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Lesen 01/2022

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12<br />

INTERVIEW<br />

Haselnuss abgeschossen werden, ein anderes Mal<br />

kommt ein Pfeilbogen zum Einsatz. Ich finde unseren<br />

Schweizer Tell aber den besten von allen!<br />

Lange Zeit war Tell ein Symbol für den Schweizer<br />

Freiheitskampf, den es so vermutlich gar nie gab. Dann<br />

wurde er zu einer Art rechtsbürgerlichem Bannerträger<br />

– und schliesslich, wie es Helden oft ergeht, auch<br />

zu einer Witzfigur, etwa im Tell-Film mit Mike Müller.<br />

Wofür steht Tell denn für Sie?<br />

Für mich ist Tell eine Person, die in Ruhe gelassen<br />

werden will. Darum stört es mich, dass er immer<br />

wieder für populistische Zwecke missbraucht wird. Die<br />

Freiheitstrychler haben ihn sich jetzt unter den Nagel<br />

gerissen. Ich würde ihnen gern sagen: Gönnt ihm mal<br />

eine Pause! Missbraucht ihn nicht, Tell gehört allen!<br />

Lasst euch einfach diese spannende Geschichte erzählen!<br />

Darin geht es letztlich um etwas ganz anderes als<br />

um Politik: Es geht um Vaterliebe. Dass ein Vater seine<br />

Waffe auf seinen eigenen Sohn richten muss, ist schauderhaft<br />

– und der eigentliche Kern der Geschichte.<br />

Aber so abwegig ist es ja nicht, dass die Freiheitstrychler<br />

sich auf Tell berufen. Oder glauben Sie, Tell würde<br />

sich impfen lassen, lebte er heute?<br />

Oh, das ist eine gemeine Frage! Hm, ich glaube,<br />

er würde sich nicht impfen lassen, und die Maske<br />

würde er zu Hause vergessen. Er will ja einfach seine<br />

Ruhe. Ich bezweifle aber, dass er sich aktiv gegen<br />

die Massnahmen engagieren würde. Er würde vielleicht<br />

nicht mehr im Coop in Altdorf einkaufen gehen,<br />

sondern sich seine Sachen nach Hause schicken<br />

lassen. Ich sehe Tell nicht als Widerständler, sondern<br />

eher als etwas überforderten Eigenbrötler.<br />

Tell ist bei Ihnen auch kein strahlender kräftiger Held,<br />

wie wir ihn vom Fünfliber oder vom Tell-Denkmal<br />

in Altdorf kennen, sondern ein krummer struppiger<br />

Bergbauer. Warum?<br />

Mir war wichtig, dass die Geschichte und die Personen<br />

glaubhaft sind. Dass im 13. Jahrhundert in den<br />

Bergen ein Bodybuilder wohnt, dass ein solcher Bauer<br />

ein hervorragender Vater und Schiffer ist, erscheint<br />

mir unglaubwürdig. Das Leben in den Bergen muss<br />

unglaublich hart gewesen sein, Tell ist bei mir darum<br />

etwas abgehungert. Und zum Coiffeur kann er auch<br />

nicht. Ich habe versucht, die Geschichte in einem<br />

realistischen Umfeld um 1300 anzusiedeln. Wobei<br />

man beim <strong>Lesen</strong> nicht ständig daran erinnert werden<br />

sollte: Ah, das spielt im Mittelalter. Man soll sich in<br />

die Situation hineinversetzen können. Darum habe<br />

ich auf eine zeitgerechte Sprache verzichtet, die Leute<br />

sprechen also wie wir.<br />

Sind die Nebenfiguren, Vater Taufer zum Beispiel<br />

oder die namentlich genannten Habsburger-Schergen<br />

wie Harras oder Raab, Ihre Erfindung?<br />

Ja, mit Ausnahme von Harras – bei Schiller ist<br />

das ein Stallmeister von Gessler. So einen Namen<br />

muss man einfach nutzen, man hört ihm an, dass er<br />

zu einem unangenehmen Menschen gehört. Die an­<br />

TELL<br />

Joachim B. Schmidt<br />

288 Seiten, CHF 29.90<br />

Diogenes<br />

«WIE BEGRÜNDET<br />

MAN, DASS DER<br />

HELD EINEN<br />

EIGENTLICH<br />

FEIGEN MORD<br />

VERÜBT?»<br />

deren Figuren habe ich eingeführt, um die Geschichte<br />

realistischer zu machen. Bei mir hat Tell auch<br />

eine Mutter, eine Schwiegermutter und eine Tochter,<br />

Geschwister – es ist ja eher unwahrscheinlich, dass<br />

Tell ein Einzelkind war. So entstand eine glaubwürdige<br />

Welt um Tell herum.<br />

Eine wichtige Idee von Ihnen ist, dass Sie Tell einen<br />

Bruder geben, Peter. Sie erzählen, dieser sei in jungen<br />

Jahren gestorben, als er mit Wilhelm durch die Berge<br />

streifte. Für Tell ist das ein Lebenstrauma. Ich fühlte<br />

mich gleich an die Geschichte von Reinhold Messner erinnert,<br />

der seinen Bruder ebenfalls in den Bergen verlor<br />

und diesen Verlust kaum überwinden konnte.<br />

Ja, ich kenne die Geschichte von Reinhold Messner<br />

und dessen Bruder, ich habe sie stets mitverfolgt, aber<br />

mir war diese Parallele bis jetzt gar nicht bewusst. Tragisch,<br />

wie Messner an diesem Unfall zu beissen hat.<br />

Aber es ist oft so, dass mir erst im Nachhinein bewusst<br />

wird, woher ich etwas habe. Und dann freut es mich.<br />

Das Element geht aber auch auf die Isländersagas zurück.<br />

Da gibt es oft einen Licht- und einen Dunkelbruder.<br />

Der eine macht alles richtig, stirbt aber früh – und<br />

jener, der weniger talentiert und beliebt war, muss<br />

in dessen Fussstapfen treten, die er nie füllen kann.<br />

Dieses Motiv hat mich interessiert.<br />

Auch der Tyrannenmord kommt bei Ihnen etwas<br />

anders daher als in Schillers Heldenepos: Tell erschiesst<br />

Gessler aus persönlicher Wut und eher aus sogenannt<br />

niederen Motiven.<br />

Der Mord an Gessler ist wohl für alle, die über<br />

Tell schreiben oder schrieben, eine Herausforderung:<br />

Wie begründet man, dass der Held einen<br />

eigentlich feigen Mord verübt? Ich versuchte, auf<br />

dem Boden der Realität zu bleiben: Tell steigert sich<br />

in etwas hinein, ein sinnloser Gewaltakt am Anfang<br />

der Geschichte zieht immer grössere Kreise und<br />

resultiert schliesslich im Massaker auf einem verschneiten<br />

Acker. Der Meuchelmord ist das Resultat<br />

eines Teufelskreises, den niemand durchbricht.<br />

© Eva Schram / Diogenes<br />

LESEN 1/<strong>2022</strong> – ORELLFÜSSLI.CH

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