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INTERVIEW<br />
Haselnuss abgeschossen werden, ein anderes Mal<br />
kommt ein Pfeilbogen zum Einsatz. Ich finde unseren<br />
Schweizer Tell aber den besten von allen!<br />
Lange Zeit war Tell ein Symbol für den Schweizer<br />
Freiheitskampf, den es so vermutlich gar nie gab. Dann<br />
wurde er zu einer Art rechtsbürgerlichem Bannerträger<br />
– und schliesslich, wie es Helden oft ergeht, auch<br />
zu einer Witzfigur, etwa im Tell-Film mit Mike Müller.<br />
Wofür steht Tell denn für Sie?<br />
Für mich ist Tell eine Person, die in Ruhe gelassen<br />
werden will. Darum stört es mich, dass er immer<br />
wieder für populistische Zwecke missbraucht wird. Die<br />
Freiheitstrychler haben ihn sich jetzt unter den Nagel<br />
gerissen. Ich würde ihnen gern sagen: Gönnt ihm mal<br />
eine Pause! Missbraucht ihn nicht, Tell gehört allen!<br />
Lasst euch einfach diese spannende Geschichte erzählen!<br />
Darin geht es letztlich um etwas ganz anderes als<br />
um Politik: Es geht um Vaterliebe. Dass ein Vater seine<br />
Waffe auf seinen eigenen Sohn richten muss, ist schauderhaft<br />
– und der eigentliche Kern der Geschichte.<br />
Aber so abwegig ist es ja nicht, dass die Freiheitstrychler<br />
sich auf Tell berufen. Oder glauben Sie, Tell würde<br />
sich impfen lassen, lebte er heute?<br />
Oh, das ist eine gemeine Frage! Hm, ich glaube,<br />
er würde sich nicht impfen lassen, und die Maske<br />
würde er zu Hause vergessen. Er will ja einfach seine<br />
Ruhe. Ich bezweifle aber, dass er sich aktiv gegen<br />
die Massnahmen engagieren würde. Er würde vielleicht<br />
nicht mehr im Coop in Altdorf einkaufen gehen,<br />
sondern sich seine Sachen nach Hause schicken<br />
lassen. Ich sehe Tell nicht als Widerständler, sondern<br />
eher als etwas überforderten Eigenbrötler.<br />
Tell ist bei Ihnen auch kein strahlender kräftiger Held,<br />
wie wir ihn vom Fünfliber oder vom Tell-Denkmal<br />
in Altdorf kennen, sondern ein krummer struppiger<br />
Bergbauer. Warum?<br />
Mir war wichtig, dass die Geschichte und die Personen<br />
glaubhaft sind. Dass im 13. Jahrhundert in den<br />
Bergen ein Bodybuilder wohnt, dass ein solcher Bauer<br />
ein hervorragender Vater und Schiffer ist, erscheint<br />
mir unglaubwürdig. Das Leben in den Bergen muss<br />
unglaublich hart gewesen sein, Tell ist bei mir darum<br />
etwas abgehungert. Und zum Coiffeur kann er auch<br />
nicht. Ich habe versucht, die Geschichte in einem<br />
realistischen Umfeld um 1300 anzusiedeln. Wobei<br />
man beim <strong>Lesen</strong> nicht ständig daran erinnert werden<br />
sollte: Ah, das spielt im Mittelalter. Man soll sich in<br />
die Situation hineinversetzen können. Darum habe<br />
ich auf eine zeitgerechte Sprache verzichtet, die Leute<br />
sprechen also wie wir.<br />
Sind die Nebenfiguren, Vater Taufer zum Beispiel<br />
oder die namentlich genannten Habsburger-Schergen<br />
wie Harras oder Raab, Ihre Erfindung?<br />
Ja, mit Ausnahme von Harras – bei Schiller ist<br />
das ein Stallmeister von Gessler. So einen Namen<br />
muss man einfach nutzen, man hört ihm an, dass er<br />
zu einem unangenehmen Menschen gehört. Die an<br />
TELL<br />
Joachim B. Schmidt<br />
288 Seiten, CHF 29.90<br />
Diogenes<br />
«WIE BEGRÜNDET<br />
MAN, DASS DER<br />
HELD EINEN<br />
EIGENTLICH<br />
FEIGEN MORD<br />
VERÜBT?»<br />
deren Figuren habe ich eingeführt, um die Geschichte<br />
realistischer zu machen. Bei mir hat Tell auch<br />
eine Mutter, eine Schwiegermutter und eine Tochter,<br />
Geschwister – es ist ja eher unwahrscheinlich, dass<br />
Tell ein Einzelkind war. So entstand eine glaubwürdige<br />
Welt um Tell herum.<br />
Eine wichtige Idee von Ihnen ist, dass Sie Tell einen<br />
Bruder geben, Peter. Sie erzählen, dieser sei in jungen<br />
Jahren gestorben, als er mit Wilhelm durch die Berge<br />
streifte. Für Tell ist das ein Lebenstrauma. Ich fühlte<br />
mich gleich an die Geschichte von Reinhold Messner erinnert,<br />
der seinen Bruder ebenfalls in den Bergen verlor<br />
und diesen Verlust kaum überwinden konnte.<br />
Ja, ich kenne die Geschichte von Reinhold Messner<br />
und dessen Bruder, ich habe sie stets mitverfolgt, aber<br />
mir war diese Parallele bis jetzt gar nicht bewusst. Tragisch,<br />
wie Messner an diesem Unfall zu beissen hat.<br />
Aber es ist oft so, dass mir erst im Nachhinein bewusst<br />
wird, woher ich etwas habe. Und dann freut es mich.<br />
Das Element geht aber auch auf die Isländersagas zurück.<br />
Da gibt es oft einen Licht- und einen Dunkelbruder.<br />
Der eine macht alles richtig, stirbt aber früh – und<br />
jener, der weniger talentiert und beliebt war, muss<br />
in dessen Fussstapfen treten, die er nie füllen kann.<br />
Dieses Motiv hat mich interessiert.<br />
Auch der Tyrannenmord kommt bei Ihnen etwas<br />
anders daher als in Schillers Heldenepos: Tell erschiesst<br />
Gessler aus persönlicher Wut und eher aus sogenannt<br />
niederen Motiven.<br />
Der Mord an Gessler ist wohl für alle, die über<br />
Tell schreiben oder schrieben, eine Herausforderung:<br />
Wie begründet man, dass der Held einen<br />
eigentlich feigen Mord verübt? Ich versuchte, auf<br />
dem Boden der Realität zu bleiben: Tell steigert sich<br />
in etwas hinein, ein sinnloser Gewaltakt am Anfang<br />
der Geschichte zieht immer grössere Kreise und<br />
resultiert schliesslich im Massaker auf einem verschneiten<br />
Acker. Der Meuchelmord ist das Resultat<br />
eines Teufelskreises, den niemand durchbricht.<br />
© Eva Schram / Diogenes<br />
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