Karl Heinz Bohrer: Die Zeitlichkeit der modernen Literatur
aus Marbacher Katalog 68: "Die Seele. Die Dauerausstellung im Literaturmuseum der Moderne", hrsg. von Heike Gfrereis und Ulrich Raulff. Mehr: https://www.dla-marbach.de/shop/shop-einzelansicht/?tt_products[backPID]=151&tt_products[product]=708&cHash=48922096829b9f1b00aec9eb71598f60
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nach <strong>Die</strong> Geburt <strong>der</strong> Tragödie aus dem Geiste <strong>der</strong> Musik<br />
von 1872/73, kommt er von <strong>der</strong>en ›plötzlicher‹ Fassung des<br />
Dionysischen auf <strong>der</strong>en ›ewige‹ Fassung zu sprechen. <strong>Die</strong>se<br />
Verschiebung ist vorbereitet in <strong>der</strong> Tragödien-Schrift selbst,<br />
wenn <strong>der</strong> tragische Held als die ewige Maske des Dionysos<br />
gedeutet wird, wenn durch seinen individual-psychologischen<br />
Ausdruck die transsubjektive Stimme des tragischen Mythos<br />
spricht. <strong>Die</strong>ses Merkmal <strong>der</strong> tragischen Maske wird im für die<br />
spätere Ästhetik Nietzsches entscheidenden Begriff des<br />
›Scheins‹ und <strong>der</strong> ›Oberfläche‹ als Merkmal eines ›Großen<br />
Stils‹ wie<strong>der</strong>holt. In dem Aphorismus <strong>Die</strong> Revolution in <strong>der</strong><br />
Poesie (Menschliches, Allzumenschliches I) spricht sich<br />
Nietzsche gegen expressionistische Unmittelbarkeit <strong>der</strong><br />
Kunst zugunsten einer idealischen Maske aus: »Wirklichkeit«<br />
müsse durch »allegorische Allgemeinheit« und »Zeitcharakter«<br />
durch ein »mythisch Machen« ersetzt werden. 5<br />
Mit den Begriffen ›Maske‹, ›Allegorie‹ und ›mythisch<br />
machen‹ hat Nietzsche am Ende des Zeitalters des realistischen<br />
Romans den ursprünglichen Grundgedanken seiner<br />
Tragödien-Schrift aktualisiert. <strong>Die</strong> Analogie zu Baudelaires<br />
Definition <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zwischen Flüchtigkeit und Ewigkeit<br />
wird deutlich. Sie zeigt sich auch in einigen zentralen Metaphern<br />
<strong>der</strong> Ewigkeit, die im Werk bei<strong>der</strong> Dichter-Denker auftauchen,<br />
nicht zuletzt im Bild eines schweigsamen unendlichen<br />
›Meeres‹, von dem dennoch ein plötzlicher Schrecken<br />
ausgeht. Wenn im Kunstdenken <strong>der</strong> beginnenden Mo<strong>der</strong>ne<br />
die <strong>Zeitlichkeit</strong> des Plötzlichen die <strong>Zeitlichkeit</strong> <strong>der</strong> Dauer<br />
immer schon enthält, dann hat es etwas von Notwendigkeit an<br />
sich, wenn Prousts mémoire involontaire, die signifikanteste<br />
Darstellung eines Zeitmoments in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Literatur</strong>,<br />
die Plötzlichkeit des Erinnerungs- bzw. Erlebnismoments mit<br />
<strong>der</strong> Ewigkeit des Glücksgefühls verbindet. Gilles Deleuze<br />
spricht von einem »Glanz« <strong>der</strong> »Wahrheit«. 6 Man könnte von<br />
dieser Verbindung des gegensätzlichen Zeitgehalts darauf<br />
schließen, dass je stärker die Plötzlichkeit <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Literatur</strong><br />
die Perspektive auf eine Hegel’sche Gewissheit von<br />
teleologischem Verlauf verliert, umso stärker das Ewigkeitsmoment<br />
in die Plötzlichkeit selbst verlegt ist.<br />
Es ist für die Verbindung von Kurz- und Langzeitausdruck<br />
für das Plötzlichkeits- und Ewigkeitszeichen <strong>der</strong> Kunst<br />
aufschlussreich, dass in <strong>der</strong> kunsttheoretischen Programmatik<br />
von vier für die klassische Mo<strong>der</strong>ne repräsentativen<br />
Autoren eben diese Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit geradezu zur Formel<br />
geworden ist. Walter Benjamins Rede von <strong>der</strong> »profanen<br />
Erleuchtung«, Robert Musils Wort von »tagheller Mystik«,<br />
James Joyce’ Metapher <strong>der</strong> »epiphany« und Virginia Woolfs<br />
Motiv <strong>der</strong> »ecstasy« haben gemeinsam, dass sie sich von<br />
einem metaphysischen Verständnis dieser Intensitätszeichen<br />
nachdrücklich abgrenzen, an<strong>der</strong>erseits aber von einem Ausdruck<br />
des extrem Beson<strong>der</strong>en nicht absehen wollen. Was<br />
besagt das? Offenbar kommt <strong>der</strong> Surrealismus Benjamins<br />
ohne plötzliche Erleuchtung nicht aus. Aber er will sie profan:<br />
»Es bringt uns nämlich nicht weiter, die rätselhafte Seite am<br />
Rätselhaften pathetisch o<strong>der</strong> fanatisch zu unterstreichen,