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GSa154-Mai-21 Gleiche Bildungschancen

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Thema: <strong>Gleiche</strong> <strong>Bildungschancen</strong><br />

und welche Variablen den größten Einfluss<br />

auf die Schulleistung von Sonderschüler:innen<br />

haben. Er fand heraus,<br />

dass die Zahl der Schulbesuchsjahre im<br />

Sonderschulsystem den größten Effekt<br />

hat, allerdings im negativen Sinn. „Je<br />

länger ein Schüler in der Förderschule<br />

zugebracht hat, desto schlechter sind<br />

sowohl seine Rechtschreibleistungen als<br />

auch seine Intelligenzwerte“ (ebd., 58).<br />

Mit Wocken lässt sich festhalten, dass<br />

die Sonderschule nicht nur lernineffizient<br />

ist, sondern zur „Verdummung“<br />

beiträgt.<br />

Kaum „Möglichkeitsräume“ für<br />

ehemalige Sonderschüler:innen<br />

Van Essen hat in seiner Studie über<br />

„Soziale Ungleichheit, Bildung und Habitus“<br />

(2013) im Rahmen einer mündlichen<br />

Befragung die „Möglichkeitsräume“<br />

von 19 ehemaligen Sonderschüler:innen<br />

ausgelotet. Ihre Möglichkeiten<br />

sind geprägt von Diskontinuität, Unsicherheit<br />

und prekären Verhältnissen, so<br />

Unauffällige Selbsterhaltung und nicht<br />

Selbstverwirklichung oder individuelle<br />

Entfaltungsmöglichkeiten stehen auf der<br />

Tagesordnung.<br />

der Wissenschaftler. Mit Zitaten aus den<br />

Interviews kann er eindrucksvoll das<br />

Erleben von Stigmatisierung und Scham<br />

dokumentieren. Die Gründe für ihr<br />

Schulversagen beziehen die Interviewten<br />

auf ihre eigene Leistungsunfähigkeit.<br />

Van Essen deutet dies als ein klares<br />

Indiz, dass die gesellschaftlichen Mechanismen<br />

zur Individualisierung sozialer<br />

Probleme bestens funktionieren.<br />

Enttäuschung über die Aussichtslosigkeit<br />

auf eine berufliche Ausbildung<br />

und auf eine gesicherte Erwerbstätigkeit,<br />

die durch Ermutigung in berufsvorbereitenden<br />

und überbetrieblichen<br />

Maßnahmen aufgefangen werden soll,<br />

herrscht bei den Befragten vor. Ihre<br />

Orientierung an einem kleinbürgerlichen<br />

Lebensstil ist geprägt von dem<br />

Wunsch, handfeste Nöte und Bedingungen<br />

der Unsicherheit zu beenden.<br />

Unauffällige Selbsterhaltung und nicht<br />

Selbstverwirklichung oder individuelle<br />

Entfaltungsmöglichkeiten stehen auf der<br />

Tagesordnung. Van Essen vermutet, dass<br />

angesichts zunehmender Verengung der<br />

arbeitsmarktbezogenen Möglichkeiten<br />

im Alter diese Orientierung möglicherweise<br />

brüchig wird und gefährdet<br />

ist. „Selbstaufgabe, Nonkonformismus<br />

oder radikale Gesellschaftskritik wären<br />

dann denkbar“<br />

(ebd., 254). Prof.<br />

Haeberlin hat in<br />

seiner Schweizer<br />

Langzeitstudie<br />

über „Langzeitwirkungen<br />

schulischer Integration“<br />

(2011) die beruflichen Chancen<br />

von jungen Erwachsenen, die in<br />

Sonderklassen separiert gelernt hatten,<br />

mit vergleichbaren jungen Menschen<br />

in Regelklassen verglichen. Er fand heraus:<br />

Wer separiert gelernt hat, hat später<br />

keinen Zugang zu anspruchsvolleren<br />

Berufen. Ausbildungsabbrüche und<br />

Langzeitarbeitslosigkeit sind für diese<br />

Gruppe charakteristisch, Dagegen finden<br />

junge Menschen, die in Regelklassen<br />

gelernt haben, leichter Anschluss an<br />

eine berufliche Ausbildung.<br />

Sie haben sogar<br />

gewisse Chancen auf<br />

eine Ausbildung in<br />

mittleren und höheren<br />

Segmenten der beruflichen<br />

Ausbildung.<br />

Parallel dazu konnte<br />

Haeberlin feststellen, dass die ehemals<br />

segregiert Lernenden ein geringeres<br />

Selbstwertgefühl hatten und über ein<br />

bedeutend kleineres Beziehungsnetzwerk<br />

verfügten.<br />

Ungleichheitsfördernde<br />

Strukturen, Haltungen und<br />

Prozesse im „Schonraum“<br />

des Sonderschulsystems<br />

Gerechtfertigt wird die Sonderschule<br />

mit dem Argument, sie böte im Interesse<br />

des Kindeswohls Kindern mit Behinderungen<br />

einen „Schutz- und Schonraum“<br />

vor dem entmutigenden und<br />

beschämenden Leistungsvergleich mit<br />

leistungsstärkeren Kindern und Jugendlichen.<br />

Sie könne in kleinen Gruppen<br />

mit individueller Förderung durch speziell<br />

ausgebildete Sonderpädagog:innen<br />

ihre Persönlichkeits- und Lernentwicklung<br />

bestmöglich fördern.<br />

Dieses Narrativ vom „Schonraum“<br />

wurde von dem Verband deutscher<br />

Tatsächlich erweist sich der „Schonraum“<br />

für die Persönlichkeits- und Lernentwicklung<br />

der Sonderschüler:innen als fatale<br />

„Schonraumfalle“.<br />

Hilfsschulen, der heute Verband Sonderpädagogik<br />

(vds) heißt, in der „Denkschrift<br />

zu dem heilpädagogischen Sonderschulwesen“<br />

1954 eingesetzt und<br />

stark gemacht, um den Ausbau der<br />

Hilfsschule als Kern des Sonderschulwesens<br />

in Westdeutschland politisch<br />

durchzusetzen (vgl. Schumann 2018).<br />

Es hat sich als sonderpädagogischer<br />

Mythos bis in unsere Zeit erhalten und<br />

wird von der herrschenden Bildungspolitik<br />

sowie großen Teilen der Gesellschaft<br />

und der Lehrerschaft nicht hinterfragt.<br />

Dabei drängt sich doch gerade<br />

unter dem Vorzeichen von Inklusion die<br />

Frage auf, warum die allgemeine Schule<br />

nicht endlich so gestaltet wird, dass<br />

sie allen Kindern gerecht wird, wie das<br />

die UNESCO schon seit der Salamanca-Weltkonferenz<br />

von 1994 fordert und<br />

wie dies in vielen Ländern seitdem auch<br />

umgesetzt wird.<br />

Tatsächlich erweist sich der „Schonraum“<br />

für die Persönlichkeits- und Lernentwicklung<br />

der Sonderschüler:innen<br />

als fatale „Schonraumfalle“ (Schumann<br />

2007). Die im „Schonraum“ erzeugten<br />

„Wohlfühleffekte“ durch reduzierte Leistungsanforderungen<br />

können die negativen<br />

Effekte ungleichheitsfördernder,<br />

stigmatisierender Strukturen und defizitorientierter<br />

Haltungen, die das Lernen<br />

der Betroffenen behindern, nicht kompensieren<br />

(ebd., 191).<br />

Die Feststellungsverfahren zur Überprüfung<br />

eines sonderpädagogischen<br />

Förderbedarfs sind defizitorientiert und<br />

stigmatisierend. Davon sind allerdings<br />

auch die Kinder betroffen, die nachfolgend<br />

in allgemeinen Schulen sonderpädagogisch<br />

gefördert werden. Barow<br />

und Östlund (2019) verorten die Logik<br />

des Verfahrens in dem traditionellen<br />

sonderpädagogischen Denken und<br />

dem medizinischen Modell von Behinderung.<br />

Danach ist immer das Kind das<br />

Problem und nicht die fehlende Anpassungsfähigkeit<br />

des Systems an das Kind.<br />

Auch Koßmann (2019) stellt fest, dass<br />

im Rahmen der Feststellung der Förderbedarf<br />

weitgehend unabhängig von<br />

8<br />

GS aktuell 154 • <strong>Mai</strong> 20<strong>21</strong>

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