«Lasst euch einfach diese spannende Geschichte erzählen!» © Eva Schram / Diogenes
11 INTERVIEW Nach dem Grosserfolg mit dem Schelmenroman «Kalmann» legt der in Island lebende Schweizer Autor Joachim B. Schmidt seine Version der Tell-Legende vor. Ein Ereignis, das einem breiten Publikum höchstes Lesevergnügen bietet. INTERVIEW: MARIUS LEUTENEGGER Sie leben in Island – und haben jetzt einen Roman über Wilhelm Tell geschrieben. Ein Zeichen von Heimweh? Bestimmt! Heimweh ist vielleicht das falsche Wort, aber dieses Buch ist wohl tatsächlich ein Zeichen dafür, dass ich mich auf meine Wurzeln zurückbesinne. Als Auslandschweizer fühle ich diese Wurzeln von Jahr zu Jahr stärker; das hat auch mit unseren Kindern zu tun, die Grosseltern in der Schweiz haben oder wegen denen ich mich an die eigene Kindheit erinnere. Ist Ihre Familie isländisch oder schweizerisch? Meine Frau ist Isländerin. Wir haben zwei Kinder, eine elfjährige Tochter und einen bald sechsjährigen Sohn. Island ist noch immer mein Traumland, ich werde wohl hierbleiben. Island ist ein sehr inspirierendes Land, und es hat mich zu «Tell» angeregt. Wie? Island verfügt über einen grossen Schatz an Sagas, alten Manuskripten und Heldengeschichten. Diese Isländersagas, die meist um das Jahr 1000 spielen, aber erst etwa 200 oder 300 Jahre später niedergeschrieben wurden, sind ähnlich wie jene von Tell. Im Unterschied zu den Schweizern sind Isländer aber überzeugt von der Existenz ihrer Helden. Man diskutiert hier nicht, ob eine Geschichte wahr ist oder nicht – sondern eher, ob der Held der Geschichte dieses oder jenes wirklich gesagt hat. Diese Liebe zu den Helden, der Enthusiasmus über und der Stolz auf die eigenen Geschichten haben mich angesteckt und mich immer stärker an Tell denken lassen. «Tell» trage ich schon seit Jahren in meinem Kopf, ich habe immer wieder mit dieser grausam tollen Geschichte geliebäugelt. Island hat mich darin bestärkt, meine eigene Version zu erzählen und Tell aufleben zu lassen. Die Tell-Legende wurde unzählige Male adaptiert – etwa von Hansjörg Schneider, Max Frisch, Thomas Vaucher und natürlich von Friedrich Schiller. Es gibt viele Verfilmungen und Hörspiele, sogar ein Musical. Einige Adaptionen sind heroisierend, viele eher ironisch. Es ist eigentlich alles da. Warum braucht es jetzt auch noch einen Tell-Roman von Ihnen? Wenn man diese Liste durchgeht, sieht man: Es gibt tatsächlich viele Theaterproduktionen und JOACHIM B. SCHMIDT kam 1981 in Thusis, Graubünden, zur Welt. Zum Abschluss seiner Ausbildung zum Hochbauzeichner schenkte ihm seine Gotte eine Reise in ein europäisches Land seiner Wahl. Er wählte Island – und machte die Insel schliesslich zu seiner Wahlheimat. Schmidt arbeitete als Journalist, Knecht, Gärtner, Trockenmaurer, Kellner, Hilfskoch, Molkereiarbeiter und Rezeptionist. 2<strong>01</strong>0 gewann er mit einer Kurzgeschichte einen grossen Schreibwettbewerb, seither hat er sich in den Kreis der bedeutenden Schweizer Autoren geschrieben. Sein vierter Roman «Kalmann», der 2020 bei Diogenes erschien, erhielt den renommierten «Crime Cologne Award». Joachim B. Schmidt lebt mit seiner Familie in Reykjavík. LESUNGEN MIT JOACHIM B. SCHMIDT: 14. März, 20 Uhr, Orell Füssli Bern 17. Mai, 20 Uhr, Rösslitor St. Gallen Filme, Parodien und Comicbücher, aber eigentlich sehr wenige Tell-Romane. 2<strong>01</strong>6 erschien jener von Thomas Vaucher, aber der ging leider etwas unter. Mich reizte, aus dieser tollen Geschichte einen modernen Tell-Roman zu machen, den man nicht mehr aus der Hand legt, den jeder lesen kann und der keine politische Agenda hat. Beim <strong>Lesen</strong> Ihres neuen Romans fühlte ich mich immer wieder an Max Frischs «Wilhelm Tell für die Schule» erinnert. Haben Sie die Vorgängerwerke als Quellen genutzt? Ich habe tatsächlich viele Werke über Tell konsumiert – und das jeweils Beste herausgepickt. Wie bewusst oder unbewusst das abgelaufen ist, weiss ich nicht genau. Bei Frisch hat mich beeindruckt, dass er die Figuren nicht ins Gut-und-Böse-Schema presste, im Unterschied etwa zu Schiller, bei dem es kaum Grautöne gibt. Der Wilhelm-Tell-Film von 1960 inspirierte mich zum Beispiel zur frühen Szene, in der Gessler und Tell einander in den Bergen begegnen. Sogar Globis Wilhelm Tell war eine Quelle! Im Bundeslied von 1470, dem Lied über die Entstehung der Eidgenossenschaft, heisst es: «Versenkt Tell im Urnersee.» So etwas entfacht eine ganze Gedankenwelt in mir. Mich störte diese Szene auf dem See allerdings schon immer: der heldenhafte Bergbauer, der als Einziger das Schiff steuern kann. Auch hier in Island kommt dieses Motiv in den Sagas oft vor: Kaum wird gerudert, zieht auch schon ein fürchterlicher Sturm wie aus dem Nichts auf. Dieses Klischee habe ich gern eingebaut, wenn auch etwas verdreht. Das Apfelschuss-Motiv der Tell-Legende geht praktisch eins zu eins zurück auf ein dänisches Geschichtsbuch aus dem Jahr 1200, verfasst vom Geistlichen Saxo Grammaticus; dort heisst der Schütze Toko. Kennt man in Island, das ja wie Dänemark zum skandinavischen Kulturkreis zählt, die Toko-Geschichte? Kaum. Die Isländer sind vor allem mit sich sel bst beschäftigt. Ich hörte erst von Saxo, als ich mich mit Tell zu beschäftigen begann. Aber das Apfelschuss-Motiv geht möglicherweise noch weiter zurück als bis zu Toko, vielleicht stammt es aus dem Mittleren Osten. Ähnliche Szenen findet man aber auch in isländischen und färöischen Heldenliedern; nur die Details sind oft anders, einmal muss eine LESEN 1/<strong>2022</strong> – ORELLFÜSSLI.CH