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4<br />

NOTIZEN<br />

TEXT: MARIUS LEUTENEGGER<br />

DIE HELDIN REIST<br />

Doris Dörrie<br />

240 Seiten, CHF 33.90<br />

Diogenes<br />

Es ist sage und schreibe 36 Jahre her, seit Doris Dörrie<br />

einem Millionenpublikum bekannt wurde – als Regisseurin<br />

und Autorin des Films «Männer», der auch Heiner<br />

Lauterbach und Uwe Ochsenknecht zu Stars machte. Erst<br />

nach diesem Film – 1987 – trat die Deutsche auch als<br />

Autorin in Erscheinung. Mittlerweile ist sie als solche<br />

mindestens so renommiert wie als Filmemacherin. Ihre<br />

2<strong>01</strong>9 erschienene Einladung zum Schreiben «Leben,<br />

schreiben, atmen» hat vermutliche Tausende dazu motiviert,<br />

selbst in die Tasten zu hauen. Nun ist das neuste<br />

Buch von Doris Dörrie da: «Die Heldin reist». Wir kennen<br />

ja alle den Mythos der Heldenreise, den etwa Homer so<br />

fabulös ausschmückte. Heldinnen-Reisen gibt es in der<br />

Literatur hingegen kaum. Doris Dörrie macht einen Anfang<br />

und beschreibt drei ihrer Reisen; sie führen sie und<br />

uns nach San Francisco, Japan und Marokko. Auch wenn<br />

es sich um autobiografische Geschichten handelt, ist alles<br />

da, was eine zünftige Heldinnen-Reise ausmacht: Es gilt,<br />

archetypische Hindernisse zu überwinden, sich von Mentorinnen<br />

leiten zu lassen und sich von einem Kampf<br />

zum nächsten zu hangeln. Offensichtlich sind die Herausforderungen<br />

für Heldinnen aber fast noch grösser als<br />

jene für Helden!<br />

EINES MENSCHEN<br />

HERZ<br />

William Boyd<br />

672 Seiten, CHF 33.90<br />

Kampa<br />

DIE NÄCHTE<br />

DER PEST<br />

Orhan Pamuk<br />

696 Seiten, CHF 42.90<br />

Hanser<br />

Epidemien sind ein<br />

Humus, auf dem<br />

Verschwörungstheorien,<br />

Schuldzuweisungen und<br />

Besserwissereien bestens<br />

gedeihen. Auch wenn<br />

man heute oft zu hören<br />

bekommt, das Internet<br />

sei schuld daran, dass<br />

sich Unsinn so rasch verbreite,<br />

muss man feststellen:<br />

In analogen<br />

Zeiten war es nicht<br />

anders. Davon erzählt<br />

der neue Roman<br />

«Die Nächte der Pest» des türkischen<br />

Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk.<br />

Die Geschichte spielt 19<strong>01</strong> auf der Insel<br />

Minger zwischen Rhodos und Zypern. Als die<br />

Pest ausbricht, löst dies heftigste Beschuldigungen<br />

aus. Die Christen auf der religiös geteilten<br />

Insel glauben, die muslimischen Mekka-Pilger<br />

hätten den Erreger eingeschleppt, die Muslime<br />

tippen auf Händler aus Alexandrien. Damit sich<br />

die Pest nicht weiter ausbreiten kann, verhängen<br />

der osmanische Sultan Abdülhamit II.,<br />

England und Frankreich eine Quarantäne über<br />

die Insel. Was die Liebe allerdings nicht daran<br />

hindert, auf der Pest-Insel munter zu gedeihen.<br />

Erstaunlich ist an diesem so aktuellen Buch,<br />

dass Orhan Pamuk die Idee dafür schon seit<br />

40 Jahren mit sich trug – und er bereits vor<br />

fünf Jahren mit der Niederschrift begann. «Die<br />

Nächte der Pest» ist ein typischer Pamuk:<br />

hochkomplex, vielschichtig, mit zahlreichen<br />

Bezügen zur osmanischen Geschichte und zur<br />

Gegenwart.<br />

Familien waren stets ein wichtiges Thema<br />

von Monika Helfer. Seit einiger Zeit beschäftigt<br />

sich die vielfach ausgezeichnete, 1947 geborene<br />

Vorarlberger Autorin intensiv mit ihrer<br />

eigenen: In «Die Bagage» von 2020 ging es um<br />

ihre Grosseltern, in «Vati» von 2021 um ebendiesen;<br />

«Vati» war für den Deutschen Buchpreis<br />

nominiert. Nun folgt «Löwenherz», das<br />

liebevolle Porträt von Monika Helfers Bruder<br />

Richard, einem Sonderling, der für kurze Zeit<br />

Halt findet in einer unfreiwilligen Vaterrolle.<br />

Einmal mehr schafft es Monika Helfer, ohne<br />

jeden Pathos zu erzählen und trotzdem zu<br />

berühren. Zur grossartigen Erzählerin macht<br />

sie unter anderem, dass sie mit wenigen und<br />

stets einfachen Worten ganze Seelenlandschaften<br />

einfangen kann.<br />

LÖWENHERZ<br />

Monika Helfer<br />

192 Seiten, CHF 29.90<br />

Hanser<br />

Der schottische Autor William Boyd liebt<br />

die Vermischung von eigenen Ideen und Fakten.<br />

Mit «Nat Tate» schrieb er einst die eindrück -<br />

liche Biografie eines vermeintlich vergessenen<br />

Malers, der in den 1950er-Jahren in New York<br />

tätig gewesen sein soll. Prominente Leute aus<br />

der Kunstszene unterstützten Boyd dabei, die<br />

Öffentlichkeit an der Nase herumzuführen –<br />

denn Nat Tate gab es nie. Die Charade war so<br />

gut, dass sich einige berühmte Leute plötzlich<br />

zu erinnern meinten, Nat Tate ebenfalls begegnet<br />

zu sein, und bei Sotheby’s wurde später<br />

gar ein Bild von Nat Tate versteigert, das Boyd<br />

selbst gemalt hatte. Nun erscheint ein weiterer<br />

Roman von Boyd, der die Grenzen zwischen<br />

literarischen Konstruktionen und historischen<br />

Fakten glänzend vermischt: «Eines Menschen<br />

Herz» ist das fiktive Tagebuch eines<br />

gewissen Logan Gonzago Mountstuart, der<br />

ähnlich wie Forrest Gump immer dort<br />

auftaucht, wo gerade Geschichte geschrieben<br />

wird. Mountstuart ist Shelley-Biograf, heiratet<br />

in den englischen Landadel ein, geht als<br />

Berichterstatter in den Spanischen Bürgerkrieg,<br />

wird Leutnant beim Secret Service und<br />

Kunsthändler. Und er begegnet unzähligen<br />

Grössen: Virginia Woolf, Ernest Hemingway,<br />

Jackson Pollock, Pablo Picasso – und gar Nat<br />

Tate! Die rasante Geschichte ist süffig verfasst<br />

und zeigt, wie kompliziert die Moderne<br />

eigentlich ist. Das erfundene Tagebuch erschien<br />

im englischen Original 2002, 2005 wurde es<br />

erstmals auf Deutsch veröffentlicht. Nachdem<br />

es lang vergriffen war, hat es der Kampa-Verlag<br />

jetzt neu aufgelegt.<br />

LESEN 1/<strong>2022</strong> – ORELLFÜSSLI.CH

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