01.01.2022 Aufrufe

TABU

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Lesen Sie mehr auf www.gesunder-koerper.info 11<br />

Als Gesellschaft müssten wir viel offener für Themen<br />

wie Libidoverlust, sexuelle Identitätsstörungen<br />

und Schwangerschaftsdepressionen sein, um diese<br />

zu einem alltäglichen Thema unserer Gesellschaft zu<br />

machen anstatt zu einem Tabu.<br />

Die Sexualtherapeutinnen Helen Hagemeier und Katja Stolte im Interview.<br />

Text Lena Nause<br />

Liebe Helen, wie wichtig ist es für ein Individuum,<br />

psychisch wie auch physisch mit dem Thema<br />

Sexualität offen umgehen zu können?<br />

Zuerst einmal einer meiner liebsten Sätze: „Wir<br />

sind alle heute hier wegen Sex.“ Und da dies der<br />

ausschlaggebende Faktor unseres Daseins ist, ist<br />

Sex an sich ja immer<br />

omnipräsent – denn ich<br />

als Person bin aus Sex<br />

entstanden, genauso wie<br />

Sie und alle Leser.<br />

Wir gehen häufig davon<br />

aus, dass unsere Welt<br />

normativ heterosexuell<br />

ist, dies ist aber nicht<br />

der Fall. In unserer<br />

modernen sexuellen<br />

Gesellschaft sollte es<br />

weiterhin viel bewusster<br />

um Diversität gehen,<br />

damit die Gesellschaft<br />

inklusiver aufgestellt<br />

ist. Denn nur durch<br />

eine offene und anerkennende<br />

Haltung<br />

aller Menschen können<br />

Helen Hagemeier<br />

Personen vor psychisch<br />

belastenden Situationen<br />

durch Ausschluss oder<br />

Abwertung der Gesellschaft geschützt werden.<br />

Als Gesellschaft müssten wir viel offen für Themen<br />

wie Libidoverlust, sexuelle Identitätsstörungen<br />

und Schwangerschaftsdepressionen sein um diese<br />

zu einem alltäglichen Thema unserer Gesellschaft<br />

zu machen anstatt zu einem Tabu. Diese Themen<br />

betreffen uns alle und wir sollten diesen viel mehr<br />

Sichtbarkeit geben, um psychische Leiden deutlich<br />

zu verringern.<br />

Katja, wie siehst du das?<br />

Dem stimme ich absolut zu. Und bezüglich des<br />

Umgangs mit den physischen Aspekten möchte ich<br />

gern noch ein weiteres Tabu im Tabu ansprechen,<br />

nämlich Sexualität und Krankheit, sich trauen, es bei<br />

Ärzten anzusprechen. Denn obwohl es auf der einen<br />

Seite diese sexuelle Revolution gibt, existiert parallel<br />

eine große Sprachlosigkeit. Denn tatsächlich fällt das<br />

Sprechen über Sexualität den meisten Betroffenen<br />

sehr schwer und auch Therapeuten sowie Ärzten<br />

kommen ja selbst aus dieser Gesellschaft mit ihren<br />

Tabus. In der Konsequenz klammern sie Themen<br />

rund um die Sexualität in ihrer Behandlung meist<br />

aus. Dabei wäre es genau an dieser Stelle so wichtig,<br />

einen offeneren Umgang damit zu pflegen, um Patientinnen<br />

und Patienten den Leidensdruck zu nehmen<br />

und sie in ihrer Lebensqualität zu unterstützen.<br />

Denn es gibt so viele Menschen, die aufgrund von<br />

Erkrankungen Einschränkungen in ihrer Sexualität<br />

haben.<br />

In der Sexualtherapie geht man davon aus, dass 50<br />

Prozent der Menschen sexuelle Probleme haben.<br />

Wenn wir nun noch draufrechnen, dass Menschen<br />

mit Erkrankung oder Behinderung ein erhöhtes<br />

Risiko für eine sexuelle Störung aufgrund physischer<br />

oder psychischer Symptome haben, dann ergibt sich<br />

ein großer Bedarf. Doch kaum jemand spricht mit<br />

ihnen, da sich keiner zuständig fühlt oder den Mut<br />

aufbringt, sich der sexuellen Veränderungen und<br />

Herausforderungen, die mit einer Erkrankung oder<br />

Behinderung einhergehen können, anzunehmen. So<br />

die Erfahrung aus meinen Seminaren für Therapeuten.<br />

Die psychischen Folgen von lebensverändernden Diagnosen<br />

oder medikamentösen Einflüssen – Minderwertigkeitsgefühle,<br />

Depressionen, Angst vor Partnerschaftsverlust<br />

- sind mitunter enorm und können zu<br />

Frustration und Vermeidung von Sex, im schlimmsten<br />

Fall zu Vereinsamung und Isolation oder Depression<br />

führen.<br />

Sexualität zu pflegen<br />

– oder eben noch zu<br />

erlernen. Denn die<br />

wenigsten sind darin<br />

so souverän, da der<br />

Grundstein dafür früh<br />

in der Kindheit und im<br />

Heranwachsen gelegt<br />

wird – und da könnten<br />

wir jetzt erneut bei den<br />

Tabus anfangen.<br />

Um die Eingangsfrage<br />

zu beantworten:<br />

Hierfür ist es sehr<br />

wichtig – und da<br />

spreche ich aus der<br />

Perspektive der<br />

Therapeutin – einen<br />

offenen Umgang mit<br />

Katja Stolte<br />

Helen, kann man mit einer Bedürfnisanalyse für<br />

Klarheit sorgen?<br />

Bei der Bedürfnisanalyse stellen wir uns erst einmal<br />

folgende Fragen: Welche Sexualität lebe ich im Jetzt?<br />

Welche Bedürfnisse werden befriedigt und welche<br />

bleiben unbefriedigt? Wo liegen meine sexuellen<br />

Bedürfnisse? Unsere Gesprächsthemen sind dann,<br />

welche Grundbedürfnisse bestehen, was Berührung<br />

oder was Intimität für sich selbst bedeutet, wie geteilte<br />

Sexualität sich erfüllend anfühlt und wie Solo-Sex<br />

umgesetzt wird. Dadurch erfahren wir mehr über die<br />

sexuelle Zufriedenheit, offene Wünsche, ausgesprochene<br />

und unausgesprochene Fantasien, aber<br />

auch über körperliche Energien, wie feminine und<br />

maskuline Energien, und schauen, wohin sich die Lust<br />

am stärksten entfaltet.<br />

Daraufhin bauen wir einen Übungsplan auf, den die<br />

Einzelperson wie auch Paare zu Hause umsetzen können.<br />

Die Übungen sind sehr vielseitig und bei jedem<br />

Fall anders.<br />

Die Bedürfnisanalyse ist allerdings nicht nur für die<br />

sexuelle Zufriedenheit, sondern ebenso für viele<br />

Menschen ganz generell eine Möglichkeit, das riesige<br />

Spektrum der Sexualität weiter zu erforschen.<br />

Ich arbeite auch gerne mit sexueller Hypnose und<br />

Trance, wodurch wir die Erregungsquellen und<br />

Blockaden erforschen. Denn erst wenn wir uns<br />

entspannen, können wir bewusst tiefer fühlen. Mit<br />

einer entspannten Haltung kann ich tiefer fühlen,<br />

was in meinem Körper passiert, und der Lust dadurch<br />

mehr Weite schenken.<br />

Helen, was fällt dir bei deiner Arbeit als Sexualtherapeutin<br />

am ehesten an deinen Klienten auf?<br />

Hakt es an körperlicher Unsicherheit oder an der<br />

Kommunikation miteinander?<br />

Erst mal haben wir weiterhin ein Systemproblem,<br />

denn es gibt immense Probleme, überhaupt an die<br />

Versorgung einer Sexualtherapeutin oder eines Sexualberaters<br />

zu kommen. Warum? Weil über uns zu<br />

wenig gesprochen oder an uns verwiesen wird. Meist<br />

sind Personen, die sich an mich wenden, bereits einen<br />

langen belastenden Weg gegangen. Und dadurch<br />

entsteht manchmal eine weitere psychische Belastung<br />

on Top zu dem eigentlichen Problem selbst.<br />

In meiner Arbeit treffe ich vor allem auf Personen<br />

mit sexuellen Unsicherheiten bezogen auf die eigene<br />

sexuelle Identität,<br />

das Empfinden als<br />

sexuelles Wesen in<br />

dieser Gesellschaft.<br />

Wir Menschen sind so<br />

in unserem Leistungsdruck<br />

und dem<br />

Alltagsstress versunken,<br />

dass es uns an<br />

Kreativität und gelebter<br />

Sexualität fehlt.<br />

Der Körper ist immer<br />

nur am Ackern, d.h.<br />

wir sind so oft im<br />

Kopf und nicht im<br />

Körper über den Tag,<br />

dass unser System gar<br />

nicht genug fühlen<br />

kann. Wir Menschen<br />

müssen also erst mal<br />

wieder lernen zu<br />

fühlen. Und dies ist in<br />

meiner Praxis täglich<br />

Thema.<br />

Katja, zu deinem Fachbereich gehört auch die<br />

Behandlung von psychisch-sexuellen Blockaden.<br />

Was verbirgt sich dahinter und wie können diese<br />

entstehen?<br />

Eine sexuelle Blockade entsteht im Prinzip immer<br />

dann, wenn das Gedachte und Gefühlte nicht zum<br />

Erleben und Verhalten passt. Der Körper macht<br />

dann nicht mehr so mit, wie wir eigentlich scheinbar<br />

wollen. Denn auch das steht nicht selten zur Debatte:<br />

Habe ich überhaupt den Sex, den ich mir wünsche?<br />

Macht der Körper hier dicht oder spricht er einfach<br />

nur aus, was ich mich nicht auszudrücken traue?<br />

Das Besondere im Fall von neurologischen Erkrankungen<br />

ist dann, dass diese per se eine Blockade<br />

auslösen können, meist erst auf körperlicher Ebene,<br />

und diese dann wiederum führen zu psychischen<br />

Blockaden.<br />

Bei Menschen mit Behinderung herrscht leider<br />

überwiegend noch das Bild, dass diese ganz sicher<br />

keine sexuellen Bedürfnisse haben und eine Person,<br />

die krank ist, keine Lust auf Sex hat. Dabei ist kein<br />

Mensch jemals nur krank oder nur behindert. Wir<br />

werden als sexuelle Wesen geboren und verlassen die<br />

Welt als solche – nur müssen wir bei bestimmten<br />

physisch oder psychisch verändernden Erkrankungen<br />

Sexualität neu lernen.<br />

Das ganze Interview online, unter:<br />

www.gesunder-koerper.info

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!