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Lesen 01/2022

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34<br />

LYRIK<br />

«Die Poesie ist kein<br />

braves Kind»<br />

Die Lyrik hat es nicht leicht, sich in der Publikumsgunst zu behaupten. Neue Bücher zeigen,<br />

wie lohnend es ist, in diese ureigene Welt der Worte einzutauchen.<br />

TEXT: MARKUS GANZ<br />

«DIE GEDICHTE INITIIERTEN<br />

EIN SPRECHEN MIT DER<br />

SPRACHE SELBST. ICH HABE<br />

MIT KLÄNGEN GESPIELT, MIT<br />

RHYTHMEN UND DAS WORT-<br />

MATERIAL GETESTET.»<br />

ANGELIKA OVERATH<br />

Wer nicht regelmässig Gedichte liest, wird<br />

leicht ungeduldig: Was sollen diese Worte<br />

bedeuten, so wenige es oft nur sind? Es fühlt<br />

sich so an, als ob man einen Text in einer<br />

Fremdsprache liest, die man nicht so gut beherrscht.<br />

Man muss ein Gedicht oft mehrmals<br />

lesen, um den Klang und den Rhythmus<br />

der Worte zu finden und dadurch auch<br />

den Sinn entschlüsseln zu können.<br />

Das Sprechen mit der Sprache<br />

Angelika Overath hat ähnliche Erfahrungen<br />

beim Schreiben ihrer Gedichte gemacht.<br />

Die 1957 in Karlsruhe geborene Schriftstellerin<br />

wohnt seit 2007 im Engadiner Dorf<br />

Sent. Sie habe das dort gesprochene Rätoromanisch-Idiom<br />

Vallader weniger leicht als<br />

ihr Sohn und ihr Mann gelernt, erklärt sie<br />

im Vorwort zum neuen Gedichtband<br />

«Schwarzhandel mit dem Himmel / Marchà<br />

nair cul azur» gemacht. Sie habe die Sprache<br />

so schön gefunden, dass sie zunächst<br />

immer schöne Sätze sagen wollte – «ein sicherer<br />

Weg, eine Sprache nicht zu lernen».<br />

Deshalb begann sie heimlich, Gedichte in<br />

Vallader zu schreiben. «Die Gedichte initiierten<br />

ein Sprechen mit der Sprache selbst.<br />

Ich habe mit Klängen gespielt, mit Rhythmen<br />

und das Wortmaterial getestet.»<br />

Reizvolle Geschwister<br />

Dieser spielerische Zugang prägt spürbar die<br />

neuen Gedichte, die oft vom Leben im Engadin<br />

erzählen: schwarz und weiss, Tod und<br />

Schnee, die Liebe natürlich. Angelika Overath<br />

hat diese rätoromanischen Gedichte<br />

dann ins Deutsche übersetzt, nicht umgekehrt.<br />

Manches, was im Vallader gut klang,<br />

habe im Deutschen nicht funktioniert. Deshalb<br />

hat die Autorin die Gedichte in der<br />

Übersetzung variiert, ja «gefälscht». Entstanden<br />

sind so Geschwistergedichte, die gerade<br />

im sprachlichen Wechselspiel einen speziellen<br />

Reiz entwickeln. Denn Sprechen, Schreiben<br />

und <strong>Lesen</strong> führen gemäss der Autorin<br />

leicht in die glücklichsten Verwandlungen.<br />

Oder, um mit einem ihrer Gedichte zu sprechen:<br />

«Die Poesie ist kein braves Kind. Sie<br />

gehorcht nicht. Sie lacht insgeheim. Sie ist<br />

wild. Immer hat sie andere Ideen.»<br />

Das Lasso der Buchstaben<br />

Dieses Gespür für neue Bedeutungen, die<br />

aus dem Spiel mit Worten entstehen, zeichnet<br />

auch das Schaffen von Ulrike Draesner<br />

aus. Dies zeigt sich besonders deutlich im<br />

Gedicht «Was das Wort ist», wo sie flüchtig<br />

wirkende Worte um das Wort Wahnwitz kreisen<br />

lässt. «hell & hörig» heisst prägnant das<br />

neue Buch der 1962 in München geborenen<br />

Autorin. Es versammelt Gedichte von 1995<br />

bis 2020, deren Eigenständigkeit immer wieder<br />

beeindruckt. In zwölf von ihr grafisch<br />

gestalteten Zwischenrufen sinniert Ulrike<br />

Draesner zudem über das Wesen der Poesie<br />

und wieso sie zu dichten begann. Nach einem<br />

einjährigen Aufenthalt in England,<br />

während dem sie nur Englisch gesprochen<br />

habe, sei sie im Deutschen immer wieder gestolpert,<br />

habe etwa im deutschen Wort «Bad»<br />

das englische «bad» gehört oder gesehen.<br />

Dazu passt eine amüsante Übersetzung des<br />

Beatles-Songtexts «Yellow Submarine», dessen<br />

Titel bei ihr zu «Gelbe Suppmarie» wird.<br />

In einem Zwischenruf erklärt sie zudem, ein<br />

Gedicht sei «ein aus Buchstaben gefertigtes<br />

Lasso (Klanglichkeit, Rhythmus, Wiederholungen,<br />

Wortsemantik), das etwas einfängt,<br />

was man ohne dieses Lasso und seine Bewegung<br />

nicht sähe».<br />

Die Weltsprache des Schweigens<br />

Erika Burkart (1922–2<strong>01</strong>0) dichtete sogar<br />

70 Jahre lang. Die von ihrem Mann, dem<br />

Schriftsteller Ernst Halter, zusammengestellte<br />

und kommentierte neue Sammlung<br />

«Spiegelschrift» ist entsprechend umfangreich,<br />

aber auch aufschlussreich, da es<br />

ihre Entwicklung des Dichtens über Jahrzehnte<br />

aufzeigt. Die in Aarau geborene<br />

Schriftstellerin löste sich langsam, aber<br />

konsequent von den dichterischen Konventionen<br />

der schönen «Ver-Wortung» ihrer<br />

Anfänge und entwickelte ihre ureigene,<br />

so genaue wie bescheidene Sprache. In<br />

einem Gedicht schrieb sie: «Ich lebe mit<br />

wenigen Bildern, sage zuweilen: Ich möchte<br />

sterben, bin aber froh, wenn mich keiner<br />

beim Wort nimmt.»<br />

«ICH LEBE MIT WENIGEN<br />

BILDERN, SAGE ZUWEILEN:<br />

ICH MÖCHTE STERBEN, BIN<br />

ABER FROH, WENN MICH<br />

KEINER BEIM WORT NIMMT.»<br />

ERIKA BURKART<br />

LESEN 1/<strong>2022</strong> – ORELLFÜSSLI.CH

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