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Im Fernsehen

lief nichts mehr

außer Krieg

Obwohl ich meine Heimat

verloren habe, habe ich Glück

gehabt, den Krieg unbeschadet

zu überleben. Das können Hunderttausende

Menschen in Ex-

Jugoslawien nicht behaupten.

Von Olivera Stajić

Es gibt eine Zeit vor und nach 1992. Diese

Zäsur teile ich wohl mit den meisten

Menschen aus Bosnien und Herzegowina.

Das Kriegsjahr teilt das Leben, unabhängig

davon, wo und wie wir

es erlebt haben, immer noch

in ein Davor und ein Danach.

Das ist allerdings eine der

wenigen Gemeinsamkeiten,

die ich mit meinen ehemaligen

Landsleuten teile. Denn zum

Unterschied zu vielen anderen

hatte ich das große Glück,

dass ich nur wenige Wochen

nach Kriegsbeginn das Land

verlassen konnte.

Am 6. April 1992 hieß

es: „Ab morgen gibt es keine

Schule mehr!“ Zwischen dem

Dorf, in dem ich lebte, und

dem Dorf, in dem ich die

7. Klasse der Grundschule

besuchte, waren Barrikaden

aufgestellt worden. Es gab ab jetzt ein

„drüben“ und ein „hier“, ein „sie“ und

ein „wir“. Diese ersten Apriltage 1992

sind in meiner Erinnerung frühlingshaft

warm und gespenstisch unbeschwert,

weil schulfrei. Fieberhafte Euphorie des

Ausnahmezustands.

Ich erinnere mich, dass dann sehr

bald das Telefon tot war, und ich nicht

mehr meine Eltern in Wien anrufen

konnte und auch keine Anrufe von Ihnen

mehr kamen. Das Abheben und Wählen

mit der trägen Wählscheibe und

der dumpfe Besetztton verfolgen mich

bis heute noch in den Träumen: keine

Verbindung.

In der Ferne hörte ich bis dato unbekannte

Geräusche: Granateneinschläge.

Irgendwann kamen die Einschläge näher,

wurden lauter und eindeutiger. Meine

Großeltern und meine Tante schauten

immer besorgter. Im Fernsehen lief

nichts mehr außer Krieg.

Autorin (Mitte) umgeben von ihren beiden Schwestern in der

Nähe von nordbosnischem Doboj.

HAUPTSACHE, DIE KINDER

SIND IN SICHERHEIT

Meine Mutter hatte inzwischen versucht,

aus Wien nach Bosnien zu gelangen, um

mich und meine zwei jüngeren Schwestern

abzuholen. Beim dritten Versuch

gelang es ihr, über mühsame Umwege

und nach mehreren Tagen tatsächlich

anzukommen. Die Überraschung war

groß, ich spürte keine Erleichterung,

weil ich wusste, jetzt kommt: der große

Abschied. Meine Familie, meine Großeltern

und die Tante, Menschen, die mich

großgezogen haben, würden hierbleiben.

Sie wollten auf keinen Fall weg, sie

glaubten noch immer, dass alles vorübergehend

wäre - Hauptsache die Kinder

sind in Sicherheit, bis es wieder ruhig ist.

Morgen geht’s also nach Wien. Meine

Mutter weiß, es gibt einen Bus, den

müssen wir morgen erwischen und dann

schauen wir weiter. Ich ging in mein

Zimmer, und das Wenige, das ich besaß,

erschien mir auf einmal essenziell, aber

auch gleichzeitig absolut bedeutungslos.

Ich packte ein paar Musikkassetten

zusammen, Briefe, die ich von meinen

Brieffreundinnen aus ganz Jugoslawien

erhalten hatte, ein paar Fotos, die Lieblingsleggins.

Die nächste Szene, an die ich mich

erinnere, ist ein in Grund und Boden

niedergebranntes Dorf, das an meinem

Autobusfenster vorbeizieht. Ein großes

Pferd streift in den rauchenden Ruinen

herum. Mein furchtloses und vorlautes

13-jähriges Ich sagt laut: „Was ist hier

passiert?“ Ein alter Mann, ein paar Sitze

weiter, deutete mir zu schweigen.

Die nächste Erinnerung sind lange

und angespannte Tage in einem übervollen

Hotel in Banja Luka. Wir warteten mit

unzähligen anderen darauf, dass uns ein

Flugzeug außer Landes bringt. Irgendwann

bekamen wir Plätze im Flugzeug

und den ersten Flug meines Lebens verbrachte

ich stehend. Anfang Mai empfing

uns mein Vater am Südbahnhof. Mein

Leben in Wien begann.

Die ersten Jahre in Wien waren

geprägt von Tränen, Trauer, Angst und

ganz viel schlechtem Gewissen. Ich

hatte es besser als meine

Schulkameraden, als meine

Gleichaltrigen, als meine Familie,

die in Angst lebte. In meiner

Familie gab es nur wenige

Tote. Ich habe keine Gräueltaten

gesehen. Ich musste nicht

Monate und Jahre lang um

mein Leben fürchten.

Um das schlechte Gewissen

auszugleichen, machte ich

das Beste aus meiner Situation.

Ich streberte Deutsch,

Englisch, ich streberte mich

zur Matura und durch das

Studium. Irgendwann landete

ich sogar in meinem Wunschberuf.

Nicht schlecht für die

Tochter von Bäuer:innen und

Arbeiter:innen.

1992 habe ich eine Familie, eine

Heimat und den unschuldigen Blick

eines Kindes auf die Welt verloren. Und

trotzdem würde ich 30 Jahre später auch

noch immer sagen, dass ich eine Kriegsgewinnerin

bin. Ich habe meine Heimat

verloren, hatte aber das Glück, den Krieg

unbeschadet zu überleben. Das ist mehr

Glück, als hunderttausende Menschen in

Ex-Jugoslawien hatten.

Olivera Stajić, 42, Ressortleiterin bei

der Tageszeitung „Der Standard“

/ POLITIKA / 19

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