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Karl Heinz Bohrer: Die Zeitlichkeit der modernen Literatur

aus Marbacher Katalog 68: "Die Seele. Die Dauerausstellung im Literaturmuseum der Moderne", hrsg. von Heike Gfrereis und Ulrich Raulff. Mehr: https://www.dla-marbach.de/shop/shop-einzelansicht/?tt_products[backPID]=151&tt_products[product]=708&cHash=48922096829b9f1b00aec9eb71598f60

aus Marbacher Katalog 68: "Die Seele. Die Dauerausstellung im Literaturmuseum der Moderne", hrsg. von Heike Gfrereis und Ulrich Raulff. Mehr: https://www.dla-marbach.de/shop/shop-einzelansicht/?tt_products[backPID]=151&tt_products[product]=708&cHash=48922096829b9f1b00aec9eb71598f60

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traditionell teleologischen Bestimmungen einen unmittelbar<br />

ästhetischen Ausdruck rückte. In Kleists und Höl<strong>der</strong>lins unterschiedlichem<br />

Gebrauch des Wortes ›plötzlich‹ kündigt sich<br />

indes eine bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

und darüber hinaus wirkende Ambivalenz dieses Wortes an.<br />

Wenn es in Höl<strong>der</strong>lins Hymnik Wie wenn am Feiertage, Brot<br />

und Wein o<strong>der</strong> Patmos direkt o<strong>der</strong> indirekt auftaucht, ist damit<br />

<strong>der</strong> emphatische Eintritt nicht nur <strong>der</strong> thematisch vorgegebenen<br />

göttlichen Sphäre – vornehmlich die des Dionysos –<br />

genannt, son<strong>der</strong>n in poetologischer Selbstreferentialität <strong>der</strong><br />

Eintritt des Gedichts selbst in seine poetische Form. Hierin<br />

äußert sich bei Höl<strong>der</strong>lin ein Pathos des Erhabenen, das unter<br />

mo<strong>der</strong>nen Bedingungen noch einmal auf <strong>der</strong> hymnischen<br />

Höhe Pindars sprechen will, eines Versuchs, <strong>der</strong> sich in <strong>der</strong><br />

Lyrik <strong>der</strong> klassischen Mo<strong>der</strong>ne wie<strong>der</strong>holt und noch zu Ausgang<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts von Jean-François Lyotard theoretisch<br />

aktualisiert worden ist.<br />

Kleists Plötzlichkeit dagegen entbehrt gerade die<br />

emphatische Repräsentanz, bleibt bezogen auf die jeweilige<br />

Situation bzw. den in ihr agierenden Menschen. Ohne auf die<br />

zahlreichen Plötzlichkeitssituationen von Kleists Prosa einzugehen<br />

– charakteristisch für sie Michael Kohlhaas und <strong>Die</strong><br />

Marquise von O.... –, sei beispielhaft die Plötzlichkeitsstruktur<br />

von Kleists berühmter okkasionalistischer Deutung <strong>der</strong> Französischen<br />

Revolution zitiert: »Vielleicht, daß es auf diese Art<br />

zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, o<strong>der</strong> ein zweideutiges<br />

Spiel an <strong>der</strong> Manschette, was in Frankreich den Umsturz<br />

<strong>der</strong> Ordnung <strong>der</strong> Dinge bewirkte.« 1 <strong>Die</strong> Französische Revolution<br />

wird also aus dem Bewegungsmoment eines Augenblicks,<br />

nicht aus einer ihrer Ideen abgeleitet. <strong>Die</strong>se frivol wirkende<br />

Reduktion einer Idee auf ein Minenspiel, auf die<br />

Zufälligkeit einer Geste – und das auch noch angesichts des<br />

elementaren Zeitereignisses <strong>der</strong> Epoche – bildet einen vielsprechenden<br />

Gegensatz zu Höl<strong>der</strong>lins Plötzlichkeitszeichen,<br />

die ebenfalls die Französische Revolution als Inspirationsgrund<br />

hatten, aber auch <strong>der</strong>en Idee! Allerdings zeigt sich in<br />

Höl<strong>der</strong>lins ›Plötzlichkeits‹- und ›Jetzt‹-Semantik ein eigentümliches<br />

Hervorheben <strong>der</strong> <strong>Zeitlichkeit</strong> selbst, ein Bewusstsein<br />

davon, dass etwas sich ereignet, nicht nur davon, was sich<br />

ereignet. Gerade <strong>der</strong> Ereignis-Charakter ist es, <strong>der</strong> in Höl<strong>der</strong>lins<br />

Hymne besungen wird.<br />

Eine transzendent aufgeladene Plötzlichkeit kann<br />

nicht <strong>der</strong> Augenblick <strong>der</strong> klassischen Mo<strong>der</strong>ne hun<strong>der</strong>t Jahre<br />

später sein, denn diese bezieht sich nicht mehr auf Pindars<br />

Götter. Dennoch tritt in <strong>der</strong> Spannung zwischen Höl<strong>der</strong>lins<br />

noch transzendenter Plötzlichkeit und Kleists bereits selbstreferenzieller<br />

Plötzlichkeit <strong>der</strong> Konflikt auf, <strong>der</strong> die klassische<br />

Mo<strong>der</strong>ne, vor allem André Bretons erstes surrealistisches<br />

Manifest, wie den gordischen Knoten durchschlägt: Es heißt<br />

dann nachdrücklich, »daß diese Idee o<strong>der</strong> jene Frau auf ihn<br />

einen Eindruck gemacht habe, er aber noch nicht zu sagen<br />

wisse, was für ein Eindruck dies gewesen war«. 2 Dem entspricht<br />

Bretons Vorstellung vom nichtsignifikativen Zeichen:<br />

Es handele sich um »Ereignisse, die, auch wenn sie dem rein

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