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Lesen 01/2022

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22<br />

JUNGE FAMILIEN<br />

auf, doch für Coordt ist der Untermieter wie ein lästiger<br />

Geist, der über der Familie schwebt. Als der Untermieter<br />

Bobo der Familie plötzlich auch noch ein<br />

ebenso skurriles wie unmoralisches Angebot unterbreitet,<br />

ist der Familienfrieden endgültig in Gefahr.<br />

Familienbande, so möchte die Autorin wohl sagen,<br />

sind ein zerbrechliches Gefüge. Oder wie Wilhelm<br />

Busch es vielleicht formulieren würde: «Und die Moral<br />

von der Geschicht’: Mit dem Glück der Familie<br />

spielt man nicht …»<br />

Blick zurück ohne Zorn<br />

Das gilt im Übrigen auch für das «echte Leben», das<br />

mit der Welt der Romane oft in etwa so viel zu tun hat<br />

wie ein Scheidungsanwalt mit einer glücklichen Ehe.<br />

Denn die Realität ist meist viel komplizierter, als man<br />

es sich am Computer vor dem leeren Blatt jemals ausdenken<br />

könnte. Als Beispiel dafür mag «Man kann<br />

Müttern nicht trauen» von Andrea Roedig herhalten.<br />

Die Düsseldorferin versucht, mit diesem Buch «in autofiktionaler<br />

Weise», wie sie selbst sagt, die Geschichte<br />

ihrer Mutter zu erzählen und zu ergründen. Einer<br />

Mutter, welche die Familie verliess, als die Autorin<br />

gerade einmal zwölf Jahre alt war. Roedig wühlt in Erinnerungen,<br />

Tagebüchern, Fotos und setzt auf diese<br />

Weise nicht nur ein Porträt der Mutter, sondern gleich<br />

der ganzen Familie zusammen. Denn das ist ja das<br />

ebenso Schöne wie Schreckliche am Familiengeflecht:<br />

Der eine beeinflusst die andere. Oder wie Roedig<br />

es beschreibt: «Der Ekel der Mütter ist die Scham<br />

«… DAS IST JA DAS<br />

EBENSO SCHÖNE<br />

WIE SCHRECKLI-<br />

CHE AM FAMILI-<br />

ENGEFLECHT: DER<br />

EINE BEEINFLUSST<br />

DIE ANDERE.»<br />

der Töchter.» Wie eine Abrechnung<br />

im Nachhinein<br />

fühlt sich «Man kann Müttern<br />

nicht trauen» nicht an.<br />

Denn die Autorin lässt die<br />

schönen, glücklichen Momente<br />

nicht unerwähnt<br />

und versucht, das Verhalten<br />

von Mutter und Vater zu erklären<br />

oder wenigstens im<br />

Ansatz zu verstehen, auch im Kontext der damaligen<br />

Zeit. Doch alles in allem bleibt die Mutter der Tochter<br />

wohl zeitlebens fremd. Familie muss eben nicht in jedem<br />

Fall auch Nähe bedeuten.<br />

MAN KANN MÜTTERN<br />

NICHT TRAUEN<br />

Andrea Roedig<br />

240 Seiten, CHF 29.90<br />

dtv<br />

HÄTT’ ICH EIN KIND<br />

Lea Streisand<br />

224 Seiten, CHF 29.90<br />

Ullstein<br />

BRIEF AN EIN NIE<br />

GEBORENES KIND<br />

Oriana Fallaci<br />

144 Seiten, CHF 27.90<br />

Ebersbach & Simon<br />

Viele Wege führen nach Rom<br />

Doch was ist, wenn man unbedingt eine Familie<br />

gründen möchte, es aber einfach nicht klappt? Und<br />

weshalb wollen wir überhaupt – zuweilen auf Biegen<br />

und Brechen – Kinder bekommen und Oberhäupter<br />

einer Familie werden? Diesen Fragen spürt Lea Streisand<br />

in ihrem dritten Roman «Hätt’ ich ein Kind»<br />

nach. Als die Mittdreissigerin Kathi erfährt, dass sie<br />

keine Kinder bekommen kann, bricht für sie eine<br />

Welt zusammen. Denn eine Familie mit Kindern zu<br />

haben, war für sie schon immer etwas, das nur eine<br />

Frage der Zeit ist. Noch schlimmer wird für Kathi die<br />

Situation, als ihre beste Freundin Effi schwanger<br />

wird. Also beschliesst Kathi, sich um eine Adoption<br />

zu bemühen. Dass sie sich damit auf einen bürokratischen<br />

Marathon einlässt, ist ihr noch nicht bewusst.<br />

In den folgenden Monaten gehen die beiden<br />

Freundinnen gemeinsam durch ihre jeweiligen<br />

Schwangerschaften, Effi durch die biologische und<br />

Kathi durch die bürokratische.<br />

Sie unterstützen einander<br />

und erfahren, dass<br />

es ebenso schmerzhaft sein<br />

kann, per Adoption zu einem<br />

Kind zu kommen wie<br />

durch eine Geburt. Vor<br />

dem Familienglück scheint<br />

so oder so erst einmal der<br />

Schmerz zu kommen.<br />

«DOCH WAS<br />

IST, WENN MAN<br />

UNBEDINGT EINE<br />

FAMILIE GRÜNDEN<br />

MÖCHTE, ES ABER<br />

EINFACH NICHT<br />

KLAPPT?»<br />

Eine intensive Beziehung<br />

Wie schmerzhaft muss es dann sein, sich auf dieses<br />

Glück vorzubereiten, um es schliesslich doch zu verlieren,<br />

weil das Kind nie geboren wird? Freilich, als<br />

die weltbekannte Reporterin Oriana Fallaci bemerkt,<br />

dass sie ungewollt schwanger ist, hat sich das<br />

mit der Familie bereits erledigt – denn vom Vater des<br />

Ungeborenen hat sie sich getrennt. Dennoch liebt<br />

sie ihre Leibesfrucht aus ganzem Herzen, spricht<br />

mit ihm auch, als bereits klar ist, dass es im Leib gestorben<br />

ist. Und sie nimmt die <strong>Lesen</strong>den mit auf eine<br />

intensive Achterbahnfahrt der Gefühle, Standpunkte<br />

und Ansichten. Man merkt dem Buch hier und da<br />

an, dass es bereits 1975 zum ersten Mal erschienen<br />

ist, als es noch feministisch standesgemäss war, sich<br />

über Schwänze auszulassen, was heute – hoffentlich<br />

zumindest – nicht mehr politisch korrekt wäre. Doch<br />

darüber lässt sich leicht hinweglesen, weil Fallacis<br />

Liebeserklärung an ihr Kind dicht, ehrlich und gefühlsecht<br />

ist und weit über das Persönliche hinaus<br />

einen Blick auf das Leben an sich wirft, der auch<br />

nach vier Jahrzehnten noch aktuell ist. «Mut hat sie,<br />

die Fallaci», meinte die Rezensentin der ersten deutschen<br />

Übersetzung 1977 im Spiegel. Ein Fazit, dem<br />

man sich nur anschliessen kann.<br />

LESEN 1/<strong>2022</strong> – ORELLFÜSSLI.CH

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