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BIBER 06_22 Ansicht

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Meine Mutter

brachte es nicht über

das Herz, mich zum

Zug zu bringen.

Die Autorin pendelte eine Zeit lang jede Woche zwischen Wien und Tirol.

ven. Ihre Augen waren von ihren Tränen

verquollen. Sie brachte es nicht über das

Herz, mich zum Zug zu bringen. In den

ersten Wochen fuhr ich jedes Wochenende

wieder nach Tirol. Doch obwohl

mich meine Mutter am Wochenende

sah und wir täglich telefonierten, ging

es ihr immer schlechter. Die ständige

Kritik der Verwandtschaft, die abschätzigen

Bemerkungen und die Sorge,

dass ich allein in einer fremden Stadt

war, verschlimmerten die Situation.

Sie erlitt einen Zusammenbruch und

landete im Spital. Zwei Tage lang lag

sie im Krankenhaus. Ich saß mit meinen

Geschwistern, die ebenfalls unter

der Situation litten, zu Hause in Tirol.

Mein einziger Gedanke war: Das ist es

nicht wert. Ich beschloss, das Studium

abzubrechen und den Traum vom

Journalismus platzen zu lassen. Dass ich

doch weiterstudieren konnte, war nur

mit viel Kraft und Geduld möglich. Meine

Mama konzentrierte sich mehr auf meine

Geschwister und fing an, sich tagsüber

um den kleinen Sohn einer Bekannten zu

kümmern. Ich fuhr weiterhin fast jedes

Wochenende nach Tirol. Noch heute, elf

Jahre später, telefoniere ich täglich mit

meiner Mama. Wir distanzierten uns von

Menschen, die meinen Umzug als Im-

Stich-Lassen der Familie betrachteten.

Ich fand in Wien recht schnell einen Job

und arbeitete während meiner Studienzeit

unter anderem bei einer Versicherung,

als Museumsaufsicht, verteilte

Flyer und ging Babysitten. Nebenher

machte ich Praktika bei Zeitungen und

schrieb als freie Journalistin.

Für Menschen mit Migrationshintergrund

ist der Weg zu höherer

Bildung meist besonders schwierig.

Migrant:innen brechen häufiger ihr Studium

ab, machen geringere akademische

Abschlüsse. Bei mir erschwerten die

ökonomische Situation meiner Familie

und das negative Umfeld den Einstieg ins

Studienleben zusätzlich. Doch auch die

schweren Herausforderungen und vielen

Rückschläge schafften es nicht, mich von

meinem Weg abzubringen. Ich absolvierte

mein Studium erfolgreich. Seit über

acht Jahren arbeite ich als Journalistin

bei Heute, einer der größten österreichi-

schen Tageszeitungen und bin mittlerweile

sogar Teil der Chefredaktion.

Rund drei Monate nach meiner Übersiedlung

stieg meine Mama schließlich

selbst in einen Zug und fuhr das erste

Mal nach Wien, um mich zu besuchen.

Es sollten noch viele weitere Zugfahren

folgen. ●

Amra Durić ist 31 Jahre alt und Mitglied

der Chefredaktion von Heute.at, sowie

Digital Project Managerin.

36 / EMPOWERMENT SPECIAL /

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