civitas_winter_2021
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CRASHKURS KIRCHE
sucht nach Sinn, nach einem „Mehr“ in ihrem Leben; sie wollen lernen,
das Heilige, ja Gott in ihrem eigenen, alltäglichen Leben zu entdecken
und sich damit zu verbinden.
Das Wort „Exerzitien“ weckt in vielen von uns zunächst Bilder aus dem militärischen Zusammenhang.
Wir denken an Menschen in Uniformen, die sich, laut gebrüllten Kommandos
folgend, in großer Formation synchron und zackig auf einem „Exerzierplatz“ bewegen.
Bei Exerzitien im religiösen Sinne geht es eher leise zu. Gangart und Schrittfolge der
beteiligten Menschen sind ganz unterschiedlich. Die Bewegung führt nach innen. Schauplatz
ist die eigene Seele.
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E
Exerzitien
Der Begriff leitet sich aus dem lateinischen „exercere“ = üben, bearbeiten,
in Bewegung bringen / halten, bzw. exerzitium = eifrige Übung /
Beschäftigung ab. Es war der heilige Ignatius von Loyola (1491 – 1556),
der das „Exerzieren“ auf das spirituelle Leben anzuwenden begann.
Ignatius war Spanier und ein ehrgeiziger Soldat, bis eine schwere Verletzung
seine militärische Karriere durchkreuzte und ihn für viele Monate
ans Krankenlager fesselte. Diese Zeit wurde für ihn zu einer existenziellen
Lebenskrise, die ihn durch das leidvolle Erleben von Sinnlosigkeit,
Schwäche, Langeweile und Ohnmacht hindurch zu einer lebendigen
und schöpferischen Beziehung zu Jesus Christus führte und in der Folge
seinem Leben eine ganz neue Ausrichtung gab: Aus dem stolzen Soldaten
wurde zunächst ein bettelnder Pilger, später gründete er den Orden
der Jesuiten; statt Truppen zu befehligen, erforschte er nun sein eigenes
Herz und wurde vielen Menschen ein Begleiter auf ihrem Weg mit Gott
und zu einem gelingenden Leben.
Ignatius schrieb seine Geschichte auf, und er destillierte seine Erfahrungen
zu dem sogenannten „Exerzitienbuch“ (orig.: „Exercitia spirtualia“,
dt.: „Geistliche Übungen“). Diese Texte haben seither Menschen geholfen,
andere auf ihrem Lebens- und Glaubensweg zu begleiten und zu
unterstützen; der Name „Exerzitien“ für spirituelle Übungswege hat sich
weit über die Tradition der Nachfolger von Ignatius hinaus verallgemeinert:
es gibt benediktinische und franziskanische Exerzitien, „Exerzitien
zu Hause“, Online-Exerzitien, Straßenexerzitien und viele mehr.
Menschen, die heute „Exerzitien machen“, tun dies, um inneren Abstand
zu ihrem Alltag zu schaffen und „zur Besinnung“ zu kommen. Sie
suchen den Kontakt mit sich selbst und mit Gott, folgen ihrer Sehn-
„Der eigenen
Sehnsucht zu folgen,
ja, ihr überhaupt einmal
Raum zu geben und sie
zu spüren, ist in
unserem schnelllebigen
Alltag nicht so einfach.“
Der eigenen Sehnsucht zu folgen, ja, ihr überhaupt einmal Raum zu
geben und sie zu spüren, ist in unserem schnelllebigen Alltag nicht so
einfach. Manchmal werden wir darauf gestoßen, weil unser Leben in
eine Krise gerät: durch Krankheit oder den Verlust eines geliebten Menschen,
durch ein Scheitern in Beruf, Karriere oder in der Beziehung.
Auch die aktuelle Pandemie mit all ihren Begleiterscheinungen lässt uns
gewissermaßen aufwachen zu der Frage: Was ist mir eigentlich wirklich
wichtig? Woran will, woran kann ich mein Leben überhaupt noch festmachen
und ausrichten? Was trägt mich?
Exerzitien können einen Raum bieten, sich solchen Fragen zu stellen.
Sie bieten einen geschützten Rahmen, z. B. ein Kloster oder Bildungshaus,
einen geordneten Tagesablauf mit viel Stille und wenig
Ablenkung, Zeit für Gebet, Ausruhen, nach-innen-Horchen, und
– für ein solches Unterfangen auch ganz wichtig! – Begleitung durch
Personen, die selbst auf dem spirituellen Weg sind und sich mit ihren
Erfahrungen und ihrer Person dem und der „Übenden“ zur Verfügung
stellen im Zuhören und auch in der „Wegweisung“. Der oder die
Exerzitienbegleiter*in hilft, die Tage zu strukturieren, sie bietet in
Gesprächen Resonanz und gibt Hilfen zur Begegnung mit Gott im Gebet
und in der Betrachtung jeweils passender Stellen aus der Bibel und
anderen heiligen Schriften. Oft werden Exerzitien auch für eine Gruppe
angeboten, sodass man als Übende:r gemeinsam mit anderen unterwegs
ist und in der Gruppe auch Solidarität und Ermutigung erfährt.
So können Exerzitien eine sehr intensive Zeit mit tiefen inneren Erfahrungen
werden, die weit in den dann wiederkehrenden Alltag hineinreichen
und diesen mit neuem Antrieb, tiefer gegründeter Kraft und
Energie beleben.
Von vornherein stärker im „aktiven“, z. T. alltäglichen Leben verankert
sind Exerzitien-Angebote, für die man sich nicht an einen stillen Ort
zurückzieht: „Exerzitien auf der Straße“ bieten die Übung an, inmitten
z. B. einer belebten Großstadt – sie wurden erstmals in Berlin angeboten
– „Heiliges“ zu entdecken; „Wander-Exerzitien“ erschließen die
Erfahrung, mit Gott „auf dem Weg“ zu sein; „Exerzitien im Alltag“ –
wie sie auch in St. Clemens und Mauritius angeboten werden – bieten
eine Weggemeinschaft über mehrere Wochen alltäglichen Lebens, die inspiriert
wird von geistlichen Impulsen und Hilfen zu einer verfeinerten
Aufmerksamkeit für die Gegenwart Gottes.
Allen Exerzitien gemeinsam ist, dass die Übenden lernen, sich selbst
mehr zu spüren und die Anwesenheit Gottes in allem mehr und mehr
wahrzunehmen. Möchten Sie ein kleines Experiment dazu machen?
Schenken Sie sich selbst die kommenden 5 Minuten. Wenden Sie Ihre
Aufmerksamkeit dem Möbel zu, auf dem Sie gerade sitzen. Spüren Sie
in Ruhe den Kontakt: mit dem Gesäß, mit dem Rücken. Mit Ihren Füßen.
Sie werden getragen. Lassen Sie sich tragen! Gestatten Sie sich ein
paar Atemzüge lang, einfach dazusitzen: Müde, gelangweilt, fröhlich,
unruhig … wie auch immer: So genügt es. „Du liebst alles, was ist, und
verabscheust nichts von dem, was Du gemacht hast; denn hättest Du
etwas gehasst, so hättest Du es nicht geschaffen.“ (Weish. 11, 24)
Text: Ada v. Lüninck, Meditationsleiterin
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