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„
Meine Mutter
brachte es nicht über
das Herz, mich zum
Zug zu bringen.
“
Die Autorin pendelte eine Zeit lang jede Woche zwischen Wien und Tirol.
ven. Ihre Augen waren von ihren Tränen
verquollen. Sie brachte es nicht über das
Herz, mich zum Zug zu bringen. In den
ersten Wochen fuhr ich jedes Wochenende
wieder nach Tirol. Doch obwohl
mich meine Mutter am Wochenende
sah und wir täglich telefonierten, ging
es ihr immer schlechter. Die ständige
Kritik der Verwandtschaft, die abschätzigen
Bemerkungen und die Sorge,
dass ich allein in einer fremden Stadt
war, verschlimmerten die Situation.
Sie erlitt einen Zusammenbruch und
landete im Spital. Zwei Tage lang lag
sie im Krankenhaus. Ich saß mit meinen
Geschwistern, die ebenfalls unter
der Situation litten, zu Hause in Tirol.
Mein einziger Gedanke war: Das ist es
nicht wert. Ich beschloss, das Studium
abzubrechen und den Traum vom
Journalismus platzen zu lassen. Dass ich
doch weiterstudieren konnte, war nur
mit viel Kraft und Geduld möglich. Meine
Mama konzentrierte sich mehr auf meine
Geschwister und fing an, sich tagsüber
um den kleinen Sohn einer Bekannten zu
kümmern. Ich fuhr weiterhin fast jedes
Wochenende nach Tirol. Noch heute, elf
Jahre später, telefoniere ich täglich mit
meiner Mama. Wir distanzierten uns von
Menschen, die meinen Umzug als Im-
Stich-Lassen der Familie betrachteten.
Ich fand in Wien recht schnell einen Job
und arbeitete während meiner Studienzeit
unter anderem bei einer Versicherung,
als Museumsaufsicht, verteilte
Flyer und ging Babysitten. Nebenher
machte ich Praktika bei Zeitungen und
schrieb als freie Journalistin.
Für Menschen mit Migrationshintergrund
ist der Weg zu höherer
Bildung meist besonders schwierig.
Migrant:innen brechen häufiger ihr Studium
ab, machen geringere akademische
Abschlüsse. Bei mir erschwerten die
ökonomische Situation meiner Familie
und das negative Umfeld den Einstieg ins
Studienleben zusätzlich. Doch auch die
schweren Herausforderungen und vielen
Rückschläge schafften es nicht, mich von
meinem Weg abzubringen. Ich absolvierte
mein Studium erfolgreich. Seit über
acht Jahren arbeite ich als Journalistin
bei Heute, einer der größten österreichi-
schen Tageszeitungen und bin mittlerweile
sogar Teil der Chefredaktion.
Rund drei Monate nach meiner Übersiedlung
stieg meine Mama schließlich
selbst in einen Zug und fuhr das erste
Mal nach Wien, um mich zu besuchen.
Es sollten noch viele weitere Zugfahren
folgen. ●
Amra Durić ist 31 Jahre alt und Mitglied
der Chefredaktion von Heute.at, sowie
Digital Project Managerin.
36 / EMPOWERMENT SPECIAL /