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Karl Heinz Bohrer: Die Zeitlichkeit der modernen Literatur

aus Marbacher Katalog 68: "Die Seele. Die Dauerausstellung im Literaturmuseum der Moderne", hrsg. von Heike Gfrereis und Ulrich Raulff. Mehr: https://www.dla-marbach.de/shop/shop-einzelansicht/?tt_products[backPID]=151&tt_products[product]=708&cHash=48922096829b9f1b00aec9eb71598f60

aus Marbacher Katalog 68: "Die Seele. Die Dauerausstellung im Literaturmuseum der Moderne", hrsg. von Heike Gfrereis und Ulrich Raulff. Mehr: https://www.dla-marbach.de/shop/shop-einzelansicht/?tt_products[backPID]=151&tt_products[product]=708&cHash=48922096829b9f1b00aec9eb71598f60

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26<br />

gen, bekommt <strong>der</strong> Reiter bei Simon den Charakter einer<br />

Signatur: des Zeichens von <strong>der</strong> unverän<strong>der</strong>ten Dauer <strong>der</strong><br />

Kriegserfahrung, fatalistisch, aber nicht geschichtsphilosophisch<br />

verstanden. Der Effekt <strong>der</strong> Intensität kann als<br />

›mythisch‹ bezeichnet werden – ähnlich wie Claude Simons<br />

Naturzeichen <strong>der</strong> Akazie, des Baums des französischen<br />

Südens. Reiter und Pferd werden immer wie<strong>der</strong> zur spektakulären<br />

Erscheinung <strong>der</strong> sich wie<strong>der</strong>holenden Hauptfigur stilisiert.<br />

Nichts an<strong>der</strong>es ist ausgedrückt als das Phantasma des<br />

Kriegers, gesteigert zu einer Epiphanie. Aber nicht zu einer<br />

heroischen. Vielmehr zum Ausdruck des martialischen<br />

Effekts, <strong>der</strong> sich aus schwerem Waffenrock, schwerer<br />

Bewaffnung, schwerer Bewegung des Pferdes und <strong>der</strong> Resonanz<br />

des Bodens unter dem Gewicht des Ritts ergibt. Und<br />

auch aus dem düsteren Gesicht des Reiters. <strong>Die</strong> soldatischfatalistische<br />

Virilität ist eine Variation des nackten archaischen<br />

Kriegers aus dem Roman Bataille des Pharsale (1969).<br />

Wenn Claude Simon die Kriegserfahrung des 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts auf <strong>der</strong> Kriegsthematik des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

und <strong>der</strong> Antike abbildete, ist das gewiss <strong>der</strong> herausragenden<br />

aporetischen Bedeutung des Krieges für die Mo<strong>der</strong>ne<br />

geschuldet: nämlich seinem Wi<strong>der</strong>spruch zwischen erhöhter<br />

Inhumanität und erhöhtem Zivilisationsanspruch. Aber die<br />

eigentlich literarische Motivation seines zentralen Themas ist<br />

das aus dem Nouveau Roman kommende Kriterium, herkömmliche<br />

Darstellungsformen, und das heißt konventionelle<br />

Zeiterklärung, zu vermeiden. <strong>Die</strong>s geschieht durch den Stil<br />

des ›Tableau‹ von Gegenwartseffekten. <strong>Die</strong> Beschreibung<br />

des Ritts, so <strong>der</strong> Todesritt des Schwadrons in La route des<br />

Flandres, enthält – das ist keine Deutung, son<strong>der</strong>n Komplexitätserhöhung<br />

– Elemente sexueller Assoziationen, die sich<br />

aus <strong>der</strong> privaten Geschichte des Offiziers erklären. Wenn die<br />

chronologische Struktur zugunsten von Räumlichkeiten aber<br />

aufgehoben ist, heißt das nicht, dass <strong>der</strong> Erinnerungsraum<br />

verschwindet. Wie er erscheint, ist ein dem Gegenwärtigkeitsbild<br />

innewohnen<strong>der</strong> Horizont von Vergangenheitsahnung.<br />

Durchaus Faulkners Assoziationstechnik <strong>der</strong> Geschichte<br />

des Südens vergleichbar, enthalten Simons ›Tableaux‹ eine<br />

Struktur, die die »Diskontinuität, das Fragmentarische <strong>der</strong><br />

Gefühle« – so Simon – wie<strong>der</strong>gibt und »gleichzeitig ihre Kontinuität<br />

im Bewußtsein«. 21<br />

Das in <strong>der</strong> von Faulkner und Simon entfalteten Gegenwärtigkeit<br />

des Erzählten implizite Imaginäre lässt sich genauer<br />

benennen: Es kommt von daher, dass die Verbindung von<br />

intensivem Ausdruck und verschwiegener Bedeutung ein<br />

Kontemplationspotenzial entlässt: <strong>Die</strong> Phantasie des Lesers<br />

wird zu einer unendlichen Reflexion angeregt. <strong>Die</strong> beschriebene<br />

Welt regt zu vielen unterschiedlichen Erklärungen an.<br />

So setzt sich im Imaginären <strong>der</strong> reinen Gegenwart die Komplexität<br />

von Plötzlichkeit und Ewigkeit fort.

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