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Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien
www.dasbiber.at
MIT SCHARF
APRIL
2022
+
30 JAHRE
BOSNIENKRIEG
+
UKRAINEKRIEG
IN WIEN
+
SPORTLERINNEN
IM IRAK
+
„NIEMAND MAG
DICKE MENSCHEN!“
BODYSHAMING IN MIGRA-FAMILIEN
EINE KARTE:
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3
minuten
mit
Baraa
Bolat
Ex-Austrias-Next-
Topmodel-Kandidatin
und TikTokerin Baraa
Bolat über das Modeln
als Hijabi in Österreich
und ihre berühmten
Kochvideos.
Interview: Sedir Dabbass, Foto: Franziska Liehl
BIBER: Baraa, du warst 2019 die erste
Hijabi bei Austrias Next Topmodel. Wie
war es für dich, als kopftuchtragende
Frau in Österreich zu modeln?
BARA BOLAT: Ich trage das Kopftuch
schon seit 13 Jahren. Als kleines Mädchen
war es mein Traum, berühmt zu
sein und zu modeln. Damals dachte ich
mir schon: Ich muss keine 08/15-Blondine
sein, die schlank ist und blaue
Augen hat, um in diese Modelwelt reinzupassen.
So ist das noch heute. Wenn
ich rausgehe, merke ich nicht einmal,
dass ich einen Hijab trage. Es gehört
schon zu meiner Identität. Egal, was ich
anstrebe: Das Thema „Kopftuch“ ist gar
kein Thema für mich. Ich eliminiere das
komplett.
Du hast alleine auf TikTok über 1,7
Millionen Follower:innen. Wieso glaubst
du, bist du auf Social Media so erfolgreich?
Weil ich einzigartig bin. Als Content–Creator
weiß man, wie man die
Zuschauer bewegt. Meine Videos
schaut man, weil man sich fragt: Wieso
kocht sie gebückt mit so einem Blick?
Das ist mein Trick, wie ich meine
Zuschauer:innen fessele. Gemeinsam
mit dem „Mhmmm – Bismillah!“ am
Ende des Videos. Das ist mein Markenzeichen.
Wie bist du denn auf diese ikonische
Haltung und den Blick in deinen Kochvideos
gekommen?
Wenn du dir auf TikTok mein allererstes
Kochvideo ansiehst, merkst du, dass
das mit der Haltung und dem Blick nicht
auf Krampf gewesen ist. Ich habe das
Essen einfach sehr konzentriert angeschaut.
Dann hat irgendjemand in die
Kommentare geschrieben: „Bruder, sie
hypnotisiert Essen fast.“ Und ich dachte
mir so: „Dankeschön, Bruder!“ Sofort
in die Caption reingeschrieben und in
die Bio, einfach überall: „I hypnotize
food with my eyes.”
Als Tiktokerin oder Youtuberin hast du
auch einen eher unkonventionellen
Weg eingeschlagen. Wie steht deine
tunesische Familie dazu?
Die feiern das alle! Also ich bin die
Queen meiner ganzen Generation!
(Lacht) Leute aus Tunesien fragen meine
Cousine: Wer ist das? Ist das deine
Cousine? Wir feiern sie! Das ist diese
eine, die immer so komisch guckt!
Oder sie senden mir einfach Videos,
wo sie essen und danach „Bismillah –
Mhmmm!“ sagen.
Bekommst du auch Hate?
Ja, sicher. Aber ich bin auch dankbar
dafür! Wie man so schön sagt:
„Bad publicity is good publicity.” Bei
ANTM habe ich die allererste Erfahrung
mit Hate bekommen: Da bin ich
eine Woche nicht rausgegangen, weil
ich Angst hatte, dass mich irgendwer
auf der Straße erkennt und fetzt oder
so. Wegen ANTM habe ich Hate von
beiden Seiten bekommen. Sei es von
Muslim:innen oder seitens der unzufriedenen
Österreicher:innen, die mich im
Fernsehen sehen und dann schimpfen:
„Was hat eine Hijabi auf einem österreichischen
Kanal zu suchen?“
WER IST SIE?
Name: Baraa Bolat
Alter: 28
TikTok: baraa.bolat
/ 3 MINUTEN / 3
3 3 MINUTEN MIT BARAA BOLAT
Die Ex-Austria’s Next Topmodel Kandidatin und
TikTokerin im Schnellinterview.
8 IVANAS WELT
Ein bisschen Spaß, lass sein? Kolumnistin Ivana
Cucujkić war zum ersten Mal seit Langem fort.
POLITIKA
10 „ES IST NICHT NUR PUTIN!“
Wie die russische und ukrainische Diaspora
im Krieg zwischen Schuldzuweisungen und
Ohnmacht steht.
16 30 JAHRE
JUGOSLAWIENKRIEG
Drei Zeitzeug:innen erzählen, wie sich ihr
Leben im Jahr 1992 für immer veränderte.
20 FOREIGN FIGHTERS IN DER
UKRAINE
Aleksandra Tulej sprach mit jungen Männern
aus Wien, warum sie für die Ukraine kämpfen
wollen.
20
MEIN
FREMDER
KRIEG
Warum junge Männer
für die Ukraine
kämpfen und ihr
Leben lassen würden.
IN
RAMBAZAMBA
28 „NIEMAND MAG DICKE
MENSCHEN!“
Was Bodyshaming in der eigenen Familie
mit der Psyche anrichten kann.
34 DAS GEHEIMNIS
IHRES TURBANS
Nadia Ghulam lebte zehn Jahre lang
verdeckt als Mann unter den Taliban.
38 JEDER KANN GRETA
Expertin Elma Salo gibt einfache Tipps für
einen nachhaltigeren Lifestyle.
10
VERZWEIFELT, WÜTEND, MACHTLOS
Wie der Krieg in der Ukraine tiefe Gräben in der
russischen und ukrainischen Community zieht.
LIFE&STYLE
42 EUPHORIA IST
NICHTS NEUES
Psychedelische Coming-Of-Age-Dramen gab
es schon für ältere Generationen.
16
30 JAHRE NACH DEM KRIEG
Drei Journa list:innen aus Ex-Jugoslawien über
das verhängnisvolle Jahr 1992.
HALT APRIL
2022
28
„DICKE
MENSCHEN
HABEN KEINE
DISZIPLIN.“
Warum sich
Bodyshaming
in der eigenen
Familie noch
so hartnäckig
hält, erzählen
Betroffene.
© Zoe Opratko, Aliaa Abou Khaddour, © Maria von Usslar/Der Standard, Zoe Opratko, Cover: © Zoe Opratko
TECHNIK
43 GRÜNE REVOLUTION
Adam Bezeczky darüber, wie der Ukrainekrieg
die Suche nach erneuerbaren Energien
vorantreibt.
KARRIERE&KOHLE
44 #REALWORLDPROBLEMS
Šemsa Salioski erklärt, warum „Gutes tun“
oft nur Privilegierte können.
KULTURA
46 KULTURA NEWS
Der ukrainisch-russische Filmemacher Oleksyi
Radynski über Kulturboykotts und mehr.
48 „ICH BIN MIT SCHLAGER
AUFGEWACHSEN.“
Starmania-Kandidat Marco Spiegl über seine
Leidenschaft für Schlager und Ziehharmonika.
50 KAMPF GEGEN
ROLLENBILDER
Ein Besuch beim Training des mutigen
Kabaddi-Frauenteams im irakischen Diwaniyya.
54 DER KRIEG IST
EIN SYMPTOM DES
PATRIARCHATS
Jad Turjman flüchetete einst aus Syrien vor
Krieg und zieht Parallelen zur Ukraine.
Liebe LeserInnen,
Der Krieg in der Ukraine hält seit Wochen die ganze Welt in Atem.
Täglich eröffnen sich uns neue Schrecken aus dem Konflikt: Zerstörte
Städte, Millionen Flüchtlinge und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Aber auch weit abseits der tatsächlichen Fronten tobt ein regelrechter
Gesinnungskrieg in der russischen und ukrainischen Diaspora.
In der Politikaufmacher-Story „Es ist nicht nur Putin“ geht Nada El-Azar-
Chekh der Zerrissenheit, die innerhalb der Communitys herrscht, auf den
Grund. Ist es denn nur Putins Krieg? Wie viel Schuld trägt die russische
Bevölkerung tatsächlich mit? Wie zerrüttet ist das Verhältnis zwischen
Russ:innen und Ukrainer:innen wirklich? Die Annäherung an diese Fragen
findet ihr ab Seite 10.
„
Bitte unbedingt als erstes zu
Seite 10 blättern. Propaganda,
Hass, Machtlosigkeit und
Schuldzuweisungen: Nada
El-Azar-Chekh hat über die
Zerrissenheit der ukrainischen
und russischen Diaspora in
Wien recherchiert.
S. “ 10
Aleksandra Tulej,
stv. Chefredakteurin
Sie wollen gegen das Böse kämpfen und – wenn es drauf ankommt – für
eine gute Sache sterben. Aleksandra Tulej sprach mit sogenannten Foreign
Fighters, die sich auf die Seite der Ukraine schlagen, um gegen Russland
zu kämpfen. Warum junge Männer in einen fremden Krieg ziehen, erfahrt
ihr ab Seite 20.
Es ist dennoch falsch zu behaupten, dass Krieg in Europa ein Ding der
Unmöglichkeit ist. Bei vielen Menschen mit Wurzeln in Ex-Jugoslawien,
Kurdistan, Afghanistan oder dem Irak rufen die Geschehnisse in der
Ukraine Erinnerungen hervor: Ab Seite 16 lest ihr, wie drei Zeitzeug:innen
aus Bosnien und Herzegowina den Kriegsbeginn am Balkan vor 30 Jahren
erlebt haben.
Harte Zeiten ziehen manchmal unkonventionelle Lösungen mit sich: Nadia
Ghulam nahm die Identität ihres toten Bruders an und lebte zehn Jahre als
Mann verdeckt unter den Taliban in Afghanistan. Wie sie das geschafft hat,
erfahrt ihr ab Seite 34.
Ab S. 50 zeigen Kabaddi-Spielerinnen aus der Vorstadt von Bagdad, wie
Frauen im erzkonservativen Milieu im Irak nach Emanzipation streben.
Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper fordert aber auch unsere
Stipendiatin Maria Lovrić-Anušić. Ihre sensationelle Cover-Story über
Bodyshaming in Migra-Familien zeigt, dass es noch viel Arbeit braucht, bis
Body–Positivity in den eigenen vier Wänden ankommt. Ab Seite 28.
Viel Spaß beim Lesen wünscht
Eure biber-Redaktion
© Zoe Opratko
6 / MIT SCHARF /
IMPRESSUM
MEDIENINHABER:
Biber Verlagsgesellschaft mbH, Quartier 21, Museumsplatz 1,
E-1.4, 1070 Wien
HERAUSGEBER
Simon Kravagna
CHEFREDAKTEURIN:
Delna Antia-Tatić (karenziert)
STV. CHEFREDAKTEURE:
Amar Rajković und Aleksandra Tulej
CHEFREPORTERIN:
Aleksandra Tulej
FOTOCHEFIN:
Zoe Opratko
ART DIRECTOR: Dieter Auracher
KOLUMNIST/IN:
Ivana Cucujkić-Panić, Jad Turjman
LEKTORAT: Florian Haderer
REDAKTION & FOTOGRAFIE:
Adam Bezeczky, Nada El-Azar-Chekh, Sedir Dabbass, Maria
Lovrić- Anušić, Šemsa Salioski, Franziska Liehl, Aliaa Abou
Khaddour, Mafalda Rakoš, Markus Korenjak
VERLAGSLEITUNG :
Aida Durić
MARKETING & ABO:
Şeyda Gün
REDAKTIONSHUND:
Casper
BUSINESS DEVELOPMENT:
Andreas Wiesmüller
GESCHÄFTSFÜHRUNG:
Wilfried Wiesinger
KONTAKT: biber Verlagsgesellschaft mbH Quartier 21,
Museumsplatz 1, E-1.4, 1070 Wien
Tel: +43/1/ 9577528 redaktion@dasbiber.at
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WEBSITE: www.dasbiber.at
ÖAK GEPRÜFT laut Bericht über die Jahresprüfung im
2. HJ 2021:
Druckauflage 85.000 Stück
Verbreitete Auflage 80.700 Stück
Die Offenlegung gemäß §25 MedG ist unter www.dasbiber.at/
impressum abrufbar.
DRUCK: Mediaprint
Erklärung zu gendergerechter Sprache:
In welcher Form bei den Texten gegendert wird, entscheiden
die jeweiligen Autoren und Autorinnen selbst: Somit bleibt die
Authentizität der Texte erhalten - wie immer „mit scharf“.
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In Ivanas WELT berichtet die biber-Redakteurin
Ivana Cucujkić über ihr daily life.
IVANAS WELT
Ivan Minić
WORK-SCHEISS-BALANCE
Wir sind halt nicht in Schweden.
Ich war fort. Und ich habe es am nächsten Tag sofort
bereut. Nicht, weil ich jetzt mit einer erniedrigenden
Saufgeschichte angeben könnte. Dann hätte sich das
ganze wohl noch ausgezahlt. Na, ich hab‘ auch noch
draufgezahlt mit einem nicht einzuholenden Schlafdefizit
und einem Kraftakt, die beide zu nichts in einem
Verhältnis stehen.
EIN BISSCHEN SPASS, LASS SEIN
Nur der Heilige Geist und ich wissen, wie ich es geschafft
habe, in 60 Minuten zur kritischen Bettgehzeit
zwischen Nudelsieb und Lockenstab hin und her zu
hetzen, mit zwei Quängelbengel am Bein meine einzige
Strumpfhose zu retten, einen anständigen Liedstrich
zu ziehen und nach drei Schweißausbrüchen mit
einem solidarischen Taxler am Lenkrad rechtzeitig auf
diesem Event aufzukreuzen, auf dem, wie passend,
Frauen für herausragende Leistungen geehrt werden.
Ich hab‘ meinen Award gleich ausgetrunken. War gut
und beide Nervenzusammenbrüche und die Mini-Ehekrise
am Wickeltisch wert, mich für ein paar Stunden
aus der eigenen Blase abzumelden. Sip, sip, Konfetti!
THOUSAND DINGS TO DO
Zwei Stunden später, zurück in der eigenen Blase, zurück
an den Wickeltisch. Ja, Ivana, da war ja noch ein
Einjähriger, der immer noch seine Drei-Uhr-Flasche
einfordert. Null Problemo, wenn er gleich weiterschlummert
und ich mich mit einer leichten Überdosis
Baldrian und Psychopax zurück in den Tiefschlaf
katapultiere, läuft alles nach Plan. Zumindest bis zum
Frühstück. Mein Leben hab‘ ich ansonsten alles andere
als fest im Griff. Beim unmöglichen Versuch, die
Zügel des Lebens in der Hand zu behalten, also die
To-Do-Liste jeden Tag durchzupeitschen, dabei aufs
Mittagessen zu verzichten, fünfzig Backup-Szenarien
für die Nachmittagsbetreuung zu organisieren, um die
zehn Mal verschobene Deadline endlich einzuhalten,
steigen Körper und Geist meistens nach der zweiten
Zeile der Gutenachtgeschichte vor den Hauptnachrichten
endgültig aus.
IN SCHWEDEN HABEN ELTERN SEX. NEID.
Dieser toxische Masterplan landet aber spätestens
beim Aufblinken der Kindergartennummer auf dem
Handy-Display direkt im Restmüll. Gleich neben dem
fancy Frauen-Magazin, das mir in der Cover-Story echt
verklickern will, irgendwo auf der Welt – Schweden soll
es wieder einmal sein – ist Familie easy peasy entspannt
vereinbar bei vollbezahlter 30-Stunden-Woche,
und Eltern haben sogar manchmal Kraft für Sex.
Ich bin neidisch.
ES BRAUCHT DAS VLAHISCHE DORF, UM EIN
KIND ZU ERZIEHEN.
Und das alles ohne Psychopax und dem Dorf, das es
braucht, um ein Kind zu erziehen, äh, organisieren.
Ohne Beruhigungstropfen ginge ja noch. Aber, wenn
mich die Babas, Dedas und Tanten hängen lassen
und zum Beispiel auf die Idee kommen, Hobbies nachzugehen
oder einfach ihr Leben zu genießen...kalter
Schweiß. Oder für immer fortgehen für das beste
Pensionisten-Jetset-Life à la Gastarbeiter: Ein bisschen
unten, im Winter hier. It’s the end of the world
as I know it. Ja, was mach ich dann? Erpressen? Nach
Schweden ziehen? Zuerst mal Baldrian und expresseinschlafen.
In zwei Stunden ist wieder Fläschchen
dran.
Rosen, Rakija & Kritik an: cucujkic@dasbiber.at, Instagram: @ivanaswelt
8 / MIT SCHARF /
DIE
COMMUNITY
LEBEN.
GEHT
SICHER!
ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG. AGENTURFOTO, MIT MODELS GESTELLT.
Mit der Community nicht nur im Chat treffen, sondern auch in
real life Spaß haben oder einfach nur zusammen chillen.
Die Impfung macht es möglich!
Deshalb: Auf Nummer sicher gehen und sich impfen lassen!
Alles rund ums Impfen auf gemeinsamgeimpft.at
„Es ist nicht
nur Putin!“
10 / POLITIKA /
Der Krieg in der Ukraine hinterlässt tiefe Wunden
in der russischen und ukrainischen Diaspora. Über
den Spagat zwischen Schuldzuweisungen und
Machtlosigkeit, Propaganda und Hass berichten
junge JournalistInnen und Betroffene.
Von Nada El-Azar-Chekh, Collagen: Zoe Opratko
© Zoe Opratko
An diesem Donnerstag bin ich früh aufgestanden.
Mein Mann hatte da Geburtstag und ich wollte
die Kerzen anzünden. Das habe ich nicht mehr
geschafft, weil ich dann die ganzen Nachrichten
auf meinem Handy schon gesehen habe“, erinnert sich Juliana
Matusova an den Morgen des 24. Februars. Der Tag, an
dem Russlands Raketen in mehrere Städte in der gesamten
Ukraine einschlugen, hätte für Juliana eigentlich ganz anders
verlaufen sollen. Stattdessen geriet die Welt aus den Fugen.
Einen derartigen Großangriff hatte Juliana, trotz der politischen
Spannungen der vorangegangenen Wochen, nicht
für möglich gehalten. „Ich habe eine Whatsapp-Gruppe mit
meinen Freunden in Kyiv. Eine von ihnen schrieb: Der Krieg
hat begonnen, ich liebe euch sehr.“
Juliana wirkt bei unserem Gespräch in einem Wiener
Café sichtlich mitgenommen von der Situation. Die 32-Jährige
kommt ursprünglich aus der Stadt Winnyzja, die etwa 250
Kilometer entfernt von der ukrainischen
Hauptstadt entfernt liegt. Seit 2013 lebt sie
in Wien und hat nun ihre Mutter und ihre
Großmutter aus der Ukraine bei sich aufgenommen.
„Seit dem ersten Tag haben sie
Heimweh und würden am liebsten wieder
zurück.“ Ihr Vater und ihr 25-jähriger Bruder
sind in ihrem Haus außerhalb von Kyiv
geblieben. Dort ist es im Keller am sichersten.
Viele von Julianas Freundinnen haben
das Land auch nach über einem Monat
der Invasion nicht verlassen. Sie wollen ihr
Leben und ihre Familie nicht zurücklassen,
erklärt die Ukrainerin.
„NICHTS VON ALL DEM
DÜRFTE PASSIEREN!“
„Ich finde es unglaublich, dass dieselben
Menschen, die vor acht Jahren schon aus
der Ostukraine in größere Städte wie Kyiv
und Kharkiv fliehen mussten, jetzt nochmal
fliehen müssen“, sagt Juliana, die in Kyiv
und Wien Journalismus studiert hat. Seit
„
Ich versuche so
gut wie möglich zu
informieren, wenn ich
Falschmeldungen sehe.
“
Juliana Matusova
dem 24. Februar hat sie täglich Kontakt mit ihren Liebsten
in der Ukraine, hat an vielen Solidaritätsdemos in Wien
teilgenommen und setzt sich bei verschiedenen Projekten
vor allem für die Sicherheit von Kindern ein. „Man konnte
etwa krebskranke Kinder lange Zeit nicht evakuieren, weil die
Fluchtkorridore und die Spezialtransporte nicht funktioniert
haben. Einige von ihnen haben im Zug noch weiter Infusionen
und andere Behandlungen erhalten. Zwei von ihnen
haben die Reise nicht überstanden. Für solche Kinder war es
schon vorher schlimm genug“, so Juliana, die selbst Mutter
eines kleinen Sohnes ist.
„Wenn zivile Objekte wie ein Theater oder eine Schule
angegriffen werden, spricht man von Kriegsverbrechen. Und
die Angriffe auf andere Ziele sind kein Verbrechen? Wenn
der Flughafen in meiner Stadt bombardiert wird, ist das
okay? Aber wenn ein Wohnhaus getroffen wird, dann nicht?
Diese Unterscheidung zwischen dem, was nach den Regeln
des Kriegs in Ordnung ist und was nicht,
finde ich einfach absurd im 21. Jahrhundert.
Nichts von all dem dürfte passieren!“,
so Juliana. Der Krieg in ihrem Heimatland
hat große Auswirkungen auf ihren Alltag.
Auf Social Media schreibt sie regelmäßig
ihre Gedanken zu dem, was in
Russland als „Spezialoperation“ bezeichnet
wird. „Ich war sonst niemals der Typ
dafür, Kommentare bei Facebook und Co.
zu schreiben und mit Fremden im Internet
zu diskutieren. Aber jetzt versuche ich, so
gut wie möglich zu informieren, wenn ich
Falschmeldungen sehe.“ Als Beispiel nennt
sie das Kinderkrankenhaus in der ostukrainischen
Stadt Mariupol, das von russischen
Raketen zerstört wurde. Im Internet
kursierte das Gerücht, dass es sich bei
den Aufnahmen der in Schutt liegenden
Geburtsstation um einen Fake handeln
würde. Die Wut über die Geschehnisse ist
groß - dementsprechend auch der Hass im
Netz. „Kein Kommentar über die Russen ist
/ POLITIKA / 11
mir zu krass – auch nicht, wenn Leute schreiben, dass man
sie kochen soll. Ist doch klar, warum die Leute gerade so
viel Hass haben.“ Dass viel Propaganda um den Krieg in der
Ukraine kursiert, ist nicht wunderlich für Juliana. Über das
Thema der ukrainischen und russischen Propaganda hat sie
schon ihre Masterarbeit verfasst. Schlussendlich habe ihr das
ganze Wissen darüber nichts genützt, gibt sie trocken zu.
„Ich habe die Situation trotzdem unterschätzt, so wie viele
Experten auch.“
DER EINFLUSS DER
PROPAGANDA AUF DIE
EMOTIONEN IST GROSS.
In der letzten Zeit fällt es hingegen
Ekaterina Astafeva zunehmend schwer,
auf Social Media zu sein. Die russische
Journalistin lebt und arbeitet in Köln und
hat in den letzten Wochen viel Energie
in die Aufklärung über den Krieg in der
Ukraine gesteckt. „Ich folge sehr vielen
Menschen mit ukrainischen Wurzeln, die
extrem negativ über alles Russische schreiben,
den Menschen in Russland etwas
Böses wünschen oder von unserer Kultur
und Literatur absehen wollen.“ Ekaterina
ist dabei durchaus bewusst, dass viele
Dinge im Affekt geschrieben werden. „Da
ist sehr viel Schmerz und Ärger und auch
Trauma drinnen, was ich verstehen kann.
Meiner mentalen Gesundheit tut es nicht
gut, das jeden Tag in so einem Ausmaß zu
lesen. Obwohl einige von meinen ukrainischen
Freundinnen und Freunden mir
„
Ich verstehe nicht,
wie Leute, die mit mir
verwandt sind, so eine
Ideologie unterstützen
können.
“
Ekaterina Astafeva
explizit gesagt haben, dass sie mich darunter nicht meinen,
und dass sie für meine Unterstützung dankbar sind, fällt es
mir trotzdem schwer mich davon abzugrenzen. Argumente
wie ‚ihr könntet ja einfach zu den Wahlen gehen und einen
anderen Präsidenten wählen‘ höre ich im Fall von China oder
Nordkorea nicht“, erklärt sie im Zoomgespräch zwischen
Wien und Köln. Auf Instagram und ihrem Telegramkanal
postete sie Informationen auf Deutsch und Russisch, hilft
Menschen, die sich neu in Deutschland orientieren müssen,
so gut es geht, und kämpft mit ihren
Recherchen gegen Fake-News an.
Die gesamte russische Bevölkerung
leidet unter immer repressiveren Zensurgesetzen,
zudem treffen die durch den
Westen verhängten Sanktionen alle russischen
Bürgerinnen und Bürger, unabhängig
von ihrer tatsächlichen Einstellung zum
Präsidenten. Das ist unumstritten. Aber ist
es wirklich Putins Krieg, wie viele Medien
nach Kriegsausbruch titelten? Juliana
Matusova befürwortet die strengen Sanktionen
und vertritt eine klare Meinung: „Man
muss nicht darüber diskutieren, dass Putin
einen sinnlosen Krieg in der Ukraine führt
– aber zu sagen, dass er diesen Krieg für
sich alleine führt, ist falsch. Die Mehrheit
der Russinnen und Russen unterstützen
ihn und seine Politik! Es ist nicht nur
Putin!“ Die 32-Jährige hat es satt, dass
oftmals in der öffentlichen Diskussion um
den Krieg die russische Bevölkerung aus
der Verantwortung genommen wird. „Die
Menschen müssen verstehen, dass, wann
© Sonya Yaroschenko
12 / POLITIKA /
immer sie etwas aus Russland konsumieren, sie mit ihrem
Steuergeld das Töten in der Ukraine weiterfinanzieren.“
Ekaterina Astafeva ist zwischen den Stühlen. Ihre Familie
in Russland unterstützt nämlich Präsident Putin und seine
Politik. Darüber hat sie im Deutschlandfunk offen gesprochen.
„Ich verstehe nicht, wie Leute, die mit mir verwandt
sind, so eine Ideologie unterstützen können.“ Jegliche Versuche
der Diskussion und Aufklärung innerhalb ihrer Familie
waren gescheitert, was dazu führte, dass Ekaterina den
Kontakt auf das Nötigste reduziert hat. Sie erklärt, dass die
Propaganda der russischen Staatsmedien ihre volle Wirkung
entfaltet, indem sie Einfluss auf die Emotionen in der Bevölkerung
nimmt. „Sie verursachen Wut oder Angst und gegen
solche Emotionen kann man nicht mit objektiven Argumenten
ankommen“, so die 26-Jährige.
© ORF/Garik Kocharyan
VERZWEIFELT, WÜTEND, MACHTLOS
Der Krieg in der Ukraine spaltet die russische Gesellschaft
und Diaspora tief. Seit Beginn wurden aberhunderte
Demonstranten in den Großstädten Russlands
festgenommen, die sich klar mit der Ukraine solidarisieren
wollten. Putins Politik hat über die letzten zwanzig Jahre
die Meinungsfreiheit mit strengen Zensurgesetzen und
Repressionen reglementiert, was nicht nur die Arbeit von
Journalistinnen und Journalisten aus dem In- und Ausland
stark einschränkt, sondern auch jegliche Formen von Protest
und Kritik in der Bevölkerung verhindern
soll. Über die Geschehnisse im Nachbarland
Ukraine mit Begriffen wie „Invasion“
und „Krieg“ zu sprechen, kann mit einer
Geldstrafe geahndet werden, oder sogar
in einer bis zu 15 Jahre langen Haftstrafe
enden.
Es häufen sich unzählige Fälle aus
Russland, bei denen Demonstranten sogar
mit leeren Plakaten auf den Straßen festgenommen
werden. „Es wurde beispielsweise
ein Mann festgenommen, der ein Schild
mit der Aufschrift ‚Der Faschismus kommt
nicht durch‘ gehalten hatte“, berichtet Ekaterina.
In den Augen der Behörden hat er
„
Viele können nicht
wahrhaben, dass ihr Land
so großflächig gegen das
Nachbarland kämpft.
“ Paul Krisai
mit dieser Aktion das neue Gesetz gegen
die Diskreditierung der russischen Armee
gebrochen. Die angeheizte politische Lage
führt im Land ebenfalls zu einer neuen
Kultur der Denunziation, die sogar im Kreis
der Familie stattfinden kann. „All diejenigen,
die kein Geld für die Ausreise haben
oder ihre Familien nicht zurücklassen wollen,
sind verzweifelt, wütend und fühlen sich machtlos“, so
Ekaterina. Diese Gefühle empfindet die 26-Jährige in Bezug
auf den Krieg auch. Eigentlich wollte sie diesen Sommer
einen Urlaub in Russland machen und ihre Familie besuchen.
Doch unter den aktuellen Umständen und
unter der aktuellen Regierung will sie nicht
in ihr Heimatland zurück. Gerade wegen
ihrer kritischen, journalistischen Arbeit in
Deutschland ist sie davon überzeugt, in
Russland ohnehin nicht gern gesehen zu
sein. Die studierte Germanistin absolvierte
die deutsche Journalistenschule, ist Producerin
beim Format „Reporter“ und schreibt
für diverse Medien wie die Süddeutsche
und die ZEIT. „Ich kann mir gut vorstellen,
dass ich nie wieder ausreisen darf, sollte
ich einmal einreisen.“
KEINE ZUKUNFT MEHR IN
RUSSLAND?
Laut unabhängigen Umfragen sollen
mindestens zwei Drittel der russischen
Bevölkerung hinter Putin und seiner Politik
stehen. Für Ekaterina Astafeva hat diese
überwältigende Unterstützung weniger
mit dem allgemeinen Bildungsstand der
Menschen in Russland zu tun, als mit ihrer
/ POLITIKA / 13
politischen Bildung. „Die Menschen haben niemals gelernt,
sich kritisch mit Politik auseinanderzusetzen. So etwas wird
weder an den Schulen in Russland unterrichtet, noch an den
Universitäten zugelassen. Auch meine Eltern wissen überhaupt
nicht, wie man Fake-News erkennt oder Quellen richtig
checkt. Sie verstehen nicht, dass eine Regierung eigentlich
die Interessen des Volkes vertreten sollte und nicht umgekehrt.“
Die grundlegenden Ideen einer Demokratie konnten
sich historisch in Russland kaum entfalten – nicht im Zarenreich,
nicht in der Sowjetunion und auch nicht nach deren
Zerfall. Es herrscht eine Art Scheindemokratie, in der die
Bevölkerung nicht souverän entscheiden kann, selbst wenn
sie es wollte.
Mit diesem schwierigen Muster könnte aber nun die junge
Gesellschaft in Russland brechen. „Die meisten, vor allem
junge Menschen, sind aufgeklärt, informieren sich über das
Internet und haben eine Ahnung, was in der Ukraine tatsächlich
los ist. Sie wissen also, dass das Ganze
mehr ist als eine auf den Donbas begrenzte
‚Friedensmission‘, wie das in der Staatspropaganda
dargestellt wird“, erklärt Paul
Krisai. Seit Oktober 2021 leitet der gebürtige
Mödlinger das ORF-Büro in Moskau.
„Es gibt allerdings auch genug Menschen,
die durchaus von der ‚Spezialoperation‘
überzeugt sind und denken, dass Russland
hier als Friedenstifter agiert und vor allem
„
Die Ukraine wird nicht
als eigenständiger
Staat mit eigener
Sprache und Kultur
gesehen.
“
14 / POLITIKA /
der Westen an diesem Krieg schuld ist.“ Die Stimmung in
Russland lässt sich schwer zusammenfassen, da sich viele
Menschen nicht trauen würden, ihre echte Meinung zu
sagen. „Immer mehr Leute kapseln sich von der Politik ab
und können nicht wahrhaben, dass ihr Land so großflächig
gegen das Nachbarland kämpft und können schwer akzeptieren,
dass Russland diese Geschehnisse auch begonnen
hat. In der heimischen Propaganda wird das militärische
Einschreiten in die Ukraine als Sicherheitsmaßnahme vermittelt“,
so der Korrespondent. Auch er kennt in seinem
Umfeld viele Menschen, die Russland aufgrund des Krieges
verlassen haben. Medienberichten zufolge sind bereits mehr
als 200.000 Bürgerinnen und Bürger ausgewandert – viele
von ihnen mit guten Qualifikationen. „Alle, die es sich leisten
können, talentiert und ausgebildet und vielleicht mehrsprachig
sind, haben Russland verlassen, weil sie hier einfach
keine Zukunft mehr sehen. Selbst, wenn die Kampfhandlungen
morgen aufhören und die Truppen abgezogen werden
– die meisten Experten sind sich einig, dass Putin mit dieser
Aktion sein Land um Jahrzehnte zurückgeworfen hat“, so
Paul Krisai.
Die Grenzen bleiben bislang offen, direkte Verbindungen
zwischen Russland und Europa gibt es aber momentan
keine. Die Auswanderer weichen deshalb über die Türkei,
Dubai oder Kairo aus. Persönlich möchte Paul aber vorerst
in Russland bleiben und von dort aus weiterberichten,
so gut es geht. „Man gewöhnt sich erstaunlicherweise an
Vieles schnell, was nicht bedeutet, dass man die Umstände
gutheißt. Wir haben alle ein paar Tage gebraucht, um zu verstehen,
wie wir unter den Umständen der Zensur weiterarbeiten
können. Wir erhalten einerseits die Arbeit von Moskau
aus aufrecht, überlassen aber die Berichterstattung über
das militärische Geschehen den Kollegen und Kolleginnen
in Wien und der Ukraine. Beim Publikum bleibt so die volle
Berichterstattung erhalten“, versichert er.
Auf ihrem persönlichen Telegramkanal reflektiert Ekaterina
Astafeva in ihrer Muttersprache Russisch auch über
Themen wie Kolonialismus und Rassismus, und inwiefern
diese Aspekte den Konflikt in der Ukraine beeinflussen. „Es
ist nur wenigen Menschen überhaupt bewusst, wie sehr das
heutige Russland durch seinen Kolonialismus geprägt ist. Im
Geschichtsunterricht in der Schule wurde uns gelehrt, dass
das russische Volk heroisch den Völkern in Sibirien Zivilisation
und Wissen gebracht hat, und, wie die russische Sprache
uns alle eint. Von klein auf lernt man dieses Bild“, so Astafeva.
Die Idee, dass das ethnisch russische Volk das einzig
„richtige“ ist, hat in ihren Augen die Beleidigung und Diskriminierung
von Menschen aus dem Nahen
Osten und Zentralasien zur Folge. Aufgewachsen
ist Ekaterina in Chelyabinsk, das
in der Nähe von Kasachstan liegt. „Ich
habe mich lange Zeit nicht gefragt, warum
alle Kasachen Russisch sprechen müssen,
wenn sie doch ihre eigene Sprache haben.
Diese imperialistischen Ansätze finden
sich auch in der aktuellen Propaganda
der russischen Staatsmedien wieder.
Die Ukraine wird nicht als eigenständiger Staat mit eigener
Sprache und Kultur gesehen, sondern als Teil der ehemaligen
Sowjetunion, am Rande des ehemaligen russischen Reiches.
Dass das so nicht stimmt, müssen Leute in Russland leider
noch lernen“, erklärt die Journalistin.
HUNDEKOT AUF DER
RUSSISCHEN FAHNE
Etwa 11 Millionen Russinnen und Russen haben enge
Verwandte in der Ukraine. So auch die in Wien geborene
Studentin und Halb-Russin Maria. Die 27-Jährige, die eigentlich
anders heißt, hat seit einem Jahr einen ukrainischen
Mitbewohner namens Dima. „Als er bei mir eingezogen ist,
fand meine russische Mama das noch super, damit ich die
Sprache mit ihm besser üben konnte. Wir haben uns gut
verstanden“, erinnert sich Maria. Kurz vor dem russischen
Großangriff reiste Dima mit seinem Vater nach Ägypten – aus
dem Urlaub ging es für die beiden Männer dann direkt in
die Wiener WG zurück. Maria verschweigt ihrer Mutter, dass
Dimas Vater mit ihm in seinem WG-Zimmer lebt. „Obwohl
wir Familie in der Ukraine haben, ist meine Mutter streng
dagegen, dass wir Leute bei uns aufnehmen. Obwohl es ein
Gästezimmer im Haus meiner Eltern gibt!“, berichtet Maria
bei einem Treffen im Wiener Resselpark. Dimas Vater findet
das „typisch russisch“ – eine Aussage, die Maria persönlich
ein bisschen kränkt. Ihre Cousine, die in Kyiv lebt, hat
eine T-Shirt-Aktion gestartet, bei der Geld für die Ukraine
gesammelt wird. „Sie hat verschiedene Motive verkauft und
mich gebeten, auf meinem Insta-Profil darauf aufmerksam
zu machen.“ Eines der Motive war ein Hund, der ein Häufchen
auf die russische Fahne legt. „Das mit der Kacke ging
mir persönlich zu weit und ich wollte die Aktion nicht mehr
unterstützen. Erst, als meine Cousine das Shirt auf der Webseite
entfernte, hab‘ ich die Aktion unterstützt. Meine Mutter
und meine anderen russischen Verwandten habe ich dafür
aber kurzzeitig blockieren müssen.“
Gemeinsam mit Dima und seinem Vater hat Maria auch
schon bei einer Ukraine-Demo am Ring teilgenommen. „Die
beiden waren überrascht, wie normal und friedlich wir in
Wien demonstrieren können. Sie waren anfangs misstrauisch.“
Die Skepsis verflog und schnell grölten die Männer
Parolen wie „Tod den Feinden!“ auf Russisch mit. Für Maria
ein moralisches Dilemma. „Ich habe mich wirklich nicht
wohlgefühlt, dass auf so einer Demo Menschen anderen den
Tod wünschen. Ist das nicht genau das, was wir eigentlich
beenden wollen? Wie ist das besser, als der Hass auf der
anderen Seite?“, wirft sie auf. In diesem Moment tritt eine
junge Mutter an uns heran, die in gebrochenem Englisch
nach dem Weg fragt. Instinktiv erklärt Maria auf Russisch,
dass man zu Fuß am besten ans Ziel kommt. Die Frau atmet
erleichtert auf, bedankte sich und zieht ihrer Wege. „Keine
Ahnung, ob ich meiner Mutter jemals erzählen werde, dass
Dimas Vater bei mir ist. Es ist die Diskussion wahrscheinlich
nicht wert.“ ●
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Drei Menschen, drei Geschichten, ein Krieg. Die Journalist Innen
Nedad Memić, Amar Rajković und Olivera Stajić (v.l.n.r.) erinnern
sich an den Tag, der ihr Leben für immer verändern sollte.
ALS DER KRIEG BEGANN
„Weil du nicht
weißt, wie es ist,
eine Stadt zu
töten.“ *
Am 5. April 1992 konnten meine
Familie und ich nicht ahnen, dass
uns die schlimmsten 1.425 Tage
unseres Lebens bevorstehen.
Von Nedad Memić
„Das ist die unnötigste Erfahrung, die du
in deinem Leben gemacht hast“, sagte
mir einmal eine österreichische Freundin,
nachdem ich ihr vom Krieg im belagerten
Sarajevo erzählt hatte. Lange hat mich
diese Aussage nachdenklich gemacht:
Ein Krieg ist tatsächlich die unnötigste
und schlimmste Erfahrung, die einem
Teenager widerfahren kann. Aus der
Jugendzeit entrissen, unter ständiger
Angst vor Granaten und Scharfschützen,
ohne nötigste Nahrungsmittel,
Strom, Heizung, Wasser. Ausharren in
einer belagerten und ununterbrochen
beschossenen Stadt. Die Erfahrung, die
Abertausende auch in diesem Moment,
in dem ich den Kommentar schreibe, in
der Welt durchmachen müssen.
Davon habe ich am 5. April 1992,
dem Beginn der Belagerung von Sarajevo,
nichts gewusst. Ich war gerade 15
geworden und sollte in jenem Sommer
mit der Unterstufe fertig sein. Ein guter
Schüler war ich, trotzdem ein Außenseiter.
Meine Eltern gehörten nicht zu
den reichsten meiner Klasse – und wer
keine neuen Nike-Sneakers hatte oder
kein Basketball spielte, der war nicht cool
© Maria von Usslar/Der Standard, Zoe Opratko, privat
16 / POLITIKA /
genug. Mädchen in der Klasse hörten die
New Kids On The Block und gaben uns
jede Woche neue Stammbücher, in die
wir Lieblingssongs, -essen, -musik und
Wasweißichnoch eintragen mussten.
IN SARAJEVO WIRD ES DOCH
KEINEN KRIEG GEBEN
Parallel zu unserem sorglosen Schulalltag
hörten wir unsere Eltern, die immer öfter
von einem Krieg sprachen. „Und selbst
wenn es einen gibt!“, rief mein betagter
über 80-jähriger Opa trotzig. Meine
Mutter und Tanten schauten ihn schräg
an. Den Beginn des Krieges erlebte er
tatsächlich nicht mehr. Er starb am 29.
Februar, am Vorabend des Referendums
für die Unabhängigkeit Bosnien-
Herzegowinas. Zu seinem Begräbnis
konnten wir nicht fahren, weil die Stadt
von serbischen Paramilitärs blockiert
wurde. Immer noch wollten wir alle nicht
glauben, dass es in Sarajevo zu einem
Krieg kommen konnte. In den Monaten
davor sahen wir schreckliche Bilder aus
Kroatien. Damals dachte ich, der Krieg
könne ja vielleicht irgendwo in der Provinz
oder in kleineren Städten in Bosnien
ausbrechen. Aber in Sarajevo? Das ist
doch unmöglich, bei uns ist jede Stiege,
jedes Mehrfamilienhaus multiethnisch.
Es können doch nicht die Bewohner des
ersten gegen die Bewohner des zweiten
oder dritten Stocks Krieg führen!
In all diesen naiven Hoffnungen und
Überlegungen sahen wir nicht, dass
einige Bewohner*innen Sarajevos sehr
wohl wussten, dass es zu einem Krieg
kommen würde. Wir sahen nicht, dass
die Jugoslawische Volksarmee schon
längst Stellungen auf den Bergen um
Sarajevo herum bezogen hatte. Auch als
in der Stadt bereits geschossen wurde,
dachten wir, dass der Spuk binnen 48
Stunden wieder aufhören würde.
Mehr als 40.000 Menschen, die sich
an diesem schicksalhaften 5. April 1992
in Sarajevo versammelt hatten, dachten
das Gleiche. Sie trugen Bilder von Josip
Broz Tito, wollten im besetzten Parlamentsgebäude
von Bosnien-Herzegowina
eine neue „Volksvertretung“ wählen
und die drei nationalistischen Parteien
entmachten. Ein hoffnungsloser und
verzweifelter Versuch, den Frieden doch
noch zu bewahren. Doch auf den Bergen
ums Parlament und im Hotel Holiday Inn
vis-a-vis des Regierungsviertels lauerten
serbische Scharfschützen. Suada
Dilberović, eine 24-jährige Studentin, und
Olga Sučić, eine 34-jährige Angestellte,
wurden an diesem Tag niedergeschossen.
Heute gelten sie als erste zivile
Opfer der Belagerung.
DIE SEHNSUCHT NACH
SCHOKOLADE
Parallel zu den dramatischen Ereignissen
im Parlament schlossen die Jugoslawische
Volksarmee, mittlerweile
völlig unter der Kontrolle des Milošević-
Regimes, und serbische Paramilitärs
den Belagerungsring um die Hauptstadt.
Am Abend des 5. April saßen wir in der
Der Autor im Juni 1996. Das Foto wurde
zur Matura geschossen, rund vier Monate
nach dem Ende der Belagerung von
Sarajevo.
Küche und hörten Explosionen von draußen.
Mein älterer Bruder und ich gingen
ins Wohnzimmer. Aus der Dunkelheit der
Wohnung schauten wir über die Altstadt
von Sarajevo. Leuchtgranaten flitzten
über den Nachthimmel. „Es ist Krieg“,
sagte mein Bruder. Seine Worte, das
vorsichtige Aufziehen des Vorhangs in
dieser dunklen Nacht, beendeten meine
sorglose Jugendzeit für immer.
Die nächsten dreieinhalb Jahre
meines Lebens sind aus heutiger Perspektive
mit punktuellen, aber frischen
Erinnerungen verbunden. Eine Granate,
deren Detonation mich die Stiege
hinunter schubst. Eine Kugel, die das
Gesims meines Küchenfensters trifft,
nur ein paar Sekunden, nachdem ich
dort gestanden war. Der Geruch des
schimmeligen Kellers und mein Vater,
der dort im Dunkel sitzt und jede Stunde
Nachrichten auf einem kleinen, batteriebetriebenen
Radio hört. Die unermessliche
Freude, wenn du nach 40 oder
50 Tagen Strom bekommst und den
Fernseher einschaltest, und die grenzenlose
Traurigkeit, wenn der Strom wieder
nach ein paar Minuten ausfällt, weil das
Netz überlastet ist. Die unbeschreibliche
Angst, wenn du mit Wasserkanistern
mitten auf der Straße stehst, und Granaten
schlagen in der Nähe ein. Millionen
von angebrannten Buchseiten, die nach
dem Brand der Nationalbibliothek in der
Luft fliegen und in deinen Hof fallen. Die
Hoffnung, wenn man von Scharfschützen
getroffen wird, sofort zu sterben, anstatt
wie ein Krüppel auszusehen. Die Sorge
deiner Mutter, wenn die beiden älteren
Brüder wochenlang an der Frontlinie sind
und sich nicht melden können. Deine
eigenen Sorgen, vor allem saubere
Unterwäsche am Körper zu tragen, falls
man verwundet und im Spital behandelt
wird. Was sollen dann bloß die Ärzte
sagen? Eier, Kartoffeln, Fleisch, Gemüse,
Schokolade, die du monate- und
jahrelang nicht gesehen, geschweige
denn gegessen hast. Alle Menschen rund
um dich herum, die 20 oder mehr Kilo
verloren haben. Ungewissheit, Hoffnungslosigkeit
und Tod, mit denen du
jeden Tag aufwachst und schlafen gehst.
Aber auch Widerstand, Mut und Stolz,
weil du weißt, dass du nie so sein wirst
wie diejenigen, die dich und deine Stadt
töten wollen.
* Vers des serbischen und jugoslawischen
Liedermachers Đorđe Balašević (aus dem Lied
„Slovenska“)
Nedad Memić, 45, ist Kommunikationsberater
in Wien
/ POLITIKA / 17
Ein Wochenende,
das 30 Jahre
andauert.
Es war ein trügerischer Sommer.
Während meine Heimatstadt
zerbombt wurde, lebten wir 100
Kilometer weiter an der kroatischen
Küste wie die griechischen
Götter. Bis wir eines Tages aus
der Illusion gerissen wurden.
Von Amar Rajković
„Oh mein Gott, es ist Krieg!“ Meine
Zeichenlehrerin in der vierten Klasse
schrie plötzlich auf und musste sich
am Heizkörper festhalten. So
massiv war die Explosion, die
meine Heimatstadt Mostar am
Freitag, 3 April 1992 erschütterte.
Die Worte der erst
kürzlich aus Split gekommenen
und mir durch ihren dalmatinischen
Akzent in Erinnerung
gebliebenen Lehrerin läuteten
einen neuen Lebensabschnitt
für mich und meine Familie
ein. Nur wusste ich das damals
noch nicht. Als wir vom Unterricht
entlassen wurden, dachte
ich nicht an Krieg. Nein, ich
dachte an Kriegsspiele. Im
Computerladen gegenüber der
„Deseta Osnovna Škola“ (Schule
Nr. 10 in Mostar) war - wie
fast überall in der Stadt – das Glas der
Schaufenster zerborsten. Dahinter verbargen
sich Klassiker wie „Golden Axe“
oder „Prince of Persia“. Ich versuchte,
das allgemeine Chaos auszunutzen und
mir ein, zwei Spielchen zu stibitzen. Als
ich gerade zur Diskette griff, hörte ich
meine Mutter. „Amare!“, schrie sie mich
an. „Steig ins Auto ein.“ Ich fragte meine
noch immer unentspannt wirkende Mutter
nach unserem Reiseziel. „Wir fahren
ans Meer, übers Wochenende“, ließ
sie mich wissen. Ich spürte an ihr, dass
irgendwas nicht stimmt.
Die folgenden fünf Monate waren
die schönste Zeit meines Lebens. Wir
wohnten südlich von Split, in einer
kleinen Pension einen Steinwurf von der
Adria entfernt. Nein, das ist nicht bloß
eine Redensart. Ich sammelte Steine
vom Strand und warf sie direkt vom
Balkon ins blaue Meer. Neben meiner
Mutter, Bruder und mir wohnte meine
Tante mit ihrem Sohn (er ist so etwas
wie mein zweiter Bruder, der mich, seit
wir uns kennen, immer zu schlimmen
Dingen überredet), eine befreundete
Familie aus Mostar mit zwei coolen
Jungs, die etwas älter als ich waren, und
damals für mich ultralässige T-Shirts von
„Iron Maiden“ und „Slayer“ trugen. Wir
lebten wie Götter. Jeden Tag Fisch und
Muscheln essen, die Kinder zogen den
ganzen Sommer über bloßfüßig durch
das verschlafene Örtchen und kletterten
auf Bäume, kaperten alte Fischkutter, um
dann von den in die Jahre gekommenen
Besitzern verjagt zu werden. Schule gab
Die Flüchtlingsfamilie auf dem „Chateâu fort de Lourdes“
(Mama, Bruder, Autor - v.l.n.r.)
es keine und an Krieg erinnerten uns nur
die Bilder aus dem Fernsehen und die
Erzählungen meines Vaters, der uns alle
paar Wochen besuchte.
ES WIRD NICHTS SEIN, WIE ES
MAL WAR
Mit meinen knapp zwölf Jahren begriff
ich noch recht wenig. Ich wusste nicht,
was Krieg ist. Ich konnte ihn nicht in
seiner Komplexität fassen. Erst als meine
Eltern entschieden, dass wir nach Frankreich
flüchten sollten, endete das Idyll
am Meer, das wir so sehr in den letzten
fünf Monaten genossen hatten. Wir
versammelten uns in Split. Von dort aus
sollten uns Fähren in den darauffolgenden
Tagen nach Ancona (Italien) bringen.
Der Anblick von Menschen, die nur mit
einem Plastiksackerl fliehen konnten,
erschütterte mich. In Split schliefen
wir in einer riesigen Turnhalle plötzlich
auf Matten, aßen Gulaschsuppe statt
Muscheln, bekamen Läuse und starrten
durch die große Glaswand, an deren
anderem Ende die Wasserballer des örtlichen
Vereins ihr Training absolvierten.
Ich fühlte mich richtig elend. Wie es wohl
meiner Mutter dabei ergangen ist? Oder
meinem Vater, von dem wir danach ein
halbes Jahr nichts hörten, weil in Mostar
der Krieg eskalierte und in den nächsten
drei Jahren mehr als 10.000 Menschen
das Leben kostete? Jahre später erzählte
man mir von einem Klassenkameraden,
der am Fahrrad von einem Scharfschützen
erschossen wurde. Ich kann mich an
seinen Namen erinnern. Ja selbst an sein
markantes Gesicht und das
dazugehörige unverkennbare
Lächeln sind noch genau in
meiner Erinnerung. Als hätten
wir noch gestern Schabernack
im Schulhof getrieben.
30 Jahre später merke
ich, dass die Flucht und ja,
sogar der urlaubsanmutende
Aufenthalt im südlichen
Dalmatien, tiefe Wunden in
meine Erinnerung eingebrannt
haben. Wenn ich die Bilder der
Autokolonne sehe, die sich
wie eine ewig lange Blechschlange
ihren Weg raus aus
Kiew bannt, sehe ich uns vor
30 Jahren meine Heimatstadt
verlassen. Wir haben damals
alles zurückgelassen. Unsere Wohnung,
das Landhaus, die Freunde, die Erinnerungen,
die Gerüche, meine Kindheit.
Es wird nichts so sein, wie es einmal
war. - Ein Satz, der selten so treffend war
wie jetzt.
Und ein Wochenende, das nach 30
Jahren noch immer andauert.
In Gedenken an alle Opfer des Krieges
in Ex-Jugoslawien, sowie alle Menschen,
die von der Ukraine bis Yemen unter dem
Krieg leiden.
Amar Rajković, 40, ist stellv.
Chefredakteur von „biber“
18 / POLITIKA /
Im Fernsehen
lief nichts mehr
außer Krieg
Obwohl ich meine Heimat
verloren habe, habe ich Glück
gehabt, den Krieg unbeschadet
zu überleben. Das können Hunderttausende
Menschen in Ex-
Jugoslawien nicht behaupten.
Von Olivera Stajić
Es gibt eine Zeit vor und nach 1992. Diese
Zäsur teile ich wohl mit den meisten
Menschen aus Bosnien und Herzegowina.
Das Kriegsjahr teilt das Leben, unabhängig
davon, wo und wie wir
es erlebt haben, immer noch
in ein Davor und ein Danach.
Das ist allerdings eine der
wenigen Gemeinsamkeiten,
die ich mit meinen ehemaligen
Landsleuten teile. Denn zum
Unterschied zu vielen anderen
hatte ich das große Glück,
dass ich nur wenige Wochen
nach Kriegsbeginn das Land
verlassen konnte.
Am 6. April 1992 hieß
es: „Ab morgen gibt es keine
Schule mehr!“ Zwischen dem
Dorf, in dem ich lebte, und
dem Dorf, in dem ich die
7. Klasse der Grundschule
besuchte, waren Barrikaden
aufgestellt worden. Es gab ab jetzt ein
„drüben“ und ein „hier“, ein „sie“ und
ein „wir“. Diese ersten Apriltage 1992
sind in meiner Erinnerung frühlingshaft
warm und gespenstisch unbeschwert,
weil schulfrei. Fieberhafte Euphorie des
Ausnahmezustands.
Ich erinnere mich, dass dann sehr
bald das Telefon tot war, und ich nicht
mehr meine Eltern in Wien anrufen
konnte und auch keine Anrufe von Ihnen
mehr kamen. Das Abheben und Wählen
mit der trägen Wählscheibe und
der dumpfe Besetztton verfolgen mich
bis heute noch in den Träumen: keine
Verbindung.
In der Ferne hörte ich bis dato unbekannte
Geräusche: Granateneinschläge.
Irgendwann kamen die Einschläge näher,
wurden lauter und eindeutiger. Meine
Großeltern und meine Tante schauten
immer besorgter. Im Fernsehen lief
nichts mehr außer Krieg.
Autorin (Mitte) umgeben von ihren beiden Schwestern in der
Nähe von nordbosnischem Doboj.
HAUPTSACHE, DIE KINDER
SIND IN SICHERHEIT
Meine Mutter hatte inzwischen versucht,
aus Wien nach Bosnien zu gelangen, um
mich und meine zwei jüngeren Schwestern
abzuholen. Beim dritten Versuch
gelang es ihr, über mühsame Umwege
und nach mehreren Tagen tatsächlich
anzukommen. Die Überraschung war
groß, ich spürte keine Erleichterung,
weil ich wusste, jetzt kommt: der große
Abschied. Meine Familie, meine Großeltern
und die Tante, Menschen, die mich
großgezogen haben, würden hierbleiben.
Sie wollten auf keinen Fall weg, sie
glaubten noch immer, dass alles vorübergehend
wäre - Hauptsache die Kinder
sind in Sicherheit, bis es wieder ruhig ist.
Morgen geht’s also nach Wien. Meine
Mutter weiß, es gibt einen Bus, den
müssen wir morgen erwischen und dann
schauen wir weiter. Ich ging in mein
Zimmer, und das Wenige, das ich besaß,
erschien mir auf einmal essenziell, aber
auch gleichzeitig absolut bedeutungslos.
Ich packte ein paar Musikkassetten
zusammen, Briefe, die ich von meinen
Brieffreundinnen aus ganz Jugoslawien
erhalten hatte, ein paar Fotos, die Lieblingsleggins.
Die nächste Szene, an die ich mich
erinnere, ist ein in Grund und Boden
niedergebranntes Dorf, das an meinem
Autobusfenster vorbeizieht. Ein großes
Pferd streift in den rauchenden Ruinen
herum. Mein furchtloses und vorlautes
13-jähriges Ich sagt laut: „Was ist hier
passiert?“ Ein alter Mann, ein paar Sitze
weiter, deutete mir zu schweigen.
Die nächste Erinnerung sind lange
und angespannte Tage in einem übervollen
Hotel in Banja Luka. Wir warteten mit
unzähligen anderen darauf, dass uns ein
Flugzeug außer Landes bringt. Irgendwann
bekamen wir Plätze im Flugzeug
und den ersten Flug meines Lebens verbrachte
ich stehend. Anfang Mai empfing
uns mein Vater am Südbahnhof. Mein
Leben in Wien begann.
Die ersten Jahre in Wien waren
geprägt von Tränen, Trauer, Angst und
ganz viel schlechtem Gewissen. Ich
hatte es besser als meine
Schulkameraden, als meine
Gleichaltrigen, als meine Familie,
die in Angst lebte. In meiner
Familie gab es nur wenige
Tote. Ich habe keine Gräueltaten
gesehen. Ich musste nicht
Monate und Jahre lang um
mein Leben fürchten.
Um das schlechte Gewissen
auszugleichen, machte ich
das Beste aus meiner Situation.
Ich streberte Deutsch,
Englisch, ich streberte mich
zur Matura und durch das
Studium. Irgendwann landete
ich sogar in meinem Wunschberuf.
Nicht schlecht für die
Tochter von Bäuer:innen und
Arbeiter:innen.
1992 habe ich eine Familie, eine
Heimat und den unschuldigen Blick
eines Kindes auf die Welt verloren. Und
trotzdem würde ich 30 Jahre später auch
noch immer sagen, dass ich eine Kriegsgewinnerin
bin. Ich habe meine Heimat
verloren, hatte aber das Glück, den Krieg
unbeschadet zu überleben. Das ist mehr
Glück, als hunderttausende Menschen in
Ex-Jugoslawien hatten.
Olivera Stajić, 42, Ressortleiterin bei
der Tageszeitung „Der Standard“
/ POLITIKA / 19
20 / POLITIKA /
WENN JUNGE
MÄNNER IN FREMDE
KRIEGE ZIEHEN
Sie wollen im „Kampf gegen das Böse für eine gute Sache sterben.“
Junge Männer aus aller Welt, darunter auch aus Wien, brechen auf,
um in der Ukraine als Foreign Fighter zu kämpfen. Zwischen Abenteuerlust
und Solidarität ist ihnen nicht bewusst, wie ernst der Kriegsalltag
ist. Selbst erfahrene Soldaten stoßen an der Front an ihre
Grenzen – oder kehren nicht mehr zurück.
Von Aleksandra Tulej, Illustrationen: Aliaa Abou Khaddour
Wir wollten in der Ukraine gegen die
Russen kämpfen für das, was sie
meinem Volk angetan haben“, erzählt
Imran * entschlossen. „Außerdem ist
in den Medien eh alles fake und wir
wollten selber sehen, wie es dort wirklich ausschaut.“ Imran
ist Anfang Zwanzig, lebt schon sein Leben lang in Wien und
stammt ursprünglich aus Tschetschenien. Imran und sein
Freund haben sich kurz nach Kriegsausbruch in Wien ins
Auto gesetzt und sind zur ungarisch-ukrainischen Grenze
gefahren. Die beiden hatten keine Ausrüstung dabei und
keinen konkreten Plan, wie sie ihr Vorhaben angehen sollten.
Den Eltern hatten sie von ihrer Reise nicht erzählt. Bloß eine
Jogginghose und ein paar Snacks hatten sie mit im Gepäck.
Mehr war laut Imrans Einschätzung auch nicht notwendig:
„Wir sind eh mit dem Wissen oder eben der Vorstellung
hingefahren, dass wir dort früher oder später sterben“, sagt
er emotionslos. „Ich dachte mir, wenn wir bei der Grenze
ankommen, werden uns die Grenzsoldaten an jemanden
vermitteln, der uns dann alles zeigt, uns Ausrüstung gibt und
uns trainiert.“ Doch die Vorstellung der jungen Männer, mit
offenen Armen in der Ukraine empfangen zu werden, wurde
schnell zunichte gemacht.
Imran und sein Freund wollten als Foreign Fighter in der
Ukraine gegen Russland kämpfen. Foreign Fighter, also inter-
nationale Söldner, sind Freiwillige, die für ein anderes Land in
den Krieg ziehen – ergo nicht die Staatsbürgerschaft dieses
Landes besitzen.
Laut Angaben der ukrainischen Regierung zählt die Ende
Februar aufgestellte internationale Legion der Territorialverteidigung
der Ukraine rund 20.000 Mitglieder, wobei sich die
Angaben nicht genau überprüfen lassen. Laut BMEIA haben
sich eine „Hand voll Österreicher:innen hinsichtlich einer
möglichen Beteiligung an Kampfhandlungen in der Ukraine
gemeldet.“ Diese Personen wurden dann laut dem Außenministerium
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ihnen die
Staatsbürgerschaft entzogen werden kann, sollten sie sich
den Kampfhandlungen der ukrainischen Armee anschließen.
„Dies gilt auch für österreichische Staatsbürger:innen, die
freiwillig für eine organisierte bewaffnete Gruppe aktiv an
Kampfhandlungen im Ausland im Rahmen eines bewaffneten
„Wir haben keine Zeit, um
Anfänger einzuschulen!“
/ POLITIKA / 21
Zwischen Heldentum und Naivität:
Unerfahrene junge Männer
überschätzen die Lage oft komplett
22 / POLITIKA /
„Meine Familie hat mich
als Nazi bezeichnet.“
Konfliktes teilnehmen, wenn sie dadurch nicht staatenlos
werden“ heißt es. Laut offiziellen Angaben kämpfen gerade
keine österreichischen Staatsbürger:innen in der Ukraine –
aber das BMEIA hat keine Informationen darüber, was die
kampfwilligen Österreicher:innen getan haben, nachdem sie
abgewiesen worden waren.
KEINE KAMPFERFAHRUNG,
KEINE CHANCE
Der Verteidigungs-Attaché der Ukraine in Österreich gibt keine
Angaben zu der Anzahl an Anfragen weiter. „Wir arbeiten
nicht mit Legionären“, heißt es am Telefon.
Doch wie sieht es auf internationaler Ebene aus? Auf der
Seite fightforua.org, die vom ukrainischen Außenministerium
geführt wird, finden Interessierte die nötigen Infos. „Join the
Brave! Join the Legion and help us defend Ukraine, Europe
and the whole world!“, liest man dort. Hier werden auch
Informationen zum Aufnahmeprozess sowie Kontakt-Telefonnummern
für 60 Länder angeführt, darunter auch eine für
Österreich.
Ich bitte einen Freund darum, dort anzurufen. Natürlich
nicht unter seinem echten Namen. Er wählt die Nummer,
nach längerer Zeit hebt jemand ab. Er gibt sich als der
27-jährige Kristjan aus, der als österreichischer Staatsbürger
für die Ukraine kämpfen will. Die Stimme am Telefon
nuschelt etwas auf Ukrainisch, dann wird er gefragt, ob er
denn Kampferfahrung hat. „Nein, aber ich möchte kämpfen
und dem ukrainischen Volk helfen“, sagt ‚Kristjan‘. „Wir
brauchen nur Menschen mit viel Erfahrung, wie ehemalige
Soldaten. Wir haben keine Zeit, um militärische Anfänger
einzuschulen“, bekommt er zu hören. „Ich spreche mehrere
Sprachen und kann schnell laufen“, versucht ‚Kristjan‘ es
weiter. „Wir haben keine Verwendung dafür, aber danke für
die Unterstützung. Ich schreibe mir Ihre Nummer auf und wir
werden Sie anrufen, wenn wir Verwendung für Sie haben.“
ALS RUSSE FÜR DIE UKRAINE KÄMPFEN
Er hat die Anforderungen erfüllt: Der 19-Jährige Belarusse
Nikita ist gerade an der ukrainischen Front. Er ist Boxer, hat
Kampferfahrung und will für die Freiheit und Unabhängigkeit
der Ukraine kämpfen. Der Großteil seiner Familie hat den
Kontakt zu ihm abgebrochen und ihn als Nazi bezeichnet,
als er sich der ukrainischen Fremdenlegion anschloss. Wie
genau der Aufnahmeprozess aussah und ob er bezahlt wird,
darf und will er nicht verraten. Auf Instagram posiert er in
seiner Uniform, an der die Ukrainische und die weiß-rotweiße
belarussische Flagge angenäht sind. Nach dem Zerfall
der Sowjetunion 1991 war die weiß-rot-weiße Flagge zur
Nationalflagge von Belarus erwählt worden. Die offiziell anerkannte
Flagge des Landes heute ist rot-grün. Der belarussische
Machthaber Alexander Lukaschenko hatte diese 1995
eingeführt, als Symbol der Erinnerung an die Sowjetunion.
Die Flagge, die Nikita trägt, symbolisiert ein „Belarus ohne
Lukaschenko.“ Ich bleibe mit ihm einige Tage in Kontakt,
er teilt auch mehrmals am Tag Postings des ukrainischen
Präsidenten Zelenskyy. Dann bricht der Kontakt ab. Nikita
antwortet nicht mehr, und teilt auch nichts mehr auf seinem
Profil. Bis Redaktionsschluss erfahre ich nicht, was mit ihm
passiert ist.
Jan * ist Russe und befindet sich gerade östlich von Kiew
– auch er kämpft für die ukrainische Seite. Aufgrund politischer
Repressionen und seiner regimekritischen politischen
Aktivitäten in Russland ist er vor vier Jahren in die Ukraine
gezogen – und hatte sich direkt nach Kriegsausbruch bei der
ukrainischen Armee gemeldet. „Es war auf jeden Fall eine
politisch motivierte Entscheidung“, sagt er am Telefon. Jan
hat Kampferfahrung – so kämpfte er 2015 für das berüchtigte
Azov-Bataiilon. Das Azov-Regiment ist dem ukrainischen
Innenministerium untergestellt und stark umstritten: Die Einheit
gilt aufgrund rechtsextremer Positionen vieler Mitglieder
und deren Symboliken als ultranationalistisch. So wird Azov
ein Neonazi-Image nachgesagt. Als ich ihn darauf anspreche,
meint Jan: „Es sind ganz sicher welche dabei. Aber jetzt verteidigt
Azov Mariupol und wird hier deshalb von der Bevölkerung
respektiert.“ Jan hatte sich geweigert, den Militärdienst
in Russland anzutreten. In seinem Bataillon wissen alle, dass
er Russe ist – er versteckt es auch nicht. „Es gab bisher nie
Probleme damit, nach Außen erzählt mein Kommandant aber
zur Sicherheit, dass ich Belarusse bin.“, so Jan. „Ich selbst
schieße nicht, was wir machen ist eher mit Drohnen die
Frontregion zu erkunden und zu sichern, oder den Flüchtenden
in die humanitären Korridore zu helfen“.
Der 30-Jährige hat seiner Familie in Russland erzählt,
er würde in der Ukraine humanitäre Hilfe leisten und in
einer Suppenküche aushelfen. „Sonst könnte meine Familie
drüben echt Probleme kriegen“. Nach Russland wird
er nicht mehr zurück können, das weiß er. Jan hat bei der
ukrainischen Armee einen Vertrag unterschrieben. Es hatte
bürokratische Hürden gegeben, aber durch einen befreundeten
Kommandanten war es für ihn möglich, sich der Armee
anzuschließen. „Am Anfang wurden alle genommen, die sich
bei der Territorialverteidigung gemeldet haben, aber dann
wurde relativ schnell klar: Es werden solche mit Kampferfahrung
bevorzugt.“ Jan kann verstehen, wieso man aus
einer politischen oder emotionalen Motivation heraus auch
als Ausländer in der Ukraine kämpfen will. „Aber wenn du
19 Jahre alt bist und noch nie irgendwo gekämpft hast, ist
es wahrscheinlich nicht die beste Idee.“
Imran hat im Gegensatz zu Jan und Nikita keine militärische
Erfahrung, den Grundwehrdienst beim Bundesheer hat
er nicht gemacht, da er wegen einer Verletzung an seinem
Arm als untauglich eingestuft worden war. „Aber ich kenne
mich mit Waffen eh aus. AK schießen kann ich“, erzählt er
selbstbewusst. Er hatte einige Tage vor der Abreise auf Social
Media einen Aufruf gesehen, dass man aus aller Welt in
/ POLITIKA / 23
die Ukraine kämpfen kommen kann. Kontaktpersonen hatten
sie dort keine, er kennt auch keine anderen Kämpfer im Territorium.
Während auf der einen Seite des Grenzübergangs
eine lange Autokolonne aus der Ukraine nach Ungarn stand
und unzählige Menschen es aus dem Land schaffen wollten,
wollten Imran und sein Freund hinein.
„Der Krieg ist eine
Art Medizin.“
„WENN DU SO UNBEDINGT STERBEN
WILLST, DANN NICHT SO SINNLOS!“
Zuerst hatten sie den Grenzbeamten erklärt, dass sie dringend
ein Auto in der Ukraine abholen müssen, das haben
ihnen die Beamten aber nicht abgekauft. Sie dürften es
schon geahnt haben. Als sie zugegeben haben, warum sie
hier sind, hat einer der Grenzsoldaten ihnen auf Russisch die
Leviten gelesen: „Du bist so jung, du hast so ein gutes Leben
in Österreich. Du weißt gar nicht, wie gut du es hast. Bitte,
Jungs, fahrt wieder nachhause. Krieg ist nie gut, wir lassen
euch hier nicht durch.“ Er ließ nicht mit sich diskutieren.
„Wenn du so unbedingt sterben willst, dann nicht so sinnlos.“
Das waren seine abschließenden Worte, danach mussten die
Jungs wieder umkehren. Das hat Imran und seinen Freund
verärgert. „Wir hatten uns das halt anders vorgestellt“, gibt
er zu. Als ich ihn frage, ob ihm klar ist, dass dieser Mann ihm
womöglich sein Leben gerettet hat, winkt er ab: „Na und?“
Imran hat eine Lehre zum Installateur gemacht, ist derzeit
arbeitslos. Pläne für die Zukunft hat er nicht wirklich. Wie
Imran sich sein Leben in
zehn Jahren vorstellt?
„Ich sag’s dir ehrlich:
In zehn Jahren bin ich
wahrscheinlich tot.“ Ich
kläre ihn darüber auf,
dass, selbst wenn er
überleben sollte, ein Verfahren
über den Entzug
der Staatsbürgerschaft
eingeleitet werden wird,
sobald er für die Ukraine
kämpft. Auch das
scheint ihn nicht sonderlich
zu beeindrucken,
hingegen gibt er mir
seine Bedenken mit auf
den Weg: „Weißt du, das
ist ja immer dasselbe:
Wenn Muslime sterben,
interessiert es keinen.
Schau dir mal die anderen
Kriege an: Palästina,
die beiden Tschetschenienkriege
und so.“
Er zeigt sich verärgert
über die Doppelmoral
beim Umgang mit
Geflüchteten in Europa.
„Wenn eine muslimische
Frau mit ihren Kindern
irgendwo an einer Grenze stirbt, kümmert es niemanden.
Aber sobald es Österreicher sind, oder eben europäische
Leute, finden es alle auf einmal arg und schlimm. Ich habe
ja die österreichische Staatsbürgerschaft, vielleicht hätte es
dann jemanden interessiert, wenn ich hingegangen wäre“,
resümiert er.
DAS AUFNAHMEVERFAHREN
Wenn sich Menschen aus dem Ausland der Armee anschließen
wollen, werden sie zuerst zu ihrem militärischen
Hintergrund befragt, berichtet der ZDF in der Doku „Ex-
Bundeswehrsoldat: Warum ich im Ukraine-Krieg kämpfe.“ Je
nach Erfahrung wird entschieden, wo der Soldat eingesetzt
wird: ob an der Front, an Kontrollpunkten oder in einer anderen
Funktion. Menschen aus dem Ausland ohne Kampferfahrung
werden nicht benötigt. ZDF-Reporter Jörg Brase nennt
den Grund, weshalb die Fremdenlegion öffentlich aus dem
Blickfeld geholt wurde:
Für eine gerechte Sache kämpfen –
aber zu welchem Preis?
Ein Truppenübungsplatz
der Fremdenlegion in
der Nähe des westukrainischen
Lviv wurde, so
Brase, vor zwei Wochen
von der russischen
Armee angegriffen und
mit Raketen beschossen.
Der ehemalige deutsche
Bundeswehrsoldat
Mehmet ist seit über
einem Monat in der
Ukraine. Er hat viel
Kampferfahrung, war
auch schon in Afghanistan
im Einsatz. Wie viele
Menschen er getötet
hat, weiß er nicht und
will er nicht wissen. Er
will die Ukraine unterstützen,
vor allem die
Kinder, die ihre Eltern
verloren haben, wie er
im Video-Interview mit
der ZDF-Journalistin
Julia Klaus erzählt. Sein
Gesicht ist bis zur Hälfte
verhüllt, seinen Nachnamen
nennt er nicht.
Ob er bezahlt wird? Er
24 / POLITIKA /
„Dort kämpfen Kuffar
gegen Kuffar, was hast du
dort verloren?“
hat einen Vertrag unterschrieben, verzichtet aber freiwillig
auf eine Vergütung. Mehmet leidet unter einer posttraumatischen
Belastungsstörung nach seinen Bundeswehr-
Einsätzen und betrachtet diesen Einsatz in der Ukraine als
eine Art „Medizin“, wie er sagt. Für deutsche Staatsbürger ist
es, anders als in Österreich, grundsätzlich nicht illegal, in der
Ukraine zu kämpfen – es käme aber auf den Einzelfall an. Für
den an der Grenze abgewiesenen Imran wäre die Lage rein
rechtlich wesentlich schwieriger geworden.
KADYROW ALS MANN FÜRS GROBE
Soweit kam es aber nicht. Wieder Zuhause in Wien angekommen,
brach eine Diskussion zwischen Imran und seinen
Eltern aus. Sie hatten von seinem Vorhaben Wind bekommen.
„Das ist ein Kafir-Krieg. Da kämpfen Kuffar (*dt: „Ungläubige“)
gegen Kuffar. Was hast du dort verloren?“, fragte
ihn sein Vater. „Wenn du so unbedingt kämpfen willst, dann
such dir einen Krieg aus, in dem es Muslime betrifft, und geh
dorthin die Leute verteidigen.“ Erst die Worte seines Vaters
schienen bei Imran Wirkung zu zeigen. „Er hat eh recht.
Denn im Endeffekt sind das eh Faschisten gegen Faschisten.
Politiker haben halt Ansehen. Putin macht was er will, der ist
2040 noch Präsident. Jede Wahl ist gefälscht. Und Kadyrow
ist wie sein Hund an der Leine. Die Tschetschenen, die
für Kadyrow kämpfen, sind in meinen Augen keine echten
Tschetschenen. Ich mein, schau‘ dir mal die Geschichte an“,
sagt er. Imran spricht hier von den „Kadyrowzy“, der Armee
des Tschetschenischen Machthabers Ramzan Kadyrow. Er
wird medial oft als „Putins Mann für das Grobe“ betitelt. So
haben tschetschenische Kämpfer auch auf der russischen
Seite in Syrien gekämpft, aktuell sind auch mehrere Truppen
in die Ukraine entsandt worden. Kadyrow verkündete Mitte
April in einem Telegram-Video, dass eine Offensive auf Mariupol,
Donezk, Luhansk und zuletzt auf Kiew geplant sei.
Die Beziehungen zwischen Tschetschenien und Russland
sind aber seit Jahrhunderten von Unterwerfung
und Widerstand geprägt. So wurden 1944 rund 500.000
Tschetschen:innen und Ingusch:innen durch den damaligen
Ministerpräsidenten der Sowjetunion, Josef Stalin, aus ihrer
Heimat nach Zentralasien deportiert. Anfang der 1990er Jahre,
nach dem Zerfall der Sowjetunion, erklärte Tschetschenien
die Unabhängigkeit gegenüber Russland. Darauf folgten
die beiden Tschetschenienkriege – der erste von 1994 bis
1996, der zweite von 1999 bis 2009. Die Tschetschenen
waren das erste Volk, das Putins Brutalität gespürt hat. Auch
Ramzan Kadyrow und davor sein Vater Achmad Kadyrow
standen einst gegen Putin – bis dieser sie mit finanziellen
Mitteln und Versprechungen auf seine Seite brachte. Nun ist
Kadyrow also seit Jahren loyal gegenüber Putin.
„WOFÜR STERBEN DIESE MENSCHEN?“
Auch der 29-jährige Texaner Jordan, mit dem ich auf Umwegen
in schriftlichen Kontakt trete, wollte sich der Fremdenlegion
anschließen. Jordan, der früher bei dem „United States
Marine Corps“ als Soldat tätig war, wollte in die Ukraine,
da er „nicht zusehen kann, wie so viele Ungerechtigkeiten
passieren – vor allem der Zivilbevölkerung gegenüber.“ Jordan
wurde allerdings schon von der ukrainischen Botschaft
in Texas abgelehnt, da er sich eine Verletzung zugezogen
hatte, als er „für sein Land kämpfte.“ Wo und wie will er
nicht preisgeben. Er will sich allerdings auf den Weg nach
Kharkiv machen, um dort humanitäre Hilfe zu leisten, wenn
er schon nicht kämpfen darf. Angst davor, dort zu sterben,
hat er nicht.
Der 19-jährige Sebastian, Soldat in der polnischen
Armee, sieht das anders. Er ist gerade vier Kilometer vor der
ukrainischen Grenze stationiert. Am Telefon erzählt er mir
davon, dass er nicht nachvollziehen kann, wie man sich jetzt
freiwillig in die Ukraine begeben kann. „Schau, wir machen
hier unseren Job. Wir haben unsere Wachposten, wir sind
hier. Aber wir hören schon immer wieder Explosionen auf der
anderen Seite, also bei den Ukrainern. Das ist nicht so ohne.“
Eigentlich dürfe er mir ja nichts erzählen, da er eine Geheimhaltungsklausel
hat, öffentlich würde er das auch nicht
sagen, da er vor den anderen Soldaten „ja nicht als Weichei
dastehen“ wolle. Aber er will etwas loswerden: „Wir haben
uns am Anfang auch gedacht, dass das ja ganz spannend
wird, eine Art Abenteuer. Aber mit jedem Tag haben wir
weniger Lust, hier zu sein. Ich wäre so viel lieber bei meiner
Familie, bei meiner Freundin. Es gehen so viele Menschenleben
drauf, und wofür?“, fragt er nachdenklich. Ob er mit der
Zeit nicht abstumpfen würde? „Eher umgekehrt. Aber was
weiß ich schon: Wir sind hier ja in Sicherheit. Diese Jungs
ohne Erfahrung sind dann einfach Kanonenfutter. Sie meinen
es gut, aber Helden sind das keine. Im Endeffekt interessiert
sich keiner für dich, wenn du irgendwo in einem Krieg
stirbst“
*Namen von der Redaktion geändert
„Es interessiert sich keiner
für dich, wenn du stirbst.“
/ POLITIKA / 25
DAS MÄRCHEN VOM
MARTIALISCHEN
HELDEN
EINE HINTERGRUNDANALYSE
Foreign Fighters spielen in den meisten militärischen Konflikten
eine große Rolle. So auch jetzt im Angriffskrieg auf die
Ukraine. Verschiedene Söldner-Truppen kämpfen auf beiden
Seiten. Darunter fällt laut dem britischen Verteidigungsministerium
auf russischer Seite auch die Wagner-Gruppe, eine
rechte russische Söldner-Miliz, die die Separatisten unterstützt,
von deren Einsatz in der Ukraine der Kreml nichts
wissen will. Die EU wirft ihnen schwere Menschenrechtsverstöße
vor und verhängte im Dezember Sanktionen. So hatten
Soldaten der Wagner-Truppe 2018 in Zentralafrika drei
Kreml-kritische Journalisten getötet oder Videos veröffentlicht,
auf denen sie syrische Soldaten foltern.
Aber auch auf der ukrainischen Seite gibt es immer
mehr Foreign Fighters. Der ukrainische Präsident Wolodymyr
Zelenskyy verkündete in den ersten Tagen nach Kriegsausbruch:
„Jeder, der sich der Verteidigung der Ukraine, Europas
und der Welt anschließen will, kann kommen und Seite
an Seite mit den Ukrainern gegen die russischen Kriegsverbrecher
kämpfen.“
Söldnertum gilt international
als umstritten und hat eine lange
Geschichte. Es macht aber in
der Praxis einen Unterschied, ob
erfahrene (Ex-)Soldaten in den Krieg
ziehen, oder junge Männer, die rein
von der Idee fasziniert sind. Dennoch: „Die meisten Söldner
waren junge Burschen, die einmal als reguläre Soldaten in
einen Krieg gegangen sind und dort zumindest psychisch
zerstört wurden. Nur wenige schaffen es, den Krieg hinter
sich zu lassen, für die meisten geht der Krieg im Kopf weiter“,
so Fabian Reicher von der Beratungsstelle Extremismus.
„Ständige Gereiztheit, ein Übermaß an Explosionsbereitschaft,
ein Leben in tiefster Depression und Ohnmacht, Suizide
oder Amokläufe sind die Folge. Die Alternative: Wieder in
den Krieg gehen. Irgendwo wird immer gekämpft.“
INTERNATIONALE MOBILISIERUNGEN
Die Motive dafür, für ein fremdes Land zu kämpfen, sind
unterschiedlich. Für manche bedeutet es eine Solidaritätsbekundung,
für andere Abenteuerlust, und wieder andere
sehen sich im Kampf gegen die Ungerechtigkeit – für alle gilt
es aber auch als Beweis von Männlichkeit und Stärke. Das
Phänomen ist kein Neues, doch scheint die Auffassung dieser
Narrative vor allem in Westeuropa diesmal eine andere
zu sein als in den Kriegen der letzten Jahre – wie in Syrien
oder Palästina, aber auch im Jugoslawienkrieg oder in den
Tschetschenienkriegen.
„Irgendwo wird
immer gekämpft.“
„Internationale Mobilisierungen“ gab es schon immer.
Beispielsweise haben auch im Spanischen Bürgerkrieg
(1936–1939) oder in den Jugoslawienkriegen (1991–1995)
Menschen aus Österreich gekämpft. „Das hat allerdings
niemanden interessiert. Zum Thema wurden die Foreign
Fighters erst im Februar 2014, als zwei Mädchen aus Wien
nach Syrien ausgereist sind. Auch daran kann man gut
erkennen, wie tief traditionelle Rollenbilder auch bei uns verankert
sind“, so Reicher. „Der große Unterschied zu damals:
Es ist scheinbar ganz klar, wer die ‚Bösen‘ und wer die
‚Guten‘ sind. Und nicht nur das - anstatt zu beruhigen, verfallen
neben dem Boulevard auch liberale Medien in eine Art
‚Kriegsgeilheit‘ und stellen den Krieg als eine Art ‚Event‘ dar,
bei dem man die ‚gute Seite‘ anfeuert, die ‚für unsere Werte
und Freiheit kämpft‘, wie es u.a. Bundeskanzler Nehammer
gesagt hat“, so Reicher.
SALONFÄHIGE KRIEGER
Seit Kriegsbeginn sieht man die immer wiederkehrenden
Narrative des Heldenhaften, Martialischen, Kriegerischen,
Männlichen, fast schon Patriotischen. Dabei sind das alles
Narrative, die in den letzten Jahren von der Mehrheitsgesellschaft
sehr kritisch betrachtet wurden. Medien titeln
auffallend auf ihren Titelseiten „Wolodymyr Zelenskyy – der
Held des Westens!“, über Nacht wurde das ukrainische
Volk zu einer bejubelten Kämpfer-Nation, die vor allem in
Westeuropa mit Bewunderung und Demut angesehen wird.
Bilder von Frauen, die gestern noch
mit Blumenkranz posiert haben,
und heute eine Waffe in der Hand
halten, gehen um die Welt. Die Zivilbevölkerung,
die zur Verteidigung
Molotow-Cocktails baut. Fotos von
kleinen Mädchen mit Waffe und Lollipop werden vielfach auf
Social Media geteilt. Eine Figur wie Zelenskyy oder Klitschko
schindet Eindruck – auch die Aufforderung, das Land und die
Kultur zu verteidigen, das sonst zu verschwinden droht. Aber
welchen Einfluss hat dieses fast schon salonfähige Kriegertum
auf junge Menschen in Wien?
„Junge Männer sind besonders auf der Suche nach Anerkennung
und Erfolg. Sie wollen Helden werden und für eine
gerechte Sache kämpfen. Das war auch 2014 so. Das Leid
der syrischen Zivilbevölkerung war wohl das zentrale Motiv
bei der Ausreise nach Syrien. Der IS und die dschihadistische
Erzählung waren vor allem für Tschetschenen zweitrangig,
ihnen ging es hauptsächlich um den Kampf gegen Putin“, so
Reicher. „Es gibt viele Möglichkeiten, ein ‚Held‘ zu werden.
Man kann auch ohne Waffen für Gerechtigkeit kämpfen, aber
dafür braucht es Angebote. Mehr Waffen und mehr Kämpfer
bringen keinen Frieden. Wenn ihr den Menschen in Syrien
wirklich helfen wollt, ist das der falsche Weg. Das haben wir
den Jungs 2014 immer wieder gesagt und gemeinsam mehrere
Spendenprojekte für die Zivilbevölkerung umgesetzt.“ ●
26 / POLITIKA /
DU WILLST DEN MENSCHEN AUS DER UKRAINE
HELFEN, ABER WEISST NICHT WIE?
Hier ein kleiner Guide:
Sachspenden
Besonders gebraucht werden konservierte
Lebensmittel sowie Babynahrung,
Einweggeschirr, Hygieneartikel,
Windeln für Kinder und Erwachsene,
Stirnlampen, Batterien, Schlafsäcke,
Isomatten, Powerbanks und Generatoren.
All diese Dinge kannst du zur
Hosnedlgasse 18 im 22. Bezirk in
Wien bringen. Die Liste wird laufend
auf www.ukraine-helpers.com aktualisiert.
Öffnungszeiten:
Montag–Freitag 08:00–20:00
Samstag 10:00–16:00
Sonntag 14:00–20:00
Auch Medikamente und Verbandsmaterial
werden benötigt. Diese
bringst du am besten Montag bis
Freitag zwischen 12–18 Uhr in die
Landstraßer Hauptstraße 138 im
dritten Bezirk in Wien.
Finanzielle
Unterstützung
Wenn du der Ukraine lieber finanziell
helfen möchtest, dann kannst du an
folgende seriöse Spendenkonten Geld
überweisen:
1. Caritas: www.caritas-wien.at
Zweck: „Ukraine - jetzt helfen.“
2. Guntramsdorf hilft:
www.guntramsdorf.at
Raiffeisen Regionalbank Mödling
IBAN: AT81 3225 0000 0000 0091,
BIC: RLNWATWWGTD
Die Organisation hat mittlerweile 15
LKW‘s mit Hilfsgütern in die Ukraine
gefahren.
3. Train of Hope: www.trainofhope.at
Spendenkonto Train of Hope
IBAN AT21 2011 1827 5129 7500
BIC GIBAATWWXXX
Du hast einen
Schlafplatz frei?
Wenn du einen freien Schlafplatz hast
und gerne jemanden aufnehmen würdest,
dann kannst du dich an folgende
Stellen wenden:
1. Der Bundesbetreuungsagentur BBU
kannst du unter der Mailadresse
nachbarschaftsquartier@bbu.gv.at
bekannt geben, wie viele Menschen
du aufnehmen kannst.
2. Unter der Website www.homesforukraine.eu
besteht für dich
die Möglichkeit, ein Formular
auszufüllen. Dafür gibst du deine
grundlegenden persönlichen Kontakt-Informationen
an und wie viele
Menschen du aufnehmen könntest.
Für die Aufnahme bestehen allerdings
einige Anforderungen:
1. Es muss sich um einen sicheren
Schlafplatz handeln (Bett, Schlafsofa,
etc.).
2. Frische Bettwäsche muss gegeben
sein (Bettlaken, Kissen und Decken).
3. Der Zugang zum Schlafplatz aber
auch zu sanitären Anlagen muss 24
Stunden gegeben sein.
Freiwillige
HelferInnen
Wenn du weder Sachspenden, Geld
oder einen Schlafplatz bieten kannst,
aber trotzdem gerne helfen würdest,
dann kannst du dich über die Website
www.helpforukraine.at als freiwillige
HelferIn anmelden. Auf der Seite
kannst du angeben, wie viele Stunden
pro Woche du Zeit hättest und was du
gerne machen würdest.
/ MIT SCHARF / 27
„Niemand
mag dicke
Menschen!“
Bodyshaming in Migra-Familien
28 / RAMBAZAMBA /
Groß, schlank und normschön – Wer
diese Kriterien in einer Migra-Familie
nicht erfüllt, kann sich oft dumme
Sprüche anhören. Ob am Esstisch im
engsten Kreis oder vor versammelter
Mannschaft auf großen Familienfeiern,
irgendwer findet immer etwas
zum Kritisieren. Dabei meinen die Verwandten
es ja „eh nur gut“, doch welche
Auswirkungen es auf die Psyche
haben kann, ist ihnen selten bewusst.
Von Maria Lovrić- Anušić, Fotos: Zoe Opratko
„Du isst zu viel! Du isst nicht genug!“ - Manchen Migra-
Mamas kann man es nie recht machen.
Du hast schon wieder so zugenommen.“ Mit diesen
Worten „begrüßte“ mich meine Mutter, als
sie letzten Sommer nach ihrem viermonatigen
Heimaturlaub in Kroatien durch die Haustür kam.
Sie legte ihre Reisetasche ab und begann, meinen Körper
zu mustern. Nette Begrüßung, Danke, Mama. Ein „Hallo,
wie geht’s?“ hätte es auch getan. Ich solle doch aufpassen,
dass es nicht „noch mehr“ wird und sie würde nicht verstehen,
wie das passieren konnte. Mittlerweile kann ich solche
Bemerkungen sehr gut ignorieren, doch lange waren diese
Momente nicht so leicht wegzustecken. Ich wollte einige
Tage nach ihrer Ankunft aus Prinzip nicht viel essen, das
sorgte dann aber wiederum für Unverständnis ihrerseits.
Ich müsse nicht auf das Essen komplett verzichten, aber
dann eben etwas besser darauf schauen. Doch ich konnte
nicht anders. Zu der Zeit war mein Selbstwertgefühl nicht
so stark ausgeprägt und das Verhältnis zu meinem Körper
eher kompliziert. Und genau deswegen lösten ihre Worte
in mir damals eine noch größere Abneigung und ein gewisses
Schamgefühl dem Essen gegenüber aus. Ich war noch
nie eine der super Schlanken und genau das durfte ich mir
auch oft genug von Familienmitgliedern anhören. Spitznamen
wie „Dickerchen“ waren in meiner Teenager-Zeit gang
und gäbe. In meiner Verzweiflung griff ich des Öfteren zu
ungesunden Methoden, um abzunehmen. Einerseits ging es
mir darum, Bestätigung zu gewinnen und andererseits auch
darum, mich endlich in meinem Körper wohl zu fühlen. Von
Fettblockerpillen und Nahrungsergänzungsmitteln bis hin zu
einer täglichen Fitnessstudiotortur und so gut wie nichts zu
essen, habe ich alles versucht, um glücklich mit mir selbst
zu sein. Geholfen hat das allerdings alles nichts, vielmehr
war es frustrierend und zog mich nur noch mehr runter. Ich
kann von Glück sprechen, dass ich doch einen klaren Kopf
behielt und nicht in eine tiefere Essstörung geschlittert bin.
Ich beschäftigte mich in der Zeit viel mit ‚Body Positivity“ und
realisierte, dass es für Schönheit kein Einmaleins gibt. Ich
weiß mittlerweile auch, dass meine Familie und vor allem
meine Mutter es nicht böse meinen, und ich schätze es, dass
sie sich um meine Gesundheit kümmern. Verletzend ist es
dennoch und ich glaube, dass ihnen das leider nicht bewusst
ist.
Ich bin mit dem Thema allerdings nicht allein. Bodyshaming
steht bei vielen Jugendlichen in Österreich auf der
Tagesordnung. Im „Jugend Trend Monitor“ aus dem Jahr
2019 gaben 30% der Befragten 14-29-Jährigen an, bereits
Erfahrungen mit Bodyshaming gesammelt zu haben. Ein
/ RAMBAZAMBA / 29
„
Bei meinen Kindern werde
ich es anders machen
“
Eine verzerrte Selbstwahrnehmung nach
Bodyshaming ist keine Seltenheit
momentan viraler TikTok Trend greift das Thema Bodyshaming
durch die eigene Familie in migrantischen Communities
auf. Tiktoker:innen stellen sich vor die Linse und unter ihnen
steht der Text „Wenn deine Familie aus der Heimat dich
besucht.“ Dazu hört man in der Tonspur den Sound einer
Frau, die sie mit den Worten „Oh my god you are so fat, so
obese!“ zu beleidigen beginnt.
Dieses Phänomen kommt nicht von irgendwo, wie Bodyshaming-Expertin
und Autorin des Body-Positivity-Buchs
„Riot, don’t diet!“ Elisabeth Lechner erklärt.
„Der Westen dominiert die Welt – deshalb nehmen wir
ein weißes, koloniales Schönheitsideal als Maßstab. Menschen
sollen groß, schlank und unbehaart sein“, resümiert
sie. Doch zu diesem westlichen Schönheitsbild kommen
laut Lechner für Menschen mit Migrationshintergrund auch
kulturelle Bedingungen sowie bestimmte Esskulturen und
auch religiöse Einstellungen hinzu. So kann der Druck in ausländischen
Familien noch stärker sein, da es dort mehrere
Angriffsflächen gibt.
KURZE HOSEN UND CELLULITE
Bei der 23-Jährigen Polin Ewa spielt Bodyshaming durch
ihre Familie seit ihrer Pubertät eine große Rolle. Ab ihrem
13. Lebensjahr, als ihr Körper sich zu verändern und zu
wachsen begann, kamen immer wieder Bemerkungen. Ewa
erinnert sich an einen bestimmten Moment, der sie nicht
loslässt. Sie saß, als 13-jähriges Mädchen, mit einer kurzen
Hose am Sofa in ihrem Wohnzimmer, als ihr Vater auf
sie zukam und komplett schockiert und verängstigt fragte,
ob sie etwa Cellulite hätte. Auch ihre Mutter verhielt sich
anstrengend, da sie Ewas Körper immer genau unter die
Lupe nahm. „Bist du schwanger?“ war die Top-Frage, sobald
Ewa etwas an Gewicht zugenommen hatte und ihr Bauch
größer geworden war. Solche Kommentare sind für sie heute
nichts Besonderes mehr, denn die bekommt sie nach wie vor
noch täglich serviert. Ihre Schwester, die immer sehr dünn
war, hat sich den Umgang, den die Eltern mit Ewa pflegten,
abgeschaut und begann, sie ebenfalls mit Beleidigungen
zu ihrem Gewicht zu bombardieren. Die 23-Jährige erzählt,
dass sie mit 13–14 Jahren eine Essstörung entwickelte. Dies
ist nicht verwunderlich, denn laut Autorin Elisabeth Lechner
brauchen vor allem Jugendliche viel Bestätigung: „Wenn
Heranwachsende in den eigenen vier Wänden keinen ‚safespace‘
haben, dann bewirkt das eine gestörte Selbstwahrnehmung
und kann in Extremfällen zu Essstörungen führen.“
Monatelang aß Ewa dementsprechend so gut wie nichts.
Bei Hungergefühl ernährte sie sich von Kaugummi und Cola
light. Das alles nur, um ein bestimmtes Gewicht zu halten.
„Ich weiß noch, dass meine Mama damals gesagt hat, dass
ich endlich eine gute Figur hätte und die so weiterbehalten
sollte“, rollt Ewa mit den Augen. Dass sie in der Zeit an einer
Essstörung litt, bemerkte ihre Mutter nicht. Auch Ewa weiß,
dass das Problem nicht die Wahrnehmung allein ihrer Mutter
ist: „In Polen ist das Schönheitsideal für Frauen noch viel
ärger als in Österreich.“ Die Erwartungen, dem normschönen
Ideal zu entsprechen, seien dort noch viel härter. Ihre
Eltern sind mit Wertvorstellungen und Body-Images aufgewachsen,
die ins Unrealistische gehen. Aus diesem Grund
sieht Ewa keinen Sinn darin, mit ihnen über die verletzenden
Worten zu reden, da sie es ja eigentlich nicht böse meinen,
sondern es einfach selbst so gelernt hatten. Mittlerweile
kann sie damit recht gut umgehen und hat dadurch auch
einiges für ihre Zukunft gelernt. „Ich weiß, wie ich mich
gegenüber meinen zukünftigen Kindern verhalten werde.“
Sie ist sich sicher, dass sie ihre eigenen Kinder niemals auf
ihr Äußeres reduzieren und mit blöden Sprüchen zu ihrem
Gewicht konfrontieren wird.
30 / RAMBAZAMBA /
Dadurch nahm sie ab, jedoch ließ der Jo-Jo-Effekt nicht
lange auf sich warten und sie nahm mehr zu als davor. Laut
Bodyshaming-Expertin Elisabeth Lechner ist das eine normale
Reaktion des Körpers, da durch Diäten der Stoffwechsel
zerstört wird. „Sie machte die Höhe meines Taschengeldes
abhängig von meinem Gewicht“, kann es Jelena noch immer
nicht ganz glauben. Finanzielle Unterstützung war damals,
wie auch heute noch während ihres Studiums, das Druckmittel
ihrer Mutter. All dies führte bei der jungen Wienerin zu
vielen Tränen und einer Essstörung, da sie den Erwartungen
auf natürlichem Wege nie gerecht wurde. Konfrontationen
mit ihrer Mutter blieben erfolglos. „Ich will nur das Beste für
dich!“, war eins der stumpfen Argumente. Jelena zieht heute
das Positive daraus: „Dennoch liebe ich meine Mutter. Denn
ohne ihren ständigen Druck würde ich wahrscheinlich noch
mehr wiegen.“
„Wer nicht schlank ist, ist undiszipliniert“
– Dieser Mythos hält sich leider nach wie vor
AUF PERFEKTION GETRIMMT
In Jelenas Familie herrscht schon von Anfang an ein
bestimmter Standard für das äußere Erscheinungsbild. Eine
sportliche und dünne Figur war die Mindestanforderung ihrer
Eltern. Für die 21-jährige Wienerin mit Wurzeln in Serbien
eine unrealistische Vorstellung: „Seit meiner Kindheit
habe ich mit einer Schilddrüsenunterfunktion zu kämpfen.“
Durch ihre Erkrankung fällt ihr das Abnehmen schwerer als
anderen. Ihre Mutter sah das aber nur als schlechte Ausrede.
In den Augen ihrer Mutter würden dicke Menschen es nicht
weit im Leben schaffen, weil sie keiner mag und auch Arbeitgeber
würden sie nicht einstellen wollen, denn ihre Figur
würde zeigen, dass sie nicht diszipliniert wäre. Das wurde
Jelena zumindest von klein auf so beigebracht. Die Wienerin
erzählt davon, wie sie sich immer bemühte, Süßigkeiten wegzulassen
und viel Sport zu treiben, das Abnehmen gelang ihr
allerdings trotzdem nicht. Für sie standen, seitens ihrer Mutter,
Radikaldiäten und abfällige Kommentare zu ihrem Körper
am Tagesplan. Gegessen werden sollte möglichst wenig.
GROSSE OHREN UND BABYSPECK
Auch Geschwister können zu Bodyshamern werden: Davon
kann Ayman ein Lied singen. Er lebte bis vor sieben Jahren
noch in Syrien und erzählt davon, wie seine Eltern immer
hart arbeiten mussten, um Geld nachhause zu bringen
und dementsprechend nicht oft zuhause waren. Ihm und
seinen Geschwistern fehlte die Disziplin und das Moralverständnis,
andere Menschen zu respektieren, auch wenn
sie vielleicht anders aussahen, erzählt Ayman. Seine Eltern
haben ihnen nie beigebracht, sich nicht über andere lustig zu
machen. „Manchmal haben sie was gesagt, aber sie waren,
wie gesagt, beschäftigt.“ Der 27-Jährige erzählt davon,
dass sein Bruder ihn immer wieder wegen seinen Ohren
gehänselt hatte: „Ich hatte halt große Ohren im Vergleich
zu meinem Kopf.“ Sein Bruder dachte sich den Spitznamen
„Segelohr“ aus und rief Ayman nur noch unter dem Namen.
Er hatte ebenfalls nach Dingen gesucht, die er gegen seine
Geschwister verwenden könnte. „Als Rache habe ich ihn
halt für sein Gewicht beleidigt.“ Obwohl er selbst auch mit
dem Mobben begann, war die Zeit dennoch schwer für ihn.
Er weinte viel, erzählt er. Aber trotzdem ist er der Meinung,
dass ihn genau das zu einem starken Mann gemacht hat.
Im Nachhinein sei das gut gewesen, weil er dadurch gelernt
habe, sich nicht von blöden Sprüchen von Fremden runterziehen
zu lassen. Ayman meint auch, dass ihn diese Abhärtung
gut auf Österreich vorbereitet habe. Er erlebte relativ
viel Rassismus hier und hätte dies ohne diese „Vorbereitung“
so nicht ertragen.
„
Aus Rache habe ich
meinen Bruder für sein
Gewicht beleidigt
“
/ RAMBAZAMBA / 31
„
Ich will nicht, dass du deinen
Körper selbst hasst,
wenn du weiter zunimmst.
“
ihr vor, heimlich zu naschen, und gab ihr daraufhin auch
nur sehr kleine Portionen zum Essen, weshalb Paulina ihr
Taschengeld immer in der Schulkantine für Essen ausgeben
musste. Die 26-Jährige erinnert sich an ein einschneidendes
Ereignis, an dem ihre Mutter weinend vor ihr stand und
schluchzte: „Ich will nicht, dass du deinen Körper selbst
hasst, wenn du weiter zunimmst.“ Dass diese Momente
Paulina dazu brachten, an sich selbst zu zweifeln, verstand
ihre Mutter nicht. Paulina musste abnehmen und versuchte,
sich selbst Essstörungen anzutrainieren. Sie erzählt davon,
wie sie versuchte, zu erbrechen, aber sie es nicht schaffte.
Und einfach das Essen komplett wegzulassen, funktionierte
auch nicht. Gehässige Kommentare zu ihrem Körper musste
sie sich bis Anfang zwanzig noch anhören. Ihr Verhältnis
zum Essen ist heute noch eher schwierig. Sie versucht, sich
die Mahlzeit durch viel Sport zu „verdienen“. Ein klärendes
Gespräch mit ihrer Mutter bringt nichts, meint Paulina. „Sie
gibt zu, dass sie für kurze Zeit, als ich 13 war, einen Fehler
gemacht hat und meinen Körper so abfällig bewertet hat.
Alles davor und danach empfindet sie als subjektive Wahrnehmung
meinerseits.“
Wenn die Worte der Eltern zu einem Heulkrampf führen
VOM KALORIENZÄHLEN UND KOTZEN
Doch nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund sind von
Bodyshaming innerhalb der Familie betroffen. Die 26-jährige
Österreicherin Paulina erzählt vom Druck ihrer Mutter, einem
verzerrten Schönheitsideal zu entsprechen. Ihre Mutter
legt einen enormen Wert auf eine schlanke Silhouette und
tat das auch schon von Paulinas Kindesalter an. Paulina
musste nach Sommerurlauben zwei bis drei Wochen auf
Süßes verzichten, um ihre Kilos sowie ihren „Baby-Speck“
loszuwerden. „Das Maß meiner Mutter war immer: Zwischen
Körpergröße und Gewicht dürfen maximal 112 Einheiten
liegen, also wenn man 160 cm groß ist, sollte man maximal
48 Kilogramm wiegen.“ Diesen Maßstab konnte Paulina bis
zum Eintreten ihrer Pubertät auch relativ gut einhalten. Die
Vorgaben von Paulinas Mutter wie auch zum Beispiel der BMI
sind allerdings unglaublich veraltet und können nichts über
die Gesundheit einer Person aussagen. „Schlank bedeutet
nicht gleich gesund, sowie dick nicht automatisch krank“, so
die Expertin Elisabeth Lechner. Und vor allem in der Pubertät
verändert sich der Körper nun mal und bei Paulina ging das
auch sehr schnell, wie sie sich erinnert. Ihre Mutter warf
GEN Z MACHT ES BESSER!
Unsere Eltern sind selbst mit unrealistischen Schönheitsstandards
aufgewachsen und haben vermutlich mit Shaming
zu kämpfen gehabt, ohne zu wissen, was es überhaupt
bedeutet. Sie waren oft damit beschäftigt, sich und uns in
der „neuen“ Heimat ein würdiges Leben aufzubauen. Da war
nicht viel Platz für Themen wie Body Positivity. Wir leben
aber in einer Zeit, in der es immer mehr Bewusstsein für
Bodyshaming gibt, und wir lernen, wie wichtig die Akzeptanz
aller Körper ist. Nun haben wir die Möglichkeit, es anders als
unsere Eltern zu machen und keine Traumata an die nächste
Generation weiterzugeben – jetzt sind wir dran. ●
*Die Namen der Personen wurden von der Redaktion geändert. Die Fotos
wurden nachgestellt
HILFE BEI ESSSTÖRUNGEN – BIST DU ODER
IST JEMAND, DEN ZU KENNST, GEFÄHRDET?
Essstörungshotline: 0800-20 11 20
Sowhat -Kompetenzzentrum für Menschen
mit Essstörungen: +43 1 4065717-0
Rat auf Draht: 147
32 / RAMBAZAMBA /
WARUM WIR
BODY- NEUTRALITY
BRAUCHEN.
Maria Lovrić-Anušić
„Liebe deinen Körper!“ ist der Standard-Spruch der
Body-Positivity Bewegung. Ein netter Ansatz, allerdings
sehr schwer in der Umsetzung, denn dazu gedrängt zu
werden, alles an sich schön zu finden, kann unglaublich
frustrierend sein. Warum muss man alles an sich lieben?
Wäre es nicht besser, wenn jeder selbst entscheiden
könnte, was er oder sie schön findet? Body-Neutrality
setzt genau da an. Es soll egal sein, wie man aussieht
und was man mit seinem Körper macht. Ob man eine
Schönheits-OP will, weil einem etwas nicht passt oder
ob man sich jeden Tag zurecht machen möchte, bleibt
einem selbst überlassen. Die Dinge, die einen glücklich
machen, werden getan ohne dass dies von jemanden
kommentiert wird. Unser Selbstwertgefühl soll unabhängig
von Aussehen aufgebaut werden und wenn wir Body-
Neutrality schaffen könnten, wäre Bodyshaming auch gar
kein Thema mehr. Wir Menschen sind nämlich weitaus
mehr als die Hülle, die uns umgibt.
/ RAMBAZAMBA / 33
34 / RAMBAZAMBA /
„Die Taliban hatten nie einen
Stift in der Hand, sondern
nur Kalaschnikows.“
Als Zehnjährige nahm sie die Identität ihres toten Bruders an, um als Mann verdeckt
für ihre Familie zu sorgen. Frauen durften im islamistischen Regime der Taliban
nämlich nicht arbeiten gehen. Ganze zehn Jahre lebte Nadia Ghulam dieses
Doppelleben unter dem Turban, bis ihr die Flucht nach Spanien gelang.
Interview: Nada El-Azar-Chekh, Fotos: Mafalda Rakoš
BIBER: Die ganze Welt sah im vergangenen
Jahr, wie die Taliban wieder an die
Macht in Afghanistan kamen. War das zu
erwarten?
NADIA GHULAM: Nein, das war ein
großer Schock und ich habe das nicht
kommen gesehen. Als es hieß, dass die
Amerikaner mit den Taliban über den
Frieden weiter verhandeln würden, habe
ich kein Wort davon geglaubt. Die Taliban
wissen nämlich nicht, was Frieden
bedeutet. Mir kamen die Verhandlungen
wie ein Spiel vor, das auf Kosten der
Zivilgesellschaft in Afghanistan geführt
wurde. Die mächtigsten Menschen unseres
Landes befanden sich zu dieser Zeit
längst in Doha oder Dubai und lebten ihr
schönes Leben mit ihren Familien und
Kindern weiter. Aber die Taliban waren
nicht das einzige Problem in Afghanistan,
sondern alle Kriegsführer und die korrupten
Politiker machten allen das Leben
schwer. Vor dem ersten Talibanregime in
den 1990er Jahren tobte in Afghanistan
ein Bürgerkrieg. Die Söldner aus diesem
Bürgerkrieg saßen unter amerikanischer
Besatzung dann auch im afghanischen
Parlament, als ob sie normale Politiker
wären. Und dieselben zeigten auf die
neuen Talibanherrscher und nannten
sie Verbrecher. Alle Kriege entstehen
aus den Entscheidungen mächtiger
Menschen, deren Kinder und Ehefrauen
niemals dasselbe durchmachen müssen,
wie die Zivilbevölkerung.
Woher hast du die Kraft genommen, dich
als deinen toten Bruder auszugeben?
Ich habe diese Entscheidung nicht wirklich
bewusst getroffen, denn ich war ja
erst 10 Jahre alt. Damals wusste ich nur,
dass ich Essen für mich und meine Familie
brauchte. Tagtäglich dachte ich mir,
dass ich morgen einfach wieder Nadia
sein könne – letztlich lebte ich aber 10
Jahre lang als Zelmai, mein toter Bruder.
Ich war ja nur ein Kind, woher hätte ich
das Risiko einschätzen können?
Was bedeutete es damals für dich, ein
Junge zu sein?
Mein Vorbild war natürlich mein Bruder
Zelmai – er war der einzige Junge, mit
dem ich engen Kontakt hatte, und war
fünf Jahre älter als ich. Als ich unter
seinem Namen lebte, dachte ich ständig
darüber nach, wie er sich in bestimmten
Situationen verhalten würde, und habe
das umgesetzt. In Wahrheit hatten wir
aber eine sehr verschiedene Persönlichkeit,
aber die Not hat mich kreativ
gemacht, damit ich und meine Familie
überleben konnten.
Welche Tricks hast du dir angeeignet, um
nicht aufzufliegen?
Ich wurde zu einem Flüchtling in meinem
eigenen Land und zog sehr oft um, damit
niemand Verdacht schöpfte. Lange Zeit
erklärte ich, dass ich einfach jünger als
die anderen wäre und deshalb keinen
Bart bekomme. Auch die Brandnarben,
die ich von dem Bombenangriff davontrug,
dienten dabei als gute Ausrede.
Mein Gesicht und mein ganzer Hals
waren verbrannt. So erklärte ich auch,
warum meine Stimme anders ist. Wie
durch ein Wunder bin ich niemals aufgeflogen,
obwohl ich oftmals dachte: Warum
sieht mich der Mann dort so schief
an, er weiß sicherlich Bescheid.
Wie waren die Taliban eigentlich privat?
Worüber unterhielten sich die Männer
untereinander?
Natürlich drehten sich viele Gespräche
um Frauen. Darüber, wie sie unsere
Schwestern und Mütter beschützen würden,
wie wir eine Ehefrau finden, und wir
sprachen über Frauenkörper. Im Grunde
wurden also sehr „maskuline“ Gespräche
geführt. Natürlich musste ich auch
mitreden. Unter meinem Turban war ich
aber selbst eine Frau und mir waren solche
Gespräche sehr unangenehm. Meine
Strategie war es dann, zu sagen, dass
ich zu religiös bin, um so über Frauen zu
sprechen. Die Taliban sahen mich also
stets sehr fromm, beim Beten und Koran
lesen, und haben mich damit in Ruhe
gelassen.
Wie hast du es mit 20 Jahren – also
nach zehn Jahren unter den Taliban –
aus Afghanistan hinausgeschafft?
Dank einer NGO gelang mir die Flucht
/ RAMBAZAMBA / 35
Seit der Machtübernahme 2021 hat sich
die Situation in Afghanistan besonders
für Frauen verschlechtert. Die neue
Regierung gibt sich dennoch moderat
und verspricht unter anderem, dass
Frauen ein Zugang zur Universität
ermöglicht wird. Kann man dieser neuen
Offenheit Glauben schenken?
Nein. In meiner Heimat gibt es eine
Redewendung: Den wahren Wert eines
Schmuckstücks kennt nur derjenige, der
mit Schmuckstücken arbeitet. Die Taliban
hatten noch nie einen Stift in der Hand,
sondern nur Kalaschnikows, sozusagen.
Den wahren Wert von Bildung kennen sie
also nicht, und sie kümmern sich nicht
darum, wie wertvoll Wissen ist. Genauso
verhält es sich mit der Freiheit. Ich sehe
diese moderate Politik mehr als Farce.
„Die Taliban kennen den Wert von Bildung nicht“.
nach Spanien. Man gewährte mir die
Ausreise mit dem Vorwand, dass ich
medizinische Hilfe benötige. Ich war ja
acht Jahre alt, als die Bombe in unser
Haus einschlug, und ich habe große
Verbrennungen davongetragen. Die verbrannte
Haut wuchs nicht mehr richtig
mit mir mit. Deswegen brauchte ich eine
spezielle Behandlung, die ich in Spanien
bekam. Mein großes Glück war aber
nicht die Ausreise, sondern die Familie,
die mich in Barcelona aufnahm und wie
eine eigene Tochter behandelte. Für sie
zählte nie meine Hautfarbe oder meine
Religion oder meine Muttersprache.
Gab es in Europa einen Kulturschock?
Schließlich durftest du endlich offen als
Frau leben. War das schwer?
In Afghanistan konnte ich nicht als
Frau leben und trug deshalb lange Zeit
einen Turban. In Spanien sagte ich dann
meiner katalanischen Ziehmutter, dass
ich das Kopftuch tragen will, da ich
eine Frau und Muslima bin. Sie gab mir
ihre bunten Schals zu tragen, ohne mir
Druck oder Vorwürfe zu machen. Nach
ein paar Monaten sagte ich ihr, dass ich
nun doch nicht mehr einen Hijab tragen
will, sondern einen Hut. Sie kaufte mir
daraufhin Hüte, und ich trug sie in der
Öffentlichkeit etwa zwei Jahre lang.
Schlussendlich sagte ich ihr, dass ich wie
sie hinausgehen will. Also nahm sie mich
zum Frisör mit und unterstützte auch
diesen Wunsch. Diese Einstellung hat
mir persönlich sehr geholfen, in Europa
anzukommen, und viele Menschen
verstehen es leider bis heute nicht, dass
man nicht gegen die Überzeugungen
von anderen Menschen, die sich hier ein
neues Leben aufbauen wollen, kämpfen
sollte. Freiheit bedeutet nicht, Menschen
Druck zu machen, sich auf Zwang ändern
zu müssen. Alles braucht Zeit, so war es
auch bei mir.
Hast du schlussendlich gut zu deiner
eigenen Weiblichkeit finden können?
Ich mag es immer noch nicht, mich zu
schminken oder Röcke zu tragen. Dagegen
habe ich mich auch immer gewehrt,
seit ich in Barcelona wohne. Manchmal
lasse ich aber meine Freundinnen mir
die Augenbrauen machen oder mich
schminken, einfach, weil sie Freude
damit haben. Persönlich mag ich es
lieber natürlich.
Wie empfindest du, wenn du die aktuellen
Bilder aus der Ukraine siehst?
Alles, was Kriege betrifft, wühlt in mir
sehr viele Gefühle und Traumata auf –
denn ich habe selbst Krieg erlebt. Die
Nachrichten über die Millionen Flüchtlinge
und die zerstörten Häuser in der
Ukraine lösen viel Schmerz in mir aus
und erinnern mich an mein eigenes Leid.
Tatsächlich bin ich wegen der aktuellen
Situation wieder in therapeutischer
Behandlung und viele Menschen, die
Ähnliches wie ich erlebt haben, haben
es ebenso schwer. Wenn ich Feuerwerk
höre, kann ich den Krieg sehen. Das hat
sich nie geändert.
Im Jahr 2010 hast du deine Autobiographie
„Das Geheimnis meines Turbans“
erstmals auf Spanisch veröffentlicht.
Welche Rolle spielte das Buch für die
Bewältigung deiner Vergangenheit?
Meine Geschichte war von Journalisten
aufgegriffen worden, lang bevor ich „Das
Geheimnis meines Turbans“ schrieb. Ich
wollte selber meine Geschichte erzählen
und nicht die Frau sein, „die sich 10
Jahre lang als Junge verkleidete“, so wie
es in vielen Artikeln geschrieben wurde.
Mittlerweile habe ich schon vier Bücher
veröffentlicht und ich erlebe mit jedem
Buch, jedem Talk und jedem Interview
mein Schicksal aufs Neue. Das ist zwar
schmerzhaft, aber wenigstens habe ich
mein Leben selbst in der Hand.
36 / RAMBAZAMBA /
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Nachhaltigkeitstrainerin
Elma Salo
38 / RAMBAZAMBA /
JEDER KANN
GRETA
Nachhaltigkeitstrainerin Elma Salo erklärt ihren Bezug zum
Umweltbewusstsein und gibt einfache Tipps zur Umsetzung eines
klimafreundlichen Lifestyles. „Think globally – act locally“ und
Maßnahmen in der Politik sind der Schlüssel zum Erfolg.
Von Sedir Dabbass, Fotos: Franziska Liehl
Geplant ist ein gemeinsames
Campen direkt am Strand
Süditaliens. Meine Freunde und
ich überlegen lange, aber kommen zu
keinem Entschluss. Die einen wollen die
nachhaltige Route wählen und mit dem
Zug anreisen, während die anderen, ich
inklusive, geneigt sind einfach mit dem
Flugzeug nach Italien zu reisen. Selbst
wenn ich persönlich Zugfahrten á la
Reisejournalistin Monisha Rajesh nicht
abgeneigt bin – der Preis allein macht mir
schon einen Strich durch die Rechnung.
Als Studentin kann ich es mir nicht
leisten, fünf Mal so viel für eine Zugfahrt
auszugeben und dann zusätzlich viel
länger und unangenehmer in den Urlaub
zu starten. Trotzdem ist mir die Umwelt
wichtig.
Elma Salo, Nachhaltigkeitstrainerin
aus Wien, versteht meine emotionale
Zwickmühle. Sie hält Workshops
zu den Themen Konsum, Klima- und
Umweltschutz in ganz Österreich. In der
Klimadebatte geht es nicht darum, die
gesamte Verantwortung auf das Individuum
zu übertragen, denn „allein kann man
die gesamte Menschheit nicht vor den
Folgen des Klimawandels retten“, sagt
die 34-jährige Wienerin. Salos Philosophie
belohnt auch die Bemühungen des
Einzelnen, den Planeten retten zu wollen:
„Jeder kann einen Versuch in Richtung
eines umweltbewussteren Lebens
unternehmen, um große Veränderungen
zu bewirken. So wie Greta Thunberg, die
als Einzelperson Millionen von Menschen
inspirierte, an Klimaprotesten wie „Fridays
For Future“ teilzunehmen und ihren
Ansatz bezüglich der Klimakrise und
Nachhaltigkeit zu überdenken“, so Salo.
Muss ich
auf meinen
Italien-Urlaub
verzichten?
MIT DEN ÖFFIS
ZUM STRAND
Muss ich also auf meinen Italien-Urlaub
verzichten? „Es kommt ganz darauf an“,
meint Salo. „Ich kann jetzt nicht sagen,
dass man nie wieder im Leben irgendwo
hinfliegen soll. Wenn es sein muss und
das Reiseziel weit weg ist, soll man es
ruhig machen. Selbst dann kann man
aber am Urlaubsort die öffentlichen
Verkehrsmittel nutzen, statt mit dem
Taxi zu fahren“. Sie erzählt mir von ihrer
Reise nach Malaysia, auf der sie darauf
bestanden hatte, die öffentliche Bootsverbindung
zu nutzen, die auch der Rest
der Bevölkerung nahm. Die Einheimischen
waren so überrascht, auf eine
Touristin zu stoßen, dass ein Professor
aus Kuala Lumpur sehr verwirrt versuchte,
sie darüber aufzuklären, dass sie das
falsche Reiseangebot nutze. Genauso
auf ihrer letzten Ägyptenreise: Sie reist
vollgepackt mit Strandequipment mittels
Bus ans Meer – auch wenn Leute dann
komisch schauen. Das ist ihr egal. Salo
möchte den Alltag der einheimischen
Bevölkerung mitbekommen, anstatt
abgeschottet in einem Ressort ihren
Urlaub zu verbringen.
Salo selbst ist über ihr Agrarwissenschaften-Studium
an der BOKU erst so
richtig auf das Thema Nachhaltigkeit
gekommen, obwohl es sie schon immer
in einer Form begleitet hat. Es hatte für
sie langsam keinen Sinn mehr ergeben,
dass das ganze Jahr über Gurken oder
Paprika in Supermärkten angeboten
werden, wenn sie in Österreich eigentlich
nicht mehr Saison haben. Und wieso
genau werden Äpfel aus weit entfernten
Ländern wie Argentinien oder Chile
importiert, wenn Österreich selber heimische
Produkte anbieten kann? Ihr erster
Schritt auf ihrer Nachhaltigkeitsreise war
ihren täglich konsumierten Jogurt gegen
Bio – Jogurt einzutauschen. Darauf folgte
dann der Kauf von österreichischen
/ RAMBAZAMBA / 39
Think globally,
act locally!
Elma Salo ist Nachhaltigkeitstrainerin und hält Workshops
zu Themen wie Klima, Konsum und Umweltschutz.
Bio–Eiern. Schritt für Schritt näherte sie
sich der Idee von einem nachhaltigeren
Leben. „Man muss nicht zu 0 % oder 100
% nachhaltig leben. Wir alle befinden
uns in einem Zwischenbereich und versuchen,
so viel zu machen, wie wir können.“
Dieses „Alles–oder–nichts“–Denken
hindert viele Menschen überhaupt daran,
einen Start in ein nachhaltigeres Leben
zu wagen. Dabei kann man immer klein
anfangen. „Als ersten Schritt kann man
Produkte, die man täglich verwendet, mit
Bio–Produkten ersetzen und schauen,
wie einem das gefällt. Ist der Geschmack
besser? Schätze ich meinen Bio-Jogurt
mehr? Tut mir das gut? Dann behält man
dieses Produkt vielleicht bei und erweitert
das Sortiment.“
AUCH DER STAAT
MUSS ZAHLEN
Und trotzdem: Nachhaltiges Leben
kann sehr teuer sein. Nicht jede:r hat
die finanziellen Mittel, um sich Bio–Produkte
zu leisten oder all seine Reisen
auf Zugfahrten zu limitieren. „Es muss
sich grundsätzlich auch etwas auf der
politischen Ebene ändern: Wieso ist eine
Zugfahrt nach Oslo teurer als ein Flug
nach Marokko? Wieso ist es teurer, eine
Bio–Tomate zu kaufen, welche keine
Schadstoffe enthält, gesünder ist und der
Umwelt nicht schadet? Das ist komplett
unlogisch. Hier müssen die richtigen
Gesetze und Förderungen vom Staat
eingeleitet werden, um das nachhaltige
Leben leistbarer zu machen – die Verantwortung
erfolgt nicht nur auf persönlicher
Ebene“.
Statt übermäßig Produkte einzukaufen,
die man bereits in einer ähnlichen
Variation hat, kann man sich dieses Geld
beiseitelegen und damit teurere, nachhaltige
Produkte oder Reisen finanzieren.
Wiederverwendbare Artikel wie Stofftaschen
oder Kaffeebecher sind umweltfreundlich
und nützlich. Wie sie selbst
bemerkt hat, wird das Umfeld auch vom
eigenen Verhalten beeinflusst. „Think
globally – Act locally“, erklärt sie mir. „Ich
habe langsam gesehen, dass die Leute,
mit denen ich Zeit verbringe, nach einer
Zeit auch einen wiederverwendbaren
Kaffeebecher oder einen anderen nachhaltigen
Artikel gekauft haben.“ Somit
hat Salo durch ihre Lebensphilosophie
das Verhalten von anderen Menschen
beeinflusst und in ihrer Umgebung zu
einem nachhaltigeren Verhalten beigetragen,
der dann auch auf einer größeren
Ebene Einfluss hat. Sie veranstaltet auch
regelmäßig Markt–Touren, wo sie Freunde
und Fremde einlädt, sie auf verschiedene
Bauernmärkte in Wien zu begleiten
und sich direkt mit den Produzenten
auszutauschen. „Für mich persönlich ist
es ein Gefühl der Verantwortung, das
Wissen, welches ich habe, an andere
weiterzugeben, um der Klimakrise entgegenzusteuern.“
Dieses Verantwortungsbewusstsein
Salos gibt mir zu denken. Zugreisen
werde ich mir derzeit noch immer nicht
leisten können, aber das öffentliche
Verkehrsnetz in Italien - das kann ich
nutzen. Trotzdem ist das für mich noch
nicht genug. Auch wenn ein großer Teil
der Verantwortung auf große Konzerne
und Industrien abfällt – als Individuum
weiß ich, dass in meinem Leben noch
viel mehr Potenzial besteht, um gegen
die Klimakrise vorzugehen und einen
größeren Beitrag zu leisten. Eines weiß
ich aber sicher: Auf Salos nächster
Markttour bin ich definitiv mit dabei. ●
40 / RAMBAZAMBA /
KOFINANZIERT
VON DER
EUROPÄISCHEN
UNION
MEINUNG
Euphoria hatten
wir auch schon.
LIFE & STYLE
Mache mir die Welt,
wie sie mir gefällt
Von Aleksandra Tulej
Trink-Tipp
WILDE
KROKODILE
UND PALMEN
AUS PLASTIK
NOSTALGIE-SPALTE
LIFESTYLE-
CHANGE
Das war meine letzte Lifestyle-
Kolumne. Vier Jahre lang habe ich
auf dieser Seite über mein Leben,
meine Make-Up-Fails, O. C., California,
meine Tuchmasken-Obsession
und Hyaluron-Produkte, die nicht
funktionieren, geschrieben. Ich
hab’s geliebt. Aber jetzt ist es an der
Zeit, diese unentbehrlichen Weisheiten
zu begraben und Platz für
Neues zu schaffen. Ab der nächsten
Ausgabe erwartet euch hier ein
Tapetenwechsel. Eines kann ich
verraten: Die neue Tapete hat nicht
nur viel bessere Make-Up-Skills, sie
ist jünger und cooler als ich – freut
euch drauf!
Party, Drogen, Intrigen, Liebe,
Glitzer und noch mehr Glitzer:
Die HBO-Serie Euphoria ist so
etwas wie ein psychedelisches
Coming-Of-Age-Drama. Euphoria
lässt Teenie-Drama-Koryphäen
wie Gossip Girl, 92010 und O.C.,
California fad und fahl wirken. Bei
der Zielgruppe kommt es verdammt
gut an. Und dafür hagelt
es Kritik. Die Serie würde Drogenkonsum,
Gewalt und anonymen
Sex verherrlichen und Teenager
würden dieses „Absturz-Image“
feiern. Und ich kann verstehen,
wieso. Das Konzept ist kein
neues. Erinnert ihr euch noch
an die UK-Serie Skins? Oder den
Kult-Film Thirteen? Das war unser
Euphoria. Ich habe damals mit
meinen Freundinnen Latella in
einen Flachmann gefüllt, unseren
Eyeliner verschmiert und heimlich
Ibuprofen-Tabletten unter der
Bank ausgetauscht. Weil wir cool
und mysteriös sein wollten. Jede
Generation braucht sowas. Auch
wenn man sich 15 Jahre später
dafür schämt. Let them have it.
tulej@dasbiber.at
Die beiden Deutschrap-Berühmtheiten
RAF Camora und Bonez MC
haben diesmal keinen neuen Track,
aber dafür eine Limo rausgebracht.
„Wild Crocodile“ gibt es in vier Sorten:
Smooth Berry, Cola, Crazy Lime
und Tropical Orange. Wir durften
uns in der Redaktion durchkosten,
das Fazit war: Die Limos schmecken
irgendwie nach Kindheit und Sommerferien.
Süß, sauer, fresh, die Farben
sind auch bunt durchgemischt.
Es gibt einem jenes Feeling, das man
früher im Freibad hatte. Die beiden
Rapper haben sich übrigens bei der
Konzeption der Getränke von der Insel
Jamaika inspirieren lassen. Schmeckt
aber im Schimmbad in Rudolfsheim-
Fünfhaus genauso gut, finden wir. Die
Palmen können ja aus Plastik sein.
Haut-Tipp
GESICHTSMASKE
FÜR GARGAMEL
Ich bin in letzter Zeit eine Mischung
aus Thaddäus von Spongebob und
Gargamel. Genervt, gestresst und
feindlich eingestellt. Das wirkt sich
natürlich auf meine Haut aus. Entweder
sie ist staubtrocken, oder sie
beschließt über Nacht, in die Pubertät
zu kommen und mir drei Millionen
Pickel zu bescheren. Schnelle
Abhilfe: die Vitamin-C-Shot-Maske
von Garnier. Damit die Haut zumindest
nicht mehr so stresst, um mein
restliches Leben muss ich mich
noch kümmern. 2,20 €
© Zoe Opratko, Chiara Milo / FOLLOW, Garnier
42 / LIFESTYLE /
TECHNIK & MOBIL
Alt+F4 und der Tag gehört dir.
Von Adam Bezeczky
© Marko Mestrovic, unsplash.com/Nuno Marques, unsplash.com/Jakub Kapusnak, NASA
MEINUNG
GRÜNE
REVOLUTION
Es mag zynisch klingen, aber möglicherweise
wird der Ukraine-Konflikt
eine grüne Revolution in Europa
einläuten. Bisher gab es keine wirkliche
Motivation, vom russischen Gas
wegzugehen: Es war billig und die
Versorgungssicherheit war gegeben.
Mit einem Schlag ist es auch der
Politik bewusst geworden, dass wir
hier komplett auf einen Lieferanten
angewiesen sind. Die ‚Grüne Offensive‘
muss nun in Richtung Nachhaltigkeit
und Umweltfreundlichkeit gehen:
Solar-, Wind- und Erdwärme werden
die Abhängigkeit reduzieren. Dank
genialer technischer Lösungen wie
grünen Dächern, kühlenden Fassadenfarben
und leistungsfähigen Solarzellen
werden wir den Umstieg schaffen.
bezeczky@dasbiber.at
Mondrakete
fast startbereit
Am 18. März war es so weit:
Nach zehn Jahren Bau- und
Entwicklungszeit wurde die
Mondrakete SLS 1 im Kennedy
Space-Center getestet.
Die riesige, 111 Meter hohe
Rakete soll im Mai den ersten
Testflug durchführen - dieses
Mal wurden alle Prozesse
durchgespielt und alle Geräte
an Board getestet. Schon bald
also könnte die Menschheit auf
den Mond zurückkehren!
Wer schnell hilft, hilft doppelt
Der Krieg in der Ukraine macht
fassungslos. Mobilfunker Magenta
hat, so wie alle anderen großen
Mobilfunkprovider, Anrufe in und
aus der Ukraine gratis geschaltet.
Aber Magenta geht weiter: Es wurden
5000 SIM-Karten für Geflüchtete
und 100 Mobilfunk-Router für
Fisch ist
gesund
Fisch ist gesund, weil fettarm und
hoffentlich nicht mit Schleppnetzen
gefangen. Aber Fisch kann mehr:
ForscherInnen der Deutschen
Gesellschaft für Gefäßmedizin
haben herausgefunden, dass
speziell aufbereitete Fischhaut die
Wundheilung unterstützen kann
und auch dort heilend unterstützt,
wo bisher die Wundheilung nicht
funktioniert hat. Petri heil!
Unterkünfte bereitgestellt. Damit
können die Menschen zumindest
auf digitalem Wege mit Familie und
Freunden in Kontakt bleiben - und
hoffentlich bald über das Ende des
Krieges Bescheid wissen. Zumindest
ist so den geflüchteten Menschen
eine Sorge abgenommen worden.
/ TECHNIK / 43
KARRIERE & KOHLE
Para gut, alles gut
Von Šemsa Salioski
MEINUNG
Privilegien, Lebensläufe
und „Gutes tun“
Jeder kennt Gap-Year-Leute, die auf Social-
Media präsentieren, wie sie im globalen
Süden Waisenkindern Englisch beibringen,
Häuser bauen oder Ärzt*innen bei Untersuchungen
assistieren. Nach dem Abschluss
wollen sie weit weg #realworldproblems
sehen, (für ein paar Wochen) „Gutes tun“
und polieren dabei den CV auf, denn soziales
Engagement in der Ferne feiert jede HR-
Leitung. Vor allem in sozialen Berufen gelten
Auslandsfreiwilligeneinsätze, so fragwürdig
sie in Reality sind, als Türenöffner. Dass der
Großteil aus privilegierten Verhältnissen mit
Para kommt, weiß intern jeder. Insgesamt
können die Kosten zwischen 1000-3000
Euro für Teilnahmegebühren, Flug, Unterkunft,
Verpflegung und Reiseversicherung
betragen. Erfahrungen wie diese fehlen
Personen aus sozial schwachen Familien auf
dem Lebenslauf. Stipendien bekommt man
nur schwer. Kopf hoch, die Voluntourism-
Industrie ist eh scheiße. Zahlreiche Programme
nehmen locals Arbeitsplätze weg.
Zudem werden Hilfsprojekte vermehrt in
Regionen verlagert, die beliebt bei „Westerners“
sind. Im Grunde werden die Bedürfnisse
der Freiwilligen gedeckt, nicht die der
Communities, die nachhaltige Unterstützung
von Expert*innenteams brauchen, aber
unqualifizierte Teenager bekommen. Das
alles sollte die applaudierende HR-Abteilung
bei kommenden Einladungen zu Bewerbungsgesprächen
vielleicht miteinbeziehen.
salioski@dasbiber.at
Tipp
SINNVOLLES
VOLUNTEERING
IN ÖSTERREICH
„Nightingale“: Schüler*innen-Mentoring
Volksschüler*innen mit Migrationshintergrund
aus Wien, Graz, Salzburg und
Linz treffen sich einmal in der Woche
mit Studierenden. Es geht darum,
dass die Mentor*innen die Kinder mit
österreichischen Kultur- und Bildungsinstitutionen
vertraut machen und einen
Beitrag zur Inklusion leisten. Gern gesehene
Ausflugsziele sind Universitäten,
Museen, Kindertheater oder Tiergärten.
Mehr Infos unter:
https://bib.phwien.ac.at/projekt/nightingale-inklusiv/
Andere Optionen in Österreich unter:
https://www.socialheld.at/
Was ist die Grundidee
von EU FOR YOU?
Jungen Menschen
zeigen, was die EU für
uns macht und machen
kann. Außerdem soll
klar sein, wie wir uns
alle beteiligen können,
um sie positiv zu verändern
und Mitmenschen
in Notsituationen zu
unterstützen. Mehr Leute
sollen wissen, dass
die EU kein unsichtbarer
Betonklotz ist, sondern
aus Menschen besteht,
die wir erreichen können.
Was unterscheidet „EU
FOR YOU“ von anderen
Non-Profit-Nachrichtenplattformen?
Plump gesagt: Wenn die
Leute mit mir schreiben,
3
FRAGEN AN:
MARCOS
MOSCHOVIDIS
von „EU FOR YOU“
FOMO
(„FEAR OF MISSING OUT“)
WAR GESTERN!
Endlich ist es wieder soweit!
Die Tage werden länger, die
Natur blüht auf und immer mehr
Menschen tauchen im Wald auf,
denn die Wildkräuter sind wieder
da! Bärlauch, Knoblauchrauke,
Brunnenkresse und Co. dürfen
im Frühling in der Küche nicht
fehlen. Du willst auch Kräuter
brocken und DIY Pesto & Co.
zubereiten, weißt aber nicht wie?
Bei den Kräuterkursen der Wiener
Volkshochschulen lernst du, wie
du die richtigen Kräuter findest,
was du damit kochen kannst und
wie du damit auch Naturkosmetik
herstellst. Sounds good, oder?
Alle Infos findest du auf
www.vhs.at/kraeuterwanderung
dann schreiben sie mit
einem Typen, der in
Nike-Jogginghose und
AirMax durch die Stadt
läuft. Das ist in der Politikwelt
eher unüblich.
Ansonsten: Die leicht
verständliche Sprache,
die Möglichkeit bei Interviews
mit hochrangigen
Politiker*innen Fragen
zu stellen und die easy
Erreichbarkeit.
Welche Ereignisse
motivieren euch weiterhin
dazu in eurer Freizeit am
Projekt zu arbeiten?
Alles, was Menschenrechte/Demokratie
einschränkt, zeigt, wie
notwendig Aufklärungsprojekte
sind und
bleiben.
© Zoe Opratko, Michalis Mandalenakis
44 / KARRIERE /
LEHRE NACH DER MATURA!
„Ich zeig, was ich kann.
Als Lehrling bei SPAR!“
Mehr Geld*:
• AttraktivesEinstiegsgehalt von 1.740 Euro (brutto)..
• Monatliche Lehrlingsprämien bis zu 140 Euro.
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Ausbildungsschwerpunkte Kommunikation und Persönlichkeitsentwicklung
am Stundenplan. Den Markt lernen die
Führungskräfte von morgen von Grund auf kennen.
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inkl. Sprachkurs.
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nach New York im Wert von 2.500 Euro.
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der SPARianer empfehlen
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ÖSTERREICH DRIN.
Bewerbungen unter: www.spar.at/lehre
MEINUNG
Alter Schaumwein in
neuen Schläuchen
Die westukrainische Stadt Lviv hat in meinem
Herzen einen ganz besonderen Platz.
Dort verbrachte ich einige Wochen um den
Jahreswechsel 2015/16, den ich mit literweise
„Sovetskoje Schampanskoje“ (auch
bekannt als Krimsekt) feierte, dessen Restbestände
damals im Supermarkt zu einem
Spottpreis verkauft wurden. Der Grund: Die
Bezeichnung „Sowjetischer Champagner“
ist unter Präsident Poroschenko im Januar
2016 im Zuge eines Gesetzes zur Dekommunisierung
– gemeinsam mit anderen
kommunistischen und auch nazistischen
Symbolen – verboten worden. Damit gingen
etliche Umbenennungen von Straßen,
Gebäuden und Plätzen, das Verbot der KP,
und eine Bandbreite an gestürzten Denkmälern
von Lenin und Co einher. Das Verbot
kam aber auch den Franzosen gerade
recht, die so lange gegen die Bezeichnung
„Champagner“ gekämpft hatten, da es sich
beim Krimsekt ja nicht explizit um renommierten
Schaumwein aus der Champagne
handelte. Zu Sowjetzeiten wurde nämlich
jeder Schaumwein als „Schampanskoje“
bezeichnet, was bis heute nicht unüblich
ist. Für den unschlagbaren Preis von
umgerechnet 1 Euro konnte man sich eine
Flasche „sowjetischen Golds“ mit nachhause
nehmen und die Vergangenheit die Kehle
hinunterspülen. Zu Ach, wenn alles bloß so
einfach wäre.
el-azar-chekh@dasbiber.at
KULTURA NEWS
Klappe zu und Vorhang auf!
Von Nada El-Azar-Chekh
Festivaltipp
JÜDISCHES
FILMFESTIVAL
Unter dem Motto „We Are Family“ beleuchtet
das Jüdische Filmfestival die Familiendynamiken,
die von Filmemacher:innen gerne mit
Selbstironie und Witz angegangen werden.
Aufgrund des aktuellen
Ukrainekriegs wird
auch ein Schwerpunkt
zum Thema „Kinder
auf der Flucht“
im Programm sein.
Umfassen wird das
Programm rund 35
Langfilme und um die
10 Kurzfilme. Dazu
sind Filmgespräche
und das Symposium mit 14 Filmen und 4 Vorträgen
geplant.
Von 24. April bis 8. Mai 2022 in ausgewählten
Kinos.
Mehr Informationen unter: www.jfw.at
Ausstellungstipp
Chernobyl
Safari
Die russische Künstlerin Anna Jermolaewa
stellt im Rahmen der FOTO WIEN ihre
Serie „Chernobyl Safari“ im Wiener Museum
für Angewandte Kunst (MAK) vor. Seit der
Reaktorkatastrophe vom April 1986 ist die
Sperrzone rund um das AKW Tschernobyl für
Menschen unbewohnbar.
Jermolaewa
dokumentierte,
wie sich die Tierwelt
diesen Raum zurückerobert
hat. Erstmals
wurde das Projekt
auf der Biennale in
Kiew 2015 gezeigt.
Bis 5. Juni 2022 im
MAK Wien zu sehen.
Buch-Tipp:
FREI
Erwachsen
werden am Ende
der Geschichte
Albanien, Ende der 80er
Jahre. Die Sozialistische
Volksrepublik steht kurz vor
ihrem Zusammenbruch.
Autorin und Professorin Lea
Ypi (*1979) beschreibt in
ihren Memoiren liebevoll, wie
es ist, am letzten Außenposten
des Stalinismus aufzuwachsen
und als Zehnjährige
mitzuerleben, wie aus dem
kommunistischen Albanien
allmählich ein liberaler Staat
wurde.
Erschienen bei Suhrkamp,
332 Seiten, 28,-€
© Christoph Liebentritt, Anna Jermolaewa/Bildrecht, Suhrkamp, Jüdisches Filmfestival Wien, Anastasiya Mantach
46 / KULTURA /
3 FRAGEN AN…
OLEKSIY RADYNSKI
Oleksyi Radynski (*1984)
ist einer der vielen
teilnehmenden KünstlerInnen
am Solidaritätsprojekt
„Artists for
Ukraine“, das zur Zeit im
MuseumsQuartier Wien
gezeigt wird.
BIBER: Wirst du als Halb-Ukrainer und Halb-Russe oft nach
deiner persönlichen Einstellung zum Krieg gefragt?
OLEKSYI RADYNSKI: Es macht keinen Sinn, diesen Krieg in
ethnischen Kategorien zu denken. Das ist kein Krieg zwischen
dem russischen und dem ukrainischen Volk – sondern
ein Krieg zwischen Neofaschismus und Antifaschismus.
Russischsprachige, die in der Ukraine leben, gehören derzeit
zu denen, die am meisten unter dem Krieg leiden, da Putin
beschloss, sie zu „befreien“, indem er russischsprachige
Städte in der Ostukraine dem Erdboden gleichmachte. Ein
großer Teil der Russen und Russischsprachigen ist vor langer
Zeit Teil der ukrainischen politischen Nation geworden.
Dieser Prozess hat sich seit 2014 wirklich beschleunigt, als
Putin beschloss, einen Aufstand unter Russischsprachigen in
der Ostukraine zu starten – nur um herauszufinden, dass die
meisten von ihnen sich der Russischen Föderation entgegenstellen,
bis zur Bereitschaft, die Waffen gegen diesen neofaschistischen
Staat in die Hand zu nehmen. Ich denke, dass
das Stellen von Fragen auf der Grundlage der ethnischen
Zugehörigkeit in diesem Zusammenhang völlig irrelevant ist
und ein schlechtes Wissen über die Situation aufdeckt.
Immer mehr Institutionen beenden ihre Zusammenarbeit mit
russischen KünstlerInnen, und Forderungen nach einem
Totalboykott werden immer lauter, unabhängig von der
persönlichen Agenda der Betroffenen. Ist das gerechtfertigt?
Ich denke, dass diese schlecht durchdachten Manöver nicht
das eigentliche Problem lösen. Das eigentliche Problem, das
ich jetzt sehe, ist, dass immer mehr akademische und künstlerische
Institutionen tatsächlich offene Aufrufe für Künstler
und Akademiker veröffentlichen, die durch den Krieg „sowohl
in der Ukraine, als auch in Russland“ vertrieben wurden.
Ich finde das nicht nur extrem zynisch – es ist eine Sache,
vor den Bomben zu fliehen, und eine andere, das Land aus
politischen Gründen freiwillig zu verlassen – sondern es
reproduziert auch die kolonialen Ungleichheiten, unter denen
die Ukrainer sehr lange gelitten haben. Russische Künstler
und Akademiker konnten von starken Institutionen in ihrem
Land profitieren, die von Öl- und Gasgeldern angetrieben
wurden, und haben dadurch großes symbolisches Kapital
und internationale Sichtbarkeit angehäuft. Zur gleichen Zeit
lebten ukrainische Künstler und Akademiker in einem verarmten
Land ohne wirkliche Institutionen, sie mussten ihren
Überlebensjobs nachgehen, anstatt ihrer Karriere nachzugehen,
und sind daher gegenüber den Russen völlig benachteiligt.
Ukrainer und Russen in Konkurrenz, um eine begrenzte
Anzahl von Positionen zu stellen, ist ein Fall von unglaublicher
westlicher Ignoranz.
Du bist nicht nur Filmemacher, sondern auch Journalist. Was
sind deine Gedanken zum Informationskrieg, der zeitgleich
tobt?
Der Informationskrieg endete am 24. Februar 2022 mit dem
Beginn des echten Krieges. Die veralteten Konzepte aus der
Vorkriegszeit, wie „es gibt viel Propaganda auf beiden Seiten“
sind jetzt mitschuldig an der Tötung von Zivilisten durch
das russische Militär. Eine Sache, die man mit Sicherheit wissen
kann, ist, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist,
und es ist klar, dass es dies sowieso getan hätte, unabhängig
davon, was es in Wirklichkeit mit der NATO-Osterweiterung,
den „Laboren für biologische Kriegsführung“ und anderem
Bullshit aus dem Arsenal des Informationskriegs auf sich hat.
WIDERSTÄNDIGE
MUSEN
DELPHINE SEYRIG
UND DIE FEMINISTISCHEN
VIDEOKOLLEKTIVE IM
FRANKREICH DER 1970ER-
UND 1980ER-JAHRE
7/4—4/9 2022
Micha Dell-Prane, Delphine Seyrig und Ioana Wieder
halten eine Kamera während einer Demonstration, 1976 •
Courtesy Centre Audiovisuel Simone de Beauvoir
„Schlagermusik prägte
meine gesamte Jugendzeit.“
Bei der Castingshow Starmania singen
sich in diesem Jahr 28 junge Talente aus
ganz Österreich ins heiß begehrte Finale.
Einer von ihnen ist der 23-jährige Marco
Spiegl aus Tirol. Über seine Leidenschaft
für Schlager und seine Vorbilder.
Von Nada El-Azar-Chekh
BIBER: Was gefällt dir so sehr an Schlagermusik?
MARCO SPIEGL: Mit Schlagermusik bin ich aufgewachsen. Ich
habe schon mit vier Jahren Ziehharmonika spielen gelernt und
so war der Bezug zur Volks- und Schlagermusik immer da. Dieser
prägte auch meine gesamte Jugendzeit. Natürlich hatte ich
als „Teenager“ mal Zeiten, wo die Volks-/Schlagermusik nicht
mehr so „cool“ war, aber das ging dann relativ schnell wieder
vorbei, als ich merkte, dass ich mit meiner Harmonika während
meiner Zeit in der Hauptschule schon Erfolg hatte.
Wer sind deine großen musikalischen Vorbilder und mit wem
würdest du gerne gemeinsam auf der Bühne stehen?
Ich bin ein riesengroßer Fan von Elvis Presley. Ich höre auch
sehr gerne Vicky Leandros. Was mich sehr freut, ist die Einladung
von Starmania Gast-Jurorin Melissa Naschenweng, mit
der ich im Juli im Vorprogramm beim Bergbauern-Open-Air auf
der Bühne stehen darf. Ansonsten bin ich offen für jede Art von
Musik.
Du wolltest schon als Kind bei Starmania mitmachen. Wie
haben deine Familie und Freunde auf deine Teilnahme
reagiert?
Zuerst waren viele eher skeptisch, da ich mit Schlager bei
Starmania auftreten wollte. Aber als ich dann mit „Tür an Tür
mit Alice“ das erste Mal auf der großen Starmania-Bühne
gestanden bin, staunten einige. Trotz allem haben mich meine
Freunde und vor allem meine Familie von Anfang an bei meinem
Vorhaben unterstützt.
Wolltest du schon immer Schlagersänger werden? Hast du
einen Plan B?
Ich habe zuerst eine Ausbildung zum Elektriker gemacht und
diese auch abgeschlossen. Seit 2017 betreiben wir bei uns in
Tirol Appartements, die ich auch betreue. Aber ich habe mittlerweile
das Glück, dass ich von meiner größten Leidenschaft,
der Musik, schon relativ gut leben kann.
Welche Tricks hast du gegen Lampenfieber? Was geht dir auf
der Bühne durch den Kopf?
Ich glaube, eine gewisse Grundnervosität ist immer da und
da gibt es kein Mittel dagegen. Aber sobald ich auf der Bühne
stehe und die Musik losgeht, bin ich in einer anderen Welt und
der Kopf wird frei.
© ORF/Hans Leitner
48 / KULTURA /
BEZAHLTE ANZEIGE
EIN NEUER
BLICK AUF DAS
NOMADISCHE
EUROPA
Die Schallaburg lädt mit
der Ausstellung „Reiternomaden
in Europa –
Hunnen, Awaren, Bulgaren,
Ungarn“ Besucher -
Innen dazu ein, die Kultur
der Reiternomaden kennenzulernen,
die im Frühmittelalter
über das
Gebiet des heutigen
Niederösterreichs zogen.
Die Reiternomaden waren durchaus mehr, als nur zerstörerische
Krieger und Eroberer. Mit der umfangreichen Schau werden neue
Blickwinkel auf die fortschrittlichen Technologien, die Mode, und ihr an
die Natur angepasstes Leben eröffnet. Auch wird der Frage nachgegangen,
warum sich die Völker aus dem Karpatenbecken und dem
unteren Donauraum auf eine Reise in den Westen begaben, nachgegangen.
„Ist es nicht faszinierend, wie Geschichte und Archäologie
mit modernsten Methoden die Vergangenheit erforschen? Wo heute
Niederösterreich ist, begegneten sich seit über 2000 Jahren völlig
verschiedene Gesellschaften und Kulturen. Die Reitervölker aus dem
Osten lebten nach völlig anderen Regeln und Werten. Aber sie passten
sich in vielerlei Hinsicht den Nachbarn an“, erklärt Kurator Falko Daim.
Der Vergleich zwischen den Völkern, die unterschiedlicher nicht sein
konnten, bricht mit den bisherigen Stereotypen über die „wilden Horden“
und gibt spannende Einblicke in ihre Hierarchien.
© Klaus Pichler
Anlässlich zum 100. Jubiläum des Landes Niederösterreich
wird die Ausstellung „Reiternomaden in Europa“ noch bis zum
9. November 2022 gezeigt.
Alle Infos gibt’s auf www.schallaburg.at
EINE INFORMATION DES LANDES NIEDERÖSTERREICH
KAMPF
GEGEN
ROLLEN
BILDER
Im irakischen Diwaniyya gibt es seit sechs
Jahren ein Kabaddi-Frauen-Team. Trotz
sportlicher Erfolge ist die gesellschaftliche
Akzeptanz gering: Viele Frauen hören mit
dem Sport auf, sobald sie heiraten, oder ihre
Familie stellt sich dagegen. Aber: Ein Wandel
ist in Sicht. Eine Vor-Ort-Reportage.
Von Markus Schauta, Fotos: Markus Korenjak
In einer Sporthalle in Diwaniyya
steht die 17-jährige Fatima auf
einem mit Matten ausgelegten
Feld ihren Gegnerinnen gegenüber.
Die jungen Frauen bilden
einen losen Halbkreis, der sich langsam
um Fatima zu schließen beginnt. Dann
geht es rasch. Fatima schnellt nach
vorne und schlägt mit ihrer Hand einer
der Gegnerinnen auf den Oberschenkel,
bevor sie zurück in die andere Hälfte des
Spielfeldes läuft. Wäre das ein Wettbewerb,
hätte Fatimas Team jetzt einen
Punkt gemacht.
Dass Fatima in dieser Halle Kabaddi
trainiert, ist alles andere als selbstverständlich.
Als sie mit dem aus Indien
stammenden Kontaktsport begann,
musste sie sich einiges anhören. Sport
sei nichts für eine junge Frau, sie würde
dem Ruf der Familie schaden und solle
besser zuhause bleiben. Doch Fatima
blieb nicht zuhause. Seit einem Jahr
kommt sie mehrmals die Woche in die
Sporthalle, um unter der Leitung von
Coach Alaa Hussein Angriffsbewegungen
und Verteidigungsstrategien zu trainieren.
50 / RAMBAZAMBA /
Ibrars Angriff schlug fehl,
ihre Gegnerinnen konnten sie
zu Boden ringen.
/ RAMBAZAMBA / 51
Viermal die Woche trainieren die jungen Frauen Kabaddi
Coach Alaa Hussein trainiert seit sechs
Jahren das Kabaddi-Team
Diwaniyya liegt zwei Autostunden
südlich von Baghdad im grünen Fruchtland
zwischen Euphrat und Tigris. Aus
Sicht der Hauptstadt gilt Diwaniyya
als konservativ. In Städten wie dieser
wachsen Mädchen mit der Erwartung
auf, dass sie im Alter von 16 oder 17
heiraten werden, sagt die irakische Autorin
und Frauenrechtsaktivistin Houzan
Mahmoud. Dieses Frauenbild werde von
einer Vielzahl an Institutionen reproduziert.
Angefangen bei der Familie über
die Schule bis zur Moschee. Ihre Tochter
zu verheiraten, ist daher für viele Eltern
vorrangig. Aber auch die jungen Frauen
selbst sehen darin den für sie vorgezeichneten
Lebensweg, der wichtiger
„
Bei Auslandsturnieren
fehlen immer
wieder wichtige
Spielerinnen.
“
erscheint als der Schulabschluss oder
eine Berufsausbildung. Für Sport ist auf
diesem Lebensweg wenig Platz. „Viele
Männer wollen keine Frau heiraten, die
Sport betreibt und dadurch bei Trainings
oder Wettbewerben in der Öffentlichkeit
auftritt“, so Mahmoud. Sportlerinnen
riskieren dadurch jene Zukunft, die die
Gesellschaft für sie vorsieht: Ehemann,
Kinder und Familie.
Mit der Schwierigkeit junge Frauen
für das Team zu gewinnen, kämpft
Coach Alaa Hussein seit der Gründung
des Kabaddi-Clubs vor sechs Jahren.
Zurzeit trainiert er 25 Mädchen, die
Jüngste im Team ist 14, die Älteste 26.
Viermal die Woche treffen sie sich zum
Training. „Sofern es sich mit Schule und
Universität vereinbaren lässt“, so der
Coach.
Auf die Leistungen seines Teams
ist Hussein stolz. Bei einem Wettkampf
zwischen sieben irakischen Clubs im
Juni 2021 gewann sein Team den ersten
Platz. Und auch im Ausland konnten sich
die jungen Irakerinnen schon behaupten:
Bei einem Wettkampf in Beirut erreichten
sie Platz zwei.
„Trotz allem erfahren die Leistungen
der Mädchen kaum Anerkennung“, sagt
der Coach. Die Reise in den Libanon sei
52 / RAMBAZAMBA /
nur möglich gewesen, weil eine irakische
Bank als Sponsor auftrat. Von staatlicher
Seite gab es keine Unterstützung.
Andere Wettbewerbe wie die Meisterschaft
2017 in Japan mussten wegen
mangelnder finanzieller Mittel abgesagt
werden. „Wir haben Erfahrung und gute
Sportlerinnen, aber wir brauchen Geld,
um voranzukommen“, sagt Hussein.
Aber nicht nur am Finanziellen, auch
an der gesellschaftlichen Akzeptanz
mangle es. Die meisten jungen Frauen
würden das Training abbrechen, sobald
sie heiraten, weil ihre Ehemänner den
Sport nicht akzeptieren. Eltern wiederum
wollen oft nicht, dass ihre Töchter zu
Wettkämpfen fahren. „Daher fehlen bei
Auslandsturnieren immer wieder wichtige
Spielerinnen“, so der Coach.
Auch bei Ibrar dauerte es eine Weile,
bis ihre Eltern sich an die neue Rolle der
20-Jährigen als Sportlerin gewöhnten.
Über eine Freundin habe sie vom Kabaddi-Team
gehört und war sofort begeistert.
Doch ihre Eltern waren zunächst
strikt dagegen. Erst nach einem Besuch
in der Sporthalle, wo sie sahen, wer hier
trainiert und dass der Coach keine männlichen
Zuseher während des Trainings
zulässt, willigten sie ein. Schulkolleginnen
von ihr konnten sich nicht durch-
Bei Kabaddi stehen
sich zwei Teams von
je sieben Spielern
auf einem 12,5 x 8
Meter großen Spielfeld
gegenüber. Das Spiel
ist in zwei Halbzeiten
von je zwanzig Minuten
unterteilt. Während
dieser Zeit schicken die
Teams abwechselnd
sogenannte „Angreifer“
los. Diese versuchen,
innerhalb von 30
Sekunden so viele
gegnerische Spieler
wie möglich mit Hand
oder Fuß zu berühren,
ohne dabei selbst von
den Gegnern zu Boden
gerungen zu werden.
Dass Fatima Sport betreibt, ist im konservativen Diwaniyya nicht selbstverständlich.
setzen. Da gebe es vieles, das die Eltern
störe, so Ibrar. Etwa, dass der Coach ein
Mann ist und die Mädchen beim Training
enge Hosen tragen. „Unsere Gesellschaft
ist für Mädchen nicht offen“, sagt sie.
Alleine auszugehen oder über Nacht
bei einer Freundin zu bleiben, sei für sie
undenkbar. Ob sie einen Freund habe?
Sie lacht verlegen und schüttelt den
Kopf. Mit dem Verlieben sei das nicht so
einfach, Beziehungen oder Heirat wären
ohne die Zustimmung der Eltern nicht
möglich.
men auf die Straße ging: „Die Jungen
haben eine Dynamik angestoßen, die
langfristig Änderungen herbeiführen
wird.“ Dazu gehört auch, dass Frauen
sich den öffentlichen Raum zurückerobern.
Auch Fatima und Ibrar haben nicht
vor, Kabaddi aufzugeben. Im Gegenteil,
sie hoffen auf Sponsoren und darauf,
sich international behaupten zu können.
Und auch was die Leute hinter ihrem
Rücken reden, bereitet ihnen kein Kopfzerbrechen
mehr. Ibrar: „Ich kümmere
mich nicht mehr darum.“ ●
GESELLSCHAFT IM FLUSS
Doch auch die Gesellschaft Iraks verändert
sich, so die Aktivistin Mahmoud.
Nach dem Sturz des Regimes 2003
und dem darauf folgenden Erstarken
islamistischer Gruppen, wurde die Rolle
der Frau immer mehr eingeschränkt.
Inzwischen sei jedoch eine neue Generation
mit Satelliten-TV, Internet und
Sozialen Medien herangewachsen. Die
Jungen hätten gesehen, was Islamisten
und Nationalisten anrichten und wie
korrupt große Teile der Eliten sind. „Das
bestärkte sie darin, es anders machen
zu wollen“, so die Aktivistin. Ein Ergebnis
dessen sei die Protestbewegung, die ab
Oktober 2019 für fundamentale Refor-
Fatima, Ibrar und ihre Kolleginnen vor der Sporthalle in Diwaniyya.
/ RAMBAZAMBA / 53
KOLUMNE
DER KRIEG IST DAS SYMPTOM,
DIE KRANKHEIT IST DAS PATRIARCHAT
Ich will diesen Albtraum nicht akzeptieren.
Ich habe am Anfang des Krieges vehement
versucht, die Nachrichten über die Eskalationen
in der Ukraine zu ignorieren. Jede:r
weiß, dass das, was du ignorieren willst, erst
recht dein Denken und Fühlen bestimmt.
Und ich wollte nichts von Krieg hören. Nicht
schon wieder. Ich kann mich nicht damit
befassen, ohne dass durch die Bilder vom
Krieg das Chaos und der Schmerz in mir über
den damals in Syrien erlebten Krieg ausgelöst
werden. Die Geschehnisse sind retraumatisierend
und triggernd.
Also habe ich nach Ausbruch des Krieges
in der Ukraine mein Handy ausgeschaltet
und bin auf einen Berg gegangen. In schwierigen Zeiten
suche ich immer Unterschlupf in der Natur. Aber diesmal
wirkten die Ruhe und der Frieden in der Natur auf
mich sehr schmerzhaft. Weil diese Schönheit neben dem
Wahnsinn der Menschen sehr fragil schienen. Als der
Krieg in Syrien begann, wollte ihn niemand wahrhaben.
Wir dachten, es sei einfach vorübergehende Unruhe.
Kein Mensch, auch nicht diejenigen, die am meisten pessimistisch
waren, konnte sich das verheerende Ausmaß,
das der Krieg annahm, vorstellen. Die Zündschnur der
Gewalt brannte unbegreiflich schnell ab. Jetzt scheint
der Krieg so absurd normal, dass Kinder meines Bruders
sich gegenseitig auslachten für ihr Zähneklappern, als in
der Nähe heftig bombardiert worden war, oder über ihre
Bettnässe, als eine Rakete im nächsten Wohnblock landete.
Und das ist das Schlimmste am Krieg: Er entleert
uns unserer Menschlichkeit.
WIR BRAUCHEN MEHR FRAUEN IN DER POLITIK
Ich konnte meine emotionale Distanzierung von diesem
aggressiven Angriff Putins auf die Ukraine nicht aufrechterhalten.
Denn spätestens als Menschen sich auf die
Flucht begaben, ergriffen mich diese Geschehnisse mit
voller Macht. Ich kann ihre Angst, ihre Verstörung und
ihr Entsetzen in meinem Körper nachempfinden. Dazu
turjman@dasbiber.at
Jad Turjman
ist Comedian, Buch-Autor
und Flüchtling aus Syrien.
In seiner Kolumne schreibt
er über sein Leben in
Österreich.
gezwungen zu werden, die eigene Heimat
so panisch und planlos verlassen zu müssen,
ist eine hoch traumatische Erfahrung,
die sich in dem Gedächtnis dieses Volkes
tief einbrennt. Diesen Menschen zu helfen,
sollte unsere erstrangige Priorität sein.
Natürlich macht mich die Doppelmoral in
Europa fassungslos, dass der Grad der
Solidarität nach der Entfernung des Geschehens
und dem Aussehen der Menschen in
Not bemessen wird. Nur deshalb auf Kriege
emotional zu reagieren, weil sie sehr nahe
bei uns sind, ist nicht sehr humanistisch,
sondern selbstbezogen. Eine aufrichtige
Solidarität gilt jedem Menschen, unabhängig
von der Entfernung der Misere und seiner ethischen
Zugehörigkeit. Wir hatten genug Kriege und Menschenrechtsverletzungen
in den letzten Jahren, für die keine
ZIB-Spezial gemacht wurde. Ebenfalls macht mich die
Doppelmoral Polens und Ungarns fassungslos, die Grenze
für ukrainische Flüchtende zu öffnen und sie mit weit
ausgestreckten Armen zu empfangen. Wobei sie vor ein
paar Monaten syrische und afghanische Geflüchtete mit
Tränengasbomben begrüßten und einige an der Grenze
erfrieren ließen. Diese Schande wird die Geschichte
Europas lange belasten. Ich bin jedenfalls sehr glücklich
und enthusiastisch, dass sie nun für diese Menschen das
tun, was für Menschen in Not getan werden muss.
Dieser Krieg und die imperialistischen Interessen Putins
sind bloß Symptome. Die Krankheit ist das Patriarchat.
Die Krankheit sind Männer, die nie gelernt haben, ihren
Schmerz zu spüren, zu zeigen und zu benennen. Die
Krankheit sind Männer, die ihren Schmerz und ihre Verletzlichkeit
in Härte und Empathielosigkeit verwandeln.
Die Krankheit sind Männer, die Feinde und Kriege brauchen,
um sich von ihrem inneren Terror und Schmerz
abzulenken. Wir brauchen unbedingt neue und heilende
Männlichkeitsbilder. Wir brauchen viel mehr Frauen in
der Politik. Dieser Krieg ist ein weiteres Alarmzeichen,
dass wir die Politik menschlicher machen müssen. Weltweit.
Robert Herbe
54 / MIT SCHARF /
Alles finster
Was geht, wenn nichts mehr geht?
Die neue österreichische Event-Serie
Ab Montag 25. April 20:15
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