07.08.2021 Aufrufe

Karl Heinz Bohrer: Die Zeitlichkeit der modernen Literatur

aus Marbacher Katalog 68: "Die Seele. Die Dauerausstellung im Literaturmuseum der Moderne", hrsg. von Heike Gfrereis und Ulrich Raulff. Mehr: https://www.dla-marbach.de/shop/shop-einzelansicht/?tt_products[backPID]=151&tt_products[product]=708&cHash=48922096829b9f1b00aec9eb71598f60

aus Marbacher Katalog 68: "Die Seele. Die Dauerausstellung im Literaturmuseum der Moderne", hrsg. von Heike Gfrereis und Ulrich Raulff. Mehr: https://www.dla-marbach.de/shop/shop-einzelansicht/?tt_products[backPID]=151&tt_products[product]=708&cHash=48922096829b9f1b00aec9eb71598f60

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

18<br />

nach <strong>Die</strong> Geburt <strong>der</strong> Tragödie aus dem Geiste <strong>der</strong> Musik<br />

von 1872/73, kommt er von <strong>der</strong>en ›plötzlicher‹ Fassung des<br />

Dionysischen auf <strong>der</strong>en ›ewige‹ Fassung zu sprechen. <strong>Die</strong>se<br />

Verschiebung ist vorbereitet in <strong>der</strong> Tragödien-Schrift selbst,<br />

wenn <strong>der</strong> tragische Held als die ewige Maske des Dionysos<br />

gedeutet wird, wenn durch seinen individual-psychologischen<br />

Ausdruck die transsubjektive Stimme des tragischen Mythos<br />

spricht. <strong>Die</strong>ses Merkmal <strong>der</strong> tragischen Maske wird im für die<br />

spätere Ästhetik Nietzsches entscheidenden Begriff des<br />

›Scheins‹ und <strong>der</strong> ›Oberfläche‹ als Merkmal eines ›Großen<br />

Stils‹ wie<strong>der</strong>holt. In dem Aphorismus <strong>Die</strong> Revolution in <strong>der</strong><br />

Poesie (Menschliches, Allzumenschliches I) spricht sich<br />

Nietzsche gegen expressionistische Unmittelbarkeit <strong>der</strong><br />

Kunst zugunsten einer idealischen Maske aus: »Wirklichkeit«<br />

müsse durch »allegorische Allgemeinheit« und »Zeitcharakter«<br />

durch ein »mythisch Machen« ersetzt werden. 5<br />

Mit den Begriffen ›Maske‹, ›Allegorie‹ und ›mythisch<br />

machen‹ hat Nietzsche am Ende des Zeitalters des realistischen<br />

Romans den ursprünglichen Grundgedanken seiner<br />

Tragödien-Schrift aktualisiert. <strong>Die</strong> Analogie zu Baudelaires<br />

Definition <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zwischen Flüchtigkeit und Ewigkeit<br />

wird deutlich. Sie zeigt sich auch in einigen zentralen Metaphern<br />

<strong>der</strong> Ewigkeit, die im Werk bei<strong>der</strong> Dichter-Denker auftauchen,<br />

nicht zuletzt im Bild eines schweigsamen unendlichen<br />

›Meeres‹, von dem dennoch ein plötzlicher Schrecken<br />

ausgeht. Wenn im Kunstdenken <strong>der</strong> beginnenden Mo<strong>der</strong>ne<br />

die <strong>Zeitlichkeit</strong> des Plötzlichen die <strong>Zeitlichkeit</strong> <strong>der</strong> Dauer<br />

immer schon enthält, dann hat es etwas von Notwendigkeit an<br />

sich, wenn Prousts mémoire involontaire, die signifikanteste<br />

Darstellung eines Zeitmoments in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Literatur</strong>,<br />

die Plötzlichkeit des Erinnerungs- bzw. Erlebnismoments mit<br />

<strong>der</strong> Ewigkeit des Glücksgefühls verbindet. Gilles Deleuze<br />

spricht von einem »Glanz« <strong>der</strong> »Wahrheit«. 6 Man könnte von<br />

dieser Verbindung des gegensätzlichen Zeitgehalts darauf<br />

schließen, dass je stärker die Plötzlichkeit <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Literatur</strong><br />

die Perspektive auf eine Hegel’sche Gewissheit von<br />

teleologischem Verlauf verliert, umso stärker das Ewigkeitsmoment<br />

in die Plötzlichkeit selbst verlegt ist.<br />

Es ist für die Verbindung von Kurz- und Langzeitausdruck<br />

für das Plötzlichkeits- und Ewigkeitszeichen <strong>der</strong> Kunst<br />

aufschlussreich, dass in <strong>der</strong> kunsttheoretischen Programmatik<br />

von vier für die klassische Mo<strong>der</strong>ne repräsentativen<br />

Autoren eben diese Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit geradezu zur Formel<br />

geworden ist. Walter Benjamins Rede von <strong>der</strong> »profanen<br />

Erleuchtung«, Robert Musils Wort von »tagheller Mystik«,<br />

James Joyce’ Metapher <strong>der</strong> »epiphany« und Virginia Woolfs<br />

Motiv <strong>der</strong> »ecstasy« haben gemeinsam, dass sie sich von<br />

einem metaphysischen Verständnis dieser Intensitätszeichen<br />

nachdrücklich abgrenzen, an<strong>der</strong>erseits aber von einem Ausdruck<br />

des extrem Beson<strong>der</strong>en nicht absehen wollen. Was<br />

besagt das? Offenbar kommt <strong>der</strong> Surrealismus Benjamins<br />

ohne plötzliche Erleuchtung nicht aus. Aber er will sie profan:<br />

»Es bringt uns nämlich nicht weiter, die rätselhafte Seite am<br />

Rätselhaften pathetisch o<strong>der</strong> fanatisch zu unterstreichen,

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!