GSa154-Mai-21 Gleiche Bildungschancen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Thema: <strong>Gleiche</strong> <strong>Bildungschancen</strong><br />
und welche Variablen den größten Einfluss<br />
auf die Schulleistung von Sonderschüler:innen<br />
haben. Er fand heraus,<br />
dass die Zahl der Schulbesuchsjahre im<br />
Sonderschulsystem den größten Effekt<br />
hat, allerdings im negativen Sinn. „Je<br />
länger ein Schüler in der Förderschule<br />
zugebracht hat, desto schlechter sind<br />
sowohl seine Rechtschreibleistungen als<br />
auch seine Intelligenzwerte“ (ebd., 58).<br />
Mit Wocken lässt sich festhalten, dass<br />
die Sonderschule nicht nur lernineffizient<br />
ist, sondern zur „Verdummung“<br />
beiträgt.<br />
Kaum „Möglichkeitsräume“ für<br />
ehemalige Sonderschüler:innen<br />
Van Essen hat in seiner Studie über<br />
„Soziale Ungleichheit, Bildung und Habitus“<br />
(2013) im Rahmen einer mündlichen<br />
Befragung die „Möglichkeitsräume“<br />
von 19 ehemaligen Sonderschüler:innen<br />
ausgelotet. Ihre Möglichkeiten<br />
sind geprägt von Diskontinuität, Unsicherheit<br />
und prekären Verhältnissen, so<br />
Unauffällige Selbsterhaltung und nicht<br />
Selbstverwirklichung oder individuelle<br />
Entfaltungsmöglichkeiten stehen auf der<br />
Tagesordnung.<br />
der Wissenschaftler. Mit Zitaten aus den<br />
Interviews kann er eindrucksvoll das<br />
Erleben von Stigmatisierung und Scham<br />
dokumentieren. Die Gründe für ihr<br />
Schulversagen beziehen die Interviewten<br />
auf ihre eigene Leistungsunfähigkeit.<br />
Van Essen deutet dies als ein klares<br />
Indiz, dass die gesellschaftlichen Mechanismen<br />
zur Individualisierung sozialer<br />
Probleme bestens funktionieren.<br />
Enttäuschung über die Aussichtslosigkeit<br />
auf eine berufliche Ausbildung<br />
und auf eine gesicherte Erwerbstätigkeit,<br />
die durch Ermutigung in berufsvorbereitenden<br />
und überbetrieblichen<br />
Maßnahmen aufgefangen werden soll,<br />
herrscht bei den Befragten vor. Ihre<br />
Orientierung an einem kleinbürgerlichen<br />
Lebensstil ist geprägt von dem<br />
Wunsch, handfeste Nöte und Bedingungen<br />
der Unsicherheit zu beenden.<br />
Unauffällige Selbsterhaltung und nicht<br />
Selbstverwirklichung oder individuelle<br />
Entfaltungsmöglichkeiten stehen auf der<br />
Tagesordnung. Van Essen vermutet, dass<br />
angesichts zunehmender Verengung der<br />
arbeitsmarktbezogenen Möglichkeiten<br />
im Alter diese Orientierung möglicherweise<br />
brüchig wird und gefährdet<br />
ist. „Selbstaufgabe, Nonkonformismus<br />
oder radikale Gesellschaftskritik wären<br />
dann denkbar“<br />
(ebd., 254). Prof.<br />
Haeberlin hat in<br />
seiner Schweizer<br />
Langzeitstudie<br />
über „Langzeitwirkungen<br />
schulischer Integration“<br />
(2011) die beruflichen Chancen<br />
von jungen Erwachsenen, die in<br />
Sonderklassen separiert gelernt hatten,<br />
mit vergleichbaren jungen Menschen<br />
in Regelklassen verglichen. Er fand heraus:<br />
Wer separiert gelernt hat, hat später<br />
keinen Zugang zu anspruchsvolleren<br />
Berufen. Ausbildungsabbrüche und<br />
Langzeitarbeitslosigkeit sind für diese<br />
Gruppe charakteristisch, Dagegen finden<br />
junge Menschen, die in Regelklassen<br />
gelernt haben, leichter Anschluss an<br />
eine berufliche Ausbildung.<br />
Sie haben sogar<br />
gewisse Chancen auf<br />
eine Ausbildung in<br />
mittleren und höheren<br />
Segmenten der beruflichen<br />
Ausbildung.<br />
Parallel dazu konnte<br />
Haeberlin feststellen, dass die ehemals<br />
segregiert Lernenden ein geringeres<br />
Selbstwertgefühl hatten und über ein<br />
bedeutend kleineres Beziehungsnetzwerk<br />
verfügten.<br />
Ungleichheitsfördernde<br />
Strukturen, Haltungen und<br />
Prozesse im „Schonraum“<br />
des Sonderschulsystems<br />
Gerechtfertigt wird die Sonderschule<br />
mit dem Argument, sie böte im Interesse<br />
des Kindeswohls Kindern mit Behinderungen<br />
einen „Schutz- und Schonraum“<br />
vor dem entmutigenden und<br />
beschämenden Leistungsvergleich mit<br />
leistungsstärkeren Kindern und Jugendlichen.<br />
Sie könne in kleinen Gruppen<br />
mit individueller Förderung durch speziell<br />
ausgebildete Sonderpädagog:innen<br />
ihre Persönlichkeits- und Lernentwicklung<br />
bestmöglich fördern.<br />
Dieses Narrativ vom „Schonraum“<br />
wurde von dem Verband deutscher<br />
Tatsächlich erweist sich der „Schonraum“<br />
für die Persönlichkeits- und Lernentwicklung<br />
der Sonderschüler:innen als fatale<br />
„Schonraumfalle“.<br />
Hilfsschulen, der heute Verband Sonderpädagogik<br />
(vds) heißt, in der „Denkschrift<br />
zu dem heilpädagogischen Sonderschulwesen“<br />
1954 eingesetzt und<br />
stark gemacht, um den Ausbau der<br />
Hilfsschule als Kern des Sonderschulwesens<br />
in Westdeutschland politisch<br />
durchzusetzen (vgl. Schumann 2018).<br />
Es hat sich als sonderpädagogischer<br />
Mythos bis in unsere Zeit erhalten und<br />
wird von der herrschenden Bildungspolitik<br />
sowie großen Teilen der Gesellschaft<br />
und der Lehrerschaft nicht hinterfragt.<br />
Dabei drängt sich doch gerade<br />
unter dem Vorzeichen von Inklusion die<br />
Frage auf, warum die allgemeine Schule<br />
nicht endlich so gestaltet wird, dass<br />
sie allen Kindern gerecht wird, wie das<br />
die UNESCO schon seit der Salamanca-Weltkonferenz<br />
von 1994 fordert und<br />
wie dies in vielen Ländern seitdem auch<br />
umgesetzt wird.<br />
Tatsächlich erweist sich der „Schonraum“<br />
für die Persönlichkeits- und Lernentwicklung<br />
der Sonderschüler:innen<br />
als fatale „Schonraumfalle“ (Schumann<br />
2007). Die im „Schonraum“ erzeugten<br />
„Wohlfühleffekte“ durch reduzierte Leistungsanforderungen<br />
können die negativen<br />
Effekte ungleichheitsfördernder,<br />
stigmatisierender Strukturen und defizitorientierter<br />
Haltungen, die das Lernen<br />
der Betroffenen behindern, nicht kompensieren<br />
(ebd., 191).<br />
Die Feststellungsverfahren zur Überprüfung<br />
eines sonderpädagogischen<br />
Förderbedarfs sind defizitorientiert und<br />
stigmatisierend. Davon sind allerdings<br />
auch die Kinder betroffen, die nachfolgend<br />
in allgemeinen Schulen sonderpädagogisch<br />
gefördert werden. Barow<br />
und Östlund (2019) verorten die Logik<br />
des Verfahrens in dem traditionellen<br />
sonderpädagogischen Denken und<br />
dem medizinischen Modell von Behinderung.<br />
Danach ist immer das Kind das<br />
Problem und nicht die fehlende Anpassungsfähigkeit<br />
des Systems an das Kind.<br />
Auch Koßmann (2019) stellt fest, dass<br />
im Rahmen der Feststellung der Förderbedarf<br />
weitgehend unabhängig von<br />
8<br />
GS aktuell 154 • <strong>Mai</strong> 20<strong>21</strong>