Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
16<br />
HIN UND HER<br />
Liebesreigen<br />
Frühlingsgefühle kommen hoch: Nicht nur im Garten spriesst es, sondern auch in den Herzen.<br />
Saisongerecht haben wir deshalb Neuerscheinungen zu den Themen Liebe und Erotik aus dem<br />
Regal gezupft. Und stellen sie jetzt nicht nur einander vor, sondern vor allem Ihnen!<br />
TEXT: ERIK BRÜHLMANN, MARKUS GANZ, LENA KERN,<br />
MARIUS LEUTENEGGER, MANUELA TALENTA<br />
Liebe Leute<br />
Die Sache zwischen Mann und Frau war vermutlich<br />
schon immer kompliziert – und sie<br />
ist in den letzten Jahren sicher nicht einfacher<br />
geworden. Vermeintliche Gewissheiten<br />
wurden über den Haufen geworfen, während<br />
Jahrhunderten tradierte Rollenbilder<br />
haben sich aufgelöst, ohne durch neue ersetzt<br />
worden zu sein. Und wie so oft werden<br />
alte Ungerechtigkeiten von neuen abgelöst.<br />
Bei der ganzen Aufregung um Diskriminierung,<br />
#MeToo und Sexismus täte etwas<br />
mehr Gelassenheit wohl allen gut. Schliesslich<br />
geht es am Ende nur um eines: dass es<br />
allen wohl ist und sich alle möglichst so entfalten<br />
können, wie sie möchten. Diese Gelassenheit<br />
verströmen der Philosoph Julian<br />
Nida-Rümelin und die Kulturwissenschaftlerin<br />
Nathalie Weidenfeld in ihrem Buch<br />
«Erotischer Humanismus». Das Autorenduo<br />
beschäftigte sich bereits in «Digitaler<br />
Humanismus» mit ethischen Aspekten eines<br />
hochaktuellen Themas. Diesmal geht es<br />
also um die Beziehung zwischen den Geschlechtern.<br />
Wie gestaltet man diese möglichst<br />
humanistisch und kooperativ?<br />
Das Buch ist nichts für Leute mit vorgefassten<br />
Meinungen, denn Nathalie Weidenfeld<br />
und Julian Nida-Rümelin wägen sorgfältig<br />
ab. Sie trauen sich, Mainstream-Haltungen<br />
aus ethischer Sicht abzuklopfen und sowohl<br />
Feministinnen wie auch Ewiggestrigen zu<br />
widersprechen, wenn ihnen das nötig erscheint.<br />
Der vorurteilsfreie, pragmatische<br />
Umgang mit wichtigen Zeitfragen ist beruhigend.<br />
So zeigt das Autorenduo immer wieder<br />
auf, dass Unterschiede zwischen Mann und<br />
Frau eben doch nicht allein kulturell bedingt<br />
sind und auch nicht «wegerzogen» werden<br />
können – dass diese Unterschiede aber nicht<br />
dazu führen dürfen, einem Geschlecht weniger<br />
Wertschätzung als dem anderen entgegenzubringen.<br />
Geht doch auch so!<br />
Humanismus ist einfach gut – das klingt<br />
zwar sehr selbstverständlich, aber er fordert<br />
von einem schon etwas ab, vor allem in Liebesdingen:<br />
Er verlangt, das eigene Verhalten<br />
und die eigenen Haltungen immer wieder zu<br />
hinterfragen. Aber das ist wohl das Fundament<br />
jeder gelingenden Beziehung.<br />
Beeindruckt,<br />
Marius<br />
EROTISCHER HUMANISMUS<br />
Julian Nida-Rümelin,<br />
Nathalie Weidenfeld<br />
240 Seiten, CHF 34.90<br />
Piper<br />
Lieber Marius, liebe Liebenden<br />
Ich muss gestehen, ich bin überrascht! So<br />
völlig unerotisch und beinahe nüchtern hatte<br />
ich mir den Einstieg ins Thema wirklich<br />
nicht vorgestellt. Kein shakespearsches «Soll<br />
ich dich mit einem Sommertag vergleichen?<br />
Nein, Du bist lieblicher und frischer weit ...».<br />
Allerdings komme ich mir jetzt auch nicht<br />
mehr vor wie ein Romantikverweigerer,<br />
wenn ich euch mein Buch vorstelle.<br />
Denn Tobi Lakmakers Debütroman «Die<br />
Geschichte meiner Sexualität» ist erfrischend<br />
unromantisch, eigentlich sogar<br />
ziemlich unerotisch. Modern eben. Sex ist<br />
normal, gehört zum Alltag wie das Einkaufen,<br />
Reisen und Sterben. Ungewöhnlich ist<br />
an diesem Roman jedoch, dass Tobi Lakmaker<br />
noch Sofie Lakmaker hiess, als er den<br />
Roman schrieb – also genau wie die Protagonistin<br />
des Buchs. Eigene Erfahrungen<br />
dürften hier also durchaus eingeflossen<br />
sein. Aber ich sage euch gleich: Ich finde eigentlich<br />
nicht, dass «Die Geschichte meiner<br />
Sexualität» ein Transgender-Roman ist oder<br />
vor allem Lesestoff für die LQBTQIA+-Gemeinde.<br />
Denn eben: Sexualität kommt vor,<br />
aber ist nur ein Teil der Romanwahrheit. Ich<br />
würde das Buch einen Coming-of-Age-Roman<br />
nennen, der den Selbstfindungsprozess<br />
eines jungen Menschen beschreibt.<br />
Dass Sofie «weniger Mädchen und mehr<br />
Junge» werden will, wird so deutlich erst am<br />
Ende zum Thema.<br />
Bis dahin ist man aber längst derart von der<br />
lakonisch-witzig-frech-deutlichen Schreibe<br />
Lakmakers fasziniert, dass man das Buch<br />
nicht mehr aus der Hand legen will. Man<br />
kommt sich beim <strong>Lesen</strong> vor, als sässe man<br />
LESEN 1/<strong>2022</strong> – ORELLFÜSSLI.CH