschaftsidee zumsozialen Kitt bei? Ein Gespräch mit Eva Herzog, SP-Ständerätinund Präsidentin von Wohnbaugenossenschaften Schweiz.Erleben Sie in der Corona-Kriseeine solidarische Schweiz?In den Anfängen auf jeden Fall. DieSelbstverständlichkeit, mit der wirdurch die Welt gingen, hat durch diePandemie einen Schuss vor denBug bekommen. Es gab intensivereGespräche, mehr Nähe und tollenachbarschaftliche Solidaritätsaktionen.Zudem hat die Bevölkerungdie Massnahmen des Bundesrats bisheute gut akzeptiert. Aber es wirdauch schon wieder mehr gemäkelt, dasist normal, nach dem ersten Schreck.Gilt dieser Eindruck auch für diePolitik? Als neugewählte Ständerätinund Mitglied der Finanzdelegationdes Parlaments, die die Corona-Kredite abgesegnet hat, waren Siequasi im Auge des Orkans.Dass der Staat in einer solchenAusnahmesituation hilft, ist seinePflicht – und die hat er erfüllt. Besonderserfreulich ist aber, dass dasParlament dabei viel Flexibilitätbewies und auch soziale Massnahmenbeschloss, die sonst nie mehrheitsfähiggewesen wären. Was man aberauch ganz klar festhalten muss:Die Bürgerlichen standen permanentauf der Bremse und wollten diefinanziellen Massnahmen einschränken.Wer den KMU geholfen hat,das war die Linke.Sind Gemeinsinn und Solidarität geradefür die Willensnation Schweizbesonders wichtig?Nicht wichtiger als für andereNationen, schliesslich gibt es auchin homogeneren Gesellschaftensoziale Unterschiede. Aber klar ist:Als viersprachiger Bundesstaatohne gemeinsame Religion waren wirin besonderem Masse gefordert –gleichzeitig verfügen wir über einelange Erfahrung im Umgang mitMinderheiten. Institutionell widerspiegeltsich dies in unseren ausgleichendenStrukturen, denken wirnur an den Föderalismus, die Konkordanzund Subsidiarität, aber auchan den Finanzausgleich oder denstarken Sozialstaat.«Es brauchtdie Bereitschaft, dieSchwächeren zuunterstützen, damitwir alle gemeinsamein besseres Lebenhaben.»Weshalb braucht eine Gesellschaftüberhaupt Solidarität? Es gibt jaGesetze, Gerichte und staatlicheInstitutionen, die unser Zusammenlebenregeln.Weil sie eine Grundvoraussetzungfür eben diese Institutionen ist.Gesetze fallen nicht vom Himmel, wirmachen sie, und wir legen sie aus.Eine solidarische Haltung, ein Wille zumguten Zusammenleben, macht einenUnterschied. Es braucht die Bereitschaft,die Schwächeren zu unterstützen,damit wir alle gemeinsam einbesseres Leben haben.Wir leben im Zeitalter des Hyperindividualismus.TraditionellGemeinsinn-stiftende Institutionenwie das Vereinswesen oder dasMilizsystem befinden sich in derKrise. Bröckelt die Solidarität inder Schweiz?Mir ist das zu einfach. Schaut manheute wirklich weniger zueinander?Sind wir heute alles Egoisten? Ichglaube nicht. Aber die Zeiten ändernsich und damit auch die Formen.Ich selber war auch nie in einemTurnverein, dafür habe ich mich in derTeestübli- und Kulturgruppe desJugendhauses und im örtlichen Dritt-Welt-Laden engagiert. Ich glaube,auch heute haben viele Menschendas Bedürfnis, sich für andereGespräch7