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Andreas Kunz-Lübcke: Dissidenten, Außenseiter und Querulanten (Leseprobe)

In den biblischen Literaturen begegnen zahlreiche Charaktere, die sich durchaus als Gestalten der Weltliteratur charakterisieren lassen. Einer der möglichen Gründe dafür dürfte der Umstand sein, dass diese in extremen Lebenssituationen agieren oder radikale Positionen vertreten, die sie von einer etablierten Normen und Weltsichten abheben. Die Beiträge in diesem Band, der im Rahmen der Tagung »Außenseiter, Dissidenten und Querulanten« der Projektgruppe »Religiöser Radikalismus« entstanden ist, widmen sich Figuren (wie z.B. Jael, Henoch, Jiftach, Choni ha-Me‘aggel, Eliezer ben Hyrkanos oder auch Paulus), die sich durch die Radikalität ihres Handelns und Denkens im Bezug auf ihre individuellen religiösen Systeme oder ihr soziales Umfeld auszeichnen. Im Mittelpunkt stehen dabei Erzählfiguren und Individuen, die sich deutlich von den etablierten Normen abheben und somit eine bleibende Faszination auf die Leserschaft ausüben.

In den biblischen Literaturen begegnen zahlreiche Charaktere, die sich durchaus als Gestalten der Weltliteratur charakterisieren lassen. Einer der möglichen Gründe dafür dürfte der Umstand sein, dass diese in extremen Lebenssituationen agieren oder radikale Positionen vertreten, die sie von einer etablierten Normen und Weltsichten abheben.

Die Beiträge in diesem Band, der im Rahmen der Tagung »Außenseiter, Dissidenten und Querulanten« der Projektgruppe »Religiöser Radikalismus« entstanden ist, widmen sich Figuren (wie z.B. Jael, Henoch, Jiftach, Choni ha-Me‘aggel, Eliezer ben Hyrkanos oder auch Paulus), die sich durch die Radikalität ihres Handelns und Denkens im Bezug auf ihre individuellen religiösen Systeme oder ihr soziales Umfeld auszeichnen. Im Mittelpunkt stehen dabei Erzählfiguren und Individuen, die sich deutlich von den etablierten Normen abheben und somit eine bleibende Faszination auf die Leserschaft ausüben.

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<strong>Dissidenten</strong>, <strong>Außenseiter</strong> 13<br />

darum, den eleganten Landstreicher zu beherbergen. Reihenweise sucht er<br />

seine ehemaligen Schulfre<strong>und</strong>e auf, die es etwa als Arzt <strong>und</strong> Pfarrer zu etwas<br />

gebracht haben; glücklich sind sie allesamt nicht in ihrer grummelnden Bürgerlichkeit.<br />

Nicht einmal sterben mag Knulp unter dem Dach <strong>und</strong> im warmen Bett<br />

eines Pfarrhauses. Er schleppt sich sterbend durch die Wälder, fiebert <strong>und</strong> halluziniert,<br />

bis ihm der liebe Gott selbst begegnet. Dem Taugenichts wird alles<br />

vergeben <strong>und</strong> vergessen. Selbst die Liebschaft mit Lisbeth, der die Schwangerschaft<br />

<strong>und</strong> der Umstand, deswegen von Knulp verlassen worden zu sein, das<br />

Leben gekostet hat, wird von höchster Stelle selbst mit den Besonderheiten des<br />

Wanderlebens begründet. Warum bedarf es eines solchen Menschen wie Knulp?<br />

»Sieh«, sprach Gott, »ich habe dich nicht anders brauchen können, als wie<br />

du bist. In meinem Namen bist du gewandert <strong>und</strong> hast den seßhaften Leuten<br />

immer wieder ein wenig Heimweh nach Freiheit mitbringen müssen. In meinem<br />

Namen hast du Dummheiten gemacht <strong>und</strong> dich verspotten lassen; ich selber bin<br />

in dir verspottet <strong>und</strong> bin in dir geliebt worden. Du bist ja mein Kind <strong>und</strong> mein<br />

Bruder <strong>und</strong> ein Stück von mir, <strong>und</strong> du hast nichts gekostet <strong>und</strong> nichts gelitten,<br />

was ich nicht mit dir erlebt habe.« 5<br />

Maik <strong>und</strong> Tschick werden zu <strong>Außenseiter</strong>n, weil ihr Umfeld sie nicht so sein<br />

lässt, wie sie es gerne wären, Mittelpunkt <strong>und</strong> Star auf den öden Partys heranwachsender<br />

Mittelklässler. So bleibt ihnen nichts anderes übrig, als mit einem<br />

geklauten Lada in Richtung einer imaginären Walachei zu zuckeln, wobei ihnen<br />

die Sonne als Wegweiser dienen muss. Zurückgekehrt ins Bürgerliche genießt<br />

der nunmehr leicht kriminell wirkende Maik die Aufmerksamkeit der Klassenschönen.<br />

Bei Knulp liegen die Dinge noch etwas anders. Einerseits muss er raus<br />

aus einer Gesellschaft, die keine Freiheit jenseits von Normierung <strong>und</strong> biederer<br />

Angepasstheit kennt. Andererseits bleibt er draußen, solange er seinen Filzhut<br />

keck in den Nacken schiebt <strong>und</strong> seine filigranen Hände behält, die – von Handarbeit<br />

lebenslang verschont – nicht klobig geworden sind. 6<br />

<strong>Außenseiter</strong> sind demnach Individuen, die entweder aufgr<strong>und</strong> von gesellschaftlichen<br />

Normen <strong>und</strong> Konventionen als solche gekennzeichnet <strong>und</strong> stigmatisiert<br />

werden oder die sich dadurch auszeichnen, dass sie sich gesellschaftlichen<br />

<strong>und</strong> sozialen Tendenzen zur Egalisierung <strong>und</strong> Normierung widersetzen.<br />

Eine dritte Form des <strong>Außenseiter</strong>s haben wir in der Gestalt der erzählenden Literatur<br />

ausmachen können. Hier geht es insbesondere um Tabubrüche <strong>und</strong><br />

Grenzübertritte aus der Welt des Normativen heraus.<br />

Blicken wir noch auf die beiden anderen leitenden Begriffe dieses Bandes,<br />

dann erweist sich der Dissident in gewisser Hinsicht als ambivalent zum <strong>Außenseiter</strong>.<br />

Der Begriff kommt aus dem Kirchenrecht <strong>und</strong> bezeichnet eine christliche<br />

Minderheit, die nicht bereit ist, sich in die Mainline-Kirche zu integrieren.<br />

Erstmalig fand dieser Anwendung zur Beschreibung protestantischer Gemeinden<br />

im Gegenüber zur katholischen Kirche in Polen <strong>und</strong> ebenfalls einer<br />

5<br />

6<br />

Hesse, Knulp, 213.<br />

Vgl. Hesse, Knulp, 154.

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