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Andreas Kunz-Lübcke: Dissidenten, Außenseiter und Querulanten (Leseprobe)

In den biblischen Literaturen begegnen zahlreiche Charaktere, die sich durchaus als Gestalten der Weltliteratur charakterisieren lassen. Einer der möglichen Gründe dafür dürfte der Umstand sein, dass diese in extremen Lebenssituationen agieren oder radikale Positionen vertreten, die sie von einer etablierten Normen und Weltsichten abheben. Die Beiträge in diesem Band, der im Rahmen der Tagung »Außenseiter, Dissidenten und Querulanten« der Projektgruppe »Religiöser Radikalismus« entstanden ist, widmen sich Figuren (wie z.B. Jael, Henoch, Jiftach, Choni ha-Me‘aggel, Eliezer ben Hyrkanos oder auch Paulus), die sich durch die Radikalität ihres Handelns und Denkens im Bezug auf ihre individuellen religiösen Systeme oder ihr soziales Umfeld auszeichnen. Im Mittelpunkt stehen dabei Erzählfiguren und Individuen, die sich deutlich von den etablierten Normen abheben und somit eine bleibende Faszination auf die Leserschaft ausüben.

In den biblischen Literaturen begegnen zahlreiche Charaktere, die sich durchaus als Gestalten der Weltliteratur charakterisieren lassen. Einer der möglichen Gründe dafür dürfte der Umstand sein, dass diese in extremen Lebenssituationen agieren oder radikale Positionen vertreten, die sie von einer etablierten Normen und Weltsichten abheben.

Die Beiträge in diesem Band, der im Rahmen der Tagung »Außenseiter, Dissidenten und Querulanten« der Projektgruppe »Religiöser Radikalismus« entstanden ist, widmen sich Figuren (wie z.B. Jael, Henoch, Jiftach, Choni ha-Me‘aggel, Eliezer ben Hyrkanos oder auch Paulus), die sich durch die Radikalität ihres Handelns und Denkens im Bezug auf ihre individuellen religiösen Systeme oder ihr soziales Umfeld auszeichnen. Im Mittelpunkt stehen dabei Erzählfiguren und Individuen, die sich deutlich von den etablierten Normen abheben und somit eine bleibende Faszination auf die Leserschaft ausüben.

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<strong>Dissidenten</strong>, <strong>Außenseiter</strong> 11<br />

seine Stimme zum Wohl von Freiheit <strong>und</strong> Liberalität erhebt. Der <strong>Außenseiter</strong><br />

bildet das kritische Gegenüber zu allen Tendenzen von Normierung, Ausgrenzung<br />

<strong>und</strong> Stigmatisierung.<br />

»Eben darum halte ich die Formel ›Wir <strong>Außenseiter</strong>‹ für berechtigt. Die Mißbilligung<br />

der Macht gegenüber dem realen oder virtuellen Neinsager war uns stets gewiß.<br />

Shakespeare hat es unübertrefflich formuliert im Urteil seines Julius Cäsar über den<br />

Cassius, seinen späteren Mörder, der einen hohlen Blick hat <strong>und</strong> zu viel denkt. ›Die<br />

Leute sind gefährlich.‹ Der Normalbürger kannte sich gefühlsmäßig von jeher aus.<br />

Er kannte seine Brillenträger <strong>und</strong> ihre Sprechweise. Wenn jemand im Dritten Reich<br />

von der Gestapo verhört wurde <strong>und</strong> in seiner Einlassung das Wort ›konkret‹ gebrauchte,<br />

war der Fall bereits erledigt. Diese Leute kannte man. Das ist seitdem nicht<br />

besser geworden, sondern schlimmer, auch wenn wir vielleicht größere Möglichkeiten<br />

haben als früher, etwa in der Weimarer Republik, uns trotzdem öffentlich zu<br />

äußern. Allein zur allgemeinen Abschätzigkeit gegenüber den Leuten mit dem hohlen<br />

Blick, die auch Leute sein können mit langen Haaren <strong>und</strong> Barten <strong>und</strong> einer Nickelbrille,<br />

kommt erschwerend hinzu im deutschen Bereich, übrigens auch im<br />

schweizerischen, wie ich hinzufügen möchte, die tradierte Respektlosigkeit der<br />

Macht <strong>und</strong> des Besitzes gegenüber Leuten, denen die Suppe nicht so recht schmecken<br />

will, weil Haare darin schwimmen, <strong>und</strong> wohl auch sonst noch einiges.« 3<br />

In der Perspektive eines marxistischen, jüdischen <strong>und</strong> atheistischen Intellektuellen<br />

kommt der Begriff des <strong>Außenseiter</strong>s also ambivalent daher. Auf der einen<br />

Seite geht er auf Ausgrenzung <strong>und</strong> Exklusivismus insbesondere in religiösen<br />

Kontexten <strong>und</strong> Systemen zurück. Auf der anderen Seite repräsentiert er die Gestalt<br />

des intellektuellen Widerständlers, der mit Geist, Witz <strong>und</strong> Chuzpe allen<br />

Tendenzen in Richtung von Normierung <strong>und</strong> Totalitarismus trotzt.<br />

Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> erscheint es als lohnenswert, herausragende <strong>Außenseiter</strong>gestalten<br />

in der Literatur der Vergangenheit auszuloten. Dies kann<br />

hier natürlich nur beispielhaft <strong>und</strong> ansatzweise geschehen.<br />

Ein Blick in die entsprechende Auflistung von <strong>Außenseiter</strong>figuren in der<br />

erzählenden Literatur macht schnell deutlich, dass es sich hierbei um ein ausgesprochen<br />

beliebtes Thema handelt. Gelegentlich wird hier auch vom »Rebellen«<br />

gesprochen. 4<br />

Um ein Beispiel auszuwählen: Zu den neueren deutschsprachigen Klassikern,<br />

die es erstens in den Kanon des Klassensatzes geschafft haben <strong>und</strong> die<br />

zweitens mit dem Stichwort »<strong>Außenseiter</strong>« in Verbindung gebracht werden, gehört<br />

zweifellos Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick.<br />

Es geht hier gleich um zwei <strong>Außenseiter</strong>. Da ist zunächst Maik, 14 Jahre alt, der<br />

in einer Familie lebt, die das Schlagwort »zerrüttet« durchaus verdient. Der<br />

3<br />

4<br />

Mayer, <strong>Außenseiter</strong>, 48.<br />

Vgl. Frenzel, Motive, 592–607, bes. 597.

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