02.06.2022 Aufrufe

BIBER 06_22 Ansicht

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

MEINUNG

WÖRTER HINTERLASSEN

WUNDEN

Ich brauche eine Ablenkung von der verkorksten Realität,

nicht nur davon, sondern auch vor mir selbst. Ich halte meine

Gedanken, kombiniert mit all meinen Ängsten, die ich der

Gesellschaft zu verdanken habe, nicht lange aus. Viele wissen

nicht, dass jeder seine eigene Wahrnehmung und Interpretation

von Wörtern hat. Was dem einen harmlos erscheint, kann

den anderen verletzen. Verbale Angriffe können tief greifendere

Schäden hinterlassen als körperliche Angriffe – im Alter

von sieben bis 14 war ich ein Opfer von Mobbing und musste

daran glauben.

Damals wusste ich nicht, was Mobbing ist, und war jahrelang

der Überzeugung, das Problem zu sein. Das hatte dazu

geführt, dass ich mich ständig änderte und Angststörungen,

niemals gut genug zu sein, entwickelte. Schrittweise hatte ich

mich immer mehr von der Person, die ich war, entfernt. Dies

ging so lange, bis ich den Bezug zu meinem alten Ich verlor.

Die Auswirkungen meiner Ängste schränken mich ein und

begleiten mich im (Schul-)Alltag – egal, wie stark ich auch

versuche, sie zu unterdrücken. Es häufen sich alle Ängste,

wie Versagensängste und Soziophobie an, doch das ist für

die meisten Lehrer/innen nicht von Relevanz. Es ist schwer,

von mir zu erwarten, diese Ängste zu überwinden, aber doch

wird so getan, als würde ich damit leben wollen, als hätte

ich nicht versucht, etwas daran zu ändern. Zwinge ich mich,

das zu tun, übernimmt die Angst genauso meinen Körper. Ich

kriege einen Kloß im Hals, das Atmen wird schwer, ich stehe

mit zittrigen Händen und weichen Knien da, mache, wozu ich

gezwungen werde, und stelle mich selbst dabei bloß, was

wiederum weitere Ängste triggert.

Ich wünschte, ich könnte meine Gedanken kontrollieren, sie

sind schmerzhafter und gehen tiefer als die Worte anderer.

Will ich die Ängste loswerden oder dramatisiere ich nur, was

mir andere manchmal vorwerfen? Ich weiß nach so einer

langen Zeit nicht mehr, wie es ist, ‚normal‘ zu denken. Wie

würde es mir ohne meine gewohnten Ängste gehen? Woran

würde ich jede Nacht denken? Was, wenn sich Leere anstelle

von Angst in mir ausbreitet? Dieser Gedanke bringt die leise

Stimme in mir zum Schweigen, die mir eine letzte Hoffnung

auf Besserung gab.

Anonym, 18

WARUM ICH MEIN

KOPFTUCH TRAGE

„Wieso hast du dich dazu entschieden?“, fragen mich meine

Professor*innen mit überraschtem Gesichtsausdruck, als sie

mich zum ersten Mal mit Kopftuch sahen. „War das deine

Entscheidung?“ „Tragen deine Schwestern auch Kopftuch?“

„Bist du Mitglied in einer Moschee?“ oder „Es muss nicht alles

richtig sein, was im Quran steht!“

Das alles sind Fragen und Aussagen, die ich mir am Anfang

des Kopftuchtragens nicht nur einmal anhören musste.

Dieses gewisse Rechtfertigen musste ich bei fast allen

Professor*innen, die mich zu dieser Zeit unterrichtet hatten.

Als der erste Professor mit dem Fragenstellen anfing, dachte

ich mir nichts dabei, weil es für mich wichtig ist, Menschen

aufzuklären und ich mir schon dessen bewusst war, dass so

eine Reaktion folgen würde, doch nicht in so einem Ausmaß

... Wieso habe ich mich also für die Kopfbedeckung entschieden,

wenn sich weder meine Schwestern (damals) bedeckten,

noch ich Mitglied einer Moschee war? Wieso habe ich mich

gegen die westlichen Werte gestellt und bin meinem Glauben

gefolgt? Ob mich jemand gezwungen hat, mich zu bedecken?

Heutzutage ist es eher so, dass man gezwungen wird,

sich auszuziehen. Je offener eine Frau bzw. ein Mädchen

angezogen ist, desto „freier“ ist sie. Das Festhalten an der

islamischen Weiblichkeit ist in der Zeit, in der wir leben, alles

andere als einfach. Aber nur weil es nicht einfach ist, heißt es

nicht, dass man die Wahrheit für den leichteren Weg austauschen

sollte.

Anstatt über uns und für uns zu sprechen und Entscheidungen

zu treffen, die uns betreffen, sollte man mit uns sprechen

und die richtigen Fragen stellen. Die Bedeckung ist etwas

Wunderschönes, denn sie identifiziert mich schon auf den

ersten Blick als Muslima. Wir tragen dieses „Stück Stoff“, wie

es gerne von manchen genannt wird, aus Überzeugung und

Hingabe gegenüber unserem Herrn. Es war keine übereilte

Entscheidung, sondern eher das Gegenteil. Ich habe mich

sehr lange mit dem Islam befasst und habe mich dann aus

voller Überzeugung fürs Kopftuchtragen entschieden. Denn

es gibt mir die innere Glückseligkeit in einer Welt, wo Glück

Geld und Erfolg bedeutet. Je stärker man versucht, an diesem

Stück Stoff zu ziehen, desto stärker werde ich es verteidigen.

Lejla Ibrahimi, 17, 1AL, BHAK und BHAS Wien 10

© Zoe Opratko

26 / MIT SCHARF /

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!