GSa154-Mai-21 Gleiche Bildungschancen
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Praxis: <strong>Gleiche</strong> Aus <strong>Bildungschancen</strong><br />
der Forschung<br />
Kerstin Merz-Atalik<br />
Chancengerechtigkeit für Schulkinder<br />
mit Migrationshintergrund<br />
Was hat Lehrer*innenbildung damit zu tun?<br />
Kontinuierlich werden im Rahmen nationaler Bildungsberichte und internationaler<br />
Vergleichsstudien (z. B. TIMSS, PISA) deutliche Disparitäten in der<br />
Bildungsbeteiligung von Schüler*innen mit und ohne Migrationshintergrund in<br />
Deutschland dokumentiert.<br />
Zu den Anzeichen einer Bildungsbenachteiligung<br />
zählen (Merz-<br />
Atalik 2014c): 1. höherer Anteil<br />
an Klassenwiederholungen und Zurückstellungen<br />
beim Schuleintritt; 2. niedrigerer<br />
Prozentsatz in Sekundarschulen<br />
mit höherem akademischen Bildungsniveau<br />
(Realschule, Gymnasium);<br />
3. Überrepräsentation in Schulen mit<br />
niedrigerem akademischen Bildungsniveau<br />
(Hauptschule); 4. deutliche<br />
Überrepräsentation in Sonderschulen,<br />
insbesondere von männlichen Schülern<br />
in Sonderschulen für Lernbehinderte;<br />
5. geringere und nicht vorhandene<br />
Schulabschlüsse: Schüler*innen nichtdeutscher<br />
Staatsangehörigkeit haben<br />
doppelt so häufig keinen Hauptschulabschluss<br />
und erreichen dreimal seltener<br />
ein Abitur wie deutsche Jugendliche<br />
(Autorengruppe Bildungsbericht 2016).<br />
Die bildungsbezogenen Disparitäten<br />
haben sich dabei über die Einwanderungsgenerationen<br />
nur bedingt<br />
reduziert und sind auch in der dritten<br />
Generation noch relevant.<br />
Von der einseitigen<br />
Problemwahrnehmung zu<br />
fehlgeleiteten Interventionen<br />
In der (Fach-)Öffentlichkeit werden<br />
immer noch vorrangig „individuelle,<br />
gruppenbezogene Defizite“ seitens der<br />
Schüler*innen mit Migrationshintergrund<br />
als Ursachen für die Diskrepanzen<br />
diskutiert, wie mangelnde Deutschkenntnisse,<br />
unzureichende Unterstützungs-<br />
und Bildungsinfrastrukturen für<br />
den Bildungserfolg, kulturelle und/oder<br />
ethnische Differenzen, ein niedrigeres<br />
Bildungsniveau der Migranteneltern<br />
oder deren geringere Kompetenz zur<br />
Anregung von Bildung sowie der Unterstützung<br />
des Lernens ihrer Kinder. 2016<br />
zeigte sich im migrationsspezifischen<br />
Bildungsbericht der Bundesregierung,<br />
dass trotz weiterhin bestehender Disparitäten<br />
sich im Sekundarbereich die<br />
Kompetenzen der Schüler*innen mit<br />
Migrationshintergrund leicht verbessert<br />
hatten. Die jedoch gleichwohl bestehenden<br />
Kompetenzrückstände gegenüber<br />
Mitschüler*innen ohne Migrationshintergrund<br />
stünden jedoch augenscheinlich<br />
in einem „engeren Zusammenhang<br />
mit sozioökonomischen Faktoren<br />
als etwa mit der Familiensprache<br />
oder dem Geburtsland der Eltern“<br />
(Autorengruppe Bildungsbericht 2016,<br />
161). Die Berichterstatter sind überzeugt,<br />
„dass es nicht einen einzigen<br />
ursächlichen Mechanismus gibt, sondern<br />
viele Faktoren auf unterschiedlichen<br />
Ebenen von Bedeutung sind. Im<br />
Schulbereich zeigt sich beispielsweise<br />
oftmals, dass bereits unter Berücksichtigung<br />
weniger Personenmerkmale wie<br />
der sozioökonomischen Herkunft der<br />
Kinder und Jugendlichen (Bildungsstand<br />
der Eltern oder Betroffenheit von<br />
Risikolagen) oder des Geschlechts nur<br />
noch ein geringer ‚Migrationseffekt‘ in<br />
Bezug auf den Bildungserfolg feststellbar<br />
ist“ (ebd., 162). Es sind also vermutlich<br />
nicht vorrangig migrationsbedingte<br />
Faktoren, wie die Sprache, die Kultur<br />
oder der ethnische Hintergrund, die zu<br />
der Bildungsbenachteiligung führen.<br />
In derselben Studie wurde auch erstmals<br />
darauf aufmerksam gemacht, dass<br />
besondere Potenziale der Menschen mit<br />
einem Migrationshintergrund „oftmals<br />
nicht oder nicht hinreichend genutzt“<br />
(Autorengruppe Bildungsbericht 2016,<br />
162) würden. Zusätzliche Ressourcen,<br />
welche die Schüler*innen mit Migrationshintergrund<br />
in die Schulen mitbringen<br />
(wie Mehrsprachigkeit, interkulturelle<br />
Kompetenz, internationale<br />
Netzwerke und Wissensbestände)<br />
werden ungenügend als Chancen für<br />
Lernen und Bildung nutzbar gemacht.<br />
Nur wenige Schulen haben explizite<br />
Unterrichtsangebote in den Erstsprachen<br />
der Schüler*innen, welche gleichzeitig<br />
auch abschlussbezogen durch<br />
Noten für die Zeugnisse verwertbar<br />
wären (wie das Fach Deutsch bei den<br />
deutschsprachigen Schüler*innen).<br />
Während ca. 86 % der Schüler*innen in<br />
Deutschland Englisch als erste Fremdsprache<br />
erlernen, gibt es nur für wenige<br />
der Migrantensprachen in Deutschlands<br />
Gesellschaft, wie bspw. Russisch<br />
oder Türkisch (die beiden in Deutschland<br />
am häufigsten gesprochenen Zweitsprachen),<br />
ein systematisches Unterrichtsangebot.<br />
Dabei würden diese gerade<br />
in vielen beruflichen Handlungsfeldern,<br />
wie medizinischen, sozialen oder<br />
pädagogischen Berufen, aber auch im<br />
Handel und in der globalen Wirtschaft<br />
angesichts der Vielfalt der Kund*innen<br />
oder Patient*innen durchaus von Vorteil<br />
sein. Im staatlichen Bildungssystem<br />
wurde es weitgehend versäumt, Konzepte<br />
für mehrsprachige Lernansätze<br />
zu entwickeln, die neben dem bilingualen<br />
Unterricht mit anerkannten Fremdsprachen<br />
(z. B. Englisch–Deutsch) mit<br />
Migrantensprachen angelegt sind. Eine<br />
Ausnahme sind die Deutsch-Fremdsprachlichen<br />
Europaschulen. Es gibt<br />
einen deutlichen Mangel an Angeboten<br />
im staatlichen Bildungssystem, die Erstsprache<br />
auf einem der entsprechenden<br />
Bildungsstufe angemessenem Niveau<br />
akademisch weiterzuentwickeln (z. B.<br />
Russisch, Türkisch und Polnisch). In<br />
einigen skandinavischen Ländern haben<br />
die Kinder dahingegen bereits seit den<br />
1990er-Jahren einen schulgesetzlichen<br />
GS aktuell 154 • <strong>Mai</strong> 20<strong>21</strong><br />
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