26.04.2022 Aufrufe

BIBER 04_22 Ansicht (1)

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

politischen Bildung. „Die Menschen haben niemals gelernt,

sich kritisch mit Politik auseinanderzusetzen. So etwas wird

weder an den Schulen in Russland unterrichtet, noch an den

Universitäten zugelassen. Auch meine Eltern wissen überhaupt

nicht, wie man Fake-News erkennt oder Quellen richtig

checkt. Sie verstehen nicht, dass eine Regierung eigentlich

die Interessen des Volkes vertreten sollte und nicht umgekehrt.“

Die grundlegenden Ideen einer Demokratie konnten

sich historisch in Russland kaum entfalten – nicht im Zarenreich,

nicht in der Sowjetunion und auch nicht nach deren

Zerfall. Es herrscht eine Art Scheindemokratie, in der die

Bevölkerung nicht souverän entscheiden kann, selbst wenn

sie es wollte.

Mit diesem schwierigen Muster könnte aber nun die junge

Gesellschaft in Russland brechen. „Die meisten, vor allem

junge Menschen, sind aufgeklärt, informieren sich über das

Internet und haben eine Ahnung, was in der Ukraine tatsächlich

los ist. Sie wissen also, dass das Ganze

mehr ist als eine auf den Donbas begrenzte

‚Friedensmission‘, wie das in der Staatspropaganda

dargestellt wird“, erklärt Paul

Krisai. Seit Oktober 2021 leitet der gebürtige

Mödlinger das ORF-Büro in Moskau.

„Es gibt allerdings auch genug Menschen,

die durchaus von der ‚Spezialoperation‘

überzeugt sind und denken, dass Russland

hier als Friedenstifter agiert und vor allem

Die Ukraine wird nicht

als eigenständiger

Staat mit eigener

Sprache und Kultur

gesehen.

14 / POLITIKA /

der Westen an diesem Krieg schuld ist.“ Die Stimmung in

Russland lässt sich schwer zusammenfassen, da sich viele

Menschen nicht trauen würden, ihre echte Meinung zu

sagen. „Immer mehr Leute kapseln sich von der Politik ab

und können nicht wahrhaben, dass ihr Land so großflächig

gegen das Nachbarland kämpft und können schwer akzeptieren,

dass Russland diese Geschehnisse auch begonnen

hat. In der heimischen Propaganda wird das militärische

Einschreiten in die Ukraine als Sicherheitsmaßnahme vermittelt“,

so der Korrespondent. Auch er kennt in seinem

Umfeld viele Menschen, die Russland aufgrund des Krieges

verlassen haben. Medienberichten zufolge sind bereits mehr

als 200.000 Bürgerinnen und Bürger ausgewandert – viele

von ihnen mit guten Qualifikationen. „Alle, die es sich leisten

können, talentiert und ausgebildet und vielleicht mehrsprachig

sind, haben Russland verlassen, weil sie hier einfach

keine Zukunft mehr sehen. Selbst, wenn die Kampfhandlungen

morgen aufhören und die Truppen abgezogen werden

– die meisten Experten sind sich einig, dass Putin mit dieser

Aktion sein Land um Jahrzehnte zurückgeworfen hat“, so

Paul Krisai.

Die Grenzen bleiben bislang offen, direkte Verbindungen

zwischen Russland und Europa gibt es aber momentan

keine. Die Auswanderer weichen deshalb über die Türkei,

Dubai oder Kairo aus. Persönlich möchte Paul aber vorerst

in Russland bleiben und von dort aus weiterberichten,

so gut es geht. „Man gewöhnt sich erstaunlicherweise an

Vieles schnell, was nicht bedeutet, dass man die Umstände

gutheißt. Wir haben alle ein paar Tage gebraucht, um zu verstehen,

wie wir unter den Umständen der Zensur weiterarbeiten

können. Wir erhalten einerseits die Arbeit von Moskau

aus aufrecht, überlassen aber die Berichterstattung über

das militärische Geschehen den Kollegen und Kolleginnen

in Wien und der Ukraine. Beim Publikum bleibt so die volle

Berichterstattung erhalten“, versichert er.

Auf ihrem persönlichen Telegramkanal reflektiert Ekaterina

Astafeva in ihrer Muttersprache Russisch auch über

Themen wie Kolonialismus und Rassismus, und inwiefern

diese Aspekte den Konflikt in der Ukraine beeinflussen. „Es

ist nur wenigen Menschen überhaupt bewusst, wie sehr das

heutige Russland durch seinen Kolonialismus geprägt ist. Im

Geschichtsunterricht in der Schule wurde uns gelehrt, dass

das russische Volk heroisch den Völkern in Sibirien Zivilisation

und Wissen gebracht hat, und, wie die russische Sprache

uns alle eint. Von klein auf lernt man dieses Bild“, so Astafeva.

Die Idee, dass das ethnisch russische Volk das einzig

„richtige“ ist, hat in ihren Augen die Beleidigung und Diskriminierung

von Menschen aus dem Nahen

Osten und Zentralasien zur Folge. Aufgewachsen

ist Ekaterina in Chelyabinsk, das

in der Nähe von Kasachstan liegt. „Ich

habe mich lange Zeit nicht gefragt, warum

alle Kasachen Russisch sprechen müssen,

wenn sie doch ihre eigene Sprache haben.

Diese imperialistischen Ansätze finden

sich auch in der aktuellen Propaganda

der russischen Staatsmedien wieder.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!