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LYRIK<br />
«Die Poesie ist kein<br />
braves Kind»<br />
Die Lyrik hat es nicht leicht, sich in der Publikumsgunst zu behaupten. Neue Bücher zeigen,<br />
wie lohnend es ist, in diese ureigene Welt der Worte einzutauchen.<br />
TEXT: MARKUS GANZ<br />
«DIE GEDICHTE INITIIERTEN<br />
EIN SPRECHEN MIT DER<br />
SPRACHE SELBST. ICH HABE<br />
MIT KLÄNGEN GESPIELT, MIT<br />
RHYTHMEN UND DAS WORT-<br />
MATERIAL GETESTET.»<br />
ANGELIKA OVERATH<br />
Wer nicht regelmässig Gedichte liest, wird<br />
leicht ungeduldig: Was sollen diese Worte<br />
bedeuten, so wenige es oft nur sind? Es fühlt<br />
sich so an, als ob man einen Text in einer<br />
Fremdsprache liest, die man nicht so gut beherrscht.<br />
Man muss ein Gedicht oft mehrmals<br />
lesen, um den Klang und den Rhythmus<br />
der Worte zu finden und dadurch auch<br />
den Sinn entschlüsseln zu können.<br />
Das Sprechen mit der Sprache<br />
Angelika Overath hat ähnliche Erfahrungen<br />
beim Schreiben ihrer Gedichte gemacht.<br />
Die 1957 in Karlsruhe geborene Schriftstellerin<br />
wohnt seit 2007 im Engadiner Dorf<br />
Sent. Sie habe das dort gesprochene Rätoromanisch-Idiom<br />
Vallader weniger leicht als<br />
ihr Sohn und ihr Mann gelernt, erklärt sie<br />
im Vorwort zum neuen Gedichtband<br />
«Schwarzhandel mit dem Himmel / Marchà<br />
nair cul azur» gemacht. Sie habe die Sprache<br />
so schön gefunden, dass sie zunächst<br />
immer schöne Sätze sagen wollte – «ein sicherer<br />
Weg, eine Sprache nicht zu lernen».<br />
Deshalb begann sie heimlich, Gedichte in<br />
Vallader zu schreiben. «Die Gedichte initiierten<br />
ein Sprechen mit der Sprache selbst.<br />
Ich habe mit Klängen gespielt, mit Rhythmen<br />
und das Wortmaterial getestet.»<br />
Reizvolle Geschwister<br />
Dieser spielerische Zugang prägt spürbar die<br />
neuen Gedichte, die oft vom Leben im Engadin<br />
erzählen: schwarz und weiss, Tod und<br />
Schnee, die Liebe natürlich. Angelika Overath<br />
hat diese rätoromanischen Gedichte<br />
dann ins Deutsche übersetzt, nicht umgekehrt.<br />
Manches, was im Vallader gut klang,<br />
habe im Deutschen nicht funktioniert. Deshalb<br />
hat die Autorin die Gedichte in der<br />
Übersetzung variiert, ja «gefälscht». Entstanden<br />
sind so Geschwistergedichte, die gerade<br />
im sprachlichen Wechselspiel einen speziellen<br />
Reiz entwickeln. Denn Sprechen, Schreiben<br />
und <strong>Lesen</strong> führen gemäss der Autorin<br />
leicht in die glücklichsten Verwandlungen.<br />
Oder, um mit einem ihrer Gedichte zu sprechen:<br />
«Die Poesie ist kein braves Kind. Sie<br />
gehorcht nicht. Sie lacht insgeheim. Sie ist<br />
wild. Immer hat sie andere Ideen.»<br />
Das Lasso der Buchstaben<br />
Dieses Gespür für neue Bedeutungen, die<br />
aus dem Spiel mit Worten entstehen, zeichnet<br />
auch das Schaffen von Ulrike Draesner<br />
aus. Dies zeigt sich besonders deutlich im<br />
Gedicht «Was das Wort ist», wo sie flüchtig<br />
wirkende Worte um das Wort Wahnwitz kreisen<br />
lässt. «hell & hörig» heisst prägnant das<br />
neue Buch der 1962 in München geborenen<br />
Autorin. Es versammelt Gedichte von 1995<br />
bis 2020, deren Eigenständigkeit immer wieder<br />
beeindruckt. In zwölf von ihr grafisch<br />
gestalteten Zwischenrufen sinniert Ulrike<br />
Draesner zudem über das Wesen der Poesie<br />
und wieso sie zu dichten begann. Nach einem<br />
einjährigen Aufenthalt in England,<br />
während dem sie nur Englisch gesprochen<br />
habe, sei sie im Deutschen immer wieder gestolpert,<br />
habe etwa im deutschen Wort «Bad»<br />
das englische «bad» gehört oder gesehen.<br />
Dazu passt eine amüsante Übersetzung des<br />
Beatles-Songtexts «Yellow Submarine», dessen<br />
Titel bei ihr zu «Gelbe Suppmarie» wird.<br />
In einem Zwischenruf erklärt sie zudem, ein<br />
Gedicht sei «ein aus Buchstaben gefertigtes<br />
Lasso (Klanglichkeit, Rhythmus, Wiederholungen,<br />
Wortsemantik), das etwas einfängt,<br />
was man ohne dieses Lasso und seine Bewegung<br />
nicht sähe».<br />
Die Weltsprache des Schweigens<br />
Erika Burkart (1922–2<strong>01</strong>0) dichtete sogar<br />
70 Jahre lang. Die von ihrem Mann, dem<br />
Schriftsteller Ernst Halter, zusammengestellte<br />
und kommentierte neue Sammlung<br />
«Spiegelschrift» ist entsprechend umfangreich,<br />
aber auch aufschlussreich, da es<br />
ihre Entwicklung des Dichtens über Jahrzehnte<br />
aufzeigt. Die in Aarau geborene<br />
Schriftstellerin löste sich langsam, aber<br />
konsequent von den dichterischen Konventionen<br />
der schönen «Ver-Wortung» ihrer<br />
Anfänge und entwickelte ihre ureigene,<br />
so genaue wie bescheidene Sprache. In<br />
einem Gedicht schrieb sie: «Ich lebe mit<br />
wenigen Bildern, sage zuweilen: Ich möchte<br />
sterben, bin aber froh, wenn mich keiner<br />
beim Wort nimmt.»<br />
«ICH LEBE MIT WENIGEN<br />
BILDERN, SAGE ZUWEILEN:<br />
ICH MÖCHTE STERBEN, BIN<br />
ABER FROH, WENN MICH<br />
KEINER BEIM WORT NIMMT.»<br />
ERIKA BURKART<br />
LESEN 1/<strong>2022</strong> – ORELLFÜSSLI.CH