Werkstatt-Blatt 2022/Sonderausgabe
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Volksbegehren Arbeitslosengeld rauf
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„Derzeitiges Arbeitslosengeld
schützt nicht vor Verarmung“
Interview mit Univ. Prof. i.R. Dr. Emmerich Talos (Universität Wien)
„Die ausreichende materielle Absicherung
von Erwerbsarbeitslosen steigert nicht die Arbeitsunwilligkeit,
wie Neoliberale behaupten.
Diese verbessert vielmehr die Verhandlungsposition
von Arbeitslosen, bewahrt diese
davor, zur Sicherung ihres Lebensunterhalts
unfaire Arbeits- und Lebensbedingungen zu
akzeptieren.“
Werkstatt-Blatt: Sie engagieren
sich für das Volksbegehren
"Arbeitslosengeld
rauf!", das die Anhebung
des Arbeitslosengeldes auf
zumindest 70% des Letztbezugs
fordert. Warum halten
Sie diese Forderung für so
wichtig?
Emmerich Talos: Die Arbeitslosenversicherung
ist seit mehr als
100 Jahren ein wichtiger Bestandteil
des Leistungssystems des österreichischen
Sozialstaates. Die
Arbeitsmarktentwicklung, insbesondere
auch im Zusammenhang
mit der Corona Pandemie, hat
allerdings deutlich gemacht, dass
das derzeitige Niveau des Arbeitslosengeldes
und der Notstandshilfe
für viele erwerbsarbeitslose
Menschen nicht reicht, um sie vor
Verarmung zu schützen.
Verstärkt wird diese Problematik
nunmehr auch noch durch die
aktuelle Entwicklung von Wohlstandsverlusten
in Folge von
Preissteigerungen beim Wohnen,
von Kostensteigerungen bei Lebensmittel
und Energie. Betroffen
davon sind über BezieherInnen
von Sozialhilfe und Niedrigpensionen
hinaus vor allem auch Langzeiterwerbslose
mit Notstandshilfebezug.
Die Anhebung der Nettoersatzrate
von dem im internationalen
Vergleich äußerst niedrigen Niveau
von 55% der Nettoersatzrate
auf mindestens 70% ist daher
ein unumgänglich notwendiger
Schritt. Die Forderung der Verbesserung
der materiellen Situation
vieler erwerbsarbeitsloser
Menschen ist einer der Kernpunkte
des Volksbegehrens „Arbeitslosengeld
Rauf!“
Das Volksbegehren fordert
auch, die Zumutbarkeitsbestimmungen
zu entschärfen
bzw. die Rechtsstellung der
Arbeitslosen zu verbessern
und die Zuverdienstmöglichkeit
aufrechtzuerhalten.
Was ist damit gemeint?
Unter den schwarz/türkis/blauen
Regierungen wurden die gesetzlichen
Vorgaben für den Bezug
des Arbeitslosengeldes und
der Notstandshilfe beträchtlich
verschärft – ablesbar an den Bestimmungen
betreffend Arbeitswilligkeit,
Einhaltung der Kontrollmeldetermine,
Ablehnung
von Schulungsmaßnahmen. Nicht
zuletzt wurden die Wegzeiten
für die Hin- und Rückfahrt vom
Arbeitsplatz verlängert. Mitteilungen
des AMS traten an Stelle
rechtlich begründeter Bescheide.
In den aktuellen Auseinandersetzungen
über Änderungen
in der Arbeitslosenversicherung
wurde von Unternehmervertretungen
sogar die Forderung für
einen Vermittlungszwang für
Arbeitslose in ganz Österreich
ventiliert. In Abgrenzung dazu
läuft das Volksbegehren auf eine
Entschärfung der Zumutbarkeitskriterien
hinaus.
Darüberhinaus tritt das Volksbegehren
für die Aufrechterhaltung
der Zuverdienstmöglichkeit
für Erwerbsarbeitslose ein. Dies
bietet für die Betroffenen die
Möglichkeit der Integration in
den Erwerbsarbeitsmarkt.
Die ausreichende materielle
Absicherung von Erwerbsarbeitslosen
steigert nicht die Arbeitsunwilligkeit,
wie Neoliberale
behaupten. Diese verbessert
vielmehr die Verhandlungsposition
von Arbeitslosen, bewahrt
diese davor, zur Sicherung ihres
Lebensunterhalts unfaire Arbeitsund
Lebensbedingungen zu akzeptieren.
Sie wirkt zudem der
Ausweitung eines Niedriglohnsektors
à la Hartz IV entgegen.
Warum wurde das Instrument
eines Volksbegehrens
gewählt? Was können wir
damit bewegen?
Während Parteien und Verbände
je spezifische, unterschiedliche
partikulare Interessen vertreten,
zielen Volksbegehren darauf ab,
partei- und verbändeübergreifend
für bestimmte Anliegen zu mobilisieren
und diesbezüglich übergreifend
zusammen zu arbeiten.
Sie stellen damit als ein direkt
demokratisches Instrument eine
wichtige Ergänzung für politische
Prozesse dar.
Was wir mit dem Volksbegehren
„Arbeitslosengeld Rauf!“ bewegen
können, ist eine Sensibilisierung
für aktuelle Problemlagen
und Herausforderungen. Zugleich
kann das Volksbegehren bei einer
ausreichenden Unterstützung im
Rahmen der Eintragungswoche
vom 2. - 9. Mai einen einschlägigen
parlamentarischen Prozess
befördern und den Anstoß zu
einem spezifischen reformpolitischen
Gesetzgebungsprozess
bilden.
Wirtschaftskreise und Teile
der Regierung wollen ein
degressives Arbeitslosengeld
bei der kommenden
Arbeitsmarktreform durchsetzen,
das zwar am Anfang
höher ist, dann aber mit
Dauer der Arbeitslosigkeit
immer stärker absinkt. Was
halten Sie davon?
Dieses Modell basiert auf neoliberalen
sozialstaatlichen Kürzungsvorstellungen
mit dem angeblichen
Ziel, Anreize für die
Betroffenen zu schaffen. Allerdings
geht es bei diesem Modell
nicht um eine Verbesserung der
Bedingungen von Arbeitslosen,
sondern um Druck auf diese, um
Druck auf Annahme schlechter
Jobs. Es läuft nicht auf eine Verbesserung
ihrer sozialen und materiellen
Situation hinaus, sondern
letztlich auf eine Verschärfung des
Armutsrisikos. Das Volksbegehren
zielt darauf ab, derartigen Kürzungsoptionen
gegenzusteuern.
Eine Losung des Volksbegehrens
lautet "Arbeitslosigkeit
bekämpfen, nicht
Arbeitslose". Was sind Ihre
Vorschläge, um die nach wie
vor hohe Arbeitslosigkeit zu
bekämpfen?
Der Ausbau der Instrumente der
aktiven Arbeitsmarktpolitik und
die staatliche Förderung von Arbeitsplätzen
(z.B Aktion 20.000,
Beschäftigungsbonus unter SPÖ/
ÖVP) wären m.E. ebenso wichtig
wie die Verkürzung der Arbeitszeit
und eine adäquate soziale und
materielle Absicherung atypisch
Beschäftigter.