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Karl Heinz Bohrer: Die Zeitlichkeit der modernen Literatur

aus Marbacher Katalog 68: "Die Seele. Die Dauerausstellung im Literaturmuseum der Moderne", hrsg. von Heike Gfrereis und Ulrich Raulff. Mehr: https://www.dla-marbach.de/shop/shop-einzelansicht/?tt_products[backPID]=151&tt_products[product]=708&cHash=48922096829b9f1b00aec9eb71598f60

aus Marbacher Katalog 68: "Die Seele. Die Dauerausstellung im Literaturmuseum der Moderne", hrsg. von Heike Gfrereis und Ulrich Raulff. Mehr: https://www.dla-marbach.de/shop/shop-einzelansicht/?tt_products[backPID]=151&tt_products[product]=708&cHash=48922096829b9f1b00aec9eb71598f60

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Referenz an Plötzlichkeitswahrnehmungen zu betonen. Eine<br />

Emphatisierung von Plötzlichkeit im surrealen Sinne ist beispielsweise<br />

ein Satz wie: »<strong>Die</strong> Zuschauer erstarren, wenn <strong>der</strong><br />

Zug vorbeifährt.« 18 Man hat in dieser Plötzlichkeit ein Erschrekken<br />

vor dem Gesicht <strong>der</strong> Medusa gesehen. 19<br />

Becketts Darstellung einer absoluten Gegenwart (in<br />

Differenz zu Kafka) impliziert a priori ein ewiges Präsens ohne<br />

Zukunft. Das ist ein Gemeinplatz <strong>der</strong> Beckett-Lektüre. <strong>Die</strong> Helden<br />

in Endspiel und Warten auf Godot sind sprichwörtlich integriert<br />

in die Groteske eines Immergleichen, das unserer auf<br />

stets erneuerbare Finalität und Erwartung des Neuen angelegten<br />

Zivilisation spottet. Adornos Versuch, das ›Endspiel‹ zu<br />

verstehen, ist an dieser negativen Metaphysik gescheitert, weil<br />

er die Abwesenheit einer Sinnerfüllung nicht in <strong>der</strong> Form suchte,<br />

son<strong>der</strong>n in einem inhaltlichen Argument. Dabei geht es aber<br />

darum, die Imagination <strong>der</strong> schieren Gegenwärtigkeit als Bekketts<br />

imaginativ-ästhetische Performance zu erkennen. Nicht<br />

indem wir Becketts Szene als Topos für Zukunftslosigkeit, im<br />

Sinne einer kulturkritischen Formel lesen, son<strong>der</strong>n indem wir<br />

ihre Inkommensurabilität in <strong>der</strong> Darstellung möglicherweise<br />

sogar genießen, reagieren wir angemessen auf den vor allem<br />

intensiven Ausdruck. Be cketts Präsens von Zuständen ist nämlich,<br />

durchaus ähnlich wie bei Kafka, zunächst als Epiphanie<br />

konstruiert. Bei Beckett haben sie aber einen komischen<br />

Effekt: Sie sind nicht die metaphorische Verhüllung einer Idee.<br />

Das ironische Endstück von Happy Days ist demnach als reine<br />

Poesie, als eine an<strong>der</strong>e Wahrnehmung emphatischer Zeit, also<br />

nicht kulturkritisch vermittelbar, zu empfinden. Winnies<br />

Schlusssatz »Oh, dies ist ein glücklicher Tag, dies wird wie<strong>der</strong><br />

ein glücklicher Tag gewesen sein!« ist zunächst einmal ein<br />

ungeheuerlicher Satz: nämlich Becketts Parodie, in <strong>der</strong> zeitlichen<br />

Reduktion auf eine nie endende Gegenwärtigkeit ein<br />

intensives Ereignis entdecken zu wollen. Beckett hat in seinem<br />

Essay über Proust die realistische und naturalistische<br />

<strong>Literatur</strong> verabschiedet. Also auch jene Form von psychologischer<br />

Erfahrung, die Happy Days als Kritik einer banal gewordenen<br />

Ehe versteht, hinter <strong>der</strong> eine an<strong>der</strong>e Utopie von Wirklichkeit<br />

zu konstruieren wäre.<br />

Nun lauert ein Einwand gegen diese Art von <strong>Zeitlichkeit</strong><br />

als Indiz <strong>der</strong> literarischen Mo<strong>der</strong>ne: Sie erscheine in einer<br />

avantgardistischen <strong>Literatur</strong>, die ihre Epoche hinter sich habe,<br />

sie sei, beson<strong>der</strong>s im Falle von Kafka und Beckett, zudem<br />

theorielastig, eher <strong>der</strong> Ausdruck eines Krisenbewusstseins<br />

denn ein praktikables Stilmodell. Hinter solch einem auf den<br />

ersten Blick wenn nicht einleuchtenden, so doch verständlichen<br />

Einwand wird indes das seit den 70er-Jahren aufkommende<br />

Motto ›Man erzählt wie<strong>der</strong>‹ sichtbar und mit ihm eine<br />

sich seitdem ausbreitende ebenso realistische wie auch banale<br />

Wie<strong>der</strong>gabe zeithistorischer Erfahrungen zwischen perspektivierter<br />

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Inwiefern<br />

das Gegenwartskriterium als ein imaginatives Verfahren<br />

nach wie vor relevant ist, ist daher abschließend an zwei für<br />

das 20. Jahrhun<strong>der</strong>t repräsentativen, durchaus erzählenden<br />

Romanen zu verdeutlichen: an William Faulkners Bürger-

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