WBG_Jahresbericht_2020_ES
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einzusetzen, und ich erlebe sehr
viel positive Solidarität durch Freiwilligenarbeit.
Ein anderes Phänomen, das den
Gemeinsinn bedroht, ist die zunehmende
Polarisierung. Infolge
der Globalisierung tun sich innerhalb
der westlichen Gesellschaften
Gräben auf: Stadt gegen Land,
Jung gegen Alt, Arm gegen Reich.
Inwiefern gefährdet dies den
Zusammenhalt in unserem Land?
Natürlich gibt es all diese Gräben
auch bei uns. Aber glücklicherweise
sind sie dank den erwähnten ausgleichenden
Strukturen viel weniger
ausgeprägt als in Ländern wie den
USA oder England. Zwar wächst
auch bei uns die soziale Ungleichheit,
und wir müssen dafür sorgen, dass
es künftig nicht zu harten sozialen
Auseinandersetzungen kommt. Aber
dank unserer tiefen Staatsverschuldung,
dank tiefen Mehrwerts- und
Vermögenssteuern sind wir im
internationalen Vergleich in einer
komfortablen Lage, die uns für die
kommenden Jahre finanziellen
Handlungsspielraum gibt, um soziale
Konflikte abzufedern.
Wie sehr beunruhigt Sie der Stadt-
Land-Graben, der zunehmend in
politischen Abstimmungen auftritt?
Obwohl unser Land als exportorientierte
Volkswirtschaft besonders stark
der Globalisierung ausgesetzt ist,
hat sich in der Schweiz bis jetzt kein
ernstzunehmender Stadt-Land-
Graben ausgebildet. Im Gegensatz
zu anderen Ländern wurde die Peripherie
nicht vernachlässigt und
dank des Finanzausgleichs wurde
das Entstehen eines wirtschaftlichen
Grabens verhindert. Das Kernproblem
der erwähnten Abstimmungsresultate
liegt nicht an einem
Stadt-Land-Graben, sondern daran,
dass die Kantonsaufteilung bis auf
den Kanton Jura noch dieselbe ist wie
im 19. Jahrhundert. Die kleinen Innerund
Ostschweizer Kantone haben
schlicht zu viel Gewicht. Wenn
Obwalden ähnlich viele Einwohner
hat wie die Agglomerationsgemeinden
Köniz oder Uster und gleichzeitig
über eine halbe Standesstimme
verfügt, dann stimmt das System
nicht mehr.
«Solidarität ist keine
Einbahnstrasse.
Wir können nicht
auf Kosten der Jungen
leben und in
der Pandemie ihre
Solidarität einfordern.»
Einen Systemfehler gibt es auch bei
der AHV. Obwohl wir immer älter
werden, werden wir immer noch im
gleichen Alter pensioniert wie bei
Einführung der AHV im Jahre 1948.
Die finanzielle Last tragen die
Jungen. Droht die Gefahr eines
«Clashs der Generationen»?
Das könnte tatsächlich zum Problem
werden. Die Klimademonstrationen
haben gezeigt, dass die Jungen sich
um ihre Zukunft sorgen, dasselbe
könnte auch bei der Altersvorsorge
passieren. Solidarität ist keine Einbahnstrasse.
Wir können nicht auf
Kosten der Jungen leben und gleichzeitig
in Corona-Zeiten von den
Jungen verlangen, mit den Alten
solidarisch zu sein. Wir müssen die
demografische Entwicklung bei
den Sozialwerken stärker berücksichtigen
und diese wieder ins Gleichgewicht
bringen.
Braucht es konkret also eine
Erhöhung des Rentenalters?
Für mich ist völlig klar, dass wir länger
arbeiten müssen und dass es eine
Flexibilisierung des Rentenalters
braucht. Ebenso klar ist, dass Frauen
das gleiche Rentenalter wie Männer
haben sollten. Aber die Voraussetzung
dafür ist gleicher Lohn für gleiche
Arbeit.
Sie haben sich stets für die Entwicklungshilfe
eingesetzt und waren
unter anderem in der Geschäftsleitung
des Vereins Dritte-Welt-
Läden. Ist dieser Gedanke der internationalen
Solidarität ein Relikt
des 20. Jahrhunderts?
Das glaube ich nicht. Nach wie vor
fliessen in der Schweiz 0,5 Prozent
des Bruttonationaleinkommens in
die öffentliche Entwicklungshilfe und
privat wird sehr viel gespendet.
Zudem sind Dritte-Welt-Läden und
Fair Trade heute viel etablierter als
damals. Und auch die Kritik an der
Textilindustrie trägt inzwischen
Früchte: Labels, die Textilien aus
Engagement für die Zukunft: Klimastreik vom September 2020.
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