Karl Heinz Bohrer: Die Zeitlichkeit der modernen Literatur
aus Marbacher Katalog 68: "Die Seele. Die Dauerausstellung im Literaturmuseum der Moderne", hrsg. von Heike Gfrereis und Ulrich Raulff. Mehr: https://www.dla-marbach.de/shop/shop-einzelansicht/?tt_products[backPID]=151&tt_products[product]=708&cHash=48922096829b9f1b00aec9eb71598f60
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und Reflexionen <strong>der</strong> Heldin stillgestellt werden: <strong>Die</strong> innere<br />
Zeit <strong>der</strong> Heldin verschlingt die chronologische äußere Zeit.<br />
Solche Gegenwartsobsession ist nicht abhängig von<br />
emphatischer Augenblicksdarstellung, die in <strong>der</strong> Nachfolge<br />
<strong>der</strong> Romantik mit dem schon erläuterten Plötzlichkeitsdiskurs<br />
im frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>t begann. Vielmehr zeigen Kafkas<br />
und Becketts Prosastücke, wie Zeitlosigkeit durch die Referenz<br />
an die schiere Gegenwart sowohl mit als auch ohne<br />
Momentanismusreferenz aufleuchtet. In <strong>der</strong> Beobachtung so<br />
genannter ›Zustände‹ in den Tagebüchern Kafkas zeigt sich<br />
ein präsentisches Gefühl ohne Zukunftsperspektive, weil solche<br />
Begriffe, die <strong>der</strong> Realität Zukunftsvisionen geben würden,<br />
aufgehoben sind. Das Einswerden mit reiner Gegenwärtigkeit<br />
im Raum, in <strong>der</strong> Situation ist die Folge. Kafka besteht auf einer<br />
puritanischen Wahrnehmung des Jetzt und verwehrt dem<br />
Temperament <strong>der</strong> Sprache, seiner eingeborenen Tendenz entsprechend,<br />
Hoffnungsperspektiven für morgen zu entwerfen.<br />
So werden die Kategorien des ›Fortschritts‹, <strong>der</strong> ›Entwicklung‹<br />
auch in den Romanen und Erzählungen depotenziert:<br />
<strong>Die</strong> Reduktion auf das Präsentische hat Kafka in <strong>der</strong> Tagebuchnotiz<br />
vom 20. November 1911 in <strong>der</strong> Metapher vom »stehenden<br />
Sturmlauf« charakterisiert. Kafkas Resistenz, den Eintritt<br />
von etwas Neuem anzunehmen, son<strong>der</strong>n das Neue als das<br />
immer schon Anwesende zu behaupten, schlägt sich in seiner<br />
parabolischen Prosa überall nie<strong>der</strong>. Sentenzen wie »<strong>der</strong> fliegende<br />
Pfeil ruht« sagen, dass es eigentlich keine Bewegung<br />
gibt. In Kafkas negativer Gegenwartsdarstellung lässt sich<br />
<strong>der</strong> Ausdruck von nichtstattfinden<strong>der</strong> Plötzlichkeit erkennen:<br />
»<strong>Die</strong> scheinbare Stille, mit welcher die Tage, die Jahreszeiten,<br />
die Generationen, die Jahrhun<strong>der</strong>te aufeinan<strong>der</strong>folgen,<br />
bedeutet Aufhorchen: so traben Pferde vor dem Wagen.« 15<br />
Insofern ließe sich Kafkas Beschränkung auf Gegenwartsdiagnose<br />
sogar als Konsequenz einer gebrochenen eschatologischen<br />
Erwartung relativieren, die die Plötzlichkeit als metaphysisches<br />
Zeichen versteht: »Der Messias wird erst<br />
kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst nach<br />
seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen,<br />
son<strong>der</strong>n am allerletzten.« 16<br />
Kafkas Hinweise auf eine nie vollendete Erfüllung <strong>der</strong><br />
Zeit lassen sich nicht, wie es häufig geschieht, auf eine philosophisch-analoge<br />
Systematik beziehen, son<strong>der</strong>n auf eine<br />
interne Erklärung: Kafkas Bild von <strong>der</strong> ›Wunde«, die geschlagen<br />
wurde und zwar »durch einen Blitz, <strong>der</strong> noch andauert«. 17<br />
<strong>Die</strong> Reduktion <strong>der</strong> langzeitlichen Erwartung auf die ausschließliche<br />
Gegenwart zeigt sich in den Romanen als wie<strong>der</strong>holte<br />
Emphatisierung des Raumes: Das Präsens wird zur<br />
restriktiven, eingeschränkten Raumerfahrung. <strong>Die</strong> Einschränkung<br />
auf engste Räume, auf Zellen und Käfige, ist unübersehbar<br />
in <strong>der</strong> Prosa von In <strong>der</strong> Strafkolonie, in den Romanen Der<br />
Prozeß und Das Schloß sowie in den Erzählungen Ein Bericht<br />
für eine Akademie o<strong>der</strong> Ein Hungerkünstler. Aber gerade<br />
daran zeigt sich nicht bloß ein negatives Symbol, son<strong>der</strong>n die<br />
Sinnlichkeit, die für Kafkas Prosa charakteristisch ist. Trotz<br />
des im Raum aufgehobenen Präsens ist die kontinuierliche