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politischen Bildung. „Die Menschen haben niemals gelernt,
sich kritisch mit Politik auseinanderzusetzen. So etwas wird
weder an den Schulen in Russland unterrichtet, noch an den
Universitäten zugelassen. Auch meine Eltern wissen überhaupt
nicht, wie man Fake-News erkennt oder Quellen richtig
checkt. Sie verstehen nicht, dass eine Regierung eigentlich
die Interessen des Volkes vertreten sollte und nicht umgekehrt.“
Die grundlegenden Ideen einer Demokratie konnten
sich historisch in Russland kaum entfalten – nicht im Zarenreich,
nicht in der Sowjetunion und auch nicht nach deren
Zerfall. Es herrscht eine Art Scheindemokratie, in der die
Bevölkerung nicht souverän entscheiden kann, selbst wenn
sie es wollte.
Mit diesem schwierigen Muster könnte aber nun die junge
Gesellschaft in Russland brechen. „Die meisten, vor allem
junge Menschen, sind aufgeklärt, informieren sich über das
Internet und haben eine Ahnung, was in der Ukraine tatsächlich
los ist. Sie wissen also, dass das Ganze
mehr ist als eine auf den Donbas begrenzte
‚Friedensmission‘, wie das in der Staatspropaganda
dargestellt wird“, erklärt Paul
Krisai. Seit Oktober 2021 leitet der gebürtige
Mödlinger das ORF-Büro in Moskau.
„Es gibt allerdings auch genug Menschen,
die durchaus von der ‚Spezialoperation‘
überzeugt sind und denken, dass Russland
hier als Friedenstifter agiert und vor allem
„
Die Ukraine wird nicht
als eigenständiger
Staat mit eigener
Sprache und Kultur
gesehen.
“
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der Westen an diesem Krieg schuld ist.“ Die Stimmung in
Russland lässt sich schwer zusammenfassen, da sich viele
Menschen nicht trauen würden, ihre echte Meinung zu
sagen. „Immer mehr Leute kapseln sich von der Politik ab
und können nicht wahrhaben, dass ihr Land so großflächig
gegen das Nachbarland kämpft und können schwer akzeptieren,
dass Russland diese Geschehnisse auch begonnen
hat. In der heimischen Propaganda wird das militärische
Einschreiten in die Ukraine als Sicherheitsmaßnahme vermittelt“,
so der Korrespondent. Auch er kennt in seinem
Umfeld viele Menschen, die Russland aufgrund des Krieges
verlassen haben. Medienberichten zufolge sind bereits mehr
als 200.000 Bürgerinnen und Bürger ausgewandert – viele
von ihnen mit guten Qualifikationen. „Alle, die es sich leisten
können, talentiert und ausgebildet und vielleicht mehrsprachig
sind, haben Russland verlassen, weil sie hier einfach
keine Zukunft mehr sehen. Selbst, wenn die Kampfhandlungen
morgen aufhören und die Truppen abgezogen werden
– die meisten Experten sind sich einig, dass Putin mit dieser
Aktion sein Land um Jahrzehnte zurückgeworfen hat“, so
Paul Krisai.
Die Grenzen bleiben bislang offen, direkte Verbindungen
zwischen Russland und Europa gibt es aber momentan
keine. Die Auswanderer weichen deshalb über die Türkei,
Dubai oder Kairo aus. Persönlich möchte Paul aber vorerst
in Russland bleiben und von dort aus weiterberichten,
so gut es geht. „Man gewöhnt sich erstaunlicherweise an
Vieles schnell, was nicht bedeutet, dass man die Umstände
gutheißt. Wir haben alle ein paar Tage gebraucht, um zu verstehen,
wie wir unter den Umständen der Zensur weiterarbeiten
können. Wir erhalten einerseits die Arbeit von Moskau
aus aufrecht, überlassen aber die Berichterstattung über
das militärische Geschehen den Kollegen und Kolleginnen
in Wien und der Ukraine. Beim Publikum bleibt so die volle
Berichterstattung erhalten“, versichert er.
Auf ihrem persönlichen Telegramkanal reflektiert Ekaterina
Astafeva in ihrer Muttersprache Russisch auch über
Themen wie Kolonialismus und Rassismus, und inwiefern
diese Aspekte den Konflikt in der Ukraine beeinflussen. „Es
ist nur wenigen Menschen überhaupt bewusst, wie sehr das
heutige Russland durch seinen Kolonialismus geprägt ist. Im
Geschichtsunterricht in der Schule wurde uns gelehrt, dass
das russische Volk heroisch den Völkern in Sibirien Zivilisation
und Wissen gebracht hat, und, wie die russische Sprache
uns alle eint. Von klein auf lernt man dieses Bild“, so Astafeva.
Die Idee, dass das ethnisch russische Volk das einzig
„richtige“ ist, hat in ihren Augen die Beleidigung und Diskriminierung
von Menschen aus dem Nahen
Osten und Zentralasien zur Folge. Aufgewachsen
ist Ekaterina in Chelyabinsk, das
in der Nähe von Kasachstan liegt. „Ich
habe mich lange Zeit nicht gefragt, warum
alle Kasachen Russisch sprechen müssen,
wenn sie doch ihre eigene Sprache haben.
Diese imperialistischen Ansätze finden
sich auch in der aktuellen Propaganda
der russischen Staatsmedien wieder.