GSa154-Mai-21 Gleiche Bildungschancen
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Praxis: <strong>Gleiche</strong> <strong>Bildungschancen</strong><br />
Rundschau<br />
Rundschau<br />
© Yvonne Most<br />
Dr. Kerstin Schumann<br />
ist Geschäftsführerin im Kompetenzzentrum<br />
geschlechtergerechte Kinderund<br />
Jugendhilfe Sachsen-Anhalt e. V.<br />
Ihre fachlichen Arbeitsschwerpunkte<br />
liegen in den Themenfeldern<br />
Geschlechtervielfalt, Pädagogik der<br />
Vielfalt und Genderkompetenz in<br />
der Kinder- und Jugendhilfe.<br />
Dr. Heinz-Jürgen Voß<br />
ist Professor für Sexualwissenschaft<br />
und Sexuelle Bildung an der Hochschule<br />
Merseburg. Er forscht und<br />
arbeitet praxisorientiert zu Prävention<br />
sexualisierter Gewalt und zur Förderung<br />
geschlechtlicher und sexueller<br />
Selbstbestimmung.<br />
folgt – hier fokussiert auf sexuelle Orientierung:<br />
„Junge Menschen, egal welcher<br />
sexuellen Orientierung, brauchen die unverbrüchliche<br />
Zusage, dass sie angenommen<br />
sind, wie sie sind. Wir glauben, dass<br />
Gott alle Menschen gleich liebt, daher darf<br />
die Kirche nicht gegen ihre eigenen Grundsätze<br />
handeln und Menschen ausschließen<br />
und diskriminieren“ (BDKJ 2020).<br />
Entwicklungen in Richtung geschlechtlicher<br />
(und sexueller) Selbstbestimmung<br />
sind in Gang und werden in ganzer gesellschaftlicher<br />
Breite getragen – auch aus<br />
„traditionellen“ gesellschaftlichen Kontexten<br />
heraus. Dennoch zeigt sich auch,<br />
dass diese Aktivitäten weiterhin erforderlich<br />
sind, da Studien noch immer in<br />
erheblichem Maß Diskriminierung und<br />
Gewalt gegenüber LSBTI 1 in Deutschland<br />
nachweisen, mit gravierenden Auswirkungen<br />
für die Betroffenen: So geben<br />
in internationalen Studien, inklusive der<br />
Europäischen Union, rund 20 % der befragten<br />
Schwulen und Lesben an, mindestens<br />
einen Suizidversuch unternommen<br />
zu haben. Bei transgeschlechtlichen<br />
Personen sind es sogar 30 bis 40 %, die<br />
eine versuchte Selbsttötung angeben. Für<br />
intergeschlechtliche Personen muss die<br />
Zahl auf eine ähnliche Größenordnung<br />
geschätzt werden. Die Betroffenen reagie-<br />
ren dabei oft auf massive erlebte Diskriminierung<br />
und Gewalt. (Vgl. u. a. Council<br />
of Europe 2011; Franzen & Sauer 2010;<br />
Fundamental Rights Agency 2014.)<br />
Handlungsmöglichkeiten und Hilfestellungen<br />
für die pädagogische Praxis<br />
Das Vorhandensein geschlechtlicher<br />
Vielfalten ist also eine gesellschaftliche<br />
Realität. Nun ist es wichtig, dass diese<br />
auch zur Selbstverständlichkeit in<br />
Schulen und Horten wird. Es besteht<br />
der pädagogische Bedarf, Angebote zu<br />
schaffen und Kinder und Jugendliche zu<br />
unterstützen, für sich selbst Perspektiven<br />
zu sehen und sich mit ihren Lebensentwürfen<br />
in Lehr- und Unterrichtsmaterialien<br />
zu entdecken. Ideen und Möglichkeiten<br />
gibt es viele.<br />
Es ist wichtig, dass zum Beispiel beim<br />
Thema Familie auf Materialien zurückgegriffen<br />
wird, die ganz selbstverständlich<br />
Vielfalt aufzeigen. Empfehlenswert<br />
sind die Arbeitsblätter im Themenheft<br />
Was zum Kuckuck kann Familie sein von<br />
Alina Birnschein. Darin zu finden sind,<br />
neben einer Erzählung über Conrad<br />
Kuckuckskind, diverse Ideen für einen<br />
Familiensteckbrief, der nicht vom binären<br />
Familienmodell ausgeht. Unterstützt<br />
werden kann das Thema durch das Familienspiel<br />
von Kinderwelten Berlin<br />
oder der Familienpuzzlebox des KgKJH.<br />
Bücher, die mit Grundschülerinnen und<br />
Grundschülern gelesen werden können,<br />
sind beispielsweise Mia und die Regenbogenfamilie<br />
von Lilly Fröhlich oder das<br />
Familienbuch von Edward Summanen<br />
und Johanna Arpiainen.<br />
Auch zum Thema Intergeschlechtlichkeit<br />
gibt es mittlerweile Unterrichtsbausteine<br />
für die Grundschule, die sich um<br />
das Kinderbuch PS: Es gibt Lieblingseis<br />
von Luzie Loda ranken. An der Erstellung<br />
hat die Internationale Vereinigung<br />
Intergeschlechtlicher Menschen – OII<br />
Germany e. V. mitgewirkt. Eingeschätzt<br />
wird das Material nicht nur als empowernd<br />
für intergeschlechtliche Kinder,<br />
sondern auch als grundlegend in<br />
der Auseinandersetzung mit Vorurteilen<br />
und im Entdecken von Gemeinsamkeiten<br />
und Verschiedenheiten. Die Unterrichtsbausteine<br />
stehen zum kostenfreien<br />
Download 2 zur Verfügung.<br />
Im Themenfeld Trans* empfiehlt sich<br />
die Nutzung der Bücher Leon, Hugo und<br />
die Trans*identität von Thorben Rump<br />
oder Prinz_essin von Rabea- Jasmin<br />
Trans*, inter*, divers –<br />
Definitionen<br />
Trans* bzw. transgeschlechtliche<br />
Menschen wollen oder können nicht<br />
als das Geschlecht leben, das bei<br />
der Geburt für sie eingetragen wurde.<br />
Zum Beispiel haben die Eltern<br />
ihr Kind als Jungen eintragen lassen<br />
und aufgezogen, das Kind sieht sich<br />
aber selbst als Mädchen. Oder es<br />
ordnet sich weder als Junge noch als<br />
Mädchen ein und definiert für sich<br />
ein ganz eigenes Geschlecht. Trans*-<br />
Kinder wissen dabei oft sehr lange,<br />
welches Geschlecht für sie passt –<br />
der Weg zum inneren Coming-out<br />
und dann zum äußeren Coming-out<br />
ist aber schwierig, weil damit weitreichende<br />
gesellschaftliche Konsequenzen<br />
– medizinische und juristische<br />
Prüfungen, Nachteile auf dem<br />
Arbeitsmarkt etc. – verbunden sein<br />
können.<br />
Inter* bzw. intergeschlechtliche<br />
Men schen haben Körper, die sich<br />
nicht eindeutig in die Kategorien<br />
„weiblich“ oder „männlich“ einordnen<br />
lassen. Lange wurden diese<br />
Personen gesellschaftlich und medizinisch<br />
als Problem betrachtet und<br />
nicht als Menschen mit einer eigenen<br />
Geschlechtsidentität. Das ändert<br />
sich gerade. So hat der Deutsche<br />
Bundestag in Reaktion auf ein Urteil<br />
des Bundesverfassungsgerichts im<br />
Jahr 2018 den dritten Geschlechtseintrag<br />
„divers“ eingeführt. Damit<br />
sollen Voraussetzungen entstehen,<br />
wertschätzend mit Intergeschlechtlichen<br />
umzugehen. Historisch und<br />
aktuell werden intergeschlechtliche<br />
Kinder häufig medizinischen Eingriffen<br />
unterzogen, um als „Mädchen“<br />
oder „Junge“ zu erscheinen. Diese<br />
Eingriffe haben in der Regel schwere<br />
Nebenwirkungen. Daher sind in der<br />
Medizin und gesellschaftspolitisch<br />
Diskussionen zur Veränderung der<br />
Behandlungspraxis im Gang, mit dem<br />
Ziel, dass intergeschlechtliche Menschen<br />
im entscheidungsfähigen Alter<br />
selbst über geschlechtszuweisende<br />
und -vereindeutigende Eingriffe entscheiden<br />
sollen.<br />
GS aktuell 154 • <strong>Mai</strong> 20<strong>21</strong><br />
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