Vivit_2021_Ausgabe-1
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INTERVIEW
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Ich hatte all die Jahre Freude an den Autos und
jetzt kann ich gelassen auf diese Zeit zurückblicken.
Nun habe ich noch einen Youngtimer in der
Garage stehen, einen 2000er Mercedes SLK 200.
Fotos: Bugatti Automobiles S.A.S., Holm Wolschendorf
mir wohl irgendjemand einen Schuss Benzin mit
in die Muttermilch gemischt hat.
Was fasziniert Sie so an Automobilen?
Sie sind einfach toll. Mein Vater hat mir als Vieroder
Fünfjährigem oft Wikingautos mitgebracht.
Das sind kleine, aber sehr originalgetreue Plastikmodelle,
die es seit Ende der 40er Jahre gegeben
hat. Die Autos habe ich dann bei Spaziergängen
auch in natura gesehen und wiedererkannt
und mein Vater musste mich hochheben und
reinschauen lassen. Daheim war am Sonntagmorgen
auch immer ein Highlight, mit dem Papa
„Automarken raten“ zu machen. Mit 16 habe ich
dann alle deutschen Hersteller angeschrieben
und um historische Unterlagen zu ihren Fahrzeugen
gebeten. Die meisten haben mir großzügig
Einblick gewährt – das ist unter anderem der
Grundstock meiner Sammlung geworden.
Welches Auto hat Sie in all den Jahren am
meisten begeistert?
Der Bugatti Royale. Das ist ein Auto aus den 20er
Jahren, das nur sieben Mal gebaut wurde, von Ettore
Bugatti, diesem italo-französischen Exotenhersteller.
Das war ein Überauto, das bereits damals
300 PS hatte – das hatten zu der Zeit teils
nicht mal Rennwagen. Ich durfte ein Exemplar
sogar einmal 20 Kilometer selbst bewegen. Das
war der Wagen eines Kunden, der das Auto zerlegt
erworben hatte und mit allem, was dazugehört,
wieder aufgebaut hat. Wir haben das Fahrzeug damals
abgenommen. Es galt als verloren und es
konnte nachgewiesen werden, dass es wirklich
dieses Auto ist – das absolute Highlight überhaupt,
sozusagen der Höhepunkt meiner Karriere.
Besitzen Sie selbst Oldtimer?
Etwa 400 Stück – in der Vitrine, als Modelle. Ich
hatte fast 40 Jahre ein, zwei Oldtimer, die hatten
aber nach einem Hausverkauf keinen Platz mehr.
Ist die Datensammlung jetzt komplett oder
recherchieren Sie weiter? Was sind Ihre nächsten
Projekte?
Mein momentanes Projekt ist die Marke Austin.
Da möchte ich die teils sehr verwirrende Datenlage
noch so vervollständigen, dass die Kollegen
beim TÜV Süd auf sichere Tabellen mit allen
Fahrgestellnummern, technischen Daten und
auch Bildern von den Fahrzeugen zugreifen können.
Und von meiner amerikanischen Lieblingsmarke,
Packard, gibt es tolle Dokumentationen,
die sich aber teilweise widersprechen. Das möchte
ich gerne noch „in Ordnung“ bringen. Und
dann ist da mein persönlicher Favorit: Ich bin
Mercedes-Fan und möchte auch da irgendwann
einmal jede einzelne Fahrgestellnummer dokumentieren
können. (Lacht.) Aber das ist ein Unterfangen,
das locker noch zehn bis zwanzig Jahre
dauern kann und vielleicht nie fertig sein wird.
Fragen von Annette de Cerqueira
ZUR PERSON
Matthias Gerst
Der gebürtige Stuttgarter hat zeit seines Lebens
im Kreis Ludwigsburg gewohnt und war fast 40
Jahre in verschiedenen Positionen beim TÜV
Süd tätig, zuletzt als Leiter der von ihm dort geschaffenen
Datenblattstelle. Anstoß seiner Leidenschaft
für historische Automobile war unter
anderem ein Praktikum, das er 1980 zum Ende
seines Maschinenbau-Studiums in Oldtimerbetrieben
in den USA absolvierte. Er begann, mit
Daten, Fakten und Literatur zu Fahrzeugen aus
aller Welt Datenblätter zu schreiben. Ein immenses
Archiv, mit dem sich der Diplom-Ingenieur
in Fachkreisen einen Namen als Historiker für
Automobile und Sachbuchautor gemacht hat.
Als Mitglied im Parlamentarischen Arbeitskreis
für historische Fahrzeuge des Bundestags arbeitete
er auch an Empfehlungen für die Politik mit
– beispielsweise rund ums H-Kennzeichen. Für
seine besonderen Verdienste zur Erhaltung und
Pflege des Kulturguts Automobil wurde er 2013
mit dem Ehrenpreis des Vereins RetroClassic-
Cultur und seines Fördervereins ausgezeichnet.
Bis heute ist Matthias Gerst Mitglied der baden-württembergischen
Prüfungskommission
für Automobil-Sachverständige.