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Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien

www.dasbiber.at

MIT SCHARF

SEPTEMBER

2021

+

„SERBEN

STERBEN

LANGSAM“

+

MEINE ERSTE

WOHNUNG

+

WERDET

JÜNGER

SCHWANGER!

+

TALIBAN,

DAS GERINGERE ÜBEL?

WARUM AUSTRO-AFGHANEN DIE GOTTESKRIEGER UNTERSTÜTZEN


Bezahlte Anzeige

3

minuten

mit

Malarina

Die Austro-Serbin und Neo-Kabarettistin

Marina Laković geht nach

gezwungener Coronapause mit

ihrem Solo-Stück „Serben sterben

langsam“ auf die Bühne. Warum

Politkabarett wie Milch ist, und wie

wichtig Selbstreflexion innerhalb

von migrantischen Communitys ist.

Von Jelena Čolić, Foto: Vanja Pandurevic

Foto: Getty Images

Wohnbeihilfe:

Jetzt beantragen!

Mit der Wohnbeihilfe unterstützt die Stadt Wien Personen mit

geringem Einkommen bei der Finanzierung ihrer Wohnkosten.

Für immer mehr Menschen wird es aufgrund steigender Mieten schwieriger, sich Wohnen leisten zu

können. In diesen Fällen hilft die Wohnbeihilfe der Stadt Wien. Diese wird sowohl für gefördert errichtete

bzw. sanierte Wohnungen als auch für nicht geförderte (private) Mietwohnungen ausbezahlt. Auch

für Wohngemeinschaften und geförderte Eigentumswohnungen – unter bestimmten Voraussetzungen

– gibt es Wohnbeihilfe. Die Höhe der Wohnbeihilfe ist generell abhängig von der Haushaltsgröße, dem

Haushaltseinkommen und den Wohnkosten. Mit dem Online-Wohnbeihilfe-Checker lässt sich rasch

und unkompliziert klären, ob Sie die Voraussetzungen erfüllen. Ein Antrag auf Wohnbeihilfe kann auch

einfach und schnell online gestellt werden.

BIBER: Was ist das Geheimnis hinter

dem Namen Malarina?

MALARINA: Ich wollte, dass es nur ein

Wort ist. Was gut genug für Cher ist, ist

auch gut genug für mich. Es ist die erste

Silbe meines Nachnamens zusammengefügt

mit meinem Vornamen. So

mysteriös ist es doch nicht. (lacht)

Dein neues Solo heißt „Serben sterben

langsam“. Woher nimmst du die Inspiration

dafür?

Ich fange im 1. Weltkrieg an, bis hin

zum 2. Weltkrieg und der Tito-Ära.

Es ist relativ chronologisch und dann

kommen die Gastarbeiter dran. Es ist

wie eine Geschichtsstunde - was eben

bei den Schwabos und was bei uns

passiert ist. In der zweiten Hälfte des

Stücks geht’s viel um die Tatsache,

dass Serben rechts gewählt haben,

Stichwort Haider und HC. Ich bin in

meinem Stück eine rechtsradikale Frau,

die sehr traurig ist, dass Strache weg

ist. Dafür habe ich mich von der ikonischen

serbischen Dame am Brunnenmarkt

aus Spiras „Alltagsgeschichten“,

die gegen Ausländer schimpft, inspirieren

lassen – was würde sie tun?

Du hast es geschafft, dass der Falter

in einer Kritik über dein Stück „pička“

erwähnt. Versteht das das autochthone

Publikum? Wen möchtest du mit deinen

Stücken eigentlich abholen?

Ich nenne meine Künstlerfigur und

Haider „pička“. Jene Leute, die nicht

B/K/S (Bosnisch/Kroatisch/Serbisch)

sprechen, schließen die Bedeutung

dann schon aus dem Kontext. Generell

aber ist es mir wichtig, ein Stück zu

spielen, dass auch Leute außerhalb der

Ex-YU-Community verstehen. In der

zweiten Hälfte des Stückes spreche

ich über aktuelles politisches Zeitgeschehen

und aktualisiere es vor den

Auftritten immer, damit es frisch bleibt.

Politisches Kabarett ist wie Milch, das

kann über Nacht schlecht werden.

Dein Stück handelt von dem geschichtlichen

Tango zwischen Serbien und

Österreich. Beide kriegen ihr Fett weg.

Warum ist das so wichtig?

Ich finde nicht, dass jeder der Migrationshintergrund

hat eine Ethno-Comedy

schreiben muss, die ein Safe-Space für

die eigene Community ist.

Kabarett ist in Österreich sehr männerdominiert.

Als Frau, Mitglied der

LGBTQ+-Community und Migrantin

mischt du die sehr homogene Gruppe

auf. Wie waren deine ersten Schritte in

der Branche?

Ich wollte ja ursprünglich nie ins Kabarett.

Ich dachte, ich werde bestimmt

einen wichtigen Roman schreiben

und die Leute werden mir eines Tages

Kugelschreiber auf mein Grab legen.

Was man halt so denkt mit Anfang

20. Ansonsten hatte ich schon sehr

Glück. Man steht sich eher selbst mit

dem Hochstapler-Syndrom im Weg,

vor allem Frauen. Männer haben ganz

selten schlechten Selbstwert, warum

auch (lacht)?

Wer ist sie?

Alter: 31

Geburtsort: Petrovac (schaut laut

Marina bisschen aus wie in „Chroniken

von Narnia“)

Besonderes: Spricht Deutsch, Englisch,

B/K/S, Rumänisch und Italienisch

Malarina ist am 28. September live im Kabarett Niedermair zu sehen!

Weitere Informationen: wien.gv.at/wohnbeihilfe

/ 3 MINUTEN / 3

PR_08_MA50_Wohnbeihilfe_207x270.indd 1 03.09.21 08:49



3 3 MINUTEN MIT

MALARINA

Die austro-serbische Kabarettistin im

Schnellinterview.

8 HÖRT,HÖRT!

Der biber Empowerment Podcast und warum

ihr ihn unbedingt hören müsst.

10 IVANAS WELT

Sej maj nejm. Kolumnistin Ivana gibt

Österreichern Nachhilfe im Jugo-Namen

aussprechen.

POLITIKA

12 TALIBAN, DAS BESTE FÜR

AFGHANISTAN?

Austro-Afghanen darüber, warum sie die

Taliban als „geringeres Übel sehen“.

18 2 IMPFVERWEIGERER,

30 STUNDEN DAUERDIENST.

Der österreichische „Ärzte ohne Grenzen“

Präsident Leo Ho im Interview in Zahlen.

20 MÄNNER MÜSSEN

DRAUSSEN BLEIBEN.

Ein Kommentar zu feministischen

Badeveranstaltungen - von einem Mann.

22 KAZIM YILMAZ

Droht Austrotürken neues Ungemach?

24 SCHÄMEN SIE SICH?

Delna Antia-Tatić über Macht ohne

Menschlichkeit.

RAMBAZAMBA

26 WOHN-GUIDE

Tipps&Tricks rund um deine erste

eigene Wohnung!

32 OLYMPIA WAR NUR

DER ANFANG

Olympia-Bronze-Medaillenträger Shamil

Borchasvili über Training, Tschetschenien und

Khabib.

18

12

FRIEDEN,

EGAL WIE

Taliban-Affine

Austro-Afghanen

argumentieren:

Alles ist besser als

Krieg und Chaos

HERR HO, WIE VIELE IMPFLEUGNER

KENNEN SIE?

Der österreichische Ärzte Ohne Grenzen

Chef Leo Ho in Zahlen.

IN HALT SEPTEMBER

2021

32

BRONZE FÜR ÖSTERREICH

Austro-Tschetschene und Olympia-

Medaillen träger Shamil Borchasvili

im Interview.

26

WO IST MEIN

STROMZÄHLER?

Der große Wohn-Guide

rund um die erste

eigene Wohnung.

© Zoe Opratko, Aliaa Abou Khaddour, Cover: © Aliaa Abou Khaddour

LIFE&STYLE

34 DIE ROBOTER WERDEN

UNS ÜBERROLLEN

Über Robo-Staubsauger, Rapper-Tee

und Emos.

36 SIE WOLLEN NICHT HÖREN!

Chefredakteurin Delna Antia-Tatić appelliert

an junge Frauen: Vertröstet das Kinderkriegen

nicht auf später.

TECHNIK

40 KÜHE, DIE LÖSUNG FÜR DAS

PLASTIK-PROBLEM?

Kolumnist Adam Bezeczky über präsentiert das

Neueste aus der Welt der Technik.

KARRIERE

42 UNI OHNE CORONA?

Anna Jandrisevits wünscht allen StudentInnen

ein coronafreies Semester.

46 ISLAMIC FINANCE

Wie legt man Geld halal an? Das erklärt FinTech

INAIA-Gründer Emre Akyel

50 ERZÄHL MIR DEINE

GESCHICHTE

Das Leben junger Asylwerber in Wien.

KULTUR

54 WEDER MOSKAU,

NOCH BOSKAU!

Kultura-News von Nada El-Azar –

und ihrem Vater.

58 „ICH MAG DIE GRAUZONEN

AM BALKAN“

Künstler Rade Petrasević über sein

Malereistudium mit Rich Kids und Arbeit

am Bau

62 „WAS HABEN DIE EUROPÄER

MIT DIR GEMACHT?“

Unser syrischer Kolumnist Jad Turjman über

seine neue Vorliebe: Das Wandern.



IMPRESSUM

Liebe Leserinnen und Leser,

MEDIENINHABER:

Biber Verlagsgesellschaft mbH, Quartier 21, Museumsplatz 1, E-1.4,

1070 Wien

HERAUSGEBER

Simon Kravagna

„Ich mag die Taliban. Sie sind besser als die alte Regierung.“ Hat er das wirklich

gesagt, fragt sich der Autor unserer Cover-Geschichte. Nazari Mohibullah hat

sich unter seinen afghanischen Landsleuten in Wien umgehört und gefragt:

CHEFREDAKTEURIN:

Delna Antia-Tatić

STV. CHEFREDAKTEUR:

Amar Rajković

CHEFiN VOM DIENST:

Aleksandra Tulej

Fotos: shutterstock

Wie kann es sein, dass jene „Barbaren“, vor denen er geflohen ist, in Wien

als Zukunft Afghanistans angesehen werden – und zwar von integrierten

Afghanen? Werden die Gotteskrieger etwa salonfähig? Nazari begibt sich

auf die Spuren der Talibananhänger in Wien und versucht ihre Gründe zu

verstehen. Seite 12

CHEFREPORTERIN:

Aleksandra Tulej

FOTOCHEFIN:

Zoe Opratko

ART DIRECTOR: Dieter Auracher

KOLUMNIST/IN:

Ivana Cucujkić-Panić, Jad Turjman

Afghanistan ist aber nicht nur durch die Machtübernahme der Taliban

bedroht, auch die zunehmende Hungersnot und Versorgungsengpässe lassen

schlimme Entwicklungen erahnen. Ratet mal, wie viel ein „Arzt ohne Grenzen“

unter Einsatz seines Lebens für seinen Job dort verdient? Im Interview in

Zahlen mit Leo Ho, Präsident von Ärzte ohne Grenzen Österreich, erfahrt

LEKTORAT: Florian Haderer

REDAKTION & FOTOGRAFIE:

Adam Bezeczky, Nada El-Azar, Nazari Mohibullah, Gracia

Ndona, Anna Jandrisevits

VERLAGSLEITUNG

Aida Durić

REDAKTIONSHUND:

Casper

Ich bin dann mal weg und sage

Ciao mit Bauch. Ich werde

Euch biber-Leser:innen und

die schärfste Redaktion des

Landes vermissen. Daher habe

ich ganz Mama-mäßig vorgesorgt.

In meinem neuen Podcast

lasse ich auch während

meiner Karenz von mir hören:

„Du bestimmst. Punkt.“ heißt

dieses Baby. Ich freu mich,

wenn ihr reinhört. Seite 8.

Delna Antia-Tatić “

Chefredakteurin

ihr es: 1485€ brutto. Außerdem reicht der Spaltenplatz kaum aus, um die

schreckliche Anzahl der Kinder hinzuschreiben, die täglich an Hunger sterben:

8500. Mehr „Unsummen“ auf Seite 18.

Im Vergleich dazu erscheinen Probleme hierzulande als belanglose

Luxusprobleme – etwa die der jungen Menschen in ihrer ersten eigenen

Wohnung. Wir widmen uns trotzdem den Herausforderungen und Gefahren,

die ihnen im ersten Eigenheim begegnen können, samt Service-Teil und

Erfahrungsgeschichten. Wusstet ihr etwa, dass das benützte Geschirr auf der

Spüle nicht von selbst verschwindet – sondern für immer dort steht, wenn

Mama nicht da ist und es wegräumt? Mehr davon im großen biber Wohn-

Guide. You can do it! Ab Seite 26.

Apropos Mama: Wie ihr seht, links im Bild, unsere Chefredakteurin wird

Mama. Und zwar zum zweiten Mal. Bevor sie Ende September in Mutterschutz

geht, hinterlässt sie in ihrer „Altersweisheit“ noch eine dringende Botschaft

an jüngere Frauen: Wenn ihr Kinder wollt, dann wartet nicht zu lang – sonst

ist es zu spät. Warum das nicht nur dramatisch klingt, sondern tatsächlich

dramatisch ist, berichtet sie eindringlich aus Sicht der Generation 35 Plus:

BUSINESS DEVELOPMENT:

Andreas Wiesmüller

GESCHÄFTSFÜHRUNG:

Wilfried Wiesinger

KONTAKT: biber Verlagsgesellschaft mbH Quartier 21,

Museumsplatz 1, E-1.4, 1070 Wien

Tel: +43/1/ 9577528 redaktion@dasbiber.at marketing@

dasbiber.at abo@dasbiber.at

WEBSITE: www.dasbiber.at

ÖAK GEPRÜFT laut Bericht über die Jahresprüfung im 2. HJ

2020:

Druckauflage 78.856 Stück

Verbreitete Auflage 73.741 Stück

Die Offenlegung gemäß §25 MedG ist unter www.dasbiber.at/

impressum abrufbar.

DRUCK: Mediaprint

Zeit für

Erfolgserlebnisse

Was Sie schon immer sagen wollten, lernen Sie

bei uns in rund 50 Sprachen. Für Beruf oder Urlaub

bieten wir Kurse in Französisch, Russisch, Spanisch,

Hindi und viele mehr!

Über Frust, In-Vitro und Sex nach Wochenplan. Seite 36.

Wir wünschen euch scharfe Lektüre!

Bussi,

eure Biber-Redaktion

Erklärung zu gendergerechter Sprache:

In welcher Form bei den Texten gegendert wird, entscheiden

die jeweiligen Autoren und Autorinnen selbst: Somit bleibt die

Authentizität der Texte erhalten - wie immer „mit scharf“.

© Zoe Opratko

#meinerfolgserlebnis

www.vhs.at

6 / MIT SCHARF /

Bildung

und Jugend



MIT SCHARF

DU

BESTIMMST.

PUNKT.

BIBER ZUM HÖREN:

„Liebe Ladys da draußen, Ihr bestimmt. Punkt!“ Der biber Empowerment Podcast

startet im September – zu hören auf Spotify, iTunes und überall, wo es Podcasts gibt.

© Vanja Pandurevic

beantwortet und ob Sex vor der Ehe für

sie ein Tabu ist, das erfahrt ihr, wenn ihr

einschaltet!

Delna lädt alle zwei Wochen Frauen

zu sich ins Studio. Meist junge Österreicherinnen

mit Migrationsbackground, die

für scheinbar Selbstverständliches hart

kämpfen mussten. Wie etwa auch Naz

Kücüktekin, die mit 19 Jahren aus der

türkischen Elternwohnung im Gemeindebau

auszog und statt finanzieller

Unterstützung von ihren Eltern emotionale

Drohungen erhielt: „Wenn du das

tust, bist du für uns gestorben.“ Naz tat

es und zog in ihre eigene Wohnung. Für

ihre Freiheit hat sie sich nicht erpressen

v.l.n.r.: Šemsa Salioski, Delna Antia-Tatić

und Naz Kücüktekin

lassen. Und siehe da – wer half beim

Umzug? Papa. – Solche Revolutionsgeschichten

wollen Delnas Gästinnen

bewusst teilen, weil sie wissen: Als Mädchen,

Teenagerin und junge Frau hätten

sie sich selbst danach gesehnt. Nach

Vorbildern und Stimmen, die ihnen Mut

machen. Dafür steht der biber Empowerment-Podcast

und dreht extra laut auf

– wenn es ab September heißt: „Liebe

Ladys da draußen, Ihr bestimmt. Punkt.

Ich freue mich auf Euch, Eure Delna.“

Also sofort einschalten, jetzt Channel

abonnieren und von nun an keine Folge

mehr verpassen! ●

Der biber Empowerment Podcast wird in

Kooperation mit dem Österreichischen

Integrationsfonds produziert. Er basiert auf

der erfolgreichen Print-Serie „Ich bestimme.

Punkt.“ und will besonders Mädchen und

junge Frauen in Österreich, die aus konservativen

Verhältnissen kommen, in ihrem

Selbstwert und ihrer Selbstbestimmung

fördern. Die redaktionelle Verantwortung

liegt bei biber. Die Produktion haben wir „Oh

WOW“ zu verdanken.

DU

BESTIMMST.

PUNKT.

DER PODCAST MIT DELNA ANTIA-TATIĆ

EINSCHALTEN UND OHREN AUF:

9. September 2021 / Start

Auf Spotify, iTunes und überall, wo es

Podcasts gibt.

Neue Folgen erscheinen alle zwei

Wochen donnerstags.

Tipp: Am besten gleich den Channel

abonnieren und so nie eine Folge

verpassen!

Mein Körper, mein Leben, meine

Entscheidung. Ich bin eine

Frau und ich bestimme über

mich selbst.“ Mit diesen Worten begrüßt

biber-Chefredakteurin Delna Antia-Tatic´

ihre Zuhörerinnen und Zuhörer beim

neusten biber-Format mit scharf: dem

biber Empowerment-Podcast. Hostin Delna

spricht ab September regelmäßig mit

ihren Gästinnen aus den migrantischen

Communitys über Selbstbestimmung.

Zum Beispiel darüber, selbst zu entscheiden,

ob man ein Tampon benützt, Sex

vor der Ehe hat, ob man bei den Eltern

auszieht oder nicht die Hausfrau-to-go

ist, nur weil man die Tochter daheim ist.

Die jungen Frauen verstehen sich selbst

als „role model“ in der Mission Empowerment.

Sie schildern ungewohnt intim, wie

sie ihre „Revolution“ gewagt haben – ob

gegen Papa, den Bruder, die eigene Mutter

oder gleich die ganze Gemeinschaft.

Und so unterschiedlich ihre Herkunft

und Geschichten auch sind, eines zieht

sich durch: Meist ist ihr Kampf keiner

gegen ihre Familie, gegen ihre Tradition

und Religion, nein, es ist andersherum:

Es ist ein Kampf für sich selbst. Für ihre

Freiheit als Frau.

„EINEN KATHOLISCHEN

ÖSTERREICHER DÜRFTE

ICH NIEMALS HEIRATEN!“

Die erste Folge startet gleich brisant! Im

Studio begrüßt Delna eine junge Wienerin

aus der konservativ-tschetschenischen

Community. Eine Besonderheit,

denn Milana plaudert nicht nur frei und

persönlich über ihre Angst als Teenagerin

vor ihrem strengen Vater, sondern

auch über ihre Erfahrungen mit jenen

sogenannten tschetschenischen „Sittenwächtern“.

Milana erzählt davon anonym,

ihre Stimme und ihren Namen haben wir

verändert. Heute genießt die junge Frau,

mit Mitte zwanzig, Freiheiten, die sie

anderen jungen Frauen aus ihrer Community

lieber nicht unter die Nase reibt.

Etwa, dass sie die Erlaubnis hat, fürs Studium

auszuziehen oder dass sie anziehen

darf, was sie möchte – sogar „Hosen“.

Doch für ihren größten Sieg musste sie

jahrelang kämpfen: Sie hat das Kopftuch

verwehrt, das ihr aufgezwungen worden

war. Einen katholischen Österreicher

dürfte sie trotz allem niemals heiraten.

Warum? Hört ihr selber zu!

„TAMPONS SIND NUR

ETWAS FÜR SCHLECHTE

FRAUEN“

In einer weiteren Folge ist biber-Journalistin

Nada El-Azar im Studio zu Gast und

spricht ganz persönlich über das „Tabu

Tampon“ in ihrer arabisch-palästinensischen

Familie. Nada erzählt, wie sie als

Teenagerin ihre Tampons versteckt hat

und sich nichts sehnlicher gewünscht

hatte, als mehr über das sagenumwobene

Jungfernhäutchen zu erfahren.

Das Konzept der „Jungfräulichkeit bis

zur Ehe“ steht für Nada als Sinnbild des

Patriarchats und allein deswegen werde

die Sexualität von Mädchen ständig

kontrolliert. Dabei braucht es dringend

Aufklärung: „Entjungfern“ kann weder

ein Tampon, ein Finger noch ein Penis.

Wie Nada für sich die Gretchenfrage

© Niko Havranek

,

GOT WHAT S HOT

J U K . A T

8 / MIT SCHARF /

/ MIT SCHARF / 9



In Ivanas WELT berichtet die biber-Redakteurin

Ivana Cucujkić über ihr daily life.

IVANAS WELT

Ivan Minić

NEMA PROBLEMA

FOTONOVELA

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Im Hause Pravdović geht das Drama weiter: Mama Senada hat

Fieber und liegt flach, ihr Chef will ihr aufgrund der Krankheit

nicht ihre Überstunden sowie Zulagen auszahlen. Mama Senada

verzweifelt, aber Sohn Nenad weiß schon, was zu tun ist.

NEUES AUS DEM LEBEN

DER FAMILIE PRAVDOVIĆ

SEJ MAJ NEJM, SEJ MAJ NEJM!

Meinen Namen muss man nicht auf Anhieb fehlerfrei aussprechen können.

Oh Sine!

Ich kann das nicht

glauben. Seit Jahren

arbeite ich so hart, bin

immer loyal und dann

sowas…

Habe ich mit meiner

Flucht denn nicht genug

mitgemacht? Warum muss

sowas immer mir passieren,

lieber Gott …

Mama, ich hab

die AK eh schon

dran, die hat fix eine

Lösung für dich!

Aber der Versuch muss verdammt noch mal echt drin sein.

Es ist September 1994. Die kleine Ivana kommt

in die AHS. Das neue Rüschenkleid sitzt, die stolzen

Eltern warten aufgeregt im vollen Festsaal.

Der Schuldirektor teilt die Klassen ein: „In die 1 C

kommen: Phillip Gartner, Marlice Hüttinger, IvAAna

Tsuu..kuj..Ja, das ist jetzt etwas schwierig, Tsukujitsch,

Lisa Wallner,…“ Die kleine Ivana fühlte

sich nun winzig klein. Sie erhob sich vom goldenen

Samtstuhl aus der fünfzehnten Reihe und schlich

sich beschämt zu ihren neuen Klassenkameraden.

Mein Name wurde verstümmelt. Fünf Sekunden

lang. Alle Lisas und Phillips blickten nun auf mich.

Und ich auf den Boden. Es sollte ein denkwürdiger

Augenblick fürs Familienalbum sein. Der Schuldirektor

hat ihn versaut. Er konnte meinen Namen

nicht aussprechen.

IM PHONETISCHEN MÜLLEIMER

ENTSORGEN

Möglich, dass er noch nicht so viele ausländische

SchülerInnen-Namen ausrufen musste. Und

‚Cucujkić ‘ ist, Hand auf’s Herz, next Level Artikulation.

Ich poche da gewiss nicht auf Perfektion.

Selbst für Jugos ist mein Familienname ein Zungenbrecher.

Ich spreche auch nicht alles richtig

aus. Aber ich frage nach. Jedes Mal. Weil es den

Namensträgern wichtig ist. Weil sie sich wertgeschätzt

fühlen. Es ist schon nett, wenn die eigene

Identität nicht gleich im phonetischen Mülleimer

landet.

Aber auch Magistratsmitarbeiter oder die Ordinationshilfe

dürfen ruhig ein gängiges Güngör oder

Stefanović korrekt über die Lippen bringen. Denn

Rosen, Rakija & Kritik an: cucujkic@dasbiber.at, Instagram: @ivanaswelt

10 / MIT SCHARF /

meistens darf dann ‚Frau Cukujikitsch‘ als nächstes

zur Ärztin rein. Da bekommt ‚eine Frau Kujkujkovik‘

das Paket überstellt. Ich reklamiere meist vorauseilend:

„Cäsar, Ulrich, Cäsar, Ulrich, Johann, Konrad,

Ida, Cäsar. Und das Stricherl von links unten nach

rechts oben, Haček. Genau. Tsutsuikitsch.“

DAMIT ES DIE ÖSTERREICHER

AUSSPRECHEN KÖNNEN!

Selbst meinem, wie ich finde, simplen Vornamen,

wird die Betonung auf dem „i“ oft verwehrt. Also

habe ich bei der Geburt meiner beiden Söhne überlegt,

deren Namen nach Österreichtauglichkeit

auszuwählen, wo akzentuierungstechnisch nichts

schief gehen kann. Tim. Jan. Oder Hans. Und dann

hab‘ ich mich selbst gefragt, ob ich eigentlich ganz

deppert bin. Nein, das machst du nicht, Ivana! Die

werden hier alle die Namen deiner Kinder korrekt

aussprechen lernen. Ansonsten kannst du dich

auch gleich in Stephanie oder Susi umetiquettieren

lassen.

So ist es meiner vermeintlichen Tante ‚Ana‘ passiert.

Ihre erste Arbeitgeberin in Österreich tat sich

schwer mit ihrem richtigen Namen. „Frau Chefin“

konnte ‚Aurika‘ nicht aussprechen. Eine kurze, einfache,

deutsche Alternative sollte es sein.

Muss wohl etwas mit den Ursprungsländern der

Namensträger zu tun haben. Bei ‚François’ und

‘Anouk’ wird der Kiefer zum besten Touristen-Französisch

verrenkt, da kommt jedes accent an die

richtige Stelle.

Darf man das bitte für die Ivanas, Damirs, Menervas

und Amirs der Schulklasse 2021 auch erwarten?

Fotos: Zoe Opratko

Hallo?

Ja, was, wirklich?

Ist das so? Sind Sie

sich da sicher?

Die AK zählt Mama Senada ihre Rechte und

Pflichten zum Thema Krankenstand auf. Dabei

ist ganz klar: Der Arbeitgeber muss auch bei

Krankenstand Entgelt auszahlen. Darunter

fallen Lohn, Zulagen sowie regelmäßige Überstunden.

Mama Senada muss sich also keine

Sorgen machen!

Alo, was

jammerst du so?

Dein Chefe kann das

eh nicht machen!

Na, siehst du!

Gut, dass wir die

AK haben.

Oh Sine,

du bist mein

Held! Ich muss mir

um mein Geld keine

Sorgen machen.

TIPP Arbeiterkammer:

Du hast Fragen zum Thema Krankenstand und weißt

auch nicht, welche Pflichten du hast? Hier kannst du

dir das Video der AK zum Thema anschauen →



TALIBAN,

DAS BESTE FÜR AFGHANISTAN?

Die Taliban sind auf dem Vormarsch – auch in Wien. Unser

afghanischer Praktikant Nazari Mohibullah stellt schockiert

fest, dass einige seiner Landsleute kein Problem mit den

Gotteskriegern haben. Wie konnte es soweit kommen?

Von Nazari Mohibullah und Amar Rajković, Illustrationen: Aliaa Abou Khaddour

Gedankenkarussell: Die afghanische Diaspora müsste eigentlich die Taliban hassen

– schließlich waren es die Gotteskrieger, die das Land in den letzten Jahren

durch Terror destabilisiert haben. Der Einsatz der Amerikaner verdiente sich

aber auch kein Ruhmesblatt und brachte keinen dauerhaften Frieden.

12 / POLITIKA /

Ich mag die Taliban. Sie sind besser als die alte Regierung.

Unter ihnen wird es zumindest keine Anschläge

geben.“ Hat er das wirklich gesagt? Der junge Mann mit

Bart und gegeltem Haar, den ich zufällig am Brunnenmarkt

begegnet bin, unterstützt die Taliban? Diese ehrenlosen

Verbrecher, die mein Heimatland ins Mittelalter stürzen

wollen? Die T a l i b a n ?

Noch immer verdutzt darüber, wie ein in Freiheit lebender

Mensch so denken kann, verliere ich die Kontrolle über

meine Emotionen. Ich brülle ihn auf Farsi nieder und fordere

ihn in Herbert-Kickl-Manier auf, doch zu den Taliban zurückzukehren,

wenn sie angeblich so super sind. Was macht er

noch in Österreich? Ich merke, dass er sieht, dass die Aussage

über das Ziel hinausgeschossen ist. Er versucht, mich zu

beruhigen: „Die Taliban haben versprochen, unseren Frauen

alle Rechte zu gewähren. Das ist doch gut.“

„Ja, bestimmt“, winke ich ab und ziehe von Dannen,

bevor ich noch etwas Unüberlegtes mache.

In Österreich leben laut der Statistik Austria rund 46.000

AfghanInnen. Fast die Hälfte von ihnen

wohnen in Wien. Einer davon bin ich. Nachdem

ich meine Familie in Herat zurücklassen

musste, legte ich zu Fuß, auf der

Tragfläche eines Pick-ups, im Schlauchboot

und im Kofferraum mehr als 5000 Kilometer

auf dem Weg nach Österreich zurück. Ich

war zwei Monate ohne Grund im türkischen

Gefängnis, hatte Todesangst bei der

Überfahrt von der Türkei nach Griechenland

Ich muss mir von einem

Landsmann anhören,

es sei ja nicht alles so

schlecht unter den

Taliban.

und ernährte mich von gestohlenem Mais in Mazedonien.

Das alles, um in Frieden zu leben und dem täglichen Terror

der Taliban zu entfliehen. Und dann muss ich mir von einem

Landsmann anhören, es sei ja nicht alles so schlecht unter

den neuen Machthabern Afghanistans. Was ich zu diesem

Zeitpunkt noch nicht gewusst habe: Seine Meinung wird von

Tag zu Tag beliebter.

WARUM KEHRST DU NICHT ZURÜCK

NACH AFGHANISTAN?

Zwei Wochen später in Wien. Die Taliban feiern den Abzug

der internationalen Streitkräfte, ich befinde mich auf einer

der zahlreichen Demonstrationen gegen die neuen Herrscher

in meiner alten Heimat. Wir leben zum Glück in einem

freien Land und können auf der Straße politische Forderungen

stellen, ohne um unser Leben fürchten zu müssen.

Zusammen mit ein paar Hundert Landsleuten und einigen

AktivistInnen fordern wir am Karlsplatz die Welt auf, unschuldige

Menschen aus Kabul zu retten. Dort treffe ich Narges * .

Ich spreche sie an, weil die junge Frau im

weißen Sommerkleid kurz davor eine mitreißende

Rede auf dem Podest gehalten hatte.

Sie trägt ihr gelocktes Haar offen, ihre

Augenbrauen sind präzise gezupft. Der rote

Lippenstift und ein Nasenring runden das

Outfit der eloquenten Studentin ab. Wem

sie für die Misere in unserem Heimatland

die Schuld gibt, möchte ich von ihr wissen.

Narges zögert: „Aschraf Ghanis Regierung

/ POLITIKA / 13



Aus meiner Heimatstadt bekomme ich fast

täglich Videos zugeschickt. Der Inhalt:

Männer werden ausgepeitscht, weil sie

Namen von fremden Frauen in ihrem Handy

gespeichert haben. Mädchen ab der siebenten

Schulstufe wird der Weg in die Schule

blockiert und es wird ihnen mit Steinigung

gedroht, sollten sie sich widersetzen.

© AAMIR QURESHI / AFP / picturedesk.com

war korrupt“, entgegnet sie nüchtern. Die

Taliban erwähnt sie nicht.

Tatsächlich flossen die meisten Hilfsgelder

aus Amerika direkt in die Taschen

des Ex-Regierungschefs und seiner Gefolgschaft.

In den sozialen Medien, wie TikTok

oder Telegram, ist es ein offenes Geheimnis.

Dort machten Gerüchte die Runde, Ghani

wäre mit einem Hubschrauber voller Geld

außer Landes geflohen. Wahrscheinlich

wollte der „Verräter“, wie Ghani hämisch

von vielen Afghanen genannt wird, dem Schicksal des 1996

von den Taliban geköpften Ex-Präsidenten Nadschibullah

entkommen. Den Leichnam des letzten kommunistischen

Machthabers des Landes hängten die Gotteskrieger an einer

Betonplattform für Verkehrspolizisten vor dem Präsidentenpalast

auf. Zur Abschreckung, wie im Mittelalter.

„IHR HABT KEINE AHNUNG, WELCHE

MONSTER IHR KLEINREDET!“

Das war 1996. „Warum sollten die Taliban 2021 anders

ticken?“, frage ich Narges. Vor allem zu Frauen sei das

Regime streng, sagt sie mir. Aber: „Wenigstens ist die Situation

ruhiger als in den letzten Jahren. Vor zwei Tagen sind

170 Menschen ums Leben gekommen (Anm. d. Red.: Bei

einem IS-Anschlag in der Nähe des Kabuler Flughafens). Zu

Ghanis Zeit starben 170 fast jeden Tag“, so Narges.

Ich bin erstaunt. Und schockiert. Eine in Wien geborene

Frau sieht die Taliban als das geringere Übel für unser

Land. Ich staune, wie schnell sich das Narrativ der Taliban

als abscheuliche Gotteskrieger und Menschenfeinde zu

dem der „Retter Afghanistans“ oder in das „Geringere Übel“

abgeschwächt hat. Tatsächlich verhandelte Deutschland mit

der politischen Führung der Taliban, um ihre Staatsbürger

und AfghanInnen, die im Dienst der Deutschen Bundeswehr

gearbeitet hatte, zu retten. Auch die USA machen nun

gemeinsame Sache mit den Taliban, da sie einen gemeinsamen

Feind haben: den afghanischen IS-Ableger „Khorasan“.

Es kann doch nicht sein, dass diese Barbaren plötzlich

salonfähig werden? In den letzten Jahren habe ich kaum

einen Tag verbracht, ohne mir um

meine Familie in Herat Gedanken

zu machen. Mein Vater war ein

Gefängniswärter, mein großer

Bruder kämpfte bis zuletzt an

der Front. Sie leben seither im

Untergrund in meiner Heimatstadt,

aus der ich fast täglich

Videos zugeschickt bekomme.

Der Inhalt: Männer werden ausgepeitscht,

weil sie Namen von

fremden Frauen in ihrem Handy

gespeichert haben. Mädchen ab

der siebenten Schulstufe wird

Ich bin erstaunt. Und

schockiert. Eine in

Wien geborene Frau

sieht die Taliban als

das geringere Übel für

unser Land.

Sieht so die neue Ordnung in Afghanistan aus? Ein

Taliban-Kämpfer hält Wache an einem Kabuler Bazar.

der Weg in die Schule blockiert

und es wird ihnen mit Steinigung

gedroht, sollten sie sich widersetzen.

Leute, ihr habt keine Ahnung, welches

Monster ihr kleinzureden versucht.

„OHNE AMERIKA WÜRDE ES

DIE TALIBAN NICHT GEBEN“

Hussein * , ein Mittzwanziger mit starker

Leidenschaft für Musik und Filme, ist

hazarischer Herkunft. Wie viele andere

Hazara hat er den Großteil seines Lebens im

Iran verbracht. Dort ging er in die Schule,

bevor er sich 2015 entschied, sein Glück in

Europa zu suchen. Es verschlug ihn nach Wien. Als ich ihn

über Facetime um 9 Uhr früh im Bett antreffe, zieht er sich

noch schnell ein Unterhemd über und setzt sich auf. Hussein

erzählt mir, dass er vorgehabt hatte, die afghanischen Regierungstruppen

im Kampf gegen die Taliban zu unterstützen.

Das sei vor rund zwei Monaten gewesen. Er hatte schon die

Koffer gepackt, bevor die Mutter aus dem Iran seinen Plänen

den Riegel vorschob.

Auf die Taliban angesprochen weicht Hussein aus. Er

spricht von einer Verschwörung gegen das afghanische Volk,

die dem Land über 40 Jahre Krieg und Terror gebracht habe.

Er sieht vor allem die Amerikaner als die Hauptschuldigen an

der Misere, die Taliban als eine unerfreuliche Begleiterscheinung.

Ohne Amerika würde es die Taliban nicht geben, sagt

er mit lauter Stimme. Ich halte kurz still. Er hat geschichtlich

nicht ganz unrecht, da die Taliban vor allem von den USA

in den 80ern gepusht wurden, um gegen die Russen zu

kämpfen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die

Männer mit Turban, Sandalen und Kalaschnikow eine große

Bedrohung für das freie Afghanistan sind. Ihr Weg an die

Macht ist mit Blut und Terror überzogen.

MÄNNER NEIGEN DAZU, DIE TALIBAN

ZU VERHARMLOSEN

„Viele afghanische Männer in der Diaspora unterschätzen, im

Gegensatz zu Frauen, die Gefahr der Taliban“, erklärt Emran

Feroz, der als freier Journalist u.a. für Die Zeit, taz und Al

Jazeera schreibt. (siehe Interview S. 16) Der in Innsbruck

geborene Feroz sieht eine starke Geschlechterparität in der

Talibanfrage: „Vielleicht spielt das

männliche Ego dabei eine Rolle,

nach dem Motto : „Diese Männer

haben das Land zurückerobert

und die USA rausgekickt.“ Feroz

ortet eine gewisse Kriegsmüdigkeit,

die die Menschen zur

Akzeptanz der Taliban drängt. Sie

sehnen sich nach einer starken

Hand, die Korruption und Krieg

endgültig beendet, so Feroz.

Ich verstehe jetzt etwas

besser, warum selbst Hussein,

der als Hazara zum Todfeind der

Taliban gehört, die Gotteskrieger

und neuen Herrscher Afghanistans

nicht mehr gänzlich ablehnt.

14 / POLITIKA /

/ POLITIKA / 15



Auch Narges, die junge, moderne Frau, die ich auf

der Demo in Wien kennenlernte, argumentierte mit

dem Sicherheitsaspekt. Genauso wie der Mann vom

Brunnenmarkt. Dieser Unwissende - wenn ich an ihn

denke, steigt mein Blutdruck. Tut mir leid, ich kann

die Emotionen nicht zurückhalten. Diese mittelalterlichen

Delinquenten werden mein Heimatland

doch nicht nach 40 Jahren endlich in ruhige Gefilde

führen?

WÖLFE IM SCHAFSPELZ

Es ist mittlerweile Mitte September. Ich sehe Videos

der Taliban, die Musik und Partys per Flyer verbieten

wollen. Meine Mutter erzählt mir von Minderjährigen

in gekaperten High-Tech-Helikoptern der amerikanischen

Streitkräfte und wie kurze Zeit später der

Hubschrauber wie betrunken über den Dächern

Herats torkelt. In einem anderen Video sehe ich die

Gotteskrieger in Vollmontur, wie sie Sportgeräte in

einem Fitnesscenter auf ihre ganz eigene Art und

Weise benutzen. Wäre das alles nicht so traurig, würde

ich vor Lachen auf dem Boden liegen. Ich erzähle

meiner Mutter vom Sympathieaufwind der Taliban

in Wien. „Schau, mein Sohn“, sagt sie mit ruhiger

Stimme in die Kamera und fängt zu erzählen an: über

die positive Entwicklung von Herat, über die Parks,

Spielplätze, Denkmäler, die neu gebaut wurden;

über die wieder lebendigen Restaurants und Straßen.

Frauen mussten in den letzten Jahren keinen

Tschador tragen und durften die Schule besuchen.

Manche Einwohner fühlten sich an wohlhabendere

Städte jenseits der iranischen Grenze erinnert. Es gab

zwar auch Anschläge, Plünderungen und Entführungen

– ein kleiner Lichtblick gab den Menschen aber

Hoffnung für die Zukunft, so meine Mama.

Unter den Taliban wurden jene errichteten Denkmäler

in den letzten Wochen zerstört. Frauen dürfen

nur mehr vollverhüllt auf die Straße. Versammlungen

mit Musik und Tanz sind untersagt. „Das kannst du

ruhig den jungen Menschen sagen. Sie sollen sich

selbst ein Bild von den angeblich geläuterten Taliban

machen“, wird meine Mutter plötzlich laut. Sie kriegt

sich schnell wieder ein, weil sie aufpassen muss,

nicht von den Nachbarn gehört zu werden, die sie

für wenige Afghani an die Taliban verpfeifen. Damit

spricht sie mir aus der Seele. Den Wölfen im Schafspelz

glaubt man nicht, sie sind noch immer Wölfe.

Und wenn ihr wirklich so überzeugt von ihnen seid,

geht nach Hause und baut mit ihnen Afghanistan

auf. ●

* Namen von der Redaktion geändert

Taliban-Kämpfer in Kandahar nach dem Abzug der US-

Truppen

BIBER: Warum sagen viele

AfghanInnen in Wien, das

Taliban-Regime sei ihnen lieber

als das Chaos im Krieg?

EMRAN FEROZ: Ich habe die

Erfahrung gemacht, dass junge

Männer in der Diaspora oft eine

andere Meinung als Frauen

haben. Frauen wissen, dass ihre

Rechte in Afghanistan seitens

der Taliban mit Füßen getreten

werden. Männer haben da eine

andere Position. Da spielt das

männliche Ego auch eine Rolle –

nach dem Motto: „Diese Männer

haben das Land erobert, und die

USA rausgekickt!“ Respekt also

für den langen Atem und die

Stärke, die Übermacht USA in die

Schranken verwiesen zu haben.

Was sehr auffällt, ist dieser

Sicherheitsaspekt, nach dem die

Lage beurteilt wird. Sie sagen

dann: Wir wollen den Krieg und

die Korruption nicht mehr, eine

Ordnungsmacht muss her. Die

Sehnsucht nach Sicherheit und

Ruhe ist sehr groß.

Hängen die Einstellungen der

EXPERTEN-INTERVIEW

„Das männliche Ego spielt auch

eine Rolle.“

Emran Feroz ist freier Journalist und hat

Ende August das Buch „Der längste Krieg.

20 Jahre War on Terror“ herausgebracht.

Interview: Aleksandra Tulej

jungen Afghanen in Wien mit der

korrupten Regierung Afghanistans

zusammen?

Wenn man 15-20 Minuten aus

Kabul hinausfährt, dann sieht

man, dass nichts von irgendwelchen

Geldern in den Dörfern

angekommen ist. In den größeren

Städten vielleicht eher, aber am

Land sieht man nichts davon, dort

leben die Leute in bitterer Armut.

Man muss auch sagen, dass vor

allem die jungen Afghanen ihre

Informationen oft aus Facebook,

Instagram oder TikTok beziehen,

wo diese Korruptionsvideos die

Runde machen. Das ist ja ein

offenes Geheimnis dort.

Welche Volksgruppen aus der

Region sind in Wien eher den

Taliban zugeneigt?

Dazu müsste man sich anschauen,

wie lange die Menschen, von

denen wir hier sprechen, schon

hier leben. Wenn wir von jenen

sprechen, die in den 80ern oder

90ern hergekommen sind, dann

war das eher die gebildetere

Schicht. Die hatten einen anderen

© JAVED TANVEER / AFP / picturedesk.com, © privat

Bezug zum Land – da wurde

mehr auf dieses Einheitsgefühl

geschaut, trotz der ethnischen

Unterschiede. Das ist bei den

Afghanen, die in den letzten

Jahren hergekommen sind,

aber schon anders. Da bleibt

man eher unter sich. Oft wird

gesagt, dass Hazara gebildeter

und weltoffener sind. Das

kann schon sein. Paschtunen

leben eher nach einem eher

konservativen, traditionellen

Weltbild. Aber dazu muss

ich auch sagen: Die von den

Taliban kontrollierten Gebiete

waren oft ländliche paschtunische

Regionen, da wurde der

War on Terror heftig geführt.

Wir sprechen hier von einem

dauerhaften Kriegszustand. Die

Menschen wurden links liegen

gelassen, aus Kabul kam keine

Hilfe an. Also war Schulbildung

dort auch nicht so möglich, und

somit auch die Gefahr, sich zu

radikalisieren, größer. Deshalb

sympathisieren mehr Pasch-

tunen auch mit den Taliban.

Übrigens: Die Taliban machen

jetzt auf „inklusiv“ und wollen

nicht mehr differenzieren, wer

woher kommt – aber in den

Führungspositionen bei ihnen

hast du fast nur Paschtunen.

Was sagen Sie als Experte

dazu, wenn ein junger Afghane

in Wien meint, die Taliban seien

das Beste für Afghanistan?

Dem sage ich: Du würdest

keinen Tag dort (über)leben

bzw. es dort aushalten. Solche

Aussagen kommen oft von

jungen Burschen, die selbst nie

unter den Taliban gelebt haben,

und die dann dazu tendieren,

das alles zu romantisieren

und da irgendeine Nostalgie

hineininterpretieren. Ich verstehe

natürlich die Kritik an der

Regierung, aber ich bin nicht

dafür, dass man die Taliban so

verharmlost, wie es jetzt auch

einige westliche Journalisten

tun.

VÖLKER AFGHANISTANS

SOLIDARITÄT

#FÜRDICH

DIE AK FORDERT EINEN GERECHTEN

SOZIALSTAAT, DER FÜR ALLE DA IST.

Laut Statista lebten 2020 In Afghanistan rund

33 Millionen Menschen. Das Land ist ein Vielvölkerstaat,

den größten Bevölkerungsanteil haben

Paschtunen (40%), Tadschiken (25%), Usbeken und

Hazara (beide rund 9%). Die meisten der Paschtunen

stammen aus dem pakistanischen Grenzland und

gehören zu muslimischen Sunniten. Ihre Sprache ist

Paschtu, die zweitgrößte Sprache des Landes neben

Dari. Die Hazara sind ein ehemaliges Nomadenvolk

aus der Mongolei, die sich in der Tradition von

Dschinghis Khan sehen. Sie sind Schiiten und sind

deswegen sowohl dem Taliban als auch dem IS ein

Dorn im Auge. Sie gelten als liberal und stellen einen

Großteil der 0,8 Millionen afghanischer Flüchtlinge

im Iran dar. Tadschiken gehören vor allem der Stadtbevölkerung

an und sind im Handel tätig. Genauere

Zahlen über die Zusammensetzung und Anzahl der

Bevölkerung sind extrem schwer zu zufinden. Die

Völker sind in viele Stämme unterteilt, das zerklüftete

und in weiten Teilen schwer erreichbare Bergland

Afghanistans und der 40jahre lange Kriegszustand

verunmöglichten bis jetzt eine Volkszählung. Die

erste und einzige Volkszählung wurde im Jahr

1979 durchgeführt, dem Jahr des Einmarsches der

Sowjetunion.

AK.AT/FÜRDICH

16 / POLITIKA /



Herr Ho, wie

viele tote Kinder

haben Sie schon

gesehen?

Wie viele

Auslandseinsätze

haben

Sie als Arzt

absolviert?

Wie viele

Menschen

kennen Sie,

die an Corona

erkrankt sind?

Wie viele

Menschen

kennen Sie,

die sich nicht

impfen lassen

möchten?

Welche Schulnote

geben

Sie der österreichischen

Regierung in

der Pandemiebekämpfung?

Wie oft haben

Sie als asiatischstämmiger

Arzt

in den USA

monatlich Rassismuserfahrungen

gemacht?

Wie viele

tote Kinder

haben Sie in

Ihrem Leben

gesehen?

Wie oft haben

Sie während

eines Einsatzes

geweint?

Wie viele Stunden

dauerte

Ihr längster

Dienst?

Interview in Zahlen: In der Politik

wird genug geredet. Biber fragt

in Worten, der Präsident von

„Ärzte ohne Grenzen“(ÄOG), Leo

Ho, antwortet mit einer Zahl.

7

12

2

3

1

400

0

30

Von: Amar Rajković und Gracia Ndona,

Fotos: Zoe Opratko

Der Kinderarzt Leo Ho hat bei keinem seiner Einsätze geweint.

Leo Ho kennt zwei Personen, die eine Corona-Impfung

verweigern.

Mindestens ein Mal im Monat hat Ho als Facharzt in den USA

Rassismuserfahrungen gemacht.

Die österreichische Regierung verdient sich laut Ho ein

„Befriedigend“ für die Bewältigung der Corona-Pandemie.

Wie viele

Kinder sterben

täglich an

Malaria?

(2019)

Wie viele Malaria

Behandlungen

hat ÄOG

im vergangenen

Jahr durchgeführt?

Wie viele

Kinder sterben

täglich

aufgrund

von Mangelernährung?

Wie viele Menschen

haben

weltweit keinen

regelmäßigen

Zugang

zu sauberem

Wasser?

Wie viel €

verdient ein

ÄOG-Arzt in

Afghanistan bei

seinem ersten

Einsatz monatlich

(brutto)?

Wie viele Menschen

sind 2015 bei dem

Luftangriff der

USA auf das von

Ihnen unterstützte

Krankenhaus in

Kunduz, Afghanistan,

gestorben?

In wie vielen

Ländern

ist ÄOG im

Einsatz?

Wie viel kostete

ihr Medizinstudium

in den

USA (in $)?

Bis zu welchem

Jahr wird es

spätestens eine

Malaria-Impfung

geben?

Wie viele Mio.

Spendengelder

erhielt ÄOG

Österreich

im Jahr 2021

(in €)?

750

2.690.600

8.500

2.200.000.000

1.485

42

Über

80

100.000

2026

14

18 / POLITIKA /

/ POLITIKA / 19



MEINUNG

TALIBAD

Sind feministische Badeveranstaltungen ohne Männer ein

Gefallen an die Taliban oder einfach nur zeitgemäß?

Kommentar von Amar Rajković

Ende August verkündete die Influencerin und

Unternehmerin Madeleine Alizadeh alias „Dariadaria“

eine Veranstaltung, die für erheblichen

Wellengang sorgen sollte. Alizadeh informierte ihre

330.000 FollowerInnen über einen Badenachmittag im

Thermalbad Vöslau, der ganz ohne Männer auskommen

muss. „Schönheitsstandards, Körpernormen und Male

Gaze (dt.: männlicher Blick)“ müssen draußen bleiben. Es

gehe darum, weiblichen Personen einen Platz in einem Bad

zu schaffen, der ihnen im Alltag oft verwehrt bleibt. Eine

feministische Forderung, die ja nicht ganz neu ist.

Ganz neu ist die Deutung des Events und der vermeintlichen

Folgen auf unsere Gesellschaft. Zumindest, wenn

man dem Mann aus dem neoliberalen, bürgerlichen Milieu

Glauben schenken möchte. Der Homos Libertas sieht in der

Initiative einen Gefallen und Kniefall gegenüber den Taliban,

die ihre feuchte Freude an der Geschlechter-Apartheid

in Bad Vöslau hätten – so der Tenor. Manche von ihnen

wollen sich gar nicht erst auf eine Diskussion einlassen,

weil Geschlechtertrennung „nicht schmackhaft“ verpackt

werden kann. „Educate your sons, do not protect your

daughters“, twitterten wiederum andere altklug, während

sie vor einer mittelalterlichen Scharia-Gesellschaft warnten.

IN DEN SPIEGEL SCHAUEN

Ja, natürlich kann man auf der Oberfläche bleiben und per

se alles, was mit Geschlechtertrennung zu tun hat, mit den

Taliban vergleichen. Damit ertränkt man jede ernsthafte

Diskussion und spricht vielen – auch nicht muslimischen –

Frauen ihre traumatisierenden Erfahrungen in öffentlichen

Bädern ab. Ich denke, wir – und damit meine ich privilegierte

Männer mit Interesse an einer gleichberechtigten

Gesellschaft – sollten uns erstens in den Spiegel schauen

und zweitens einfach mal zuhören, anstatt wie getrieben

anderen Frauen erklären zu wollen, wie die Welt funktioniert.

rajkovic@dasbiber.at

20 / MIT SCHARF /

Bei beiden Punkten nehme ich mich in die

Kritik ganz explizit mit hinein. Ich muss mir als

40-jähriger Familienvater eingestehen, dass ich in

meiner Studentenzeit, im Rudel mit anderen testosterongesteuerten

Alphamännchen, laut und respektlos um

die Häuser gezogen bin. Eine wildfremde Frau von hinten

antanzen? Kein Problem, sie will ja erobert werden. Sie

sagt dir, du sollst dich verpissen oder sie in Ruhe lassen?

Sehr gut, sie zeigt mir die kalte Schulter, weil sie auf mich

steht. Die Welt von vielen Männern ist einfach gestrickt

und sie steht immer im Mittelpunkt. Ich spreche hier von

zukünftigen Ärzten und Anwälten, vorwiegend autochthoner

Abstammung – weil das Argument des importierten

Frauenhasses immer als Erstes kommt.

WIDERLICHER WEINSTEIN BRINGT WENDE

Spätestens Weinstein, dieser widerliche Filmproduzent

aus den USA, hat mir die Augen geöffnet. Plötzlich erzählt

dir deine Freundin, dass ihr mindestens einmal im Monat

irgendein merkwürdiger Typ bis zur Haustür folgt. Oder

deine Mutter, die von einem Creep am helllichten Tag

verfolgt wird, während dieser in seiner Hose herumspielt.

In meiner Selbstverliebtheit und Naivität hätte ich es nie

im Leben für möglich gehalten, dass sich wildfremde

Männer an Frauen im Wasser heranpirschen, um mit ihrem

erigierten Glied auf Tuchfühlung zu gehen. Ich hätte mir

niemals albträumen lassen, dass Frauen beim Duschen

von Männern ungefragt fotografiert werden. Auch Sprüche

von der Seite wie „Hey, willst du ficken?“ hielt ich nicht

für möglich. Sie sind aber real und passieren jeden Tag in

Badeanstalten dieses Landes. Die Möglichkeit, zumindest

ein paar Stunden sorglos und unbeobachtet im Wasser

zu planschen, ohne deppert angemacht zu werden, ist

keine talibanesque Vision. Es ist der Ausdruck einer freien

Gesellschaft.

Zoe Opratko

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„Nicht im

Interesse

unseres

Landes.“

Der Anwalt Kazim Yilmaz

kümmerte sich 2018

darum, dass 66.382

AustrotürkInnen ihren

österreichischen Pass nicht

verloren. Drei Jahre später

sorgt ein ähnlicher Fall für

mediales Aufsehen. Was ist

passiert?

Von Gracia Ndona , Foto: Zoe Opratko

BIBER: Herr Yilmaz, was ist seit ihrer erfolgreichen Beschwerde

beim Verfassungsgerichtshof am 17.12.2018 passiert?

KAZIM YILMAZ: Die meisten Mandanten, die ihre österreichische

Staatsbürgerschaft behalten durften, haben sich bei mir

telefonisch oder per E-Mail bedankt. Ich habe gespürt, dass die

Menschen sehr erleichtert waren, und war sehr glücklich, dass

abstruse Beweismittel in unserem Land, einem funktionierenden

Rechtsstaat, nicht relevant sind.

Nun gibt es einen zweiten Fall, der für Schlagzeilen sorgt.

Die Wiener Staatsbürgerschaftsbehörde (MA35) behauptet,

im Zuge der Wahlen, die 2018 in der Türkei stattgefunden

haben, eine Abfrage auf einer angeblichen Internetseite der

hohen türkischen Wahlkommission getätigt zu haben. Ca. 450

Personen sollen dort als Wähler und Wählerinnen aufscheinen.

Jetzt glaubt die Behörde, dass diese Menschen nach Verleihung

der österreichischen Staatsbürgerschaft die türkische

wieder angenommen haben. Das würde dazu führen, dass sie

die österreichische ex lege – also vom Gesetz her automatisch

– verlieren würden.

Warum tauchen solche Wahllisten, auf denen austrotürkische

Staatsbürger stehen, immer wieder auf?

Das ist eine gute Frage. Das Ganze hat 2017 als eine Art Wahlkampfkampagne

gestartet, wie auf diversen Youtube-Videos

nachgesehen werden kann. Der damalige Parteiobmann der

Freiheitlichen H.C. Strache und deren damaliger Klubobmann

Johann Gudenus haben die ominöse Liste an die jeweiligen

Staatsbürgerschaftsbehörden übermittelt.

Welche Konsequenzen kann diese als Screenshot existierende

Wahlliste des türkischen Außenministeriums für ihre Mandanten

haben?

Da die Behörde die Abfrage 2018 gemacht hat, würden die

Menschen mit 2018 ihre österreichische Staatsbürgerschaft

und somit die Grundlage für den Aufenthalt verlieren. Hier

könnten bestens integrierte Menschen und Steuerzahler zu

Sozialhilfeempfängern gemacht werden.

Wann wird ein Urteil gefällt?

Nachdem die MA35 per Bescheid entschieden hat, besteht die

Möglichkeit, Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien zu

erstatten. Von dieser Möglichkeit haben wir für unsere betroffenen

Mandanten Gebrauch gemacht. Die ersten Entscheidungen

des Verwaltungsgerichtes werden dann vermutlich in den

nächsten ein bis drei Monaten kommen. Ich vermute, dass

diese Sache wieder bis zu den Höchstgerichten, sprich dem

Verfassungsgericht und/oder den Verwaltungsgerichten, gehen

wird. Das wird wieder einige Monate in Anspruch nehmen.

Wie hoch schätzen Sie die Chancen ihrer Mandanten in diesem

Fall ein?

Ich bin davon überzeugt, dass Österreich ein Rechtsstaat ist,

in dem ominöse und nicht überprüfbare Internetabfragen nicht

dazu führen können, dass Österreicherinnen und Österreicher

ihre Staatsbürgerschaft und somit ihre Existenzgrundlage

verlieren.

NACHGEFRAGT

Was sagt die türkische Botschaft?

Nach Rücksprache gab uns die türkische Botschaft

in Wien bekannt, erst aus der Presse von der vermeintlichen

Wählerliste erfahren zu haben. "Von der

offiziellen österreichischen Seite haben wir weder

Informationen noch Anfragen diesbezüglich erhalten",

wurde uns seitens der Botschaft verkündet.

Was sagt Vize-Bürgermeister

Christoph Wiederkehr?

Aktuell liegt gegen 450 Personen in Wien der

Verdacht auf eine unzulässige Doppelstaatsbürgerschaft

vor. Bisher gibt es 60 erledigte Verfahren,

wobei 24 endgültig rechtskräftig erledigt sind.

Anlass für die Einleitung der Verfahren ist eine

Online-Liste der türkischen Wählerevidenz, die im

März 2020 vom VwGH als rechtmäßige Grundlage

bestätigt wurde. Die MA 35 ist daher auch dazu verpflichtet,

diesen Verdachtsfällen nachzugehen.

Auswahlverfahren für den

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22 / POLITIKA /



Entgeltliche Einschaltung

MEINUNG

SCHÄMEN SIE SICH?

Wenn Politiker nur Machterhalt im Sinn haben, sind sie ihrer Macht nicht würdig, findet

Chefredakteurin Delna Antia-Tatić im Zuge der hiesigen Afghanistan-Politik.

D A M I T D U S C H N E L L

D E I N E E R S T E N E I G E N E N

V I E R W Ä N D E F I N D E S T

Dieser Tage habe ich schon wieder diese Vorstellung.

Obwohl „Bedürfnis“ wohl das bessere Wort ist.

Ich hatte es schon einmal, im Winter 2020. Stichwort

Moria. Dabei stelle ich mir vor, wie ich am Ballhausplatz

all die mächtigen Minister, Männer und Hintergrundstrippenzieher

auftreffe und meine Wut persönlich adressiere: Es reicht!

Gibt es denn gar keine Grenzen in eurer Politik voller Grenzziehungen?

Wer die besondere Macht innehat, Menschen in akuter

Lebensbedrohung zu helfen, wer Kinder in Not retten kann,

es aber aus Karrieregründen nicht tut, ist nicht zu verstehen.

Kein diplomatisches Gerede, keine politstrategischen Floskeln,

kein noch so einstudiertes Mansplaining der Welt kann mir das

erläutern. Ich will kein „Nehammern“ oder „Schallenbergen“,

wie Presse-Chefredakteur Rainer Nowak den neuen ÖVP-Politstil

tragisch-komisch beschreibt. Wahrlich, ich will keine harten

Männer, die die Taliban zur Räson rufen und der Flüchtlingskonvention

den Kampf erklären. Nein, ich will das Gegenteil.

Ich will, dass die, die oben stehen und eine große Handlungsmacht

besitzen, in entscheidenden Situationen „richtig“ von

„falsch“ unterscheiden können – und auch danach handeln.

Es war falsch, kein einziges Kind aus den griechischen Flüchtlingslagern

vor dem Winter 20/21 nach Österreich zu holen.

Es ist falsch, nach Afghanistan abzuschieben. Es ist schmerzlich

falsch, von „Abschieben so lange es geht“ zu sprechen,

ja Charterflüge zu organisieren, während die Taliban das Land

einnehmen und es darum geht, Menschen außer Landes

zu bringen – und nicht hinein. Jenseits von Gut und Böse

erscheint es, Menschen in purer Lebensangst zu verhöhnen,

die sich aus Verzweiflung an abhebende Flugzeuge klammern.

Denn nichts anderes als Hohn war der Sager des Innenministers:

„Es gibt keinen Grund, warum ein Afghane jetzt nach

Österreich kommen sollte.“

SELBSTBEZOGENER INNENPOLITISCHER

MACHTERHALT

Natürlich ist es berechtigt zu betonen, dass Österreich „nicht

alle retten kann“ und bereits überproportional viele Menschen

in der Vergangenheit aufgenommen hat. Aber hey, das war

richtig. Gut gemacht! Wenn jetzt Gemeinden melden, sie

antia@dasbiber.at

haben Platz, warum nicht weiter so – warum nicht

drüber reden? Statt als Hardliner jegliche Diskussion

im Keim wegen der „Signalpolitik“ zu ersticken.

Wer Macht zum Handeln besitzt, sie aber nicht nutzt

aus Angst, sie zu verlieren, ist für mich ohnmächtig. Wer

nur Machterhalt im Sinn hat, ist getrieben und seiner Macht

nicht würdig. Das gilt für Türkis und ja, auch für Grün – denn

Unterlassung ist auch eine Handlung. Manch ein Türkiser mag

ja wahrlich inhaltlich überzeugt sein, von dem was er sagt

und tut. Das kann ich dann wahlweise hässlich, rassistisch,

fremdenfeindlich und/oder dumm finden, aber bei manchen

bezweifle ich es. Da erscheinen die Mantras von „Balkanroute

schließen“ oder „nach Afghanistan abschieben“ bloß als

berechnetes Kalkül, das unter Druck der politischen Seilschaften

roboterhaft wiederholt wird. Selbstbezogener innenpolitischer

Machterhalt. Und die Grünen? Nun, ob Birgit Hebeins

Austritt aus der grünen Partei ein individueller Einzelfall bleibt,

weil deren Politik „nicht mehr ihr Herz erreiche“, bleibt fraglich.

„ES IST NICHT GEIL, HERZLOS ZU SEIN!“

Diese politische Entwicklung mag im journalistischen Fachjargon

„besorgniserregend“ sein. Im echten Leben sieht meine

erregte Besorgnis so aus, dass ich den Beteiligten meine

menschliche Enttäuschung vor die Füße kippen möchte: Ist es

fürs Ego wirklich so erstrebenswert, von ausländerfeindlichen

und provinziellen Rechten gewählt zu werden? Warum nicht

eine Politik verfolgen, zu der man aufschaut, statt sich eine

anzueignen, die auf andere herabsieht? Wer so viel Macht und

auch Begabung besitzt, warum nicht die konservative Anhängerschaft

mal Merkel-mäßig mit Offenheit und Mitmenschlichkeit

inspirieren – statt um die Stammtischler mit den braunen

Hirnen zu wetteifern? Es ist nicht geil, herzlos zu sein. Es ist

beschämend. Ich fand es toll, dass die deutsche ZDF-Moderatorin

Marietta Slomka den deutschen Außenminister gerade

heraus gefragt hat: „Schämen Sie sich?“ Und das gleiche

möchte ich am Ballhausplatz auch fragen. Denn von Politikern

erwarte ich mir, was ich von anderen Menschen auch erwarte:

Ein Gewissen, ein Herz und das Urteilsvermögen über „richtig“

und „falsch“, wenn es um Menschen in erschreckender

Lebensnot geht – wie jetzt in Afghanistan.

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Die erste Wohnung für sich allein, ist ein großer

Meilenstein in Sachen Erwachsenwerden.

Über lauten Sex als Waffe, Leben am Rande der

Zivilisation, Überforderung durch Privatsphäre

und den ewigen Zyklus des Putzens.

Von Nada El-Azar und Gracia Ndona , Collagen: Zoe Opratko

© unsplash.com/ Annie Spratt / Artem Makarov / Izz R / James Barr

Bei meiner ersten Wohnungsbesichtigung

war ich genauso

nervös, wie bei meinem

ersten Bewerbungsgespräch.

Die Maklerin im schwarz-weißen Kostüm

erklärte mir routiniert, was alles in

dieser Einzimmerwohnung passierte und

passieren soll, bevor ein neuer Mieter –

vielleicht ja ich? - der leeren Bude Leben

einhauchen würde. Die Wohnung befand

sich in meiner absoluten Traumgegend

beim Wiener Augarten – Provision, Kaution

und Mietzins waren erschwinglich. Ich

erinnere mich, wie ich versuchte, mich

in der Wohnung vorzustellen, mit dem

Gedanken, dass dies mein neuer Lebensmittelpunkt

werden könnte. Es war gar

nicht so einfach, innerhalb von 20 Minuten

nachzuvollziehen, ob ich mich dort

einleben könnte, in diesen mir bis dahin

fremden, leeren Räumlichkeiten. „So

eine Wohnung, zu diesem Preis, in dieser

Gegend - ist schnell vergriffen“, erklärte

mir die resolute Frau mit dem Klemmbrett

unterm Arm. Ich verstand das als

Zeichen, mir mit meiner Entscheidung

nicht zu lange Zeit zu lassen. Gesagt,

getan. Es vergingen keine zwei Tage,

bis ich das Angebot annahm. Es war der

Beginn eines neuen Lebensabschnittes,

in einer Zeit, die durch die Pandemie

ohnehin aus den Fugen geraten war.

Das ist alles nun genau ein Jahr her, im

September 2020 wurde ich zum ersten

Mal Hauptmieterin und wohnte fortan

ganz allein.

DIE WÄNDE

SCHWIEGEN LAUT

Tage- oder wochenlanges Durchforsten

von Anzeigenportalen, Wohnungsbesichtigungen,

viel Papierkram, große

Möbel-Schleppaktionen, die Verzweiflung

beim Zusammenbau von Schränken,

reichlich Pizza und Döner essen in den

ersten Wochen – der Einzug in die erste

eigene Wohnung ist kein Kinderspiel.

Diesen großen Schritt ins Erwachsenenleben

vergisst man nie. Meine Vorfreude

auf die eigenen vier Wände wurde

damals von großen Ängsten begleitet.

Hatte ich etwas übersehen? Was ist,

wenn ich plötzlich eine riesengroße

Rechnung bekomme? Was, wenn mir das

Leben alleine gar nicht gefällt? Ich kam

schließlich aus einer Langzeitbeziehung,

inklusive einer geteilten Wohnung. Der

Lockdown hatte diese Wohnung jedoch

zum Käfig zusammengestaucht – die

eigene Privatsphäre war mehr als nötig.

Ich durchlebte einen Abnabelungsprozess,

in Phasen. Mal liebte ich es,

einfach laut Musik zu hören und herumzutanzen

wie eine Verrückte, mal fühlte

ich mich schrecklich einsam und konnte

förmlich hören, wie laut meine eigenen

vier Wände schwiegen.

Auch Tamara ging es ähnlich. Die

Sozialarbeiterin entschloss sich ebenfalls

vergangenes Jahr dazu, alleine zu leben.

Sie hatte weniger Glück und erwischte

den Lockdown in voller Härte. Die Möbelbestellungen

bei IKEA ließen aufgrund

der vielen Onlinebestellungen lange auf

sich warten, die Wohnung wurde nur

langsam bewohnbar. „Ich hätte auch

gerne einen besseren Überblick darüber

gehabt, welche Strom- und Gasanbieter

es überhaupt gibt und wie schnell

ich mich für einen davon entscheiden

muss“, erinnert sie sich. „Außerdem

schimmelte mein Vorraum in der Wohnung

und die Hausverwaltung reagierte

erst auf meine Anfragen, als ich mit einer

Klage drohte!“, so die 26-Jährige. Tamara

kam aus einer noch längeren Beziehung

und meinte, es hätte ganze drei bis

vier Monate gedauert, bis sie sich daran

gewöhnte, das Bett ganz für sich alleine

zu haben. „Mittlerweile finde ich es aber

so besser und bereue gar nichts“, fügt

sie hinzu.

„WIR HATTEN

ABSICHTLICH BESONDERS

LAUTEN SEX.“

Anders ging es Marija. Sie zog vor vier

Jahren als Studentin in eine Wohnung im

Haus ihrer serbischen Oma. Zwar lag das

Haus im 14. Bezirk am Rande von Wien,

weit abwärts von Hütteldorf, dafür musste

sie dort keine Miete zahlen, sondern

nur die Betriebskosten. Und einen großen

Garten für ihren Hund gab es auch

noch – also eigentlich ein guter Deal.

Doch nach wenigen Monaten stellte sich

das als eine Fehleinschätzung heraus.

Marijas Oma freute sich nämlich ein

wenig zu sehr über Gesellschaft im abge-

26 / RAMBAZAMBA /

/ RAMBAZAMBA / 27



Endlich alleine! Und jetzt: Wie melde ich Strom an? Wieviel kostet eine

Haushaltsversicherung? Keine Sorge, wir haben alle Antworten parat!

legenen Haus. „Ich schwöre! Manchmal

stand die Frau einfach mitten in meiner

Wohnung. Das war schon sehr unangenehm,

besonders als mein damaliger

Freund immer wieder zu Besuch war. Um

zu verhindern, dass sie an der Tür stehen

bleibt, hatten wir absichtlich besonders

lauten Sex“, erinnert sich die 29-Jährige.

Ständig klopfte ihre Oma an die Tür,

und wenn es nur um übrig gebliebene

Salami im Kühlschrank ging. Im Sommer

schätzte Marija die Nähe zum Grünen

und machte gerne ausgiebige Spaziergänge

mit ihrem Hund im Wienerwald.

Im Winter verwandelte sich ihre Straße

jedoch in eine graue und trostlose, kalte

„Enklave für alte Menschen“, wie sie

beschreibt.

„Meine Freundinnen wollten irgendwann

nicht mehr zu mir nach Hause

kommen. Eine von ihnen wohnte am

anderen Ende von Wien in Favoriten, die

Fahrt allein dauerte schon anderthalb

Stunden. In den Ferien kam der Bus zur

nächsten U-Bahnstation in Hütteldorf

auch nur alle 30 Minuten! Es war eine

Odyssee.“ Bis sich Marija ihre ersten

eigenen vier Wände in der Stadt leistete,

verging einige Zeit. „Es war schon verrückt

damals bei meiner Oma. Ich konnte

mir ja zu Beginn nicht mal die Betriebskosten

leisten und daher wohnte auch

meine beste Freundin mit mir auf diesen

lächerlichen 40 Quadratmetern, und die

Freundin musste sogar im Wohnzimmer

schlafen, das ein Durchgangszimmer

war“, lacht sie. Da der Kühlschrank sich

nicht in der Wohnung, sondern im Keller

des Hauses befand, verhandelten Marija

und ihre Freundin jeden Tag aufs Neue,

wer denn in der Früh die Milch für den

Kaffee holen und so eine Begegnung mit

ihrer Oma riskieren würde. „Das wurde

aber zu einer Art Spiel, und wir nahmen

es mit Humor“, so die Wienerin mit serbischen

Wurzeln.

INTERNET:

EIN ONE-STOP-SHOP?

Mit dem Einzug in die Wohnung ist es

aber niemals getan. Auch das richtige

Haushalten will gelernt sein. Aziz, der ein

Wiener mit libanesischen Wurzeln ist,

und in einer größeren Familie aufwuchs,

unterschätzte nach seinem Umzug, wie

viel Zeit das Putzen und Wegräumen

in Anspruch nehmen würde. „Ich habe

mich total geirrt, wie viel Zeit das Ganze

mit dem Haushalt eigentlich in Anspruch

nimmt. Als ich noch bei meinen Eltern

gewohnt habe, konnte ich ein Glas in die

Küche stellen und es verschwand irgendwann

einfach. Wenn ich aber heute in

meiner Wohnung ein Glas irgendwo lasse

– Bruder, steht es für immer dort, wenn

ich es nicht wegräume“, winkt er ab.

„Man muss dieses Verständnis ablegen,

dass sich alles von alleine regelt, und

Verantwortung übernehmen“, so der

28-Jährige.

Katarzyna kommt ursprünglich aus

Polen und kam zu Studienzwecken vor

fünf Jahren nach Wien. Zuvor wohnte sie

schon in diversen WGs. Für sie war der

Schritt zur eigenen Wohnung auch eine

Kostenfrage. „Also ich hätte wirklich gerne

gewusst, wie teuer Putzzeug eigentlich

ist!“, verrät die 25-Jährige. „Aber

eine Freundin von mir hatte wirklich

überhaupt keine Ahnung, was zu tun war

nach dem Umzug. Sie ging tatsächlich

einfach zum Media Markt, um sich dort

Internet zu kaufen. Wirklich, sie dachte,

dass man mit dem einmaligen Kauf eines

Routers einfach Internet zuhause hätte“,

schüttelt sie den Kopf.

MÄNNER WIE SCHRÄNKE

Letztlich gilt beim Einleben in der ersten

eigenen Wohnung, wie so oft, das Motto:

Learning by doing. Ich wusste, dass man

einen Internetvertrag abzuschließen

hatte, und eine Haushaltsversicherung,

und so weiter. Nach etwa zwei Monaten

hatte ich die Wohnung gemütlich eingerichtet,

von der Küchenzeile bis zum

Orientteppich war endlich alles da. An

© unsplash.com/ Candice Picard / Beazy / Erda Estremera / Liuba Bilyk / Redd / Kam Idris / Maria Ziegler / Annie Spratt / The Creative Exchange / Ryan Christodoulou / Samuel Foster, Alp Duran, cleanpng.com

einem herbstlichen Samstagabend ging

ich allerlei Snacks für einen gemütlichen

Filmabend mit einem Freund einkaufen.

Zu Hause vernahm ich ein merkwürdiges,

plätscherndes Geräusch. Und ich

fand schnell die Ursache: In meinem

Badezimmer tropfte es von der Decke

und der Fliesenboden war komplett nass.

Wie durch ein Wunder verpassten die

dicken Tropfen die Steckdose meiner

Therme und ich klopfte an die Haustür

meiner Nachbarn auf der Etage über mir

– vergeblich. Es war schließlich Samstag,

und auch meine unmittelbaren Nachbarn

waren nicht zu Hause.

Das darf doch nicht wahr sein,

dachte ich mir und versuchte verzweifelt

meine Maklerin zu erreichen, weil

ich nicht wusste, was ich tun sollte. Sie

erklärte mir am Telefon, dass ich die

Feuerwehr alarmieren sollte. Und wieder:

Gesagt, getan. Eine Stunde später standen

fünf Feuerwehrmänner, jeder von

ihnen gebaut wie mein Kleiderschrank, in

meinem kleinen Flur. Die Frage war nun:

Sollten sie die Wohnung über mir aufbrechen,

oder nicht? Der „Anführer“ der

Einsatztruppe wehrte sich dagegen. „Es

muss in Bächen von Ihrer Decke fließen,

damit ich eine Wohnung aufbreche! Ich

habe schon ganz andere Dinge gesehen,

glauben Sie mir“, beschwichtigte er

mich. Schlussendlich konnte ich das Herz

eines seiner Kollegen erweichen, indem

ich auf die letzten, unausgepackten Kisten

im Wohnzimmer zeigte und erzählte,

dass ich doch gerade erst in diese

Wohnung gezogen war – meine erste

eigene Wohnung! Das führte dazu, dass

die Männer in Uniform sich doch darauf

einigen konnten, mit großem Krach das

Türschloss der Nachbarn über mir zu zerschmettern,

um dort, zu meiner großen

Erleichterung, einen schlimmen Wasserschaden

festzustellen.

Ich lernte an diesem Abend, dass das

eigene Bauchgefühl immer der beste

Wegweiser ist, und wie wichtig es ist,

aus seiner Komfortzone herausgehen zu

können und Verantwortung zu übernehmen.

Mein Bauchgefühl half mir dabei,

überhaupt abzuschätzen, ob meine Wohnung

die richtige für mich war. Und nun

will ich sie um nichts aufgeben. ●

DAS ABC ZUR ERSTEN

EIGENEN WOHNUNG

Du mietest deine ersten eigenen vier Wände und versinkst

im Begriffschaos? Hier einige Tipps, von A bis Z:

A

B

C

D

E

wie Aussperren

Du hast deinen Schlüssel verloren

oder zu Hause vergessen?

Einen Schlüsseldienst zu rufen

kann richtig teuer werden –

zwischen 49 und 84 Euro kann

ein Schlosser dir während der

Betriebszeiten (08:00 – 17:00)

verrechnen. An Wochenenden,

nachts oder an Feiertagen kann

eine Öffnung deiner Tür sogar

über 170 Euro kosten!

wie Beihilfe

Für alle, die ein geringes

Einkommen haben, kann die

Wohnbeihilfe Wunder wirken.

Mit dem Wohnbeihilfe-Checker

der Stadt Wien kannst du online

nachsehen, ob du die Voraussetzungen

für die Wohnbeihilfe

erfüllst und den Antrag sogar

bequem online ausfüllen!

wie Chaos

Miste deine Sachen aus, bevor

du umziehst! Marie Kondo wäre

stolz auf dich. Kombiniere das

Aufräumen mit Dingen, die du

liebst: Musik, Podcast-Hören

oder Telefonieren.

wie Dauerauftrag

Habe ich in diesem Monat

schon die Miete überwiesen?

Damit du dir diese Frage nicht

mehr stellen musst, richte im

Onlinebanking einfach einen

Dauerauftrag an deine Hausverwaltung

oder VermieterIn ein! In

der Regel sollte die Miete stets

am 1. des Monats einlangen,

das wird im Mietvertrag festgehalten.

wie Erstbezug

In vielen Wohnungsanzeigen

F

G

H

steht der Begriff „Erstbezug“.

Dabei handelt es sich um

den ersten Bezug einer neu

gebauten oder eben sanierten

Wohnung.

wie Fixkosten

Bevor du überlegst, deine erste

eigene Wohnung zu nehmen,

musst du einen Überblick über

deine Fixkosten haben. Diese

sind neben der Miete: Strom

bzw. Gas, Versicherungen, Handy-

und Internetrechnung und

Lebenserhaltungskosten.

wie GIS

Sobald du ein empfangsfähiges

Fernseh- oder Radiogerät zu

Hause stehen hast, musst du

das der GIS melden, unabhängig

davon, ob das Gerät

angeschlossen ist oder nicht!

Klopft ein GIS-Mitarbeiter bei dir

an die Tür, musst du ihn zwar

nicht reinlassen, das Gespräch

suchen solltest du aber trotzdem.

Eine Verweigerung der

Auskunft ist nämlich eine sogenannte

Verwaltungsübertretung

und kann mit bis zu 2.180 Euro

geahndet werden!

wie Hausverwaltung

Es gibt keine gesetzliche

Verankerung der Rechte und

Pflichten der Hausverwaltung

bei Mietwohnungen. Grundsätzlich

kommt die Hausverwaltung

bzw. der Vermieter für alle

Schäden auf, die die Gesundheit

der Mieter*innen gefährdet, z.

B.: Schimmel, Wasserrohrbrüche,

sowie undichte Fenster

und Leitungen. Achtung: Seit

28 / RAMBAZAMBA /

/ RAMBAZAMBA / 29



I

J

K

L

2015 müssen Mieter*innen für die

Wartung der Therme sorgen!

wie Installateur

Installateure sind für den Einbau

von Wasser-, Gas-, Wärme- und

Frischluftanlagen zuständig. Die

Preisspanne für ihre Arbeiten kann

in Wien sehr hoch sein. Allein für

die Anfahrt können sich die Kosten

schon zwischen 40 und 100 Euro

bewegen.

wie Jahresabrechnung

Die jährliche Betriebskostenabrechnung

kann zum Geldfresser

mutieren! Informiere dich deshalb

am besten auf der Webseite der

Mietervereinigung oder bei Mietguru

über Tipps und Tricks zur Jahresabrechnung.

wie Kaution

Die Kaution für eine Wohnung

beträgt in der Regel drei Monats-

Kaltmieten. Eine nicht eingezahlte

Miete kann von der Kaution

abgezogen werden. Für normale

Gebrauchsspuren in der Wohnung

(z. B.: Löcher in der Wand, Kratzer

auf dem Boden) darf die Kaution

nicht einbehalten werden.

wie Lohnzettel

Wenn du eine Wohnung mieten

willst, musst du beweisen, dass du in

der Lage bist, die Miete zu bezahlen.

Deshalb werden von der Hausverwaltung

oder den Vermieter*innen

oft die Lohnzettel der letzten drei

Monate verlangt.

wie Mietvertrag

M Ohne Mietvertrag geht nix – lass

ihn, bevor du ihn unterschreibst,

noch von jemandem gegenlesen:

Ob Eltern, einem Freund oder einer

Arbeitskollegin – damit keine zwielichtigen

Vereinbarungen übersehen

werden!

N

wie Nebenkosten

Das sind Kosten, die neben der Miete

anfallen: Darunter fallen Wasser,

O

P

Q

R

S

Müllabfuhr und so weiter. Rechne

dir vor dem Unterschreiben des

Mietvertrags am besten aus, wie viel

diese betragen werden. Dazu gibt es

Nebenkosten-Rechner im Internet.

wie Oh, nein! Unerwartete

Ausgaben

Der Geschirrspüler wird hin, das

Fenster klemmt, die Tür im Bad geht

nicht mehr zu – ob diese Probleme

von der Haushaltsversicherung oder

durch die Vermieter*innen gedeckt

sind, hängt vom Mietvertrag ab.

wie Provision

Die Wahrheit ist: Die richtig guten

Wohnungen findet man oft über

einen Makler. Dem muss man aber

eine saftige Provision zahlen. Tipp:

Bei fast allen Wohnungs-Suchseiten

kannst du den Filter „provisionsfrei“

eingeben.

wie Quadratmeter

Schau dir vor dem Einzug an, wie du

die Quadratmeter deiner Wohnung

am besten verwertest: Achte auf

Dachschrägen und Lichtverhältnisse!

wie Rauchfangkehrer

Meist hängt im Stiegenhaus ein

Zettel mit allen Infos zu Rauchfangkehrer-Terminen.

Wenn du an

besagtem Tag nicht zu Hause sein

wirst, informiere deine Hausverwaltung

darüber!

wie Stromnachzahlung

Um eine fiese Stromnachzahlung am

Jahresende zu vermeiden, mach dir

einen Pauschalbetrag aus, der etwas

höher als dein Verbrauch ist. Dann

bekommst du bestenfalls am Ende

des Jahres Geld zurück und dich

erwartet keine böse Überraschung!

Oder eben: Du musst nix mehr

draufzahlen, auch gut.

30 / RAMBAZAMBA /

T

U

V

W

X

Y

Z

wie Thermenwartung

Bitte nicht verschlafen: Die Therme

muss jährlich gewartet werden,

frag dazu am besten deine

Vermieter*innen.

wie Umleitung der Post

Du kannst deine Post in der nächsten

Postfiliale umleiten lassen, so

gelangen deine Briefe auch an dich

und nicht an deine alte Adresse!

wie Versicherung

Schließ eine Haushaltsversicherung

ab. Glaub uns, tu es einfach. Jetzt.

Dein späteres Ich wird dir danken.

wie Wohnungsanlage

In Wien entstehen gerade in

den Außenbezirken ständig neue

Wohnhausanlagen und Wohnprojekte

– schau dich dort um, an Vielfalt

mangelt es dort nicht!

wie X-Mal Stress mit den

Nachbarn

Das will jede*r vermeiden. Freunde

dich am besten schon am Anfang

mit deinen Nachbar*innen an: Dann

werden sie dir die ein oder andere

laute Party auch verzeihen – oder du

lädst sie einfach auch ein!

wie Yes, endlich alleine!

Denk daran – jetzt bist du und nur du

für deine Wohnung zuständig. Lass

deinen Wohnungsschlüssel nachmachen,

und lasse ihn bei einer Person

deines Vertrauens – im Notfall sehr

brauchbar, wie im Falle des Aussperrens.

wie Zentrales Melderegister

Wenn du umziehst, musst du dich

beim Magistrat ummelden – sprich:

Von der alten Adresse abmelden

und bei der neuen anmelden. Für die

Ummeldung hast du drei Tage Zeit.

Deshalb sollte das Meldeamt beim

Umzug ganz oben auf der To-do-

Liste stehen.

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Name: Shamil Borchasvili

Alter: 26

Wir haben Shamil in der

Roßauer Kaserne in Wien

getroffen – er wollte unbedingt

in seiner Uniform

fotografiert werden.

„Olympia

war

erst der

Anfang“

Shamil Borchasvili hat bei den Olympischen

Spielen diesen Sommer für Österreich die

Bronze-Medaille in Judo geholt. Der Welser

Tschetschene erzählt uns im Interview, warum

er im Olympischen Dorf niemanden getroffen

hat, warum er Floyd Mayweather lieber als

Khabib Nurmagomedov hat, und warum die

Bronze-Medaille erst der Anfang war.

Von Aleksandra Tulej, Foto: Zoe Opratko

BIBER: Shamil, du hast für Österreich die

Bronze-Medaille in Judo geholt, die erste

Judo-Medaille seit den 80ern. Wie haben

deine Eltern reagiert?

SHAMIL BORCHASVILI: Ich habe

meine Mama kurz vor der Siegerehrung

angerufen, das Telefonat hat aber nicht

lang gedauert, weil sie voller Tränen

war(lacht).

Du bist ja in Tschetschenien geboren.

Nach deinem Gewinn titelten alle möglichen

Medien „der Österreicher Shamil

Borchashvili gewinnt die Bronze-Medaille“

– wenn tschetschenischstämmige

Österreicher mit negativen Schlagzeilen

in den Medien sind, heißt es dann „der

Tschetschene“. Siehst du dich als Österreicher

oder als Tschetschene?

Ich bin in Österreich aufgewachsen, habe

hier die HTL Maschinenbau abgeschlossen

und meine Judo-Karriere habe ich

auch in Österreich angefangen. Meinen

Eltern war von Anfang an wichtig, dass

wir die Sprache lernen und uns gut integrieren.

Ja, ich bin Tschetschene aber

ich war seit 18 Jahren nicht mehr dort.

Wir haben drüben gar nichts: kein Haus,

kein Grundstück, gar nichts. Ich bin stolz,

dass ich für Österreich die Medaille holen

konnte – vor allem als Person mit Migrationshintergrund.

Du bist 2004 nach Österreich gekommen.

Wann hast du die Staatsbürgerschaft

bekommen? War das kompliziert?

Das weiß ich gar nicht mehr, Wir waren

zuerst in Traiskirchen, dann beim roten

Kreuz und dann an verschiedenen anderen

Orten in Oberösterreich, bis wir dann

nach Wels gezogen sind.

Wie schafft man es, so ein guter Judoka

zu werden? Was braucht man dafür?

Wenn man so gut wie ich werden will,

muss man Shamil heißen (lacht) Spaß!

Jetzt im Ernst: Ich habe vieles meinem

jüngeren Bruder zu verdanken, der will

immer trainieren und motiviert mich zum

Sport machen. Meinen Eltern war wichtig,

dass mein Bruder und ich irgendeinen

Sport machen, und es ist dann auf

Judo gefallen. Ich habe 2004, gleich

nachdem ich nach Österreich gekommen

bin, begonnen, zu trainieren. Aber dass

ich die Olympia-Medaille gewinne, war

damals nicht geplant (lacht) Ich habe

nach meiner Bundesheer-Grundausbildung

begonnen, als Heeressportler zu

trainieren, und für diese Möglichkeit bin

ich sehr dankbar. Auch meine Cheftrainerin

Yvonne Böhnisch hat mich extrem

gut vorbereitet.

Wie war die Stimmung im Olympischen

Dorf? Du warst zehn Tage dort, hast du

dort jemanden berühmten getroffen?

Ich habe mir dort gar nichts angeschaut.

Alles, was ich gemacht habe war: Essen,

Training und dann ab ins Zimmer. Ich

habe mich mit keinem getroffen. Ich

habe einfach für mich alle Gegner und

ihre Schwächen analysiert. Das erste,

das ich gemacht habe, als ich in Tokio

angekommen bin, war alle meine Social

Medias zu löschen: kein Instagram kein

Facebook, kein Whatsapp. Ich wollte

keine „Viel Glück“-Nachrichten und keine

Anrufe. Ich hatte mit keinem Kontakt,

ich wollte mich nur auf den Wettkampf

konzentrieren.

Das hat ja gut funktioniert. Du hast jetzt

die Medaille in der Tasche. Was sind deine

Pläne für die nächsten Monate?

Das ist erst der Anfang meiner Karriere.

Ich mache ja erst seit drei Jahren Profisport.

Vielleicht hole ich beim nächsten

Mal ja Gold. Ich werde schauen, dass an

meinen Schwachstellen arbeite.

Und was sind deine Schwachstellen?

Das werde ich dir nicht verraten, sonst

wissen es die Gegner (lacht).

Aber das wirst du uns bestimmt verraten

können: Wer ist dein Vorbild?

Floyd Mayweather. Ich feiere diesen

Typen.

Nicht Khabib Nurmagomedov?

Nein, nicht Khabib. MMA ist für mich keine

Sportart. Mayweather ist ein Boxer, er

ist mental, technisch und koordinativ so

stark, er ist mein absolutes Vorbild.

A propos Khabib - das österreichische

Medium exxpress.at hat ein Video veröffentlicht,

auf dem du dich angeblich

bei dem tschetschenischen Landesoberhaupt

Ramzan Kaydrow bedankst. Was

hat es damit auf sich?

Mich hat das sehr traurig gemacht, dass

da so aufgegriffen wurde. Ich war an

dem Wettkampf-Tag sehr emotional.

Ich habe mich bei dem Verein Edelweiß

(anm. d. Red.: ein Judo-Club in Tschetschenien)

bedankt, dafür dass sie für

mich mitgefiebert haben. Das war kein

politscher Gruß, ich wollte mich einfach

bedanken.

Was machst du eigentlich, wenn du

gerade nicht trainierst?

Mein großes Hobby sind Maschinen,

also vor allem Kawasaki. Meine Mutter

hasst es (lacht). Ich musste leider meine

Yamaha verkaufen, weil die Verletzungsgefahr

zu groß war. Aber ich liebe es, mit

meinen Freunden an deren Maschinen

herumzubasteln.

Was wünscht du dir von Österreichs

Nachwuchssportlern?

Mit meiner Medaille möchte ich den

Nachwuchs motivieren. Wir haben in

Österreich so viele talentierte Sportler,

nur fehlt ihnen einfach der Glaube

an sich selbst. Ich bin einer, der groß

träumt. Ich schaffe alles, was ich mir vornehme,

es ist nur eine Frage der Zeit. Es

ist möglich, in Österreich, wo Judo nicht

so populär ist, wie in Japan oder Korea,

etwas in der Disziplin zu erreichen. Ich

hoffe, dass wir bei der nächsten Olympia

dann mehr sind!

32 / RAMBAZAMBA /

/ RAMBAZAMBA / 33



LIFE & STYLE

Mache mir die Welt,

wie sie mir gefällt

Von Aleksandra Tulej

PANIC AT THE

BURGGARTEN: EMOS,

WO SEID IHR?

MEINUNG

Frau Lehrerin, mein

Staubsauger hat die

Kopfhörer gefressen!

Was schafft sich der Millennial von

heute an, wenn er das Pflanzensterben

in seiner Wohnung einigermaßen

in den Griff bekommen hat? Richtig:

einen Roboter-Staubsauger. Eine dieser

erwachsenen Investitionen, die das

Leben erleichtern (sollten). Alles, was

ich dafür tun muss, ist eine Fernbedienung

zu betätigen, und der Roboter

fährt und saugt von selbst. Wie chillig.

Denkste. Der gute Kumpane schaltet

sich nämlich jeden Morgen um Punkt

5:30 Uhr an und piepst fröhlich und

übermotiviert durch die Wohnung,

rattert an meiner Schlafzimmertüre,

weil er nicht hineinkommt. Ich muss

irgendwas programmiert haben, das ich

jetzt partout nicht mehr wegbekomme.

Also heißt es: Aufstehen, abdrehen

und wieder ab ins Bett. Ich habe ein

Haustier, ohne ein Haustier zu haben.

Und letztens hat er meine brandneuen

iPhone-Kopfhörer zerfleddert. Ich muss

dem Staubsauger diese traurige Pacman-Melodie

beibringen, damit er sich

ankündigen kann, bevor er wieder mein

Leben zerstören will. Und der Boomer

in mir schreit innerlich: „Die Maschinen

werden uns überrollen!“ Die Kopfhörer

waren erst der Anfang.

tulej@dasbiber.at

DER SOMMER-

ALLROUNDER

Mein Liebling des

Sommers: das

Cupuacu-Trockenöl

von Ziaja. Es besteht

aus Cupuacu, Sheabutter,

Macadamia-Öl

und Paranüssen. Man

kann es für die Haare,

das Gesicht und

den Körper verwenden.

Es riecht gut,

spendet Feuchtigkeit

und hinterlässt ein

angenehmes Gefühl

auf der Haut. Ich

würde am liebsten

darin baden. ZIAJA,

ca. 6 €

Trinktipp

BRATEE

BALLERT

Definitiv mein Must-have-Getränk des

Sommers 2021: BraTee Wassermelone.

Zugegeben, ich wollte ihn probieren,

da ich ein Packaging

und Marketing-Opfer

bin – und weil er von

Deutschrapper Capital

Bra herausgebracht wurde.

Und nun bin ich darauf

hängengeblieben. Er

schmeckt einfach nach

Sommer: fruchtig, aber

nicht zu süß. BraTee gibt

es in den Sorten Wassermelone,

Pfirsich, Granatapfel,

Zitrone und die

Bali-Edition mit Lychee-

Geschmack. Gibt’s bei

SPAR um 1,49 €.

34 / LIFESTYLE /

Bald hat die Generation Z alle,

wirklich alle Trends der 00-er

Jahre durch. Doch die Wiederauferstehung

einer Gruppierung

suche ich vergeblich: die Emos.

Sie regierten einst MySpace,

Netlog, den Burggarten und die

MaHü, hörten Fall Out Boy und

Panic at the Disco - sie waren

aus der Wiener Jugendkultur

einfach nicht wegzudenken.

Mit ihrem schwarzen Eyeliner,

den aufgebauschten Haaren mit

Seitenscheitel, den Pulswärmern

von Kingpin, den Nietengürteln

von Rattlesnake, Vans und den

Candy-Skull-Mäschchen erkannte

man sie schon aus 30 Metern

Entfernung. Doch seit gut zehn

Jahren scheint diese Subkultur

wie vom Erdboden verschluckt zu

sein. Ihre alten Spots scheinen

nun von selbsternannten Wiener

TikTok-Stars gentrifiziert worden

zu sein. Minus Myspace natürlich.

© Zoe Opratko, BraTee, Ziaja, Pixabay.com

echt. gut.

Der österreichische Serienmontag

Ab 20. September jeden Montag:

Walking on Sunshine | Neue Folgen | 20:15

Familiensache | Neue Serie | 21:05

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INSIDE: FRAU MIT VIERZIG

„BEKOMMT DIE

KINDER JETZT, BEVOR

ES ZU SPÄT IST!“

In fortgeschrittener Altersweisheit hinterlässt

Delna Antia-Tatić kurz vor ihrem Mutterschutz

eine dringende Empfehlung für junge Frauen.

Kann man ernst nehmen, muss man aber nicht.

© Zoe Opratko

Macht nicht denselben Fehler wie ich, wie

meine Freundinnen, wie meine Bekannten

und deren Freundinnen – wie tendenziell alle

Frauen meiner Generation in meiner Bubble,“

predige ich seit Jahren in der biber-Redaktion – bekanntlich

ein Magnet für sehr viele junge Frauen aller Art. Zum

Glück fürs Unternehmen verhalten sie sich jedoch stur und

uneinsichtig. Denn was tun sie? Nichts. Womit wir beim Kern

des Fehlers sind: In der entscheidenden Zeit ihres Frauseins

machen sie genau das, was ich auch tat: Sie lassen einfach

lässig laufen, werden Mitte 30 und älter, konzentrieren sich

in besorgniserregender Naivität auf ihre Karriere, ihr Ego und

ihre Verwirklichung und stehen dann irgendwann da: mit Kinderwunsch

und ohne Kind. Als ob sie keiner gewarnt hätte.

Nun, dieser Text übernimmt das hiermit.

Ich werde 38 Jahre alt. Das ist fast vierzig. Biologisch

eine fortschreitende Katastrophe, psychologisch die eingeläutete

Blütezeit. Ich werde grau, aber weise. Und im

Gegensatz zu einem knackigen Hintern oder rosigen Wangen

nützt diese Alterserscheinung nicht nur mir: Meine Weisheit

bringt allen etwas. Vorausgesetzt die Menschen würden auf

mich hören. Doch sie (!) tun es nicht. Dabei erkenne ich in

meiner Weisheit völlig an, dass Frauen in den Zwanzigern mir

in vielen Dingen weit voraus sind. Ich, als Vertreterin einer

bequemen Generation, die irgendwie immer so dazwischen

ist, schaue bewundernd auf alle jungen Frauen, die politisch

engagiert, klug und uneingeschüchtert die Welt verändern

wollen. Chapeau! Ich finde Euch toll und lerne gern von

Euch. Weiter so! Aber bitte, in dieser einen Sache hört mir

zu. Ich spreche aus Lebenserfahrung, wenn ich Euch dringend

empfehle: Wenn ihr Kinder wollt, bekommt sie JETZT –

bevor es zu spät ist. Klingt dramatisch, ist es leider auch.

Mit 26 Jahren hat frau ständig Panik,

ungewollt schwanger zu werden.

Denn das, was man sich als Zwanzigjährige nicht erträumen

kann, wird als Dreißigjährige zum Albtraum. Nicht immer.

Aber öfter, als ihr glaubt – viel öfter. Ich weiß, mit 26 Jahren

hat frau ständig Panik, ungewollt schwanger zu werden. Nun,

mit 36 Jahren passiert das Gegenteil: Frau will schwanger

werden, will Kinder haben, aber kann nicht. Es gehört leider

zu einer unverhandelbaren biologischen Tatsache, dass mit

zunehmendem Alter die Fruchtbarkeit abnimmt, von der

erhöhten Gefahr einer Risikoschwangerschaft oder davon ein

„nicht-gesundes“ Kind zu bekommen mal ganz abgesehen.

Ich zitiere das österreichische Gesundheitsportal: „Derzeit

wird bereits jedes siebente Baby von einer Frau über 35

Jahren geboren. Allerdings beginnt die Fruchtbarkeit schon

bei jungen Frauen ab einem Alter von etwa 26 Jahren langsam

zu sinken. So liegen die Schwangerschaftschancen pro

Lebensjahr beispielsweise bei Frauen unter 25 Jahren bei

90 Prozent, bei 24- bis 35-Jährigen bei 70 Prozent und bei

35- bis 40-Jährigen nur mehr bei 20 Prozent. Mit zunehmendem

Alter wird es also immer schwieriger, ein Baby zu

bekommen, und zwar sowohl auf natürlichem Wege als auch

bei künstlicher Befruchtung.“ Zusätzlich wird betont, dass

dies „unabhängig von körperlicher Fitness“ passiert. Sprich,

dagegen hilft weder Pilates noch Kickboxen. „Diese Tatsache

sollte bei der Familienplanung mitbedacht werden.“ Sag ich

ja. Es muss ja nicht panisch beim nächsten Tinderflirt die Pille

abgesetzt werden, aber ein bisschen Weitsichtigkeit erspart

frau einiges. Etwa Folgendes:

Nichts trennt Freundschaften so sehr,

wie der Kinderstatus.

Der unerfüllte Kinderwunsch wird in den Dreißigern schnell

so zentral, dass er zur psychischen wie zur sozialen Belastung

wird. Wer monatlich frustriert seine Regel bekommt

und bei dem „scheitert“, was stets als Naturgesetz galt

(„Sex ohne Verhütung beschert Kinder“), fühlt sich verraten.

Warum klappt es nicht – bei mir, bei uns? Immerhin können

„ältere“ Hollywoodstars das ja auch und bei der 40-jährigen

Nachbarin hat es letzten Monat auch geklappt. Was die

selbstzweifelnde Frau nicht weiß: Meist ist dieser Kinder-

36 / RAMBAZAMBA /

/ RAMBAZAMBA / 37



erfolg kein Zufall – doch dazu später. Es wird sich daher in

scheinheiliger Geduld geübt, nebenbei dem Partner eine

grüne Ernährungsumstellung verpasst, es wird mit Akupunkturnadeln

von TCM-Ärzten nachgeholfen und Sex strikt nach

Wochenplan geturnt. Das Projektmanagement hält Einzug

ins Schlafzimmer, bye bye unbekümmerte Leidenschaft. Die

Partnerschaft leidet – und Freundschaften haben es schwer.

Wer einmal in dieser Performancespirale steckt, geht weder

gern auf Babyshowers, noch will sie den Kinderrotz vom

Freundeskreis ständig unter die Nase gerieben bekommen.

In meinem Alter kann ich sagen: Nichts trennt Freundschaften

so sehr, wie der Kinderstatus. Denn das Konzept von

„Mutter-Vater-Kind“, einst die scheinbar normalste und

spießigste Angelegenheit auf der Welt, wird plötzlich zum

kostbaren Gut. Der 40-jährige Mann einer Freundin sagte mir

letztens: „Dass wir unsere drei Kinder natürlich und komplikationslos

bekommen haben, ist in unserem Freundeskreis

die Ausnahme.“ Nicht nur in seinem. Auch in meinem

Umkreis ist es das zentrale Thema: Es verbindet oder trennt.

Manche Freundschaften leiden, andere schaffen es mit viel

Fingerspitzengefühl. Dabei sind die Gründe so vielfältig.

Mit zunehmendem Alter tickt die

biologische Uhr dröhnender und

drängender. Und immer stärker rückt

die Möglichkeit ins Auge, dass die

Kinderlosigkeit bleibt – für immer.

Der Klassiker: Das ehrgeizige Paar ist inzwischen Ende

dreißig, Anfang vierzig, mit grauen Schläfen, teuren Sonnenbrillen,

ersten Falten und viel Druck in der Arbeit. Weil

kein natürlicher Trick geholfen hat, entscheidet es sich für

„in vitro“ – die künstliche Befruchtung im „Glas“. Das ist

zwar schweineteuer und verlangt der Frau eine ordentliche

Hormonprozedur ab, aber Happy-Endings sind nicht unwahrscheinlich.

Bei „in vitro“ liegt die Quote bei drei Versuchen

immerhin bei 50 Prozent. Und hey, oft wird das Paar gleich

doppelt beglückt: Hallo Zwillinge! Leider klappt es aber auch

oft gar nicht. Ein Schlüsselfaktor ist das Alter der Mutter. Und

das schmerzt. Wer so viel „investiert“ – Geld, Hormonprozeduren,

Leid und Hoffnung – für die wird es mit jeder Niederlage

enger. Mit zunehmendem Alter tickt die biologische

Uhr dröhnender und drängender. Und immer stärker rückt

die Möglichkeit ins Auge, dass die Kinderlosigkeit bleibt – für

immer. Manche Paare zerbricht das, andere wechseln die

Strategie drastisch, setzen auf noch künstlichere Formen der

Fortpflanzung: etwa die Leihmutterschaft. Doch auch diese

Variante birgt viele biologische und medizinische Herausforderungen.

Zudem ist diese „Ersatzgebärmutterschaft“

nur im Ausland möglich und es stecken Jahre der Planung,

Organisation und Prozeduren dahinter. Und viel Geld. Andere

Paare verabschieden sich von der Idee, ihr „eigenes“ Kind

zu bekommen. Sie adoptieren. Doch auch hier kann ein

38 / RAMBAZAMBA /

biologisches Zeitfenster versäumt werden. Wer sich zu spät

entscheidet, ein Kind zu adoptieren, kann zu alt dran sein.

Eltern sollten maximal 45 Jahre älter als das adoptierte Kind

sein. Und die „Nachfrage“ ist größer als das „Angebot“.

All diese Szenarien sind in meinem Bekanntenkreis passiert

– und die Hindernisliste ist längst nicht vollständig. Das

„hohe“ Alter macht ja zusätzlich noch aus anderer Richtung

Druck. Quasi bei der Grundvoraussetzung zur Fortpflanzung:

Die Frau braucht einen Partner! Männer können theoretisch

ein Leben lang Vater werden, mit der freundlichen Unterstützung

einer jüngeren Frau zum Beispiel. Umgekehrt können

Frauen das nicht, egal welchen Jüngling sie ergattern. Bei

Frauen geht es ums Timing, das wird in den Dreißigern klar:

Es braucht nicht irgendeinen zum Verlieben, es braucht den

Richtigen zur Familiengründung. Zur Veranschaulichung ein

paar Einblicke: Sie, Mitte 30, hat eine innige Beziehung zu

einem jüngeren Mann, Mitte 20. Sie wünscht sich Kinder, er

nicht – tja und die Jahre vergehen, bis es letztlich an diesem

Punkt scheitert. Jetzt heißt es mit 35 für sie nicht nur, einen

neuen Mann zu finden und zu lieben. Es gilt gleich, beim

nächsten Versuch aufs richtige Pferd zu setzen. Bloß wissen

wir alle: Wem das Ticken der biologischen Uhr aus den

Augen pulsiert, wirkt oft abschreckend am Paarungsmarkt.

– Umgekehrt: Die anderen Frau ist 39, in glücklicher Beziehung

mit einem älteren Mann, Anfang 50. Sie möchte Kinder,

er nicht – denn er hat schon welche. Beide verstehen die

Situation des anderen, sie lieben sich. Aber verzichten oder

nachgeben? Die Frau wird nächstes Jahr 40, ihre Uhr läuft.

Weitsichtig wie sie schon als junge Frau war, hat sie mit

Anfang 30 ein paar Eizellen auf eine Eizellenbank gelegt, der

Frische wegen. Zuletzt hat sie sich sogar nach alternativen

Familienmodellen umgesehen, etwa jener, sich das Kind mit

einem schwulen Pärchen zu teilen. Und noch eine Frau fällt

mir ein: Eine Top-Verdienerin Mitte 40, die mir gestand, die

Zeit in ihren Dreißigern mit einem Mann verbracht zu haben,

der keine Kinder wollte. Sie eigentlich schon. Die Beziehung

ist mit Anfang 40 gescheitert und mit ihr die Erfüllung ihres

Kinderwunsches. Jetzt sei es zu spät, sagt sie und zuckt die

Schultern.

Wem das Ticken der biologischen Uhr

aus den Pupillen pulsiert, wirkt oft

abschreckend auf dem Paarungsmarkt.

Ich könnte die Depressionskurve dieses Textes noch zuspitzen,

indem ich jetzt auf das gewünschte, aber nicht gelingende

zweite Kind einginge. Auch habe ich den Faktor der

männlichen Spermienqualität komplett außen vor gelassen.

Ich könnte die total unterschätzte Großeltern-Gleichung

vorrechnen: Je älter du bist, umso älter sind deine Eltern und

umso beschwerlicher tun sie sich, hinter Trotzbengeln auf

Woom-Bikes hinterherzurasen, während du zurück im Job

die Doppelbelastung wuppst. Aber lassen wir das. Vielmehr

möchte ich abschließend auf einen scheinbar banalen Punkt

hinweisen. Selbst wenn das späte Kinderkriegen geklappt

hat, ob natürlich oder künstlich, selbst dann macht sich

der Nachteil unserer Altersklasse ab Mitte 30 aufwärts

täglich bemerkbar. Ich spreche aus Erfahrung und aus der

meines grau-melierten Mannes mit dem übernächtigten

Pandagesicht. Kein Mensch ist mit 40+ so fit wie mit 20+.

Eltern am allerwenigsten. Doch den Babys und Kleinkindern

ist das egal, sie verlangen permanente Hochleistung

unter erbarmungslosen Bedingungen (um jahrelangen

Schlafentzug und die völlige Umstellung von „Me-Time“ zu

„Me-Maschine“ zu umschreiben). Mein Orientierungstipp

für junge Frauen: Verlagert das Kinderkriegen UND das

Kinderhaben am besten in die Altersperiode von Profi-Fußballern.

Die Natur scheint sich bei ihrer Fruchtbarkeitskurve

etwas gedacht zu haben. Nur weil Hollywood-Starlets

mit Mitte 40 Mütter werden, eure 40-jährige Bekannte

Zwillinge schiebt und ja auch ich erst mit Mitte 30 angefangen

habe, nehmt das weder als selbstverständlich noch

als Vorbild. Kriegt die Kinder lieber JETZT, bevor es zu spät

ist.

(Das gilt natürlich nicht für die jungen Frauen in der

biber-Redaktion. Die hatten ihre Chance. Jetzt müssen sie

arbeiten, denn ich gehe in Karenz. Alt, müde und dankbar

für das Kinderglück.) ●

Wer weiß,

wie ich im Job

am Ball bleibe

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Selbst bei künstlicher Befruchtung ist

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MEINUNG

Realität vs.

Fiktion

Vor vielen Monden, im Jahre 1997,

erschien der Film „Das fünfte Element“.

Es zeigte eine abgedrehte

Zukunft, die damals für unmöglich

gehalten wurde. Jetzt, ein paar Jahre

später, komme ich drauf, dass viele

Szenen näher an der Wirklichkeit

sind, als wir es je erwartet hätten.

Grelle Influcener die dabei eigentlich

wandelnde Plakatwände für Produkte

sind, Wahnsinnige im Straßenverkehr

und der vielzitierte Multipass, heute in

Form des Impfnachweises, in Zukunft

schon bald als Führerschein und PKW-

Zulassung. Film und Fernsehen und

Forschung stehen ja in Wechselwirkung:

tausende Ideen, die zunächst in

der Phantasie von AutorInnen entstehen,

werden mit der Zeit in der Wirklichkeit

gebaut und eingesetzt. Jetzt

fehlen nur noch die Gemini-Kroketten.

bezeczky@dasbiber.at

TECHNIK & MOBIL

Alt+F4 und der Tag gehört dir.

Von Adam Bezeczky

144 METER HOCH

SPACESHIP

Space X hat die ambitionierte, zukünftige

Mondrakete Starship zusammengefügt.

Eindrucksvoll ragt sie mit 122 Metern in Boca

Chica in Texas in die Höhe. Damit ist die Rakete,

die bald zu ihrem ersten Flug starten soll,

fast so hoch wie der Stephansdom.

Kühe, die

Lösung für

Plastikproblem?

Die armen Kühe weltweit

werden häufig für

die Klimaerwärmung

verantwortlich gemacht.

In ihren Mägen könnte

aber auch die Lösung

des weltweiten Plastikproblems

liegen. Dr.

Doris Ribitsch, Forscherin

an der BOKU Wien

und ihr Team konnten

im Labor nachweisen,

dass Kuh-Verdauungssaft

und die darin

enthaltenen Mikroorganismen

Plastik abbauen

können. Sobald der Vorgang

auf industrieller

Ebene genutzt werden

kann, wäre ein großes

Problem der Menschheit

gelöst.

Der Mensch als Batterie

Neue Entwicklung auf dem Gebiet der tragbaren Elektronik. Dank

einem thermoelektrischen Generator (TEG) wird jene Wärme, die

unser Körper produziert, zu elektrischem Strom umgewandelt.

Bald schon könnten tragbare Gadgets einfach dadurch aufgeladen

warden, dass wir sie tragen. Besonders im medizinischen Bereich

wäre dies ein Durchbruch.

© Marko Mestrovic, pixabay.com/Ulrike Leone, youtube /Sony Pictures, SpaceX

Foto: Christian Fürthner

„Warum brauchen wir

eigentlich die Stadtstraße?“

Weil die Stadtstraße die Seestadt

Aspern mit der Südosttangente

verbindet. Sie bündelt den Verkehr

und entlastet die Wohngebiete.

Allein in Hirschstetten fahren

künftig pro Tag 6.000 Autos

weniger durch die Wohngebiete.

Weil ein neuer Stadtteil neben

Öffis auch eine Straßenanbindung

braucht.

Tangente

Weil die Stadtstraße Aspern

behördliche Auflage in der sogenannten

Umweltverträglichkeitsprüfung

für die Seestadt Nord ist.

Weil dadurch in den neuen

Stadtentwicklungs gebieten

Wohnungen für 60.000 Menschen

gebaut werden können.

Hirschstetten

Tunnel

Stadtstraße

Tunnel

DONAUSTADT

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Seestadt

Aspern

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Spange S 1

(ASFINAG)

40 / TECHNIK /

stadtstrasse.at



KARRIERE & KOHLE

Para gut, alles gut

Von Anna Jandrisevits

JOBS MIT AUSSICHTEN

FOMO („FEAR OF MISSING OUT“) WAR GESTERN!

Give it a try!

Schnuppern lautet die Devise für diesen Herbst an der VHS! Mit zahlreichen

Kursen bieten die Wiener Volkshochschulen für alle Vorlieben

und Talente ein breites Angebot für jede*n. Bevor am 4. Oktober das

Herbstsemester losgeht, können bei rund 400 Schnupperterminen

während der Woche der Wiener Volksbildung vom 20. bis 25. September

kostenlos und unverbindlich Kurse ausprobiert werden.

Egal ob Fitness-, Kunst-, Sprach- oder Kreativkurse - Infos wann welche

Schnuppertermine stattfinden, gibt’s auf

www.vhs.at/woche-der-wiener-volksbildung

MEINUNG

Alles ist normal

Der Sommer ist vorbei und ja, es ist wie

immer ein Schlag ins Gesicht. Die Panik, dass

der nächste Lockdown inklusive Distance

Learning vor der Tür steht mischt sich jetzt

mit weniger Tageslicht und mehr Verantwortung.

Ein neues Semester steht an und ich

glaube, die Motivation hält sich bei vielen

Studierenden in Grenzen. Verständlich, denn

zur körperlichen und psychischen Erholung

des letzten Jahres hätten wir eigentlich

gute zehn Monate Sommer gebraucht. Jetzt

stehen Stress und Zukunftsängste wieder an

der Tagesordnung. Aber auf eine komische

Art und Weise ist es ja auch schön, mit was

für Problemen Studierende sich jetzt wieder

rumschlagen müssen. Weil sie normal sind

im Studium und Normalität gerade etwas

Gutes bedeutet. Ich würde gerne wieder

eine Prüfung im Audimax machen, umgeben

von hundert anderen ahnungslosen Menschen

mit Augenringen. Ich würde gerne

wieder bei der ersten Frage wissen, dass es

ein Fetzen wird und trotzdem bis zur letzten

Sekunde versuchen, einen Vierer rauszuholen.

Ich würde gerne wieder nach der Uni mit

Studienkolleg*innen was trinken gehen und

darüber rätseln, was, wo und wie wir danach

für den Rest unseres Lebens arbeiten sollen.

Als baldige Absolventin kann ich das aber

nicht mehr. Deshalb, an alle Studierenden da

draußen: versucht den Vierer aus der Prüfung

rauszuholen, geht was trinken, spricht über

eure Zukunftsängste und schlaft aus, so lange

ihr könnt. Das ist normal und das ist gut so.

jandrisevits@dasbiber.at

WARUM

KINDER ARMUT IN

ÖSTERREICH KEIN

NISCHENTHEMA

IST

Österreich ist ein reiches

Land, wir haben einen

starken Sozialstaat – da sollte

das Thema Kinderarmut

eigentlich keines sein, oder?

Leider schon: In Österreich

leben 362.000 Kinder in

Haushalten, die armutsgefährdet

sind. Das heißt, diese

Familien können sich keine

unerwarteten Ausgaben leisten.

Aber man bekommt doch

Sozialleistungen?

Aber Sozial- und Notstandshilfe

sind zu gering. Das Arbeitslosengeld

ist viel zu niedrig,

Arbeitslosigkeit macht arm.

Was genau fordert die

Arbeiterkammer?

Lösungen für MieterInnen in

finanzieller Not. Besonders

wichtig ist es Kinderarmut zu

bekämpfen und Chancengerechtigkeit

im Bildungssystem

herzustellen.

Mehr Infos findet ihr unter:

www.arbeierkammer.at/

AktionArmutAbschaffen

Verlierer des

Monats:

KINDER VON IMPF­

GEGNER*INNEN

Zu Schulbeginn sind manche Klassen

heuer kleiner als sonst. Denn Schulabmeldungen

sind in Österreich zuletzt

stark angestiegen. Es gibt Eltern, die

ihre Kinder aus Angst vor fehlenden

Covid-Maßnahmen aus der Schule

nehmen. Häuslicher Unterricht scheint

für viele weiterhin die bessere und

vor allem sichere Option zu sein. Fair

enough. Aber machen wir uns nichts

vor: die steigenden Schulabmeldungen

liegen vor allem an „Corona-

Skeptikern“, die bei Tests, Masken und

Impfungen nicht mitmachen wollen.

Dadurch verlieren Kinder ihr Recht

auf Bildung und Sozialisation. Warum

ist das erlaubt? Weil das Recht auf

häuslichen Unterricht verfassungsrechtlich

abgesichert ist. Im Gegensatz

zu Deutschland gibt es hierzulande

keine Schulpflicht, sondern nur eine

Unterrichtspflicht. Es wäre wohl Zeit

für eine Gesetzesänderung.

© Zoe Opratko, pixabay.com/Juraj Varga

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ÖSTERREICH DRIN.

42 / KARRIERE /

Stand: 04/2021



Selbermacher

Traditionelle armenische

Küche mit einem

modernen Touch findet

man nun erstmals in der

Josefstadt. Das „Lavash“

ist österreichweit das

erste Restaurant seiner

Art.

Text: Nada El-Azar, Fotos: Vanja Pandurevic

W

er authentische, armenische

Gerichte genießen möchte,

muss ab jetzt nicht mehr in

den Flieger steigen. Denn seit Juni hat das

„Lavash“ seine Tore am Hammerlingplatz

geöffnet. Lavash ist der Name des traditionellen,

armenischen Fladenbrotes, das bei

keinem Essen fehlen darf. Geschäftsführer

Harutyun Hakobyan hat mit dem Restaurant

einen langersehnten Traum seiner Mutter

Narine Manukyan erfüllt. Denn seit ihrer

Ankunft in Österreich vor 20 Jahren wollte

die gelernte Köchin ein Stück Armenien in

ihre neue Heimat holen. „Armenien ist wie

eine Brücke zwischen dem Orient und dem

Westen. Ich wusste, dass in Österreich der

Geschmack unserer Küche gut ankommen

würde – es ist nämlich gesund und nicht zu

exotisch“, so die dreifache Mutter.

© Randy Faris/Corbis

© Randy Faris/Corbis

einem armenischen Supermarkt einkauft,

verleihen ihren Gerichten ihren authentischen

Geschmack. Die Kombination aus heißer

Sonne und luftigen Höhen der Berge lassen

Kräuter wie Minze, Oregano, Rosenpaprika

und roten Basilikum (auch Reyhan genannt)

besonders aromatisch werden. „Die armenische

Küche ist eine der ältesten in der

transkaukasischen Region, und auch weltweit.

Das Besondere an ihr ist, das heute noch so

gekocht wird wie vor hundert oder tausend

Jahren. Getreide, Hülsenfrüchte, Gemüse,

und Gewürze, sowie frischer Joghurt und das

traditionelle Lavash machen aus ihr eine vergleichsweise

gesunde Küche“, erklärt Harut.

LAVASH ALS ALLESKÖNNER

Täglich gibt es im Restaurant einen neuen,

kräftigen Eintopf mit Fleisch oder Fisch, zu

dem selbstverständlich auch Lavash gereicht

wird. Das namensgebende Fladenbrot wird

alle zwei Tage eigenhändig von Narine

zubereitet und ist ein wahrer Allrounder:

Frisch und fluffig nimmt es die köstlichen

Saucen auf, und ist als Begleiter zu den feinen

Gemüsetartars perfekt. Eingerollt als „Brutj“

hält das Brot alle Köstlichkeiten in Zaum.

Und knusprig gebraten entfaltet das Lavash

einen nussigen Geschmack, der einfach Lust

auf mehr macht. Geschäftsführer Harutyun

isst persönlich am liebsten die gefüllten

Weintraubenblätter, auch „Tolma“ genannt,

deren Geschmack er aus frühester Kindheit

schätzt. Neben gängigen Getränken findet

sich auch eine Auswahl armenischer Weine

und Cognac auf der Karte. Und, schon Lust

auf einen neuen kulinarischen Trip?

Richtig gutes Essen aus Armenien:

Lavash

Hammerlingplatz 2, 1080 Wien

WKO-WIEN HILFT

Im Gründerservice der

WKO-Wien kann man bei

einem Beratungsgespräch

alle Fragen stellen, die die

Gründung eines Unternehmens

betreffen. Im Vorhinein

kann man sich auch

schon eigenständig online

informieren. Ob generelle

Tipps zur Selbstständigkeit,

rechtliche Voraussetzungen,

Amtswege oder

Finanzierungs- und Förderungsmöglichkeiten:

Auf

der Website kommt man

mit wenigen Klicks zu allen

wichtigen Informationen.

wko.at/wien

www.gruenderservice.at

Die Selbermacher-Serie ist

eine redaktionelle Kooperation

von das biber mit der

Wirtschaftskammer Wien.

Online informieren!

W W www.gruenderservice.at

Ein Stück

Jerewan

in Wien

„WIR GEBEN IMMER

TAUSEND PROZENT.“

Und sie hatte recht. Der Großteil der Kundschaft

sind ÖsterreicherInnen. Und auch

einige armenische Familien waren bereits

zu Gast und tief überzeugt von Narines

Kochkünsten. „Ich liebe meine Kundschaft!

Für sie muss immer alles perfekt sein, vom

Essen bis zum polierten Besteck. Wer nicht

zufrieden ist, kommt nämlich nie wieder.

Und das will ich verhindern“, so die Köchin.

„Wir geben immer tausend Prozent“,

ergänzt Sohn Harutyun, der von ihr liebevoll

Harut genannt wird. Mit seiner eigenen

Mutter zu arbeiten genießt der 35-Jährige.

„Aber manchmal kann es auch anstrengend

sein“, grinst er.

Die Kundenzufriedenheit als Kredo von

Lavash spiegelt sich auch in der Küche

wider, wo Mama Narine schaltet und waltet.

Besonders die Wildkräuter, die Narine in

VON DER IDEE

BIS ZUR GRÜNDUNG

» GRUENDERSERVICE.AT

Basis-Informationen und und Tools Tools zur zur Gründung

finden finden Sie Sie auf auf unserer Webseite.

44 / KARRIERE /



„Gläubig zu sein heißt nicht,

asketisch leben zu müssen“

INAIA – Geschäftsführer Emre Akyel

Islamic Finance boomt. Etwa 2,5 Billionen US-Dollar

sind weltweit bereits halal angelegt. Mittendrin: das

deutsche FinTech INAIA. Im Interview erklärt Gründer

und Geschäftsführer Emre Akyel, wer entscheidet,

ob Finanzprodukte dem Islam entsprechen, und

wie sein Unternehmen ohne Zinsen Geld verdient.

Interview: Susan Djahangard

© INAIA

Herr Akyel, im Jahr 2007 haben Sie ein

islamkonformes Finanzunternehmen

gegründet. Was hat Sie dazu motiviert?

2007, das war das Jahr der Subprime-

Krise in den USA: Der dortige Immobilienmarkt

brach zusammen, und der Crash

löste eine weltweite Finanzkrise aus. Ich

habe damals im zweiten Semester International

Finance Management studiert

und nebenbei versucht, mit Börsenspekulationen

Geld zu verdienen. Plötzlich

schlug die Krise direkt in meiner Familie

auf: Zuerst verlor meine Mutter ihren

Job, dann auch mein Vater. Ich wollte

verstehen, wie diese Krise entstanden ist

und habe zwei Ursachen ausgemacht:

Zum einen die wilden Spekulationen an

der Börse, zum anderen die Gier der

beteiligten Menschen. Das hat mich dazu

gebracht, nach Alternativen zu suchen,

die zu meinen moralischen Werten

passen. So bin ich auf Islamic Finance

gestoßen. Mit meinem türkischen, muslimischen

Hintergrund hat mich das natürlich

angesprochen. Also habe ich dann

das Unternehmen gegründet. Von 2007

bis 2011 haben wir erst einmal Kunden

beraten, die islamkonforme Finanzprodukte

von anderen Finanzinstituten kaufen

wollten. Seit zehn Jahren kann man

sein Geld auch direkt bei uns anlegen.

Was bieten Sie also heute Ihren

Kund:innen an?

Bei uns gibt es Sparund Investmentprodukte

und bald auch ein Konto mit

Mastercard. Unser beliebtestes Produkt

ist ein Goldsparplan: Unsere Kundinnen

und Kunden investieren monatlich einen

Betrag, und wir kaufen in ihrem Namen

Goldbarren.

Warum Gold?

Gold hat für Menschen unterschiedlicher

Kulturen eine besondere Bedeutung.

Diese Tradition wollen wir erhalten. Aber

Gold ist auch eine sichere Anlage, weil

es einen physischen Gegenwert hat.

Weil Gold oft unter schlimmen Arbeitsbedingungen

abgebaut wird, haben wir

Kriterien festgelegt: Wir kaufen nur Gold,

von dem wir wissen, dass es ohne Kinderarbeit

und andere Menschenrechtsverletzungen

abgebaut wurde.

Wer entscheidet, ob Ihre Produkte halal

sind?

Gold ist und bleibt

eine der beliebtesten

Anlagen in

vielen Kulturen.

Jedoch wird es oft

unter schlimmern

Arbeitsbedingungen

abgebaut - darauf

muss geachtet

werden.

In Bahrain sitzt die Dachorganisation

AAOIFI, die Accounting and Auditing

Organization for Islamic Financial Institutions.

Sie publiziert Standards, die

für islamkonforme Finanzprodukte und

Versicherungen gelten. Darin ist natürlich

das Zinsverbot festgehalten, das

der Koran vorgibt. Aber auch, dass man

nicht in Unternehmen investieren darf,

die mit Waffen, Glücksspiel, Alkohol oder

Schweinefleisch zu tun haben. Mein

Kollege in der Geschäftsführung und ich

sind durch die AAOIFI zertifizierte Berater

und Auditoren. Das heißt, wir können

in einem ersten Schritt selbst bewerten,

ob unsere Produkte den Kriterien

entsprechen. Zusätzlich arbeiten wir mit

einem Beratungsunternehmen in Dubai

zusammen. Dort gibt es ein Gremium

von Gelehrten, das nach den AAOIFI-

Standards unsere Produkte endgültig

zertifiziert. Manchmal ist das gar nicht

so einfach: Für die Gelehrten sind viele

Technologien, die erst in den letzten

Jahren entwickelt wurden, auch nur

schwer verständlich und einzuordnen.

Welche meinen Sie da?

Wir überlegen zurzeit zum Beispiel, ob

unsere Kund:innen in Kryptowährungen

investieren können. Im Islam ist der Handel

mit Währungen grundsätzlich erlaubt.

Aber ist eine Kryptowährung wie Bitcoin

wirklich eine Währung oder nur ein Spekulationsobjekt?

Darüber sind sich die

Gelehrten bisher nicht einig.

2015 hat auch der damalige deutsche

Finanzminister Wolfgang Schäuble

öffentlich auf die wachsende Bedeutung

von Islamic Finance hingewiesen. Im

selben Jahr eröffnete die türkische KT

Bank, spezialisiert auf Islamic Finance, in

Deutschland ihre ersten Filialen. Ist das

Ihr größter Konkurrent?

Teilweise bieten wir ähnliche Produkte

an, das stimmt. Aber unsere größten

Konkurrenten sind keine Anbieter im

Bereich Islamic Finance, sondern die

Sparkassen. Die meisten unserer Kundinnen

und Kunden haben den Großteil

ihres Geldes dort oder bei anderen konventionellen

Banken. Bei uns sparen sie

nur einen Teil.

Bleiben wir bei Ihren Kund:innen. Wissen

Sie, warum sie bei Ihnen anlegen?

Unsere Kundinnen und Kunden sind im

Durchschnitt 34 Jahre alt. Wir bedienen

also eine sehr junge Kundschaft.

Natürlich sind viele davon Musliminnen

und Muslime – aber auch in der Bibel gibt

es ja ein Zinsverbot. Deshalb sind auch

einige strenggläubige Katholikinnen und

Katholiken bei uns. Genauso haben wir

auch jüdische, hinduistische und atheistische

Kund:innen. Wir führen aber über

die Religionszugehörigkeit keine Statistik,

deshalb kann ich hier keine genauen Prozentsätze

angeben. Grob geschätzt sind

zwei Drittel Musliminnen und Muslime,

überwiegend mit Migrationshintergrund.

Aber das ändert sich zurzeit – immer

mehr Nichtmuslim:innen kommen zu uns.

Sie werben mit dem Slogan „Ethisch.

Moralisch. Ertragsorientiert“. Wie passt

„ertragsorientiert“ zu einem Islamic-

Finance-Unternehmen?

Das ist überhaupt kein Widerspruch.

46 / KARRIERE / / KARRIERE / 47



Verzicht hat im Islam zwar eine hohe

Bedeutung, das sieht man im Ramadan.

Aber gläubig zu sein heißt nicht, asketisch

leben zu müssen. Allah hat Zinsen

verboten, aber Handel erlaubt. Musliminnen

und Muslime dürfen und sollen sogar

Unternehmen gründen, Waren produzieren,

Geld verdienen – weil sie so der

Gesellschaft einen Mehrwert bieten, weil

sie so Arbeitsplätze schaffen. Außerdem

sind wir als Musliminnen und Muslime

alle verpflichtet, die Zakāt zu zahlen. Also

ist es ja toll, wenn wir vielen Kundinnen

und Kunden dabei helfen können, Vermögen

aufzubauen, weil davon am Ende

viele profitieren, auch arme Menschen.

Welche Rückmeldungen bekommen Sie

auf Ihre Arbeit, etwa auch von anderen

deutschen Banken?

Das ist sehr gemischt. Viele Menschen

finden spannend, was wir machen,

weil es ihnen ähnlich geht wie mir am

Anfang: Sie haben ein Problem mit der

Gier im kapitalistischen Finanzsystem.

Aber wir begegnen ab und an auch groben

Vorurteilen, bis hin zur Islamfeindlichkeit

seitens deutscher Unternehmen.

Ich glaube trotzdem, dass wir mit

unserem Unternehmen Brücken bauen

können. Wir haben am Anfang überlegt,

ob wir uns Islamic Finance überhaupt auf

die Fahnen schreiben sollen. Ob wir nicht

einfach ein ganz allgemein „ethisches“

FinTech [Finanztechnologie-Unternehmen,

Anm.] sein wollen. Wir haben

uns dann bewusst für das Branding

als islamkonform entschieden, weil wir

hoffen, damit Dialog und Verständnis zu

fördern. Wenn Menschen sehen, dass

wir gute Arbeit leisten, dann assoziieren

sie in Zukunft vielleicht auch uns mit

„dem Islam“ und nicht nur die negativen

Vorstellungen, die sich in den letzten

zwanzig Jahren breitgemacht haben.

48 / KARRIERE /

Spekulationsgeschäfte

mit

Wertpapieren

wären nicht islamkonform,

da hinter

diesen Produkten

kein physischer

Wert steht. Beteiligungen

an Unternemen

sind aber

durchaus möglich.

Eine konventionelle Bank verdient ihr

Geld mit Kontogebühren und Zinsen. Wie

machen Sie Gewinn?

Wenn wir für jemanden Gold kaufen,

dann nehmen wir für diese Dienstleistung

ein Entgelt, eine sogenannte Wakala-Gebühr.

Das ist islamkonform: Für

unseren Service haben wir eine Gegenleistung

verdient, die Kosten dürfen nur

nicht exzessiv sein. Bald werden wir auch

eine Immobilienfinanzierung anbieten.

Dafür gibt es verschiedene Modelle, wir

setzen auf das Prinzip, das Diminishing

Musharaka genannt wird. Das heißt: Eine

Kund:in und wir kaufen gemeinsam ein

Objekt. Die Kund:in nutzt die Immobilie

und zahlt uns für unseren Anteil Miete.

Darüber hinaus kauft die Kund:in Monat

für Monat Anteile am Haus dazu. Somit

reduziert sich unser Mietanteil, bis das

Eigentum vollständig auf die Kund:in

übergeht. Wir berechnen in den Mietanteilen

einen Aufschlag, der uns als Profit

zusteht.

Aber ist das dann nicht das Gleiche wie

ein Darlehen, das eine Kund:in monatlich

tilgt, mit einem Aufpreis, den man

normalerweise Zinsen nennt?

Nein, wir sind gemeinsam

Eigentümer:innen eines Objekts. Somit

gibt es keine Geldleihe, sondern beide

Parteien beteiligen sich aktiv am

Geschäft. Des Weiteren kalkulieren wir

auf einer ganz anderen Basis, die losgelöst

vom Marktzins ist.

Neben dem Goldsparplan bieten Sie

auch ETF-Sparpläne an, also Sparpläne

mit Aktienfonds, die einen Börsenindex

abbilden. Damit ist INAIA dann doch im

klassischen kapitalistischen Börsenhandel

unterwegs. Wie passt das zu dem,

was Sie am Anfang gesagt haben – dass

Sie mit Zockerei und Spekulation nichts

zu tun haben wollen?

Hier muss man sich bewusst machen:

An der Börse werden unterschiedliche

Produkte gehandelt. Sehr spekulative,

wie Wertpapiere, die nur Kursschwankungen

abbilden, ohne dass dahinter

ein tatsächlicher, physischer Wert steht.

Damit zu handeln wäre nicht islamkonform.

Mit Aktienfonds hingegen erwirbt

man Beteiligungen an Unternehmen. Die

Aktien haben einen echten Gegenwert,

daher ist das in Ordnung. Wir bieten

über verschiedene Depotbanken unterschiedliche

Aktienfonds an, so können

unsere Kundinnen und Kunden selbst

entscheiden, in welche Unternehmen

sie investieren möchten und in welche

nicht. Abgesehen davon muss man auch

die eigene Intention hinterfragen, denn

auch in der Finanzwelt gilt die islamische

Überlieferung: Die Taten entsprechen

den Absichten. Ist meine Absicht, an der

Börse zu zocken, so ist das nicht halal.

Will ich aber mittel- oder langfristig mit

Aktien in ein Unternehmen investieren,

ist das mit den Vorschriften des Islam

vereinbar.

Dieser Text ist in der Sommer- Ausgabe des QAMAR

Magazin erschienen. QAMAR ist das erste muslimische

Magazin in Österreich, der Artikel erscheint im Rahmen

einer Kooperation.

Entgeltliche Einschaltung

GLOSSAR:

ISLAMIC FINANCE

Amanah

Treuhänderschaft

Gharar

Verträge mit hoher Unsicherheit, sprich Spekulation

Ijara

Leasingvertrag

Kafala

Garantie bzw. Bürgschaft

Mudaraba

islamkonformes Modell der Investition in Unternehmen,

vergleichbar mit einer stillen Gesellschaft

Musharaka

eine Art Joint Venture, bei dem beide Vertragspartner Kapital

einbringen und am Gewinn/Verlust beteiligt sind

Diminishing Musharaka

Vertragspartnerschaft mit sukzessivem Eigentumsübergang

von einem Partner auf den anderen

Shape your

future

Kevin Jaindl, Europameister Maurer, 2014 / Lisa Janisch, Europameisterin

Maler & Beschichtungstechnikerin, 2016 / Melanie Seidl, Europameisterin

Steinmetz, 2012 / Birgit Haberschrick, Europameisterin Floristik, 2014 /

Manfred Zink, Weltmeister Möbeltischler, 2015

Permanent Musharaka

Vertragspartnerschaft mit gleichbleibenden Eigentumsanteilen

beider Partner

Quard Hassan

wohltätiges Darlehen ohne Gewinnaufschlag

Ribā

Zinsen

Sukuk

Anleihe, bei der keine Zinsen auf das angelegte Kapital

gezahlt werden

Takaful

Versicherung mit Solidaritätsprinzip

Ujra

Gebühr für Dienstleistungen

Wakala

Vermittlungs- oder Vertretungsvertrag

Waqf

Stiftung

Zakāt

im Islam verpflichtende Abgabe eines Einzelnen für das

Gemeinwohl

Erlebe Innovation & neue Trends in deinem Wunschberuf!

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Weitblick – die Lehre vermittelt die Skills von morgen

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„Erzähl mir deine Geschichte“

Asylwerber und ihr Leben in Wien

Von Hannah Jutz. (Fotos: Lisa Leutner und Zoe Opratko)

Zuhören, diskutieren und mitfühlen: BIBER begrüßte im Rahmen

der diesjährigen Summer-School drei Asylwerber, die mit den

insgesamt rund dreißig Schüler*innen über Flucht, das Leben in

der alten und der neuen Heimat sprachen.

50 / KARRIERE /

Mittwoch Vormittag, zehn Uhr:

Ein Dutzend junger Journalismus-Talente

lauschen in der

BIBER Redaktion gespannt der Geschichte

von Omid. In einem kurzen Video

erzählt der Asylwerber von seinen Erlebnissen

auf der Flucht und dem Leben in

Wien. Omid ist 25 Jahre, verheiratet und

lebt seit fünf Jahren hier. Bereits vier Mal

hat er schon einen negativen Asylbescheid

bekommen. Was die Lage noch

bitterer für ihn macht: Seine Frau, mit

der er zusammen in Wien lebt, hat einen

positiven Bescheid erhalten.

Das Video mit Omid ist eines von

insgesamt fünf Videos, das die Summer-

School Teilnehmer und Teilnehmerinnen

an diesem Vormittag ansehen. Sie wurden

von biber mit freundlicher Unterstützung

des „Fonds Soziales Wien“ gedreht.

In den Videos erzählen Asylwerber vom

Krieg, lassen ihre Flucht Revue passieren

und gewähren den Jugendlichen einen

privaten Einblick in ihr Leben in Österreich

und die Hoffnungen und Ängste,

die daraus resultieren.

Omid wartet seit 5 Jahren auf einen

positiven Asylbescheid. Seine Ehefrau

hat ihn schon.

Soza Jan (rechts) und Omid Sadeghi (kniend davor) erzählten über ihre Flucht und das

Leben in Österreich.

OMIDS BRIEFE AN KURZ

UND VAN DER BELLEN

Wenn Omids Asylverfahren mit einem

negativen Bescheid endet, muss er

Österreich verlassen und nach Afghanistan

zurückkehren, obwohl er dort

nur fünf Jahre seines Lebens gelebt

hat. Aufgewachsen ist er im Iran, wo er

als Mensch zweiter Klasse behandelt

wird. Omids Wunsch ist es, eine Heimat

zu finden, in der er in Freiheit leben

kann. Um diesen Wunsch zu erfüllen,

hat er schon Mails an Bundespräsident

Alexander Van der Bellen und Bundeskanzler

Sebastian Kurz geschrieben.

Seine emotionale Geschichte löst bei

den Teilnehmer*innen Überraschung

und Unverständnis aus: „Ich dachte,

dass Asylverfahren gerechter ablaufen

und es nicht normal ist, sein Recht auf

Asyl vor Gericht erstreiten zu müssen“,

so eine anwesende Jungjournalistin.

Eine andere Jugendliche ist derselben

Meinung: „Ich hätte mir nie erwartet,

dass man als Flüchtling so schlecht lebt.“

Andere Teilnehmer*innen der Summer

School fühlen sich in ihren Erfahrungen

bestätigt: „Die Videos bestätigen nur,

wie ungerecht die Justiz mit Geflüchteten

umgeht.“ Unvorstellbar ist für viele

dieses Gefühl der Ohnmacht und die

Tatsache, nichts an der eigenen Situation

ändern zu können.

Die Videos lassen die Beteiligten

tief betroffen zurück und sorgen auch

für Aufklärung: „Es wurden Vorurteile,

die ich mir bisher nicht eingestehen

wollte, aufgebrochen“, so eine Teilnehmerin.

Nach den Videos diskutieren die

Teilnehmer*innen der biber-Summer-

School mit Kamerafrau und Videoproduzentin

Soza Jan und den anwesenden

Asylwerbern über die gezeigten Videos,

stellen Fragen und räumen Vorurteile aus

dem Weg.

Soza Jan ist syrische Kurdin und

kennt die Lebenswelten der Asylwerber.

Gemeinsam mit ihnen hat sie die Videos

aufgenommen, geschnitten, bearbeitet.

Die Porträt-Videos gewähren private Einblicke

und geben den Zuseher*innen die

Möglichkeit, die Lebenswelt der Geflüchteten

zu verstehen. Das kommt gut an:

„Nach diesen Einblicken ist es ein wenig

leichter, sich in die Lage der Betroffenen

zu versetzen. Ich persönlich konnte mir

davor schlecht vorstellen, wie das Leben

einer geflüchteten Person aussieht und

wie man sich dabei fühlt. Aber nun habe

ich ein gewisses Feingefühl dafür und für

die Menschen vermittelt bekommen“, so

eine betroffene Zuseherin.

Ich hätte mir nie

erwartet, dass man

als Flüchtling so

schlecht lebt.

/ KARRIERE / 51



BEZAHLTE ANZEIGE

Mohib hat in Afghanistan als Apotheker

gearbeitet. Seine große Leidenschaft ist

aber Musik.

Das Singen mit

Mohib ist mir besonders

in Erinnerung

geblieben.

MOHIBS TRAURIGE

MELODIE

Im zweiten Video wird Mohibs Geschichte

präsentiert. Nazari Mohibullah,

genannt Mohib, kommt 2016 aus

Afghanistan nach Österreich. Damals

ist er gerade einmal 17 Jahre alt. Fünf

Jahre wartet er auf seinen Asylbescheid,

darf nicht arbeiten oder eine Ausbildung

beginnen. In Afghanistan arbeitete er

als Apotheker, auch hier würde er gerne

eine Apotheker-Lehre machen oder

Musiker werden. Während seiner Zeit

in Österreich hat er nämlich begonnen,

Gitarre zu spielen. Gemeinsam mit den

Summer-School-Teilnehmer*innen diskutiert

er, beantwortet Fragen, spielt einige

Lieder auf seiner Gitarre vor und singt

gemeinsam mit ihnen. „Das Singen mit

Mohib ist mir besonders in Erinnerung

geblieben“, sagt eine Teilnehmerin. Viele

finden es mutig, dass Geflüchtete wie

Mohib so offen über ihre Erlebnisse sprechen:

„Respekt an die Menschen, dass

sie sich das getraut haben.“ Mittlerweile

macht Mohib ein zweimonatiges Praktikum

in der biber-Redaktion. Aufgrund

der sich überschlagenden Ereignisse in

Afghanistan wurde er vielen Menschen in

Österreich bekannt. Seine Blogs erfahren

große Beliebtheit und er gab Interviews

für heimische TV-Sender.

Soroosh flüchtete aus dem Iran und hat in

Österreich einen kleinen Sohn.

SOROOSH SCHREIBT EIN

BUCH

In der letzten Woche der Summer-School

kommt Soroosh zu den Jugendlichen.

Soroosh flüchtete vor der repressiven

islamischen Republik Iran und ihren

Todesschergen. Sein Wunsch ist es, in

einer Demokratie und in Sicherheit zu

leben. Inzwischen ist Soroosh verlobt

und hat einen Sohn, der in Österreich

geboren ist. Er möchte seine Familie

gerne selbst versorgen, darf aber

nicht arbeiten – so wie übrigens alle

Asylwerber*innen! Deswegen hat

Soroosh begonnen, ein Buch zu schreiben.

Auch er beantwortet die Fragen

der Jugendlichen und spricht offen

über seine Erfahrungen. „Ich habe

mich bisher nicht wirklich mit geflüchteten

Personen beschäftigt, weil ich

mich davor gesträubt habe. Die Videos

und das Gespräch mit Soroosh waren

kurze, aber richtig gute Einblicke in ihre

Realität“, erzählt eine Teilnehmerin. Viele

Die Videos und

das Gespräch mit

Soroosh waren richtig

gute Einblicke in

ihre Realität.

sind von den Geschichten berührt:

„Mich macht es traurig, dass viele

Flüchtlinge arbeiten möchten und

dass es ihnen nicht leicht gemacht

wird.“ Besonders in Erinnerung

blieben nicht nur die Gespräche mit

den Geflüchteten, sondern auch

die Videos selbst: „Man sieht den

Schmerz in den Augen der Interviewten.

Vor allem die Geschichte

von Soroosh, der seinem Sohn

aufgrund unserer Gesetze finanziell

nichts bieten kann, hat mich

berührt.“

Die Summer-School-Teilnehmer*

innen hoffen, dass die Videos noch

mehr Menschen gezeigt werden:

„Diese Videos brauchen unbedingt

mehr Zuseher*innen. Sie geben

einen unglaublichen Einblick in

ein sehr belastendes Thema. Das

Anschauen hat sehr geschmerzt.“

Andere Jugendliche stimmen zu:

„Ich finde es so wichtig, dass diesen

Personen Raum gegeben wird. Kein

Mensch ist illegal!“ Sie glauben, dass

es wichtig ist, die Fluchtgeschichten

nachempfindbar zu machen, die

Personen in diesen Geschichten

kennenzulernen. „Sobald man ein

Gesicht zu der Geschichte hat, sieht

man das Problem mit neuen und

offeneren Augen.“ ●

Die Teilnehmer*innen der biber Summer School hörten interessiert der

Geschichte der syrischen Kurdin Soza Jan, die in Wien als Kamerafrau und

Videoproduzentin arbeitet.

ZUM PROJEKT:

Im Rahmen des Video-Projekts „Erzähl‘ mir deine Geschichte“

kommen Schüler*innen aus Wiener Schulen in Kontakt mit der

medial ausgegrenzten Gruppe der Asylwerber*innen. Nach Sichtung

von mehreren Videos, die eigens im Rahmen des Projekts

gedreht wurden und die den Alltag von Asylwerber*nnen zeigen,

kommt es zu einem Gespräch auf Augenhöhe. Dadurch sollen die

Schüler*innen mehr über Asylwerber*nnen und ihr Leben in Österreich

erfahren. Das Projekt wurde mit der freundlichen Unterstützung

des „Fonds Soziales Wien“ durchgeführt. Alle Videos können

Sie auf www.dasbiber.at oder www.asyl.at nachschauen.

Aleks Jobicić

Job?

Fix!

DIE BERUFSLEBENSKOLUMNE

DES AMS WIEN

Ein Erlebnis von diesem Sommer lässt mich

nicht los. Im Mai lerne ich am Donaukanal

Marija kennen. Marija, 26 Jahre, Wuschelhaare,

Nostril-Piercing. Zufallsbekanntschaft. Wir

reden eine Weile, tauschen Handy-Nummer,

verlieren uns aus den Augen.

Szenenwechsel. Vor drei Wochen. Im Urlaubsdusel

steh ich mit meinem Rucksack am

Bahnsteig, der Zug schiebt sich heran, und als

sie GENAU vor mir ist, pfeift die Lok aus vollem

Rohr. Ich springe drei Meter in die Luft, Marija

grinst aus der Lok.

Marija ist Lokführerin. Marija brettert mit 200

über Weichen, dass man trocken schluckt.

Sie fährt im Blindflug durch Tunnel, in denen

man nur Schwärze sieht. Sie hat Signale im

Blick, Befehle der Verkehrsleitung im Ohr, ihre

Verantwortung im Kopf.

Marija liebt ihren Job. Kein Wunder. Sie verdient

auch ziemlich gut für ihr Alter, ihr Arbeitgeber

unterstützt sie. Als Frau, sagt Marija zu

mir im Führerstand, bist du in so einem Beruf

genau richtig. Warum? Weil du, sagt Marija,

in einem technischen Beruf verdienst wie ein

Mann, Karriere machst wie ein Mann.

Ich denke darüber nach. Dein Job, sage ich.

Ich weiß nicht, ob ich das könnte. Aleks, sagt

Marija jetzt ein bisschen sauer. Kein Mann hat

das je zu mir gesagt. Was ich kann, können

andere Frauen auch.

Tipp: Es ist nun mal so: Typische „Männerberufe“

bieten oft bessere Chancen.

Das AMS unterstützt Frauen, die sich für

handwerkliche oder technische Berufe wie

Lokführerin interessieren, mit Infos, Praktika

und Ausbildungen. ams.at/fit

52 / / MIT KARRIERE SCHARF / /



MEINUNG

„Balla Moskow, balla

Boskow!”

Ich bedauere ja mittlerweile, dass ich

meine zweite Muttersprache Arabisch

niemals ordentlich lesen und schreiben

gelernt habe. Nun gut, vielleicht lag es

eher an der samstäglichen Koranschule

im Jugendalter und dem phonetischen

Auswendiglernen von Suren, deren Sinn

ich nicht verstand, die letztlich dazu führten,

dass ich mit der Sprache nichts zu

tun haben wollte. Bis ich 16 Jahre alt war,

weigerte ich mich gar, mit meinen Eltern

Arabisch zu sprechen! Stattdessen antwortete

ich immer auf Deutsch, auch um

möglichst „normal“ zu sein. Dabei gibt es

so viele Sprachspiele, die im Deutschen

gar nicht möglich wären. Wie etwa das

Erfinden von Fake-Wörtern, die sich auf

bestehende reimen, um auszudrücken,

dass irgendetwas partout nicht in die Tüte

kommt. Als ich beispielsweise meine Mutter

mit 18 fragte, ob ich auf ein Auslandssemester

nach Moskau könne, meinte sie:

„Weder Moskau noch Boskau!“ Das klingt

doch großartig, oder nicht? Das dachte

ich jedenfalls, bis ich meinen Vater, der

übrigens rohen Fisch hasst, fragte, ob wir

mal Sushi essen gehen könnten. „Weder

Sushi, noch Mushi!“, war seine Antwort…

Okay, genug Sprachspiele für heute.

el-azar@dasbiber.at

KULTURA NEWS

Klappe zu und Vorhang auf!

Von Nada El-Azar

Podcast-Tipp:

Ein Herz und ein Habibi

Der Psychologe, Extremismusexperte und Autor

Ahmad Mansour ist normalerweise für seine

starken Beiträge zu knallharten Themen wie

Ehrenmord, islamistische Radikalisierung und dem

Konflikt im Nahen Osten bekannt. Gemeinsam mit

seiner Frau Beatrice hat er aber nun den Podcast

„Ein Herz und ein Habibi“ gestartet, in dem sich

alles um ihre bikulturelle Ehe dreht. Er ist als

palästinensischer Muslim in Israel aufgewachsen,

sie in einer

christlichen Familie im

deutschen Odenwald.

Was das konkret

für ihre Beziehung

bedeutet, besprechen

Ahmad und Beatrice

Mansour ganz offen

und ehrlich.

Ausstellungstipp

RE:PRESENT

Wie (ver-)lernt man Rassismus? Um diese Frage

dreht sich die Ausstellung „Re:Present“ im Wiener

Weltmuseum, die in Kooperation mit dem

Street Art Festival Calle Libre entstanden ist. Das

interventionistische Ausstellungskonzept vereint

Wandmalereien, Skulpturen, Video- und Fotoarbeiten,

Live-Performances, Workshops und vieles

mehr. Rassismus und Xenophobie, und antirassistische

Bewegungen werden aus verschiedenen

Blickwinkeln betrachtet.

Während der

Dauer der Sonderausstellung

kann man

jeden Sonntag um 15

Uhr an einer Führung

im Weltmuseum

teilnehmen.

Bis 22. Jänner 2021

im Weltmuseum

zu sehen.

Buch-Tipp:

Judith Sevinç Basad:

„Schäm dich!

Wie Ideologinnen

und Ideologen

bestimmen, was

gut und böse ist.“

Die Journalistin Judith

Sevinç Basad publizierte

schon ihre Masterarbeit

über totalitäre Tendenzen

in der queerfeministischen

Bewegung und

arbeitete in der Ibn-

Rushd-Goethe-Moschee,

die von Seyran Ateş

gegründet wurde. In

ihrem Sachbuch „Schäm

Dich!“ seziert sie fein,

wie Anhänger von

antirassistischen und

antisexistischen Strömungen

Menschen nach

Hautfarbe, Religion und

Geschlecht einteilen und

dabei selbst ihre vermeintlich

progressiven

Haltungen nicht einlösen.

Erschienen beim Westend

Verlag.

© Christoph Liebentritt, Welt, privat, Navot Miller, Mahir Jamal, Westend Verlag

3 FRAGEN AN…

NAVOT MILLER

Navot Miller wurde in dem kleinen israelischen Dorf

Shadmot Mehola geboren und lebt und arbeitet heute als

Künstler in Berlin. Mit seiner Solo-Ausstellung „Everyone

I’ve ever known“ begeisterte er zuletzt in der Salzburger

Elektrohalle Rhomberg. Seine Bilder zeigen häufig die

kleinen Momente des Alltags und werfen einen besonderen

Blick auf Zärtlichkeit und Zusammenleben.

Interview: Nada El-Azar

Was sind die Momente im Alltag, die dich

am meisten inspirieren?

Menschen, nicht Momente inspirieren

mich. Meine Freunde, Liebhaber, Familie,

Menschen, mit denen ich mich befasse,

jene, an die ich denke und solche, die

ich vermisse. Oftmals werden jene, mit

denen ich Zeit verbringe, zu meinen

Musen. Als jüngstes Beispiel dient eine

Serie von Gemälden, die ich anfertigte,

nachdem ich Riccardo in Italien 2 Monate

zuvor getroffen hatte. Die Zeit, die wir

gemeinsam verbrachten und die Momente,

die wir teilten, inspirierten die meisten

Bilder, die ich malte, als ich heimkam.

Hat die Isolation im Lockdown dich

kreativer gemacht, oder mehr gelähmt?

Für eine soziale Person wie mich ist

Isolation etwas Ungewöhnliches. Es ist

gerade mein Sozialleben, das mir als

Künstler wichtig ist. Reisen sehe ich als

Teil meiner Praxis, denn wenn ich neue

Orte besuche, werden sie zur Quelle für

Inspiration. Wenn ich jedoch im Ate-

lier arbeite, ziehe ich es vor, sorgsam

und zügig zu malen, und das passiert

meist, wenn ich dort alleine bin. Vielleicht

ist deshalb die Isolation während

des eigentlichen Prozesses des Malens

schlussendlich doch ein wichtiger Teil

von mir.

Welche Bedeutung haben die jüdischen

Schläfenlocken in deinen Gemälden und

für deinen persönlichen Style?

Sie sind eine Anspielung auf meinen

religiösen Hintergrund. Wenn ich Worte,

Gegenstände, Szenen aus meiner Kindheit

abbilde, versuche ich ihnen stets

einen queeren Touch zu geben. Es ist

eine Befreiung, eine weltoffene Annäherung

an sonst tabuisierte Themen. Meine

Schläfenlocken sind mir ein Paradox;

ihnen wohnt eine schwere religiöse Symbolik

inne, und indem ich sie blondierte,

habe ich ihnen eben diese Queerness

verpasst. Irgendwo ähnelte es dem Prozess,

den ich durchlief, als ich mich als

schwuler Mann geoutet habe.

Neuerscheinung:

„Der Geruch

der Seele“

Damaskus, im Jahre 2010.

Der Sunnit Tarek und die

alewitische Sanaa werden

trotz großer Widerstände

ein Liebespaar in der

vibrierenden Stadt, bevor

sie im Chaos des syrischen

Bürgerkriegs versinkt. Ihre

zärttliche und heimliche

Beziehung findet ein vorschnelles

Ende, als Tarek

in den Militärdienst eingezogen

wird, und Sanaa in

den Fängen des IS landet.

Jad Turjman spürt den

beiden Protagonisten mit

viel Feingefühl nach, die

Handlung auf Messers

Scheide zwischen Fakt und

Fiktion.

Autor, Spoken-Word-Artist

und biber-Kolumnist Jad

Turjman hat mit „Der

Geruch der Seele“ seinen

zweiten Roman herausgebracht.

Erschienen im

Residenz Verlag.

54 / KULTURA /



Keine Frage!

STIMMUNG

UND

SOUND

100% Rindfleisch

aus Österreich.

Singer-

Songwriter

im Wiener

Konzerthaus

Porträtkünstlerin Mira Lu Kovacs

© Wolfgang Bohusch

Lass dir unser Rindfleisch schmecken! Denn unser ‚patty‘, wie das

Fleischlaberl in der Fachsprache heißt, garantiert Genuss, der zu

100% aus Österreich stammt. Frei von Farb- und Konservierungsstoffen

sowie Geschmacksverstärkern wird es ohne Zugabe von

Fett bei uns im Restaurant gegrillt und danach nur noch mit einer

Prise Salz und Pfeffer gewürzt.

Das wird nicht nur dir schmecken, das gefällt auch mehr als 12.000

österreichischen Bäuerinnen und Bauern, die dieses köstlichsaftige

Fleisch liefern. In bester heimischer Qualität.

Wir machen’s und nennen das die McDonald’s Machhaltigkeit.

www.machhaltigkeit.at

Was macht einen guten

Song aus? Die Antwort auf

diese Frage findet man im

September auf den Bühnen

des Wiener Konzerthauses!

Mynth

© Patricia Narbon

Im Zyklus „Singer-Songwriter“ sind mit Porträtkünstlerin

Mira Lu Kovacs und Violetta Parisini

gleich zwei Gigantinnen der heimischen Musikszene

hautnah zu erleben. Gefühlvolle Texte,

fesselnde Melodien und starke Stimmung

erwarten die Besucher auch bei Anna Mabo

und Martin Klein, die erstmals im Konzerthaus

auftreten werden. Mit der Französin Pomme

und der Schweizerin Sophie Hunger kommt

internationales Flair auf die Bühne.

Darüber hinaus lässt es sich mit den

melancholisch-leichten Songs von Oehl und

dem verträumten Elektronik-Duo Mynth am

besten musikalisch in den Herbst treiben.

MUSIKINTERESSIERTE UNTER

27 JAHREN AUFGEPASST!

Mit der Jugendmitgliedschaft bekommt ihr von

Jazz über Klassik, bis hin zu Pop und World die

besten Konzerttickets zum vergünstigten Preis.

Jetzt neu ab dieser Saison: Mit eurem einmaligen

Mitgliedsbeitrag von 20 Euro können auch

eure Begleitpersonen preiswerte Restkarten an

der Abendkasse ergattern! Mehr Informationen

gibt es unter: www.konzerthaus.at/jugendmitglied

Singer-Songwriter

Termine:

VIOLETTA PARISINI

Mi, 29. September

2021, 19:30 Uhr,

Berio-Saal

MIRA LU KOVACS

Mi, 10. November

2021, 21:00 Uhr,

Mozart-Saal

SOPHIE HUNGER

Di, 21. Dezember

2021, 19:30, Großer

Saal

ANNA MABO

Di, 1. März 2022,

21:00 Uhr, Berio-Saal

POMME

Di, 3. Mai 2022, 19:30

Uhr, Mozart-Saal

MARTIN KLEIN

Mi, 18. Mai 2022,

21:00 Uhr, Berio-Saal

56 / KULTURA /

Das verwendete Rindfleisch ist mit dem AMA-Gütesiegel ausgezeichnet.

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„Was ich am Balkan mag,

sind diese Grauzonen.“

Rade Petrašević ist einer der gefragtesten Künstler Wiens. Bei einem

Besuch in seinem Atelier in Ottakring erzählt er vom Teppichschleppen

Zu Gast in Rade Petraševićs

Atelier: Ein geordnetes Chaos.

mit zwölf und dem Coming-out, das er nie hatte. Von Nada El-Azar, Fotos: Mafalda Rakoš

Rado, Radu, Radek – so viele Leute haben nie meinen

Namen richtig aussprechen können. Deswegen habe

ich mir einfach Rade auf den Arm tätowieren lassen.

Wann immer mich jemand nach meinem Namen fragt, zeige

ich einfach auf das Tattoo. Es vereinfacht viele Dinge“, grinst

Künstler Rade Petrašević. Wir befinden uns in seinem Atelierkeller

in Wien-Ottakring, der Boden trocknet wegen der starken

Regenfälle der letzten Wochen an manchen Stellen immer noch

nicht. Zwischen einigen seiner Gemälde liegen Tuben, Pinsel,

Zettel, Zigarettenstummel, Getränkekisten, CDs, Holzboxen und

allerlei sonderbare Artefakte. Seit 2018 bezieht der Wiener mit

bosnisch-serbischen Wurzeln das Atelier – so richtig gemalt hat

er aber seit April dort nicht mehr. „Andere würden das wahrscheinlich

als Krise bezeichnen. Pausen sind aber manchmal

gut. Ich brauche eben einmal Abstand von der Arbeit. Passiert

öfter“, zuckt er mit den Schultern und zieht an seiner Zigarette.

„DER TRAUM MEINES VATERS WAR

IMMER MIT MIR ZUSAMMEN AM BAU ZU

ARBEITEN.“

Rade lehnt an einem dicken Stapel großformatiger Bilder, die

er noch zu fotografieren hat. Am meisten hasst er an seiner

Arbeit das Erstellen von Portfolios. „Sonst gibt’s eigentlich

nichts, das mich nervt. Ich bin eh froh, dass ich Geld verdienen

kann, mit dem, was mir Spaß macht“, so der 38-Jährige. Geboren

und aufgewachsen ist er im 5. Bezirk, Nähe Eichenstraße,

wo er auch heute noch wohnt. „Eigentlich ist die Gegend beim

Gürtel dort geil, weil ich Lärm brauche. Ich

weiß noch, als ich klein war, gab es immer ein

Gürtelfest für Kinder und es gab überhaupt

keine Zebrastreifen. Schon krass, wie wir mit

acht Jahren da rumgespielt haben, während

die Autos über den Gürtel fetzten.“ Sein

Vater, ein Bosnier aus Banja Luka, hat auf

dem Bau gearbeitet. Er kam bereits in den

70er-Jahren nach Wien, wo er auch Rades

Damals war es

noch nicht cool,

Kunst zu

studieren.

serbische Mutter kennenlernte. Die künstlerischen Ambitionen

ihres Sohnes haben die beiden anfangs kaum unterstützt. „Der

Traum meines Vaters war immer, mit mir zusammen am Bau zu

arbeiten. Wir haben das eh lange gemacht, als ich noch Malerei

studiert habe. Manchmal kam ich um vier Uhr nach Hause

und eine Stunde später hämmerte er gegen meine Tür, weil

um halb sechs Dienstbeginn war. Er wohnte ja lustigerweise

nur eine Straße weiter als ich“, erinnert sich Rade. Bereits mit

15 zog er gemeinsam mit seiner zwei Jahre älteren Schwester

aus. In das Malereistudium sei er hineingerutscht, wie er

beschreibt. Bewerben konnte man sich dort einfach ohne

Matura. Die Schule hatte er abgebrochen, genauso wie die

Spenglerlehre.

MALEREISTUDIUM MIT RICH KIDS,

NEBENJOB AM BAU

2004 wurde er an der Akademie der Bildenden Künste aufgenommen,

studiert hat er zunächst bei Franz Graf, später wurde

seine Klasse von Daniel Richter übernommen. „Damals war es

noch nicht cool, Kunst zu studieren. Es war mehr ein Akt der

Rebellion. Heute sind alle so karriereorientiert und wissen ganz

genau, was sie machen wollen. Als Student hab‘ ich mir die

Haare immer selbst geschnitten, hab gestunken und zu Beginn

gar nicht gecheckt, dass ich mit so vielen Rich Kids studiere.

Erst später hab‘ ich mich gefragt, wie die das eigentlich alle

machen. Irgendwo muss ja die Kohle herkommen. Ich habe

immer gehackelt, schon mit zwölf habe ich die Teppiche im

Geschäft der Vermieterin geschleppt. Und

dann eben am Bau gearbeitet mit meinem

Vater, damit ich Geld für Farben bekomme“,

so der Maler. Abgebrochen hat er übrigens

auch das Malereistudium. Was hätte er davon

gehabt, fragt er sich. „Wenn man sich schon

mit Bildern dort bewirbt, ist man eh schon in

der Sache drin. Der Professor an der Bildenden

ist auch nicht hierarchisch über dir, son-

58 / KULTURA /

/ KULTURA / 59



Tanzende Skelette tauchen in Rades jüngeren Arbeiten sehr häufig auf.

Rades erstes Tattoo war übrigens ein

Chanel-Logo auf dem Arm.

dern, wenn man es korrekt nimmt, ein Kollege und wird auch

als solcher angesprochen.“

Erfolgreich ist Rade Petrašević mit seiner Arbeit trotzdem

geworden. Erst in diesem Jahr gestaltete er eine große Installation

an der Außenwand der Kunsthalle Wien am Karlsplatz.

Vertreten ist er in Wien von der Galerie Christine König, in London

und Venedig in der Galerie Alma Zevi. Zusätzlich ist er für

den Kardinal-König-Kunstpreis nominiert, der alle zwei Jahre

verliehen wird. Im November wird es dazu eine Ausstellung in

Salzburg geben. Aus vergangenen Interviews hängt ihm seine

Aussage „All Gallerists Are Bastards“ nach. Er beharrt immer

noch darauf. „Gerade in Wien trauen die sich gar nichts. Die

warten ab, bis ein Künstler im Ausland schon Erfolg hatte und

kommen erst dann auf dich zu, mit dem Argument, die hätten

dich länger schon beobachtet. Es ist zum Kotzen“, winkt er ab.

TANZENDE SKELETTE UND

„LEATHERBOYS“

Seinen charakteristischen Stil, zweidimensionale Filzstiftzeichnungen

in Ölfarben anzufertigen, kam auch aus dem Grund

zustande, dass er sich als ungeduldigen Maler sieht. Gewöhnlich

haben Ölfarben eine sehr lange Trockendauer, manchmal

bis zu mehreren Wochen. Er verdünnt deswegen die Farben

mit Terpentin. „Sonst hätte ich keine Nerven dafür. Verdünnt

wird die Farbe in Nullkommanix trocken.“ In Rades Atelier

finden sich etliche Stücke von Konstruktionsholz und Winkeln,

um die Leinwände selber auf Rahmen zu spannen. Während

dieses Prozesses kommen ihm häufig schon die ersten Ideen,

was das Motiv betrifft. „Irgendetwas kumuliert dabei, ich kann

es schwer erklären.“ Vom Vorzeichnen auf Papier nimmt er

Abstand, weil die Gemälde dann oftmals zu steif wirken. Er

bevorzugt es, mit einem schmutzigen Pinsel direkt auf den

Leinwänden zu skizzieren. Einige Arbeiten sind auch auf

Duschvorhängen oder Einweg-Tischtüchern gefertigt. In seinen

Gemälden interpretiert Rade klassische Darstellungen, wie

etwa Stillleben, neu. Gegenstände, die einfache Assoziationen

auslösen, Colaflaschen und Zimmerpflanzen zum Beispiel, kommen

in seinen Werken genauso vor, wie moderne Annäherungen

an expressive, tanzende Skelette aus dem Danse Macabre

des 14. Jahrhunderts, Elemente aus Internet- und Memekultur

oder Darstellungen von schwulen „Leatherboys“, die von den

Zeichnungen des berühmten Tom of Finland inspiriert sein

könnten. Offene Drogenreferenzen und Homosexualität sind

Rade Petraševićs Arbeiten imminent. In seiner Familie ist seine

Homosexualität kein Thema. Ein Coming-out hatte der Künstler

nicht. „Ich hatte einfach einen Freund, der ständig mit mir

zu Ausstellungen gegangen ist und irgendwann haben meine

Eltern wohl eins und eins zusammengezählt. Don’t ask, don’t

tell“, grinst er.

„SIE SIND WIE AMEISEN.“

Die Wiener Behäbigkeit schätzt Rade Petrašević sehr an seiner

Heimatstadt. Doch auch unten am Balkan ist er gerne. „Was ich

am Balkan mag, sind diese Grauzonen. Leute bleiben einfach

am Gehsteig oder auf einer zweispurigen Brücke mit dem Auto

stehen, springen kurz zum Bäcker rein, und alle schimpfen

zwar, aber warten einfach mal kurz. Die Bullen fahren vorbei,

aber whatever. Was irgendwie voll jugo ist, ist, dass Leute

so neugierig sind und immer alles wissen müssen. Sie sind

überall, wie Ameisen“, lacht er. Das Tratschen ist in seiner

Wahrnehmung der normale Informationsaustausch am Balkan.

„Meine Tante in Bosnien würde auf ein offenes Fenster zeigen

und mir was über die dort lebende Frau erzählen, obwohl ich

das gar nicht wissen will. Aber was ich cool finde, ist, dass man

mit Fremden ins Gespräch kommen kann. Im Supermarkt stehen

dann irgendwie fünf Leute zusammen rum und reden über

irgendeinen Scheiß, als ob sie sich kennen würden.“ In Wien

würde man dafür für einen „Weirdo“ gehalten werden, ist sich

Rade sicher. Momentan lernt er Hebräisch mit einem Onlinekurs.

Durch ein Auslandssemester in Israel hat er sich für die

Sprache begeistern können. Und auch in LA wohnte er schon

für einige Monate. „Und ich hab auch mal in Berlin gelebt, aber

mir war das irgendwann zu viel dort. Es geht nur ums Partymachen

und Ketamin nehmen und das nervte. Und die Gay-Szene

dort war so merkwürdig professionell und unentspannt. Typen

zeigen quasi auf die Uhr und sagen, in vier Tagen bin ich im

Darkroom und lasse was-weiß-ich dort mit mir machen. Wien

mag ich am liebsten, weil es einfach bequem hier ist.“ ●

Als ungeduldiger Maler arbeitet Rade manchmal an mehreren Bildern gleichzeitig.

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Photo: Hannah Müller mit Danu und Nani in Vijayawada-Indien.

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KOLUMNE

„MEIN SOHN, WAS HABEN DIE

EUROPÄER MIT DIR GEMACHT?“

Auf Arabisch gibt es einen Spruch, der

besagt: Wenn man sich bei einem Stamm

vierzig Tage aufhält, wird man einer von

ihnen. Damit ist gemeint, dass man seine

Sitten und Gebräuche übernimmt. Nach

sieben Jahren in Österreich kann ich nicht

genau sagen, welche Aspekte ich von dem

„österreichischen“ Lebensstil verinnerlicht

habe. Ich glaube aber, dass sein Einfluss

auf mich inzwischen sehr groß ist. Ich

gehe mittlerweile wandern und das mache

ich freiwillig und gerne.

BEI UNS GEHT MAN

NICHT WANDERN

Falls ihr euch jetzt fragt, was daran so

bemerkenswert sei, würde ich euch bitten, einmal kurz

innezuhalten: Das erste Mal, als ich meiner Mutter vom

Wandern erzählte, verstand sie das einfach nicht. „Mein

Sohn! Bist du bekloppt? Was haben die Europäer mit

dir gemacht?“, wurde sie laut und verständnislos am

Handy. Ich fand auch kein arabisches Wort für ‘wandern’

oder ‚Wanderlust‘, um ihr das zu erklären. Bei uns geht,

läuft, spaziert oder bummelt man, aber wandern, nein,

das tut sich niemand an. In der Freizeit will man in einer

schattigen, kühlen Ecke mit seiner Liebsten sitzen, Sonnenblumenkerne

knabbern, Mokka und Matetee trinken,

sich gegenseitig Geschichten erzählen, die bei jeder

erneuten Erzählung mehr an Gewürzen und Spektakeln

bekommen. Auf den Berg zu gehen ist viel zu heiß und

anstrengend. Außerdem prangen auf den Bergspitzen

in Syrien keine Gipfelkreuze, sondern Militärbasen, und

man läuft dort in die Gefahr, erschossen zu werden.

Meine erste Wandererfahrung wurde mir aufgezwungen.

Es war ein Betriebsausflug meiner ehemaligen

Arbeitsstätte auf den Gaisberg. Oggi, mein damaliger

Arbeitskollege, meinte, ich bräuchte Wanderschuhe.

Ich verstand nicht, was er von mir wollte. Dabei stellte

ich fest, dass jede Tätigkeit in Österreich eine eigene

Schuhkategorie benötigt. In Syrien kennt man nur Sportschuhe

und formelle Schuhe. Und das war es dann.

turjman@dasbiber.at

Jad Turjman

ist Comedian, Buch-Autor

und Flüchtling aus Syrien.

In seiner Kolumne schreibt

er über sein Leben in

Österreich.

Jetzt in Österreich habe ich Laufschuhe,

Freizeitschuhe, Wanderschuhe, Skischuhe,

Fußballschuhe, Hallenschuhe, Fahrradschuhe,

Eislaufschuhe, Winterschuhe, formelle

Schuhe, und ich bezeichne mich als

Kleinverdiener. Vermutlich gibt es Schuhe,

deren Namen ich gar nicht kenne.

WARUM HABT IHR FÜR

ALLES SCHUHE?

Mittlerweile liebe ich wandern. Ich gehe

am liebsten ganz alleine, und zwar immer

auf denselben Berg. Ich weiß nicht, warum

ich immer dieselbe Wanderstrecke nehme

und für andere Wege nicht aufgeschlossen

bin. Ich bemühe mich, auf diesem Wanderweg

jedes einzige Detail der Gegend in mein Unterbewusstsein

einzuprägen, jeden Baum, jeden gebrochenen

Ast und jeden Stein. Ich habe mir schon gemerkt, um

viel Uhr die Sonne an einer bestimmten Neigung steht

und durch den ganzen Wald strahlt und alle Blätter

beleuchtet. Wahrscheinlich ist das der Versuch, um dieses

eine Gefühl wieder erleben zu können: Heimat.

Ich habe mit dem Berg und dem Wald, durch den

ich immer gehe, eine Freundschaft auf Augenhöhe

geschlossen. Ich kenne jeden einzelnen Baum, und die

Bäume kennen mich inzwischen auch. Ich kann mich

beim Wandern ohne Wenn und Aber diesem Wald und

diesem Berg zugehörig fühlen. Ich musste gar nicht

beweisen, dass ich nicht schlimm wie meinesgleichen

bin, auch keine Leistung erbringen, um willkommen

zu sein. Ich rede mit ihnen sogar auf Arabisch und sie

verstehen mich. Meine Anwesenheit, meine Gedanken,

meine Sprache, meine Emotionen und Gefühle

und meine ganze Existenz wirken für den Wald und

den Berg selbstverständlich und vorbehaltlos. Wenn

mir auf dem Weg neue Gesichter begegnen, fühle ich

mich sogar wie der Einheimische und empfinde sie als

die Fremden. Wobei ich nicht glauben will, dass ein

Mensch in der Natur fremd sein kann. Mit oder ohne

Wanderschuhe.

Robert Herbe

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