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Eva Finkenstein: Im »Raum der Suche nach Verständigung« (Leseprobe)

Ostdeutschland gehört zu den am stärksten säkularisierten Gebieten der Welt. Gleichwohl sind dort seit der Wiedervereinigung zahlreiche evangelische Schulen entstanden. Wie realisieren diese im konfessionslosen Kontext ihr christliches Profil? Die Studie schließt an die Forderung nach entsprechenden empirischen Daten an und legt den Fokus auf konfessionslose Schülerinnen und Schüler: Was kennzeichnet das evangelische Profil aus ihrer Sicht? Wie erleben sie seine religiöse Dimension, wie erleben sie sich selbst im schulischen Rahmen als konfessionslos (wahrgenommen)? Auf Grundlage qualitativer Interviews werden typische Deutungsmuster aus wissenssoziologisch-diskursanalytischer Perspektive rekonstruiert und innerhalb eines Spektrums von Annäherung, Enthaltung und Distanzierung beschrieben.

Ostdeutschland gehört zu den am stärksten säkularisierten Gebieten der Welt. Gleichwohl sind dort seit der Wiedervereinigung zahlreiche evangelische Schulen entstanden. Wie realisieren diese im konfessionslosen Kontext ihr christliches Profil? Die Studie schließt an die Forderung nach entsprechenden empirischen Daten an und legt den Fokus auf konfessionslose Schülerinnen und Schüler: Was kennzeichnet das evangelische Profil aus ihrer Sicht? Wie erleben sie seine religiöse Dimension, wie erleben sie sich selbst im schulischen Rahmen als konfessionslos (wahrgenommen)? Auf Grundlage qualitativer Interviews werden typische Deutungsmuster aus wissenssoziologisch-diskursanalytischer Perspektive rekonstruiert und innerhalb eines Spektrums von Annäherung, Enthaltung und Distanzierung beschrieben.

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<strong>Eva</strong> <strong>Finkenstein</strong><br />

<strong>Im</strong> <strong>»Raum</strong> <strong>der</strong> <strong>Suche</strong><br />

<strong>nach</strong> <strong>Verständigung«</strong><br />

Beiträge konfessionsloser<br />

Schülerinnen und Schüler zum<br />

evangelischen Schulprofil<br />

Arbeiten zur Praktischen Theologie


Inhalt<br />

Einleitung ................................................ 9<br />

1 Die Frage <strong>nach</strong> dem evangelischen Profil ..................... 21<br />

1.1 Schulen infreier evangelischer Trägerschaft ............... 22<br />

1.1.1 Rechtliche Situation im Rahmen des Bildungspluralismus 23<br />

1.1.2 Historische Perspektiven auf das evangelische<br />

Schulwesen .................................... 26<br />

1.2 Anspruch und Realität des evangelischen Profils ............ 32<br />

1.2.1 Konzeptionelle Strukturen ........................ 33<br />

1.2.2 Empirische Forschung zum evangelischen Profil ....... 35<br />

1.2.3 Forschungsdesi<strong>der</strong>ate und Erkenntnisinteresse ......... 40<br />

1.3 Das evangelische Profil als Praxis ....................... 43<br />

1.3.1 Dynamik vs. Essentialisierung: Das evangelische Profil als<br />

Prozess ....................................... 44<br />

1.3.2 Zugänge zu einer qualitativen Forschungsperspektive ... 47<br />

1.3.3 Forschungsfragen vor dem Horizont von<br />

Wissenssoziologie und Lebensweltanalyse ............ 49<br />

2 Das evangelische Profil als christliche Praxis imKontext ......... 55<br />

2.1 Das evangelische Profil als christliche Praxis ............... 57<br />

2.1.1 Kirchentheoretische Perspektive .................... 59<br />

2.1.2 Interkulturell-theologische Perspektive ............... 62<br />

2.2 Kontextualisierung christlicher Praxis: Zwischen Deskription<br />

und Normativität .................................... 64<br />

2.2.1 Kontextualisierung vs. Grenzziehung ................ 66<br />

2.2.2 Zu den Klassifikationen Ostdeutschland und<br />

Konfessionslosigkeit .............................. 69<br />

2.2.3 Kontextualität im Rahmen <strong>der</strong> Untersuchung .......... 75<br />

2.3 Kontextspezifische Perspektiven auf das evangelische Profil in<br />

Ostdeutschland ...................................... 81<br />

2.3.1 Schulgründungen in Ostdeutschland ................. 83<br />

2.3.2 Religionssoziologische Perspektiven auf<br />

Konfessionslosigkeit in Ostdeutschland ............... 85<br />

2.3.3 Konfessionslosigkeit im konzeptuellen Diskurs zum<br />

evangelischen Profil ............................. 94<br />

3 Das evangelische Profil als Diskurs .......................... 97<br />

3.1 Analytischer Zugang: Wissenssoziologische Diskursanalyse .... 99<br />

3.1.1 Diskursbegriff und Semiotik ....................... 100<br />

3.1.2 Hermeneutische Wissenssoziologie .................. 103


6 Inhalt<br />

3.1.3 Wissenssoziologische Diskursanalyse ................ 105<br />

3.2 Wissenssoziologisch-diskursanalytische Perspektiven ........ 109<br />

3.2.1 Die Praxis des evangelischen Profils als Diskurs ........ 110<br />

3.2.2 Zur Materialität von Diskursen ..................... 113<br />

3.3 Deutungsmuster als Zugang zur diskursiven Praxis .......... 117<br />

3.3.1 Das soziale Deutungsmuster als heuristisches Konzept in<br />

<strong>der</strong> Wissenssoziologie ............................ 118<br />

3.3.2 Deutungsmuster als strukturelles Element von Diskursen 125<br />

3.3.3 Konfessionslose Schüler*innen im Diskurs und das<br />

soziale Deutungsmuster als Zugang zu ihrer Praxis ..... 128<br />

4 Zugänge zu Deutungsmustern konfessionsloser Schüler*innen im<br />

diskursiven Feld des evangelischen Profils .................... 133<br />

4.1 Analytische Zugänge ................................. 135<br />

4.1.1 Kognitive Dissonanz als objektives Handlungsproblem<br />

und Antezedenzbedingung von Deutungsmustern ....... 136<br />

4.1.2 Zur diskursiven Herstellung von Religion als<br />

Grenzziehung des Profils ......................... 139<br />

4.1.3 Zugang zu diskursiv hergestellten Handlungsproblemen<br />

auf <strong>der</strong> symbolischen und imaginären Ebene <strong>der</strong><br />

Schulkultur .................................... 146<br />

4.2 Methodologische Zugänge ............................. 149<br />

4.2.1 Konstruktivistische Grounded Theory ................ 150<br />

4.2.2 Rekonstruktion von Deutungsmustern als Grounded<br />

Theory ....................................... 153<br />

4.2.3 Zur Forschungslogik: Iterativer Prozess, Abduktion und<br />

Repräsentativität ................................ 156<br />

4.3 Methodische Zugänge ................................. 159<br />

4.3.1 Orientierung am problemzentrierten und diskursiven<br />

Interview ..................................... 161<br />

4.3.2 Leitfäden als Reproduktion vielfältiger<br />

Handlungsprobleme ............................. 165<br />

4.3.3 Zum Sampling: Methodologische Prinzipien und<br />

Vorab-Kriterien ................................. 168<br />

4.3.4 Auswertung des Datenmaterials .................... 175<br />

5 Diskurseigene Deutungsmuster konfessionsloser Schüler*innen ... 181<br />

5.1 Deutungsmuster Annäherung ........................... 183<br />

5.1.1 »Fehlen würde mir einfach dieser Zusammenhalt«:<br />

Sozialität ...................................... 184<br />

5.1.2 »Dass man aufs Heute guckt«: Existentialität ........... 193<br />

5.1.3 »Wenn man halt an nichts glaubt, dann is das hier voll<br />

okay«: Liberalität ................................ 199


Inhalt 7<br />

5.1.4 »Ich würde sagen, dass dieses Beten vorm Essen nich<br />

fehlen sollte«: Religiosität ......................... 205<br />

5.1.5 »Ich finds halt einfach höflicher, wenn man mitbetet«:<br />

Solidarität ..................................... 210<br />

5.1.6 »Weils ne Privatschule is«: Exklusivität ............... 214<br />

5.1.7 »Wenn wir singen, is es ja auch schön«: Partizipation .... 219<br />

5.1.8 »Ich finds auch immer schön«: Ästhetik .............. 222<br />

5.2 Deutungsmuster Enthaltung ............................ 223<br />

5.2.1 »Mir is das eigentlich ziemlich egal«: Irrelevanz ........ 224<br />

5.2.2 »Is eigentlich ganz normal«: Normalisierung ........... 235<br />

5.2.3 »Die nehmen das sehr ernst, glaube ich«: Externalisierung 245<br />

5.2.4 »Die Lage war halt gut«: Pragmatismus ............... 250<br />

5.3 Deutungsmuster Distanzierung ......................... 253<br />

5.3.1 »Nich wirklich einer von denen«: Heterogenität ........ 254<br />

5.3.2 »Wenns keine Beweise gibt, glaub ich da nich dran«:<br />

Religionskritik ................................. 263<br />

5.3.3 »Wir müssen Religion wählen«: Heteronomie .......... 270<br />

5.3.4 »Kommt ja immer aufs Elternhaus drauf an«: Sozialisation 272<br />

6 Ausblick: Theoretische Perspektiven auf die Deutungsmuster<br />

konfessionsloser Schüler*innen ............................ 275<br />

6.1 Diskursiv konstituierte Subjektivierung im Rahmen des<br />

evangelischen Profils ................................. 277<br />

6.1.1 Wissenssoziologische Subjektivierungsanalyse ......... 278<br />

6.1.2 Othering als Subjektivierung konfessionsloser<br />

Schüler*innen .................................. 282<br />

6.1.3 Re-Signifikationen diskursiver Subjektivierung durch<br />

konfessionslose Schüler*innen ..................... 286<br />

6.2 Beiträge zur Profilierung evangelischer Schulen ............ 291<br />

6.2.1 Konfessionslose Schüler*innen als Akteur*innen von<br />

Pluralität und Pluralitätsfähigkeit ................... 292<br />

6.2.2 Partizipation konfessionsloser Schüler*innen an <strong>der</strong><br />

Interpretationspraxis des evangelischen Profils ........ 297<br />

Literatur ................................................. 303


Einleitung<br />

<strong>Eva</strong>ngelische Schulen sollten sich wie bisher als Orte des Glaubens verstehen und<br />

über den Religionsunterricht hinaus in ihrem gesamten Bildungsangebot die religiöse<br />

Dimension aufnehmen sowie Erfahrungen mit dem Glauben ermöglichen.<br />

Rat <strong>der</strong> EKD 1<br />

Also ich find gut, dass Schulen dann so akzeptieren, wenn du NICH religiös bist.<br />

Schüler*in, 8. Klasse 2<br />

Wenn Jugendliche, die sich selbstebenso wenig als religiös beschreiben wie sie es<br />

auf dem Papier sind, bei einer Morgenandacht in <strong>der</strong> Schule die Augen schließen,<br />

ihre Hände falten und das Vaterunserbeten, dann stellt sich eine Frage: What is it<br />

that’s going on here? 3 So formulierte Erving Goffman die programmatische<br />

Neugier interpretativer Sozialforschung. Diese Neugier leitet auch den hier unternommenen<br />

Versuch, konfessionslose Schüler*innen an evangelischen Schulen<br />

in Ostdeutschland selbst die Antwort darauf geben zu lassen, was in Situationen<br />

wie <strong>der</strong> eingangs beschriebenen eigentlich vor sich geht. Eine Art<br />

»agnostischer Solidarität« ist dabei nur eine Möglichkeit, das evangelische Profil<br />

und die Teilnahme an <strong>der</strong> damit verbundenen religiösen Praxis zu interpretieren:<br />

»Ich bete einfach nur aus Höflichkeit, weils unhöflich wär, wenn ich jetzt irgendwelche<br />

Faxen mache.« 4 Daneben existiert eine Vielfalt weiterer typischer<br />

Deutungen konfessionsloser Schüler*innen bezüglich ihres religiös geprägten<br />

Alltags an evangelischen Schulen – und umdie soll es hier gehen.<br />

Den Ausgangspunkt <strong>der</strong> vorliegenden empirischen Studie bildet die theologisch<br />

und wissenssoziologisch fundierte Prämisse, dass das evangelische Profil<br />

in einem Prozess <strong>der</strong> Aneignung und Neu-Deutung durch die schulischen Ak-<br />

1<br />

Kirchenamt <strong>der</strong> EKD, Schulen in evangelischer Trägerschaft, 22.<br />

2<br />

Hinweise zur Transkription <strong>der</strong> Interviews mit Schülerinnen und Schülern finden sich<br />

unter 5.1.1.<br />

3<br />

Goffman, Frame Analysis, 18.<br />

4<br />

Vgl. 5.1.5.


10 Einleitung<br />

teur*innen imSchulalltag realisiert wird. Um die Teilhabe konfessionsloser<br />

Schüler*innen an dieser sozialen, diskursiv strukturierten Praxis zu untersuchen,<br />

werden im Umfeldverschiedener evangelischer Schulen in Ostdeutschland<br />

Interviews geführt. Anhand des erhobenen Materials wird <strong>der</strong> Umgang mit dem<br />

evangelischen Profil im Schulalltag rekonstruiert und theoretisch beschrieben.<br />

Mittel <strong>der</strong> Theoretisierung ist das Konzept des sozialen Deutungsmusters 5 (Ulrich<br />

Oevermann), das <strong>der</strong> Typisierung intersubjektiv geteilter Deutungen dient.<br />

Als diskursives Ineinan<strong>der</strong> von Struktur und Individuum, das durch die<br />

Deutungsprozesse <strong>der</strong> Akteur*innen aktualisiert wird, konstituiert das evangelische<br />

Profil einenpluralen Raum.Dieser <strong>»Raum</strong> <strong>der</strong> <strong>Suche</strong><strong>nach</strong><strong>Verständigung«</strong> 6<br />

(Karl-Ernst Nipkow) wird durch den Bezug auf das <strong>Eva</strong>ngelium eröffnet und<br />

nimmt die Lebenswelten <strong>der</strong> schulischen Akteur*innen in sich auf. In Bezug auf<br />

den Kontext Ostdeutschlands gerät dabei die diskursive Grenze zwischen <strong>der</strong><br />

Religiosität <strong>der</strong> Schulen und <strong>der</strong> Nicht-Religiosität vieler ihrer Schüler*innen in<br />

den Blick. 7 Um den strukturellen Anspruch des Christlichen analytisch ebenso zu<br />

integrieren wie die darauf bezogenen Deutungsmuster konfessionsloser Schüler*innen,<br />

wird das evangelische Profil als Diskurs konzeptualisiert.<br />

Die gemeinsame diskursive Interpretationspraxis <strong>der</strong> schulischen Akteur*innen<br />

begründet das evangelische Profil als Praxis <strong>der</strong> Vielfalt. <strong>Im</strong> Folgenden<br />

werden Hintergründe, Intention und Vorgehen <strong>der</strong> Unternehmung<br />

skizziert, die Deutungsmuster konfessionsloser Schüler*innen als Beiträge zu<br />

dieser Vielfalt des evangelischen Schulprofils (nicht nur) in Ostdeutschland zu<br />

rekonstruieren.<br />

1Hintergr2nde<br />

Die vorliegende Untersuchung richtet den Fokus auf einen Ausschnitt <strong>der</strong> Realität<br />

an evangelischen Schulen in Ostdeutschland. Das geschieht vor dem Hintergrund<br />

zweier Anliegen, die im Diskurs um das evangelische Schulprofil virulent<br />

sind. Das erste Anliegenmanifestiert sich als Diskussion über empirische<br />

Forschungsdefizite hinsichtlich dessen, was an evangelischen Schuleneigentlich<br />

vor sich geht (s. oben). Denn im Wi<strong>der</strong>spruch dazu, dass <strong>der</strong>en Ansprüche<br />

konzeptionell vielfältig beschriebensind, wird die tatsächliche schulische Praxis<br />

»meist nur in <strong>der</strong> persönlichen Erfahrung <strong>der</strong>er sichtbar, die an evangelischen<br />

Schulen arbeiten o<strong>der</strong> diese als Schülerin o<strong>der</strong> Schüler besuchten« 8 .Zur Um-<br />

5<br />

Vgl. Oevermann, Zur Analyse <strong>der</strong> Struktur von sozialen Deutungsmustern.<br />

6<br />

Nipkow, <strong>Eva</strong>ngelische Schulen, 20.<br />

7<br />

Etwa 40 %<strong>der</strong> Schüler*innen an evangelischen Schulen in Ostdeutschland sind konfessionslos,<br />

vgl. Frank/Schwerin, Vorwort, 8.<br />

8<br />

Scheunpflug, Anspruch und Wirklichkeit evangelischer Schulen, 405.


1Hintergr.nde 11<br />

setzung <strong>der</strong> Ansprüche mangelt es an intersubjektiv verifizierbaren Daten. Das<br />

gilt insbeson<strong>der</strong>e im Hinblick auf qualitative Untersuchungen subjektiver<br />

Sichtweisen von schulischen Akteur*innen – ein Desi<strong>der</strong>at, das hier ebenso<br />

aufgegriffen wird wie <strong>der</strong> Mangel an Studien, die sich dem spezifisch christlichreligiösen<br />

Aspekt des Profils widmen. 9<br />

Das zweite Anliegen, welches aus dem Diskurs um das evangelische Profil<br />

adaptiert wird, ist die Frage <strong>nach</strong> <strong>der</strong> Realität des evangelischen Schulprofils und<br />

seiner religiösen Dimension im Kontext Ostdeutschlands.Obwohl die Region zu<br />

den am stärksten säkularisierten Gebieten <strong>der</strong> Welt gehört, sind dort seit <strong>der</strong><br />

Wie<strong>der</strong>vereinigung zahlreiche evangelische Schulen entstanden. 10 Beinahe die<br />

Hälfte <strong>der</strong> Schüler*innen an diesen Schulen gehört keiner Konfession an. Das<br />

entspricht <strong>der</strong> Normalität ihrer Umgebung, jedoch nicht <strong>der</strong> Norm des evangelischen<br />

Profils. 11 Dabei besteht in <strong>der</strong> Begegnung von Pluralität und christlichreligiöser<br />

Religion nichtper se ein Wi<strong>der</strong>spruch. <strong>Im</strong> Gegenteil, beide korrelieren<br />

im konzeptionellen Diskurs zu evangelischen Schulen: Vielfalt wird dort als<br />

protestantischer Wert und insofern als erwünscht akzentuiert. 12 Allerdings<br />

wollen evangelische Schulen nicht nur profiliert vielfältig,son<strong>der</strong>n auch profiliert<br />

evangelisch sein. Deshalb sind ihre Religiosität und die zugehörige Praxis konzeptionelle<br />

Schwerpunkte, wie das eingangs vorangestellten Zitat aus <strong>der</strong> EKD-<br />

Handreichung zu Schulen in evangelischer Trägerschaft verdeutlicht. Vordem<br />

Hintergrund, dass sich evangelischeSchulennicht nur pädagogisch legitimieren<br />

müssen, ist das ebenso <strong>nach</strong>vollziehbar wie notwendig: Das religiöse Profil mit<br />

christlich-theologischer Legitimation ist ihr Spezifikum.<br />

9<br />

Außer dem theologischen Aspekt sind <strong>der</strong> juristische Zusammenhang des Bildungspluralismus<br />

sowie das pädagogische Anliegen, »gute Schule« zu sein, als Legitimationshintergründe<br />

evangelischer Schulen zu betrachten. Vgl. zum Mangel an empirischen Daten<br />

hinsichtlich <strong>der</strong> religiösen Dimension des Profils Keßler, Doing School, 280; Holl, Orientierungen<br />

von Lehrerinnen und Lehrern, 134; Standfest/Köller/Scheunpflug, Leben-lernenglauben,<br />

186.<br />

10<br />

23 %<strong>der</strong> Bevölkerung sind Mitglied einer Kirche, während sich etwa 50 %als »Atheisten«<br />

beschreiben (vgl. Pollack/Rosta, Religion in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, 333; vgl. Wohlrab-Sahr/Karstein/<br />

Schmidt-Lux, Forcierte Säkularität, 13).<br />

11<br />

»Schulen in evangelischer Trägerschaft berufen sich auf das christliche Verständnis von<br />

Mensch und Wirklichkeit […].« (Kirchenamt <strong>der</strong> EKD, Schulen in evangelischer Trägerschaft,<br />

39).<br />

12<br />

So sehen sich evangelische Schulen als »Orte von Pluralität, in denen mehr und mehr<br />

unterschiedliche soziale, kulturelle und religiöse Prägungen von Schüler*innen, Eltern und<br />

Lehrkräften im Schulalltag aufeinan<strong>der</strong>treffen« (Losansky, Umgang mit Vielfalt, 69).


12 Einleitung<br />

2Intentionen<br />

In Bezug auf Ostdeutschland wird mit dem spezifisch christlichen Anspruch die<br />

Notwendigkeit religiöser »Erfahrungsräume« 13 und <strong>der</strong> »religiösen Alphabetisierung«<br />

14 verbunden, welche evangelische Schule im vorwiegend säkularen<br />

Kontext leisten sollten. Nicht selten wird bei <strong>der</strong> Formulierung dieses Anliegens<br />

eine Grenzezwischen dem religiösen Eigenen und dem nicht-religiösen Fremden<br />

gesetzt, wobei die regional übliche Konfessionslosigkeit eine Markierung als<br />

ideologiegeprägtes DDR-Erbe mit Son<strong>der</strong>status erfährt. 15 Das impliziert eine<br />

Form des Otherings gegenüber konfessionslosen Schüler*innen, die zugleich<br />

selbstverständlich in den Schulalltag integriert sind. Befragt man die Schüler*innen<br />

selbst <strong>nach</strong> ihrem Verhältnis zum religiösen Profil ihrer Schule, trifft<br />

man dabei auf ein Spektrum religiöser Indifferenz, partiell auf Religionskritik<br />

sowie auf die Affirmation spezifisch religiöser Inhalte und Praktiken bis hin zur<br />

individuellen Adaption. 16 Die Intention <strong>der</strong> vorliegenden Untersuchung ist, dieses<br />

Spektrum bei <strong>der</strong> Kontextualisierung des evangelischen Profils als »ostdeutsch«<br />

wahrzunehmen und abzubilden. Neben dem neben dem empirischen<br />

Einblick in die Realität evangelischer Schulen in Ostdeutschland verfolgt sie das<br />

Anliegen, das evangelische Profil nicht gegen, son<strong>der</strong>n in seinem Kontext zu<br />

konstituieren.<br />

Dazu gehört, die strukturelle Vielfalt des Profils, welche sich u. a. in seiner<br />

Offenheit für konfessionslose Schüler*innen manifestiert, mit <strong>der</strong>en Hilfe auch<br />

inhaltlich abzubilden, konkret: ihre Perspektiven einzubeziehen, um das evangelische<br />

Schulprofil zu beschreiben. Was bedeutet es für konfessionslose Schüler*innen,<br />

dass sie sich, weil sie aus dem Anspruch <strong>der</strong> Offenheit und Vielfalt<br />

evangelischer Schulen heraus <strong>der</strong>en selbstverständlicher Teil sind, in <strong>der</strong> Rolle<br />

<strong>der</strong> religiös zu Alphabetisierenden wie<strong>der</strong>finden? Existiert darin vielleicht gar<br />

kein Wi<strong>der</strong>spruch?Und wie sind in diesem Zusammenhang Sichtweisen wie die<br />

eingangs ebenfalls zitierte einzuordnen, welche den wohlwollenden Blick auf das<br />

evangelische Schulprofil gerade mit dessen Liberalität gegenüber »Nicht-Gläubigen«<br />

verbindet?<br />

13<br />

Scheunpflug, <strong>Eva</strong>ngelische Schulen, 180; Jung, Überlegungen zum Eigentlichen evangelischer<br />

Schulen, 166ff.<br />

14<br />

Schwerin, Das evangelische Profil, 105.<br />

15<br />

Dabei ist etwa vom »ideologiegeprägten Typus von Säkularisation« (Frank/Schwerin,<br />

Vorwort, 7ff.) o<strong>der</strong> von einer »radikal säkularisierten Umgebung» (Jung, Überlegungen zum<br />

Eigentlichen evangelischer Schulen, 165) die Rede.<br />

16<br />

Diese Differenziertheit bildet die Referenz auf den entsprechenden religionssoziologischen<br />

Spezialdiskurs zur ostdeutschen Konfessionslosigkeit (<strong>der</strong> u. a. durch die Forschung von<br />

Gert Pickel, Monika Wohlrab-Sahr und Detlef Pollack konstituiert wird) nicht ab.


3Zug3nge 13<br />

Die Intention, Perspektiven <strong>der</strong> Schüler*innen selbstindie Beschreibung des<br />

evangelischen Profils einzubeziehen, knüpft anseine theologische Begründung<br />

als offener, kommunikativer Prozess an. Als »Suchbewegung imSpielraum <strong>der</strong><br />

Freiheit« 17 (Martin Schreiner) realisiert dieser Prozess den Bezug auf das<br />

<strong>Eva</strong>ngelium und seine geschichtlichen Auslegungen im bereits erwähnten<br />

<strong>»Raum</strong> <strong>der</strong> <strong>Suche</strong> <strong>nach</strong> <strong>Verständigung«</strong> 18 .Nipkows Verständnis des evangelischen<br />

Profils als prozessualem Raum, den die schulischen Akteur*innen gemeinsam<br />

eröffnen und betreten, wird hier übernommen und durch den Titel <strong>der</strong><br />

Arbeit zumProgramm erhoben. Als Teil <strong>der</strong>»Kommunikation des <strong>Eva</strong>ngeliums« 19<br />

(Christian Grethlein) ist das evangelische Profil ebensowenig wie das <strong>Eva</strong>ngelium<br />

selbst statisch und als fest umrissenes Depositum objektivierbar. Es handelt sich<br />

stattdessen um eine Praxis, die als soziales, kommunikativ strukturiertes Phänomen<br />

von den daran beteiligten Akteur*innenalltäglich »hergestellt« wird und<br />

dem ständigen Wandel unterliegt.<br />

3Zug?nge<br />

Die eingangs beschriebene Neugier qualitativer Forschung setzt bei <strong>der</strong> Dynamik<br />

des evangelischen Profils an. In rekonstruktiver und interpretativer Manier<br />

gehen qualitative Forschungsansätze nicht von einer feststehenden Vorstellung<br />

ihrer Gegenstände aus, son<strong>der</strong>n zielen darauf, diese in ihrer Prozesshaftigkeit zu<br />

erfassen und zu theoretisieren. 20 Statt das evangelische Profil <strong>nach</strong> festgelegten<br />

Kriterien zu evaluieren und damit als etwas »Umsetzbares« zu reifizieren, soll es<br />

<strong>der</strong> qualitativen Logik entsprechend aus seiner konkreten, praktischen Realität<br />

heraus charakterisiert werden. Die theologisch fundierte Prämisse, dass es durch<br />

einen Prozess von Aneignung, Interpretation und Neu-Deutung seitens <strong>der</strong><br />

schulischen Akteur*innen konstituiert wird, bildet dabei den Ausgangspunkt<br />

seiner empirischen Untersuchung und korreliert methodologisch mit einem<br />

wissenssoziologischen Zugang. Die Wissenssoziologie beschreibt die soziale<br />

Konstruktion von Wirklichkeit als beständiges Ineinan<strong>der</strong> von Internalisierung,<br />

Externalisierung und Objektivation. 21 Dieser Vorgang wird realisiert, wenn<br />

konfessionslose Schüler*innen an evangelischen Schulen dort vorfindliche Inhalte<br />

und Praktiken adaptieren (Internalisierung), deuten (Externalisierung) und<br />

17<br />

Schreiner, <strong>Im</strong> Spielraum <strong>der</strong> Freiheit, 406.<br />

18<br />

Vgl. Nipkow, <strong>Eva</strong>ngelische Schulen, 20.<br />

19<br />

Vgl. Grethlein, Praktische Theologie, 144–192.<br />

20<br />

Vgl. Flick, Qualitative Sozialforschung, 22 f.<br />

21<br />

Grundlegend wird dieser Vorgang von Peter L. Berger und Thomas Luckmann im<br />

Hauptwerk <strong>der</strong> Wissenssoziologie beschrieben; vgl. Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche<br />

Konstruktion <strong>der</strong> Wirklichkeit; vgl. insbeson<strong>der</strong>e a. a. O., 65.


14 Einleitung<br />

ihre Deutungen wie<strong>der</strong>um Teil <strong>der</strong> Realität werden, auf die sie sich beziehen<br />

(Objektivation).<br />

Dieser analytische Ansatz wird um diskurstheoretische Aspekte erweitert,<br />

um auch die institutionell-strukturelle Seite des Profils zu erfassen, welche sich<br />

in den individuellen Deutungen wi<strong>der</strong>spiegelt. 22 Das evangelische Profil als<br />

Diskurs wird nicht allein im Schulalltag realisiert und aktualisiert, son<strong>der</strong>n auch<br />

durch diskursive Ereignisse wie die vorliegende Arbeit, die als Teil ihres Dispositivs<br />

zu begreifen ist. Neben<strong>der</strong> schulalltäglichen Praxis besteht bereits eine<br />

Struktur des evangelischen Profils, zu <strong>der</strong> die individuellen Deutungen in Bezug<br />

stehen. Innerhalb des Wechselspiels von Struktur und Individuum erschließen<br />

sich neue Perspektiven auf bisherige relevante Bestandteile dieser Struktur, zu<br />

<strong>der</strong> im Kontext Ostdeutschlands auch dieKlassifikation <strong>der</strong> Konfessionslosigkeit<br />

gehört sowieein Religionsbegriff, <strong>der</strong> u. a. als Mittel <strong>der</strong> Grenzziehung zwischen<br />

dem evangelischen Profil und den konfessionslosen Schüler*innen fungiert.<br />

Die Diskursperspektive ermöglicht, nicht beim Wesen <strong>der</strong> vorhandenen<br />

Bedeutungen und Beschreibungen als diskursive Konstruktionen bzw. bei <strong>der</strong>en<br />

Dekonstruktion stehenzubleiben. Sie eröffnet stattdessen den Blick auf Deutungshoheiten<br />

und auf Um-Deutungen (Re-Signifikationen) im performativen<br />

Sinne. 23 Die Integration konfessionsloser Schüler*innen in das Spektrum an<br />

Sprecherpositionen ermöglicht, Zuschreibungen wie die <strong>der</strong> Konfessionslosigkeit<br />

um Deutungen <strong>der</strong>er zu erweitern, denen sie gelten. 24<br />

Konfessionslose Schüler*innen in die Beschreibung des evangelischen<br />

Profils einzubeziehen heißt, sie an <strong>der</strong> diskursiven Konstruktion von Bedeutungen<br />

zu beteiligen. Damit wird Othering, soweit dieses vom Profil mittels <strong>der</strong><br />

Grenze zwischenReligion und Nicht-Religion konstituiert wird, in einen Prozess<br />

<strong>der</strong> Integration umgedeutet. Um die (Neu )Interpretationen <strong>der</strong> Schüler*innen<br />

hinsichtlich des Profils und <strong>der</strong> damit verbundenen Inhalte und Praktiken als<br />

inhaltliche Bestandteile des Diskurses zu beschreiben, dient das wissenssoziologische<br />

Konzept des sozialen Deutungsmusters (Oevermann) als heuristischer<br />

22<br />

Dazu wird Reiner Kellers Forschungsprogramm <strong>der</strong> Wissenssoziologischen Diskursanalyse<br />

als Integration wissenssoziologischer und diskurstheoretische Ansätze adaptiert,<br />

vgl. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse.<br />

23<br />

Vgl. Butler, Für ein sorgfältiges Lesen, 124ff.<br />

24<br />

Die Adaption solcher Zuschreibungen reproduziert diskursive Grenzen, aber nur so<br />

können bereits vorhandene Bedeutungen unter Verzicht auf hegemoniale Vorzeichen aktualisiert<br />

werden. Folglich geht es hier nicht um den Verzicht auf diskursiv konstruierte<br />

Bedeutungen, son<strong>der</strong>n darum, ihre Produktion entsprechend dem evangelischen Bezug des<br />

hier verhandelten Diskurses hinsichtlich ihrer Exklusivität o<strong>der</strong> Inklusivität zu befragen.


4Vorgehen 15<br />

Zugang zu intersubjektiv geteilten und typisierbaren Deutungen. 25 Somit ist als<br />

Ziel dieser Arbeit bestimmt, Perspektiven konfessionsloser Schüler*innen als<br />

Teil <strong>der</strong> »Suchbewegung« des evangelischen Schulprofils zu rekonstruieren und<br />

in Form von Deutungsmustern als inhaltliche Bestandteile des evangelischen<br />

Profils als Diskurs zu beschreiben.<br />

4Vorgehen<br />

Der Wegzuden antizipierten Deutungsmustern als Teil des evangelischen Profils<br />

wird im Folgenden durch Ausblicke auf die einzelnen Kapitel beschrieben. Die<br />

Stringenz, welche die dabei abgebildete Struktur <strong>der</strong> Untersuchung nahelegt,<br />

entspricht nicht <strong>der</strong> iterativen Logik ihres Zustandekommens. Bei qualitativen<br />

Forschungsprozessen handelt es sich den Prinzipen <strong>der</strong> adaptierten Grounded<br />

Theory entsprechend um zirkuläre Vorgänge: Theoretische Grundlagen, erhobene<br />

Daten und Auswertung beeinflussen sich über die Dauer des gesamtes<br />

Prozesses wechselseitig. 26 Statt einer Linearität von theoretischen Konzepten<br />

zum empirischen Material, welches diese mit Daten »füllt«, werden Ergebnisse<br />

durch permanente wechselseitige (Rück )Bezüge generiert.<br />

So beeinflussen heuristische Konzepte die Rekonstruktion von empirischen<br />

Deutungsmustern, indem sie den Blick auf die Daten theoretischsensibilisieren.<br />

Ebenso legen aber erst die Daten selbst geeignete Konzepte wie jenes des sozialen<br />

Deutungsmusters für ihre theoretische Beschreibung nahe. Auf <strong>der</strong> Mesoebene<br />

gilt das auch für das Verhältnis von evangelischem Profil, einzelnen Deutungsmustern<br />

und Diskursbegriff: Deren theoretische Integration ist weniger Voraussetzung<br />

als Ergebnis <strong>der</strong> ineinan<strong>der</strong> verschränkten theoretischen und empirischen<br />

Annäherung an das evangelische Profil – und zugleich die Grundlage<br />

eines umfassen<strong>der</strong>en Verständnisses im Verlauf <strong>der</strong> weiteren Untersuchung.<br />

Dieser Prozess ist kontingent und kann nur begrenzt abgebildet werden. Auch<br />

dabei handelt es sich um eine »<strong>Suche</strong>«, weshalb am Ende <strong>der</strong> Arbeit ein Ausblick<br />

auf weitere Möglichkeiten steht, mit dem rekonstruierten Material theoretisch<br />

umzugehen.<br />

Bevor in Kapitel 1 theologische Zugänge zum evangelischen Profil als<br />

Prozess und damit zur qualitativen Forschungsperspektive darauf erschlossen<br />

werden, erfolgt eine Annäherung an den Gegenstand aus verschiedenen Richtungen.<br />

Zunächst werden freie Schulen inevangelischer Trägerschaft vor dem<br />

Hintergrund ihres verfassungsmäßigen Status und im Rahmen des Bildungs-<br />

25<br />

Vgl. zur Integration von Deutungsmusterkonzept und Diskursperspektive Keller, Wissenssoziologische<br />

Diskursanalyse, 243; Halatcheva-Trapp, Elternschaft imWechselspiel,<br />

59 ff.<br />

26<br />

Vgl. Strauss/Corbin, Grounded Theory, 8.


16 Einleitung<br />

pluralismus eingeordnet, um den juristischen Begründungszusammenhang des<br />

evangelischen Profils zu erschließen. Anschließend werden historische Aspekte<br />

des evangelischen Schulwesens skizziert. Die Geschichte evangelischer Schulen<br />

endet zwar nicht wie <strong>der</strong> entsprechende Abriss mit <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> <strong>Eva</strong>ngelischen<br />

Schulstiftung in <strong>der</strong> EKD (ESSEKD). Dieses Ereignis ist jedoch ein Marker,<br />

<strong>der</strong> sowohl mit dem Boom evangelischer Schulen in Ostdeutschland als auch mit<br />

<strong>der</strong> intensiven Frage <strong>nach</strong> dem Proprium evangelischer Schulen verbunden ist<br />

und damit in die Gegenwart des Profils führt. Diese wird anhand von konzeptionellen<br />

Perspektiven und einem empirischen Forschungsüberblick illustriert,<br />

<strong>der</strong> ebenso wie das daraus resultierende Erkenntnisinteresse zeigt, dass evangelische<br />

Schulen in <strong>der</strong> Forschung kein »vergessenes Kapitel« 27 mehr sind. In<br />

Verbindung mit dem spezifischen Forschungsinteresse wird das Profil über<br />

theologische Zugänge als Prozess und davon ausgehend als Gegenstand qualitativer<br />

Forschung konstituiert. Vordem Hintergrund <strong>der</strong> Wissenssoziologie als<br />

analytischem Zugang werden am Ende des Kapitels konkrete Forschungsfragen<br />

formuliert.<br />

Kapitel 2 beschäftigt sich mit dem Status des Profils als evangelisch sowie<br />

mit Ostdeutschland als dem hier verhandelten Kontext evangelischer Schulen.<br />

Zunächst wird das Verständnis des Profils als Praxis vertieft. In Referenz auf<br />

Grethleins bereits erwähntem Konzept <strong>der</strong> Kommunikation des <strong>Eva</strong>ngeliums<br />

sowie auf eine interkulturell-theologische Perspektive 28 wird diese Praxis ekklesiologisch<br />

als eine <strong>der</strong> pluralen Gestalten von κκλησία bzw. als eines von<br />

pluralen »Christentümern« 29 verortet. Sowohl <strong>Eva</strong>ngelium als auch Christentum<br />

werden als diskursive, sprachpraktisch generierte Phänomene erschlossen, die<br />

ebenso akteur*innen- wie kontextabhängig sind. Die wissenssoziologische Annahme,<br />

dass keine soziale Praxis ohne ihren Kontext beschrieben werden kann,<br />

gilt auch für das evangelische Profil, denn seine Akteur*innen tragen ihre Lebenswelt<br />

ein.<br />

In puncto Religiosität gerät dabei die regional dominierende Konfessionslosigkeit<br />

als Makroebene in den Blick. Wie bereits geschil<strong>der</strong>t ist die Referenz<br />

darauf ebenso wie die Referenz auf Ostdeutschland zu problematisieren, denn<br />

beide klassifizieren und essentialisieren die adressierten Phänomene aus diskurshoheitlichen<br />

Sprecherpositionen heraus. 30 Die entsprechende, hier bereits<br />

initiierte,kritische Reflexionwird im 2. Kapitelvertieft. Dabei wird zunächst die<br />

Kategorie <strong>der</strong> Kontextualität allgemein <strong>nach</strong> ihrem Verhältnis von Normativität<br />

und Deskriptivität befragt, bevor die damit verbundenen Bezeichnungen Ost-<br />

27<br />

Vgl. Nipkow, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, 496.<br />

28<br />

Vgl. Gruber, Theologie <strong>nach</strong> dem Cultural Turn.<br />

29<br />

Vgl. a. a. O., 227.<br />

30<br />

Warum sich die vorliegende Untersuchung an <strong>der</strong> Reproduktion dieser Essentialisierung<br />

beteiligt, wurde im Zusammenhang mit ihren Intentionen erläutert.


4Vorgehen 17<br />

deutschland und Konfessionslosigkeit in ihrem Wesen als Klassifikationen 31<br />

erörtert werden. Dass die Bezeichnungen hier dennoch verwendet werden, wird<br />

mit <strong>der</strong> Möglichkeit ihrer Re-Signifikation durch tendenziell marginalisierte<br />

Stimmen wie die <strong>der</strong> konfessionslosen Schüler*innen begründet. Doch auch die<br />

im »offiziellen« Diskurs zu evangelischen Schulen relevanten Deutungen dazu<br />

sollen zu Wort kommen. In diesem Sinne werden Aspekte <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Entstehungsgeschichte<br />

evangelischer Schulen in Ostdeutschland, des religionssoziologischen<br />

Diskurses zur ostdeutschen Konfessionslosigkeit sowie ihrer Thematisierung<br />

in konzeptionellen Überlegungen zum evangelischen Schulprofil<br />

gezeigt.<br />

Die spezifische Konzeptionalisierung des evangelischen Profils als Diskurs<br />

und die Deutungen <strong>der</strong> konfessionslosen Schüler*innen als Beiträge dazu erfolgt<br />

in Kapitel 3. Dass die Praxis des evangelischen Profils eine diskursive Struktur<br />

hat, ist durch den Einbezug <strong>der</strong> interkulturell-theologischen Perspektive in sein<br />

Verständnis implementiert worden. Die damit verbundene Semiotik wird nun als<br />

Grundlage des Diskursbegriffes allgemein erschlossen. Sie dient auch als theoretische<br />

Grundlage für die Partizipation konfessionsloser Schüler*innen an <strong>der</strong><br />

diskursiven Herstellung von Bedeutung im Rahmen des evangelischen Profils. 32<br />

Das Verständnis <strong>der</strong> hermeneutischen Wissenssoziologie wird vertieft, um ihre<br />

Integration mit diskurstheoretischen Ansätzen im Forschungsprogramm <strong>der</strong><br />

Wissenssoziologischen Diskursanalyse <strong>nach</strong>zuvollziehen. 33<br />

Um ein konsistentes analytisches Verständnis des Profils und <strong>der</strong> konfessionslosen<br />

Schüler*innen als Akteur*innen zu erlangen, werden Praxis- und<br />

Diskursbegriff integriert. Des Weiteren wird die Materialität von Diskursen erschlossen,<br />

u. a. anhand <strong>der</strong> konkreten Institutionalisierung des evangelischen<br />

Profils in seinem Dispositiv. <strong>Im</strong> Rahmen <strong>der</strong> anschließend skizzierten inhaltlichen<br />

Strukturen von Diskursen kommt das soziale Deutungsmuster ins Spiel,<br />

welches wie beschrieben dem analytischen Zugriff auf die Deutungen <strong>der</strong> konfessionslosen<br />

Schüler*innen dient und zugleich <strong>der</strong>en Integration in das Profil<br />

als Diskurs. Auch hier fungiert die Wissenssoziologische Diskursanalyse als<br />

Integration von Diskurstheorie und dem aus <strong>der</strong> Wissenssoziologie stammenden<br />

Deutungsmusterkonzept.<br />

Kapitel 4 schil<strong>der</strong>t analytische, methodologische und forschungspraktische<br />

Zugänge zu den antizipierten Deutungen konfessionsloser Schüler*innen. Diese<br />

31<br />

Klassifikation meint hier die formalisierte und institutionell stabilisierte Form sozialer<br />

Typisierungsprozesse, vgl. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, 244.<br />

32<br />

Dazu gehört die Negation <strong>der</strong> Existenz von Christentum als außensprachliche Faktizität(en).<br />

Dass die Bedeutung durch die Deutungsaktivität <strong>der</strong> beteiligten Akteur*innen generiert<br />

wird, implizierten bereits die Bemerkungen zur interkulturell-theologischen Perspektive<br />

auf das evangelische Profil.<br />

33<br />

Vgl. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse.


18 Einleitung<br />

Zugänge sind entscheidend, um empirisches Material als Basis <strong>der</strong> Rekonstruktionvon<br />

Deutungsmustern gegenüber dem evangelischen Profil generieren<br />

und auswerten zu können. Antezedenz von intersubjektiv geteilten Deutungen<br />

ist die gemeinsame Bezugnahme sozialer Akteur*innen auf ein geteiltes objektives<br />

Handlungsproblem 34 (Oevermann). Als solches wird im Hinblick auf die<br />

Interpretationspraxis konfessionsloser Schüler*innen an evangelischen Schulen<br />

die kognitive Dissonanz 35 (Festinger) betrachtet, die aus <strong>der</strong> diskursiven Grenzziehung<br />

zwischen ihrer eigenen Konfessionslosigkeit und <strong>der</strong> Konfessionalität<br />

des Profils resultiert. <strong>Im</strong> Sinne des Konzeptes <strong>der</strong> kognitiven Dissonanz zielt<br />

solch ein kognitiv erlebter Wi<strong>der</strong>spruch auf Aktivitätenseiner Reduktion, sobald<br />

er alltagspraktisch virulent wird.<strong>Im</strong>Hinblick auf die beschriebene Dissonanz als<br />

Handlungsproblem konfessionsloser Schüler*innen geschieht das, wenn sich<br />

diese auf <strong>der</strong> symbolischen o<strong>der</strong> imaginären Ebene <strong>der</strong> Schulkultur 36 (Werner<br />

Helsper) manifestiert. Dadurch wird sie im Schulalltag zum Auslöser dissonanzreduzieren<strong>der</strong><br />

Interpretationen. Ebenso wie das Handlungsproblem selbst<br />

werden diese intersubjektiv geteilt und können somit als soziale Deutungsmuster<br />

beschrieben werden.<br />

Anschließend werden das Forschungsdesign <strong>der</strong> empirischen Untersuchung<br />

und seine methodologischen Grundlagen erläutert. Entscheiden<strong>der</strong> Ansatz ist<br />

dabei die Grounded Theoryals gegenstandsbezogene,vom empirischen Material<br />

geleitete Theorieentwicklung. Entsprechend dem wissenssoziologisch-diskursanalytischen<br />

Zugang dazu wird diese in ihrer konstruktivistischen Interpretation<br />

rezipiert. 37 Der Akzent liegt dabei auf <strong>der</strong> epistemologischen Einsicht, dass<br />

Theorie nicht einfach aus den Daten »emergiert«, son<strong>der</strong>n wie beschrieben von<br />

<strong>der</strong> Forscherin durch die iterative Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Daten und<br />

theoretisch sensibilisierenden Konzepten konstruiert wird. 38<br />

Die Art dieses Forschungsprozesses und die hier vorgenommene Verbindung<br />

von Grounded Theory und Deutungsmusterrekonstruktion werden im Anschluss<br />

reflektiert. 39 Schließlich werden als methodische Grundlagen <strong>der</strong> Datenerhebung<br />

Elemente des problemzentrierten und des diskursiven Interviews aufgegriffen.<br />

Ihre Verbindung soll Gesprächssituationen hervorrufen, welche die Konfrontation<br />

<strong>der</strong> Schüler*innen mit <strong>der</strong> erörterten kognitiven Dissonanz als Handlungsproblem<br />

reproduzieren und auf diese Weise Deutungen zu ihrer Auflösung<br />

evozieren. Eine entscheidende Funktion hat dabei <strong>der</strong> für die Interviews entwi-<br />

34<br />

Vgl. Oevermann, Zur Analyse <strong>der</strong> Struktur von sozialen Deutungsmustern, 5.<br />

35<br />

Vgl. Festinger, Theorie <strong>der</strong> kognitiven Dissonanz.<br />

36<br />

Vgl. Helsper, Schulkulturen – die Schule als symbolische Sinnordung.<br />

37<br />

Vgl. Hohage, Kathy Charmaz’.<br />

38<br />

Vgl. Kelle/Kluge, VomEinzelfall zum Typus, 28.<br />

39<br />

Die damit verbundene Iterativität und eine gewisse Kontingenz des Forschungsprozesses<br />

sind angedeutet worden.


4Vorgehen 19<br />

ckelte Leitfaden. Seine Konstruktion, die sich an <strong>der</strong> symbolischen und imaginären<br />

Ebene <strong>der</strong> Schulkultur orientiert, wird ebenso reflektiert wie das Sampling<br />

<strong>der</strong> Schüler*innen und <strong>der</strong> evangelischen Schulen, an denen die Interviews<br />

durchgeführt werden. Abschließend werden die Schritte <strong>der</strong> Rekonstruktion des<br />

dabei erhobenen Materials dargestellt.<br />

Kapitel 5 dient schließlich <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> rekonstruierten Deutungsmuster<br />

Annäherung, Enthaltung und Distanzierung. Sie typisieren implizite<br />

Umgangsweisen von konfessionslosen Schüler*innen mit <strong>der</strong> analytisch bestimmten<br />

Dissonanz, mit <strong>der</strong> das evangelische Profil sie konfrontiert. Die theoretisierten,<br />

zu Mustern verdichteten intersubjektiv geteilten Deutungen werden<br />

als interpretative Auflösung dieser Dissonanz begriffen und darüber hinaus als<br />

Interpretation <strong>der</strong> religiösen Dimension des Profils. Die Bezeichnungen <strong>der</strong><br />

Deutungsmuster deuten darauf hin, dass <strong>der</strong> Umgang konfessionsloser Schüler*innen<br />

mit dem evangelischen Schulprofil als Spektrum von Affirmation bis<br />

Ablehnung beschrieben werden kann.<br />

Bei den Deutungsmustern handelt es sich um theoretische Abstraktionen<br />

dessen, was die Aussagen <strong>der</strong> konfessionslosen Schüler*innen im Hinblick auf<br />

den analytischen Zugang implizit bedeuten. Zur Veranschaulichung erfolgt die<br />

Abbildung <strong>der</strong> Muster im fortlaufenden Wechsel von Schlüsselstellen aus dem<br />

Interviewmaterial und <strong>der</strong>en Reflexion. Die jeweilige inhaltliche Struktur setzt<br />

sich aus verschiedenen auf <strong>der</strong> Basis von Codes verdichteten Kategorien zusammen,<br />

die über kausale Zusammenhänge und die jeweiligen Ausprägungen<br />

von Annäherung, Enthaltung und Distanzierung Aufschluss geben. Für das Deutungsmuster<br />

Annäherung werden als integrale Kategorien Sozialität, Existentialität,<br />

Liberalität, Religiosität, Solidarität, Exklusivität, Partizipation und Ästhetik<br />

beschrieben. Das Deutungsmuster Enthaltung korreliert mit Deutungen, die unter<br />

den Kategorien Irrelevanz, Normalisierung, Externalisierung und Pragmatismus<br />

subsumiert werden. Diese überschneiden sich sowohl mit Kategorien <strong>der</strong> Annäherung<br />

als auch <strong>der</strong> Distanzierung. Als letztes wird anhand <strong>der</strong> Kategorien Heterogenität,<br />

Religionskritik, Heteronomie und Sozialisation die inhaltliche Beschaffenheit<br />

des Deutungsmusters Distanzierung dargestellt.<br />

Kapitel 6 bildet den Abschluss dieser Arbeit und gibt zugleich einen Ausblick,<br />

wie am Materialweitergearbeitet werden könnte. 40 Die zunächst skizzierte<br />

wissenssoziologische bzw. interpretative Subjektivierungsanalyse 41 (Saša Bosančić)<br />

eröffnet eine weitere theoretische Perspektive auf die rekonstruierten<br />

Deutungen von konfessionslosen Schüler*innen. Sie bringt mit <strong>der</strong> Frage <strong>nach</strong><br />

diskursiv hergestellten Subjektangeboten einen neuen Aspekt von Othering-<br />

40<br />

Die Perspektiven können auch als <strong>Im</strong>pulse für die analytische Arbeit an Deutungen und<br />

Positionen in an<strong>der</strong>en institutionell stabilisierten Diskursen insbeson<strong>der</strong>e im schulischen<br />

und kirchlichen Bereich verstanden werden.<br />

41<br />

Vgl. Bosančić, Subjektivierungsanalyse.


20 Einleitung<br />

Prozessen im Diskurs des evangelischen Profils ins Spiel und verweist zugleich<br />

auf die Möglichkeit von <strong>der</strong>en performativer Re-Signifikation. Die Betrachtung<br />

endet insofern nicht mit <strong>der</strong> Konstituierung quasi »kulturimperialistischer« 42<br />

Prozesse, von denen man im Rahmen des evangelischen Profils in Ostdeutschland<br />

sprechen könnte,insoweit das profilidentische, religiöse »Eigene« den nichtreligiösen<br />

»An<strong>der</strong>en« vermittelt werden soll. Vielmehr soll das Konzept <strong>der</strong> Re-<br />

Signifikation das evangelische Profil als Modell <strong>der</strong> Vielfalt ins Licht rücken, das<br />

eine gemeinschaftliche und diverse Interpretationspraxis ermöglicht.<br />

Dieser Einleitung vorangestellt ist die Zusammenschau zweier Zitate, die<br />

eine Spannung zwischen dem religiösen Anspruch und <strong>der</strong> Pluralitätsfähigkeit<br />

evangelischer Schulen wi<strong>der</strong>spiegelt. Insbeson<strong>der</strong>e die hohe Zahl konfessionsloser<br />

Schüler*innen in Ostdeutschland scheint die Frage <strong>nach</strong> dem Verhältnis<br />

von Vielfalt und Konfessionalität virulent zu machen. Doch gerade die Heterogenität<br />

<strong>der</strong> schulischen Akteur*innen in puncto Weltanschauung erzeugt eine<br />

Diversität, die man als profiliert evangelisch verstehen kann. Und damit ist nicht<br />

nur die strukturelle Vielfalt evangelischer Schulen gemeint, welche durch unterschiedliche<br />

Lebenswelten und Kontextehervorgebracht wird. Es geht auch um<br />

eine inhaltliche Vielfalt, die das evangelische Profil als Rahmen gemeinsamer<br />

Deutungsprozesse im Schulalltag ermöglicht. Durch ihre Adaptionen, Ablehnungen<br />

o<strong>der</strong> Re-Signifikationen partizipieren alle schulischen Akteur*innen an<br />

<strong>der</strong> Produktion von Be-Deutungen, die sich auf das <strong>Eva</strong>ngelium und seine geschichtlichen<br />

Auslegungen beziehen. 43 So ist das evangelische Profil auch in<br />

theologischer Hinsicht ein <strong>»Raum</strong> <strong>der</strong> <strong>Suche</strong> <strong>nach</strong> <strong>Verständigung«</strong>, in dem eine<br />

Vielfalt an Deutungen Platz hat.<br />

42<br />

Iris Marion Young beschreibt »Kulturimperialismus« als eine Form <strong>der</strong> Vormacht bestimmter<br />

in einem sozialen Gefüge herrschenden Werte gegenüber Perspektiven von<br />

Gruppen, die »unsichtbar« gemacht bzw. als »das An<strong>der</strong>e« gekennzeichnet werden (Othering),<br />

vgl. Young, Fünf Formen <strong>der</strong> Unterdrückung, 439.<br />

43<br />

Zur strukturellen Seite des evangelischen Profils, auf welche sich die Deutungspraxis <strong>der</strong><br />

Schüler*innen bezieht, gehören – vermittelt durch sein Dispositiv – auch das <strong>Eva</strong>ngelium<br />

und seine geschichtlichen Auslegungen, insbeson<strong>der</strong>e in den biblischen Texten.


1 Die Frage <strong>nach</strong> dem evangelischen<br />

Profil<br />

In Deutschland gibt esetwa 1100 evangelische Schulen. 1 Namentlich eint diese<br />

ihr Bezug auf das <strong>Eva</strong>ngelium. Davon abgesehen sind sie ein diverses Phänomen,<br />

pädagogisch und theologisch unterschiedlich geprägt. Diese Diversität wird im<br />

Sinne des protestantischen Erbes bejaht und als Identitätsmerkmal evangelischer<br />

Profilbildung affirmiert: »In <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong> Profile und Träger evangelischer<br />

Schulen spiegelt sich die innere Vielfalt <strong>der</strong> reformatorischen Kirchen sowie<br />

des Protestantismus« 2 .Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite ist es ein Schwerpunkt des evangelischen<br />

Schulwesens, innerhalb <strong>der</strong> pluralen Bildungslandschaft das eigene<br />

Profil spezifisch definieren und sichtbar machen zu wollen. Ausgehend von<br />

diesem Anliegen hat sich eine Debatte um das evangelische Profil entzündet. Sie<br />

prägt Konzepte einzelner Schulen, das Engagement <strong>der</strong> Schulstiftungen sowie<br />

die wissenschaftliche Arbeit zum evangelischen Schulprofil. 3 Dabei besteht<br />

hinsichtlich evangelischer Schulen ein dreifacher Profilierungs- und Legitimationsanspruch:<br />

aus pädagogischer Sicht als »gute Schulen«, aus rechtlicher Sicht<br />

in Konkurrenz zu öffentlichen und an<strong>der</strong>en privaten 4 Schulträgern, und aus<br />

1<br />

Diese werden von ca. 214.400 Schüler*innen besucht, vgl. Wissenschaftliche Arbeitsstelle<br />

<strong>Eva</strong>ngelische Schule, Statistik, 5.<br />

2<br />

Kirchenamt <strong>der</strong> EKD, Schulen in evangelischer Trägerschaft, 35.<br />

3<br />

Jürgen Frank weist darauf hin, dass sich die Frage <strong>nach</strong> dem Spezifikum evangelischer<br />

Schulen seit ihrer Gründung 1993 als roter Faden durch die Arbeit <strong>der</strong> <strong>Eva</strong>ngelischen<br />

Schulstiftung in <strong>der</strong> EKD (ESSEKD) ziehe; vgl. Frank, Das Fremde verstehen und aufnehmen,<br />

25 ff. Vgl. auch Karl-Ernst Nipkows bereits 1990 virulenten Hinweis zur »Dauerdiskussion<br />

über die Propriumsfrage« (Nipkow, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, 510).<br />

4<br />

<strong>Eva</strong>ngelische Schulen verstehen sich als öffentliche Schulen, werden aber in Art. 7GGals<br />

Schulen in »privater Trägerschaft« definiert, vgl. Losansky, Umgang mit Vielfalt, 70. Wenn<br />

diese Einordnung evangelischer Schulen als »Privatschulen« hier übernommen wird, ist<br />

damit <strong>der</strong> formal-juristische Status gemeint. <strong>Im</strong>plikationen hinsichtlich ihres Selbstverständnisses<br />

als öffentliche, prinzipiell allen zugängliche Schulen sind damit hingegen nicht<br />

verbunden.


22 1Die Frage <strong>nach</strong> dem evangelischen Profil<br />

theologischer Sicht als Schulen, diesich dezidiert auf das <strong>Eva</strong>ngelium beziehen. 5<br />

An<strong>der</strong>s als <strong>der</strong> pädagogische und juristische ist <strong>der</strong> theologische Anspruch mit<br />

<strong>der</strong> Frage <strong>nach</strong> <strong>der</strong> spezifischen Identität des Profils verknüpft,da<strong>der</strong> christlichreligiöse<br />

Bezug die charakteristische Differenz zu staatlichen und zu an<strong>der</strong>en<br />

Schulen in freier Trägerschaft bildet. Gedacht als Beitrag zur Profilierung<br />

evangelischer Schulen, bezieht sich diese Studie als eine theologische dezidiert<br />

auf diesen Aspekt.<br />

<strong>Im</strong> Folgenden wird das konfessionelle Profil als Gegenstand konstituiert:<br />

mittels <strong>der</strong> Darstellung seiner Rahmenbedingungen, aus historischer Perspektive,<br />

durch eine Übersicht konzeptioneller Aspekte sowie anhand des aktuellen<br />

Standes empirischerForschung.Davon ausgehend werden Anknüpfungspunkte<br />

für weitere Forschung identifiziert und aus theologischer sowie sozialwissenschaftlicher<br />

Perspektive analytische Zugänge und Forschungsfragen formuliert.<br />

1.1 Schulen in freier evangelischer Tr?gerschaft<br />

Prinzipiell sind die beiden großen christlichen Kirchen und assoziierte Organisationen<br />

historisch und aktuell als »Hauptakteure <strong>der</strong> Expansion und Konstituierung<br />

des Feldes privater Schulen« 6 zu betrachten. Die Mehrheit <strong>der</strong> sogenannten<br />

freien Schulen in Deutschland befindet sich in kirchlicher bzw. kirchlich<br />

assoziierter Trägerschaft. 7 Wegen <strong>der</strong> Diversität dieser Träger kann trotzdem<br />

keine »direkte Einwirkung <strong>der</strong> Kirchenstrukturen auf die Schulen« 8 unterstellt<br />

werden: Kirchliche Bindungen sind mal mehr, mal weniger ausgeprägt. 9 Soweit<br />

hier von »evangelischen Schulen« die Rede ist, sind Schulen in »freier evangelischer<br />

Trägerschaft« gemeint: Juristisch gesehen Privatschulen, <strong>der</strong>en Träger<br />

evangelisch sind. Die Vielfalt anTrägerformen bildet dabei eine »bunte und<br />

heterogene Landschaft« 10 , bestehend aus Landeskirchen, (Schul )Stiftungen,<br />

diakonischen Trägern, Kirchengemeinden, Kirchenkreisen o<strong>der</strong> freien Schulvereinenmit<br />

Trägerfunktion. 11 De facto impliziert die Bezeichnung »evangelische<br />

5<br />

Vgl. u. a. Nipkow, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, 500 ff.<br />

6<br />

Koinzer, Die Frage des Propriums, 107.<br />

7<br />

Vgl. Schrö<strong>der</strong>, Religionspädagogik, 673.<br />

8<br />

Scheunpflug, Schulen in evangelischer Trägerschaft, 41.<br />

9<br />

Vgl. auch Schreiner, <strong>Eva</strong>ngelische Schulen, 170.<br />

10<br />

Wissenschaftliche Arbeitsstelle <strong>Eva</strong>ngelische Schule, Statistik, 5.<br />

11<br />

Vgl. ebd. Seit 1973 gibt es in Deutschland außerdem »evangelikale Bekenntnisschulen».<br />

Sie sind auf das Engagement evangelikaler Gruppierungen zurückzuführen und in ihrem<br />

pädagogischen Profil weniger erziehungswissenschaftlich, son<strong>der</strong>n biblizistisch bzw. aus<br />

einer pietistischen Erziehungstradition heraus legitimiert (vgl. Wünch, <strong>Eva</strong>ngelikale Be-


1.1 Schulen in freier evangelischer Tr3gerschaft 23<br />

Schule«also auch im Hinblick auf jeweilige Organisationsstrukturenvorwiegend<br />

Uneinheitlichkeit. Rechtlich ist diese Situation durch den Grundsatz des Bildungspluralismus<br />

charakterisiert, wie im Folgenden dargestellt wird. Anschließend<br />

folgt ihre historische Verortung im Kontext des evangelischen<br />

Schulwesens seit <strong>der</strong> Reformation.<br />

1.1.1 Rechtliche Situation im Rahmen des Bildungspluralismus<br />

Seit Anfang <strong>der</strong> 1990er Jahre ist nicht nur die Zahl evangelischer Schulen gestiegen;das<br />

Privatschulweseninsgesamt hat in <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland<br />

einen deutlichen Aufschwung erfahren. In seiner jetzigen rechtlichen Form geht<br />

es dabei auf die Weimarer Reichsverfassung zurück. Diese priorisierte zwar öffentliche<br />

allgemeinbildende Schulen, schloss aber die Option von privaten<br />

Schulenals Ersatzschulen ein. Bedingungen für <strong>der</strong>en Gründung waren dabei die<br />

Gleichwertigkeit gegenüber öffentlichen Schulen bei Lernzielen und Lehrerausbildung,<br />

die Vermeidung von Segregation <strong>der</strong> Schüler*innen <strong>nach</strong> Besitzverhältnissen<br />

und außerdem die Anerkennung eines beson<strong>der</strong>en pädagogischen<br />

Interesses bzw. das Fehlen einer öffentlichen Schule im Gemeindegebiet für ein<br />

bestimmtes Bekenntnis (WRV, Art. 147, Abs. 1, 2). 12<br />

Diese Bestimmungen fanden inanaloger Form Eingang in das Grundgesetz<br />

<strong>der</strong> BRD (GG Art. 7, Abs. 4, 5). Private Schulgründungen mit bestimmten konfessionellen<br />

o<strong>der</strong> pädagogischen Intentionen sind in dessen Rahmen prinzipiell<br />

möglich: <strong>Im</strong> Sinne des sogenannten Trägerpluralismus besteht das Recht zur<br />

Errichtung von privaten Schulen (Art. 7.4GG). Hierin kommt zum Ausdruck, dass<br />

<strong>der</strong> Staat we<strong>der</strong> das Monopol auf die Errichtung und Unterhaltung von Schulen<br />

beansprucht, nochdas auf ein feststehendes fachlich-pädagogischesProgramm. 13<br />

Den rechtlichen Kontext dieses Trägerpluralismus bilden dabei das freiheitlichdemokratische<br />

Selbstverständnis des Staates, das sogenannte Elternrecht in<br />

Erziehungsfragen (Art. 4 GG) sowie das religionsgesellschaftliche Selbstbestimmungsrecht<br />

(Art. 140 GG i. V. m. Art. 137.3 WRV). Schulen inprivater bzw.<br />

kirchlicher Trägerschaft gelten als Ersatz für öffentliche Schulen und stehen als<br />

solche unter <strong>der</strong> Aufsicht des Staates, <strong>der</strong> sie genehmigen muss. <strong>Im</strong> Gegenzug<br />

werden mit ihrem Besuch die staatliche Schulpflicht erfüllt und die an Ersatzschulen<br />

erworbenen Zeugnisse staatlich anerkannt. Bedingungen für die<br />

Gleichwertigkeit gegenüber öffentlichen Schulen ist die Qualität <strong>der</strong> privaten<br />

Schulen – diese darf nicht hinter <strong>der</strong> öffentlichenzurückstehen. Konkret gilt das<br />

kenntnisschulen, 49, sowie Schrö<strong>der</strong>, Religionspädagogik, 673) und hier nicht berücksichtigt.<br />

12<br />

Vgl. Kraul, Privatschulen, 24.<br />

13<br />

Vgl. Schrö<strong>der</strong>, Religionspädagogik, 673.


24 1Die Frage <strong>nach</strong> dem evangelischen Profil<br />

für Lehrziele, die Einrichtungen selbst sowie die wissenschaftliche Ausbildung<br />

<strong>der</strong> Lehrkräfte. 14<br />

Während es im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t noch vorwiegend um die Substitution des<br />

damaligen Schulsystems ging, hatte sich durch die Weimarer Reichsverfassung<br />

(wie späteranalog im Grundgesetz) die Logik von privaten Schulgründungenzu<br />

<strong>der</strong>en spezifischer pädagogischer Profilierung verschoben. 15 Nachdem während<br />

des Nationalsozialismus viele private Schulen geschlossen worden waren, intendierten<br />

Wie<strong>der</strong>- und Neueröffnungen <strong>nach</strong> dem Zweiten Weltkrieg erneut den<br />

Ausgleich bestehen<strong>der</strong> Mängel und Lücken des staatlichen Schulsystems. Als<br />

dieses in den 1960er und 70er Jahren prosperierte, stagnierte wie<strong>der</strong>um das<br />

Privatschulwesen. 16 Der erneute Aufschwung von Privatschulen seit den neunziger<br />

Jahren hängt, wie verfassungsrechtlich angestrebt, eher mit ihren pädagogischen<br />

Profilierungsmöglichkeiten zusammen als mit <strong>der</strong> quantitativen<br />

Notwendigkeit, das staatliche Schulwesen zu substituieren.<br />

Dabei spielen reformpädagogische Ansätze die Hauptrolle sowie damit verbundene<br />

Interessen »im fast Rousseauschen Sinne« 17 ,Schüler*innen in ihrer<br />

Persönlichkeit und Entwicklung zu för<strong>der</strong>n. Neben dieser »Kindzentrierung« 18<br />

wurde die sukzessive Ausdehnung des Privatschulwesens <strong>nach</strong> <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung<br />

auch durch die OECD-Schulleistungsstudie PISA im Jahr 2001verstärkt.<br />

Die Ergebnisse <strong>der</strong> Studie bezeugten nicht nur die hohe soziale Selektivität des<br />

deutschen Schulsystems im internationalen Vergleich, son<strong>der</strong>n zusätzlich dessen<br />

schwache Effektivität. Der Wunsch <strong>nach</strong> Verbesserung von Qualität und Leistungsfähigkeit<br />

deutscher Schulen verlieh dem Diskurs um Privatschulen in<br />

Deutschland neuen Auftrieb. 19 Die Popularität von Privatschulen in <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

wuchs, nicht zuletzt sichtbar am Schulwahlverhalten, das schon vor <strong>der</strong><br />

Jahrtausendwende eine zunehmende Tendenz RichtungPrivatschulen zeigte. Auf<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite steht die gegenläufige Beobachtung, dass <strong>der</strong> durch die PISA-<br />

Studie unterstützte Leistungsdruck ein Kriterium exnegativo für die Privatschulwahl<br />

sein könnte – soweit diese, etwa durch reformpädagogische und<br />

ganzheitliche Orientierung, dem Leistungsdruck etwas entgegensetzen. 20<br />

Aus welchen Gründen auch immer: Die Dynamik des Wachstums im Privatschulsektor<br />

hielt an. So hat sich <strong>der</strong> Anteil von Schüler*innen an allgemeinbildenden<br />

Privatschulen inden zurückliegenden 20 Jahren beinahe verdoppelt<br />

und liegt mittlerweile bei knapp 9%, während die Anzahl von<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

Vgl. ebd.<br />

Vgl. Kraul, Privatschulen, 40.<br />

Vgl. ebd.<br />

A.a. O., 34.<br />

A.a. O., 40.<br />

Vgl. Gürlevik/Palentien/Heyer, Privatschulen versus staatliche Schulen, 7.<br />

Vgl. Kraul, Privatschulen, 35.


1.1 Schulen in freier evangelischer Tr3gerschaft 25<br />

Schüler*innen an allgemeinbildenden Schulen allein zwischen 1992 und 2010<br />

um mehr als 9% sank. 21 Dabei befindet sich wie oben beschrieben die Mehrheit<br />

<strong>der</strong> sogenannten freien Schulen in Deutschland in kirchlicher bzw. kirchlich<br />

assoziierter Trägerschaft. 22 Bezogen auf die Gesamtzahl von Schulen (42.945)<br />

sowie Schüler*innen in Deutschland (10.937.010), liegt <strong>der</strong> Anteil evangelischer<br />

Schulenbei 2,6 Prozentund <strong>der</strong> von Schüler*innen an evangelischen Schulen bei<br />

2,0 Prozent. 23 Wie alle privaten Träger haben kirchliche Schulträger bei <strong>der</strong><br />

Gestaltung von Schule einen großen Spielraum, denn die verfassungsrechtlich<br />

festgesetzte Gleichwertigkeit mit öffentlichen Schulen bedeutet keine Gleichartigkeit.<br />

<strong>Im</strong> Gegenteil sind Schuleninkirchlicher Trägerschaft(wie an<strong>der</strong>e private<br />

Schulenauch)schulsystematisch in dem Sinne erwünscht, dass siepädagogisch,<br />

in <strong>der</strong> Struktur des Schulalltages, bei <strong>der</strong> Auswahl von Lehrkräften und Schüler*innen<br />

eigene Schwerpunkte setzen könnten. 24 Wasdie Einschränkung, nicht<br />

hinter den staatlichen Schulen zurückstehen zu dürfen, genau bedeutet, definieren<br />

im Übrigen die jeweiligen Landesgesetze – wobei sich die Aufsicht über<br />

die privaten Schulen im Grunde auf eine Rechtmäßigkeitskontrollebeschränkt. 25<br />

Der Träger ist also fürräumliche, sächlicheund personelle Voraussetzungen<br />

des Schulbetriebs verantwortlich. Neben <strong>der</strong> Entwicklung des spezifischen<br />

Profils durchdie inhaltlich-pädagogische Gestaltung <strong>der</strong> Schule agiert<strong>der</strong> Träger<br />

als Dienstherr des Schulpersonals, <strong>der</strong> Lehrkräfte und weitere schulische Mitarbeiter*innen<br />

einstellt. 26 Grundlage, innerhalb dieser Autonomie Schule zu<br />

gestalten, ist die Finanzierung: Um die erfor<strong>der</strong>lichen Mittelzubeschaffen, ist <strong>der</strong><br />

Träger berechtigt, von Schüler*innen bzw. Eltern Schulgeld zu erheben – mit <strong>der</strong><br />

Auflage, dass »eine Sondierung <strong>der</strong> Schüler <strong>nach</strong> den Besitzverhältnissen <strong>der</strong><br />

Eltern nicht geför<strong>der</strong>t wird« (Art. 4.3 GG; vgl. die analoge For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> WRV,<br />

Segregation <strong>nach</strong> Besitzverhältnissen zu vermeiden). Der Staat wie<strong>der</strong>um ist<br />

durch das Subsidiaritätsprinzip verpflichtet, die Schulen finanziell zu för<strong>der</strong>n;<br />

faktisch refinanziert er – je <strong>nach</strong> Bundesland – ca. 80 %<strong>der</strong> Kosten. 27<br />

21<br />

Vgl. Kraul, Einleitung, 9; vgl. Gürlevik/Palentien/Heyer, Privatschulen versus staatliche<br />

Schulen.<br />

22<br />

Vgl. Schrö<strong>der</strong>, Religionspädagogik, 673; vgl. unter 1die statistischen Angaben.<br />

23<br />

Vgl. Wissenschaftliche Arbeitsstelle <strong>Eva</strong>ngelische Schule, Statistik, 5.<br />

24<br />

Vgl. Schrö<strong>der</strong>, Religionspädagogik, 674.<br />

25<br />

Vgl. Baron/Bohne, Zur Funktion des Schulträgers, 144 f.<br />

26<br />

Vgl. ebd.<br />

27<br />

Vgl. Schrö<strong>der</strong>, Religionspädagogik, 674.


2 Das evangelische Profil als<br />

christliche Praxis im Kontext<br />

<strong>Im</strong> Rahmendes Plädoyers, Kirche(n) soziologisch zum Forschungsgegenstand zu<br />

machen,rekurriert Wilhelm Gräb auf Friedrich Schleiermachers Begründung des<br />

geschichtlichen Christentums als Gemeinschaft des religiösen Gefühls: 1 Durch<br />

die interpersonale Kommunikation dieses Gefühls komme eine Gemeinschaft<br />

zustandeund bilde schließlich als Organisationsgestalt dieKirche aus, die – wie<br />

alle sozialen Gemeinschaftsbildungen – wegen geografischer, kultureller und<br />

mentaler Verschiedenheiten »von Anfang an im Plural« 2 existiere. <strong>Im</strong> Hinblick<br />

auf die Konsequenz, Kirche als plurales soziales Phänomen soziologisch zu<br />

untersuchen, verweist Gräb auf Schleiermachers Begründung <strong>der</strong> Theologie als<br />

»positive Wissenschaft«: Diese sei ausgerichtet auf die »empirisch gegebene,<br />

hermeneutisch zu durchdringende und konzeptionell auszurichtende kirchliche<br />

Praxis« 3 .<br />

Die Definition und Untersuchung des evangelischen Profils in dieser Studie<br />

kann man in impliziter Anknüpfungdaran als Bezugnahme auf eine<strong>der</strong> pluralen<br />

Gestalten von Kirche bzw. Christentum verstehen. 4 Entsprechend soll im Folgenden<br />

die ekklesiologische Verortung des Profils verhandelt und mit seiner<br />

Definition als soziale Praxisverbunden werden. Konstitutiver Ausgangspunkt für<br />

1<br />

Vgl. Gräb, Schleiermachers Konzeption <strong>der</strong> Theologie, 19.<br />

2<br />

Ebd.<br />

3<br />

A.a. O., 17. Dabei sei auch in die »innere Beschaffenheit und die äußeren Verhältnisse«<br />

von Kirche zu differenzieren, vgl. a.a. O. 18, bzw. Schleiermacher, KD §195, 232 (KGA 1/6,<br />

394, 408). Die Untersuchung <strong>der</strong> »äußeren Verhältnisse« lässt sich als Statistik verstehen,<br />

während die Untersuchung <strong>der</strong> »inneren Verhältnisse« – quasi dem qualitativen Forschungsbegriff<br />

entsprechend – subjektive Perspektiven und Einstellungen fokussiert.<br />

4<br />

Empirischer Ausgangspunkt <strong>der</strong> Untersuchung ist dabei zunächst die diverse Ausprägung<br />

des Profils in evangelischen Schulen. Die implizite Gleichsetzung von Christentum und<br />

Kirche wird im Folgenden über den Begriff <strong>der</strong> κκλησία plausibilisiert, wie Christian<br />

Grethlein die Interpretationsgemeinschaftbeschreibt, welche durch die Kommunikation des<br />

<strong>Eva</strong>ngeliums gestiftet wird, vgl. 2.1.1.


56 2Das evangelische Profil als christliche Praxis im Kontext<br />

eine Einordnung als christliche Praxis ist jedoch nicht das »religiöse Gefühl«,<br />

son<strong>der</strong>n wie beschrieben <strong>der</strong> Bezug auf das <strong>Eva</strong>ngelium – und <strong>der</strong> damit verbundene<br />

Kommunikationsprozess als gemeinsame Bewegung im <strong>»Raum</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Suche</strong> <strong>nach</strong> <strong>Verständigung«</strong> 5 .Theologische Ansätze, die das Profil unter diesem<br />

Aspekt als prozessual-dynamisches Phänomen begründen, wurden bereits dargestellt;<br />

ebenso die damit verbundene Diskursivität und Intersubjektivität,<br />

welche das Profil als soziale Praxis empirisch greifbar machen. 6<br />

Als methodologischer Zugang seiner empirischen Untersuchung wurde die<br />

wissenssoziologische Perspektive eingebracht. In epistemologischer Kongruenz<br />

mit den theologischen Zugängen begreiftsie das Profil als lebensweltliche, durch<br />

die schulischen Akteur*innen realisierte Interpretations- und Konstruktionspraxis.<br />

Um das Profil ekklesiologisch zu verorten, werden <strong>der</strong> theologische und<br />

<strong>der</strong> wissenssoziologische Ansatz um eine kirchentheoretische und eine interkulturell-theologische<br />

Perspektive erweitert. Dadurch wird ein vertieftes Verständnis<br />

des Profils als eine mögliche christliche Praxis bzw. eines von pluralen<br />

»Christentümern« 7 erschlossen.<br />

Was den ontologischen Status <strong>der</strong> pluralen christlichen Gemeinschaften<br />

betrifft, ist die interkulturelle Theologie vom erkenntnistheoretischen Paradigmenwechsel<br />

des cultural bzw. linguistic turn geprägt: Christentum wird nicht als<br />

außersprachlich existente Faktizität betrachtet, son<strong>der</strong>n als diskursives,<br />

(sprach )praxisgeneriertes und kontextuell abhängiges Phänomen. Mit dem Fokus<br />

auf dem diskursiven Charakter des Profils ist <strong>der</strong> Aspekt eines semiotischen<br />

Zugangs dazu verbunden. Aus analytischer Perspektive wird dieser in <strong>der</strong> vorliegenden<br />

Untersuchung eine Rolle spielen, um Interpretations- und Konstruktionsleistungen<br />

<strong>der</strong> konfessionslosen Schüler*innen als essentielle Bestandteile<br />

des Profils in Ostdeutschland zu begreifen.<br />

Damit schließt sich nicht nur <strong>der</strong> Kreis zur bereits erfolgten theologischen<br />

und wissenssoziologischen Konstitution des Profils als Praxis: Verbunden mit <strong>der</strong><br />

Erweiterung um die ekklesiologische Perspektive ist auch die Einführung <strong>der</strong><br />

Kontextualität. Als Kategorie beschreibt sie die den jeweiligen Kontext als elementaren<br />

Bestandteil christlicher Praxis. Denn aus dem Verständnis von <strong>Eva</strong>ngelium<br />

und dadurch begründeten christlichen Praxen als kommunikative, intersubjektive<br />

Prozesseergibt sich eine Abhängigkeit ihrer Identifikation von den<br />

jeweiligen Kontexten. Zur Erläuterung dieser strukturellen Bedeutung von<br />

Kontext werden Christian Grethleins Konzept <strong>der</strong> Kommunikation des <strong>Eva</strong>ngeliums<br />

sowie <strong>der</strong> interkulturell-theologische Zugang Judith Grubers rezipiert.<br />

Davon ausgehend, soll eine Kontextualisierung des evangelischen Profils, wie es<br />

hier untersucht wird, bestimmt und zugleich problematisiert werden.<br />

5<br />

6<br />

7<br />

Nipkow, <strong>Eva</strong>ngelische Schulen, 20, vgl. 1.3.1.<br />

Vgl. 1.3.1.<br />

Vgl. Gruber, Theologie <strong>nach</strong> dem Cultural Turn, 227.


2.1 Das evangelische Profil als christliche Praxis 57<br />

2.1 Das evangelische Profil als christliche Praxis<br />

Die Verwendung <strong>der</strong> Begriffe des Christlichen, <strong>Eva</strong>ngelischen o<strong>der</strong> auch Protestantischen<br />

zur Bezeichnung des Profils variiert in konzeptionellen Entwürfen<br />

und Handreichungen zu evangelischen Schulen. 8 Soweit sie undefiniert bleiben,<br />

müssen die jeweiligen <strong>Im</strong>plikationen <strong>der</strong> Bezeichnungen kontextabhängig interpretiert<br />

werden. Der Bezug auf Reformation und Protestantismus – etwa bei<br />

<strong>der</strong> Rede von <strong>der</strong> protestantischen Schulkultur – markiert konfessionelle Abgrenzung<br />

und historische Relation. In Bezug auf das aktuelle Schulwesen ist es<br />

beson<strong>der</strong>s die Vielfalt <strong>der</strong> unterschiedlichen evangelischen Schulen und Träger,<br />

die häufig als protestantisch bzw. reformatorisch beschrieben wird. Der historische<br />

Bezug auf das protestantische Schulwesen dient etwa bei Annette<br />

Scheunpflug dazu, daraus quasi idealtypische Strukturelemente abzuleiten, die<br />

auch für Konzeption und Selbstverständnis heutiger Schulen relevant sind. 9<br />

Die Rede vom evangelischen o<strong>der</strong> christlichen Profil impliziert eine stärker<br />

synchron-biblische Verortung, die ökumenisch anschlussfähiger ist. Sie betont<br />

nicht die historisch gewachsene, konfessionelle Identität, son<strong>der</strong>n konstituiert<br />

das Profil zumindest nominellimdirekten Bezug auf das <strong>Eva</strong>ngelium. 10 Die Rede<br />

vom »evangelischen Profil« in dieser Studie schließt an dieses synchron begründeteVerständnis<br />

des Begriffs undden biblischen Bezug an. Damitwird eine<br />

Synonymität zum Begriff des Christlichen hergestellt, insofern <strong>der</strong> Bezug auf das<br />

<strong>Eva</strong>ngelium als konstitutiv für die christliche Praxis angesehen wird. Konkret:<br />

Durch seinen integralen Bezug auf das <strong>Eva</strong>ngelium wird das Profil hier als<br />

christliche Praxis begriffen.<br />

8<br />

Vgl. den expliziten Bezug auf den Protestantismus bei Kumlehn/Klie, Protestantische<br />

Schulkulturen; vgl. Scheilke/Schreiner, Handbuch <strong>Eva</strong>ngelische Schulen, bzw. die Reihe<br />

»Schule in evangelischer Trägerschaft« (Waxmann) für den Begriff des <strong>Eva</strong>ngelischen sowie<br />

die Rede vom »christlichen« synonym zum »evangelischen Profil«, vgl. Kirchenamt <strong>der</strong> EKD,<br />

Schulen in evangelischer Trägerschaft, 12 f.<br />

9<br />

Vgl. Scheunpflug, Schulen in evangelischer Trägerschaft, 41–59.<br />

10<br />

Die EKD-Handreichung »Schulen in evangelischer Trägerschaft« etwa formuliert, dass<br />

evangelische Schulen »im Schulalltag ein evangelisches bzw. christliches Profil in beson<strong>der</strong>er<br />

Weise sichtbar werden lassen können«, vgl. Kirchenamt <strong>der</strong> EKD ebd. Ob das »evangelische<br />

bzw. christliche Profil« zwei verschiedene Dinge sind, bleibt dabei offen wie generell <strong>der</strong><br />

Begriff des »Christlichen«, »<strong>Eva</strong>ngelischen« o<strong>der</strong> »Konfessionellen«. Zum staatlichen Konfessionsschulwesen<br />

wird eine Abgrenzung vorgenommen (vgl. Kirchenamt <strong>der</strong> EKD, Schulen<br />

in evangelischer Trägerschaft, 33), das Selbstverständnis als »konfessionelle Schule« jedoch<br />

– über das Nennen historischer Aspekte hinaus – nicht dezidiert erläutert: Zwar werden<br />

die Begriffe in Bezug auf das konkrete Schulleben inhaltlich gefüllt, jedoch nicht systematisch<br />

definiert.


58 2Das evangelische Profil als christliche Praxis im Kontext<br />

Praxis – vom griechischen πρξις,was Tat, Handlung, Verrichtung bedeutet –<br />

meint dabei die Gesamtheit von individuellen wie kollektiven »Handlungen, die<br />

[fortwährend] Erhaltung, Umwandlung und Weiterentwicklung <strong>der</strong> materiellen<br />

und gesellschaftlichen Wirklichkeit bewirken« 11 ,wozu auch Sprachhandlungen<br />

gehören. Theologische Gründe, das Profil nicht als vermittelbares o<strong>der</strong> »umsetzbares«<br />

Depositum zu objektivieren bzw. zu essentialisieren, wurden benannt.<br />

12 Entscheidend ist zudem die Prozesshaftigkeit, in <strong>der</strong> das Profil von den<br />

schulischen Akteur*innen durch soziales Handeln »hergestellt« wird: durch<br />

Interaktions- o<strong>der</strong> Kommunikationsakte, die sich zeitlich parallel, versetzt o<strong>der</strong><br />

<strong>nach</strong>einan<strong>der</strong> ereignen. 13 Diese Akte sind rekursiv, bauen also aufeinan<strong>der</strong> auf<br />

und schließen aneinan<strong>der</strong> an. 14<br />

<strong>Im</strong> Folgenden soll zunächst das theologische Verständnis des Profils als<br />

Praxis bzw. Prozess vertieft werden, indem das <strong>Eva</strong>ngelium – Bezugsgröße und<br />

identitätsstiftendes Element des Profils – als offenes und per definitionem unabgeschlossenes<br />

Kommunikationsgeschehen erörtert wird.Damitverbinden sich<br />

zwei <strong>Im</strong>plikationen: Erstens wird an Orten, wo das evangelische Profil realisiert<br />

wird, die »Interpretationsgemeinschaft« 15 mitkonstituiert, die überall dort entsteht,<br />

wo durch das <strong>Eva</strong>ngelium begründete Kommunikationsprozesse stattfinden.<br />

Damit sind evangelische Schulen Teil <strong>der</strong> sich jeweils in zeit- und kontextspezifischer<br />

Gestalt konkretisierenden κκλησία, in<strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Bezug auf<br />

das <strong>Eva</strong>ngelium verkörpert. 16 Zweitens wird die durch das <strong>Eva</strong>ngelium begründete<br />

kommunikative Praxis als christliche Praxis bzw. Christentum verstanden:<br />

Aus <strong>der</strong> »Urszene <strong>der</strong> partikular vorgetragenen und universales Geltungspotential<br />

frei setzenden Botschaft« 17 ,also seit Beginn <strong>der</strong> Kommunikation des<br />

<strong>Eva</strong>ngeliums, hat sich ein kommunikativer Prozess entwickelt, <strong>der</strong> sich jeweils in<br />

konkreten sozio-kulturellen Kontexten realisiert. Dieses Phänomen kann man –<br />

universell – als Christentum bzw. kulturell/kontextuell unterschiedene und<br />

ausgeprägte »Vielzahl an Christentümern« 18 beschreiben. 19<br />

11<br />

Sahner, Praxis, 413.<br />

12<br />

Vgl. unter 1.3.1 die Bezüge auf Nipkow, Schreiner, Bizer, Karle.<br />

13<br />

Vgl. die Definition von Prozess bei Miebach, Prozess, 373f.<br />

14<br />

Dabei werden bereits getroffene o<strong>der</strong> zu erwartende Handlungsentscheidungen in jeweilige<br />

Handlungsselektionen »eingebaut», vgl. Luhmann, Soziale Systeme, 74.<br />

15<br />

Grethlein, Kirchentheorie, 33.<br />

16<br />

Grethlein rekurriert aus kirchentheoretischer Perspektive auf diesen biblischen Begriff,<br />

um die Kontextabhängigkeit und Variabilität <strong>der</strong> jeweiligen Gestalt von κκλησία zum<br />

Ausgangspunkt seiner Kirchentheorie zu machen, vgl. dazu den folgenden Punkt.<br />

17<br />

Ebd.<br />

18<br />

Gruber, Theologie <strong>nach</strong> dem Cultural Turn, 227.


2.1 Das evangelische Profil als christliche Praxis 59<br />

Christliche Praxis als Kommunikation des <strong>Eva</strong>ngeliums ist dabei nicht mit<br />

kirchlich-institutionalisiertem Handeln kongruent. Bei allen Überschneidungen<br />

gehen beide nicht ineinan<strong>der</strong> auf. Konstitutiv für christlichePraxis ist <strong>der</strong> Bezug<br />

auf Jesus Christus und das <strong>Eva</strong>ngelium – sowie die Gleichheit aller am Prozess<br />

Beteiligten, was eine prinzipielle Offenheit für alle sozialen und (nicht )religiösen<br />

Gruppen impliziert. 20 DieseGleichheit aller Beteiligten, auch <strong>der</strong> nicht-religiösen,<br />

begründet aus theologischer Hinsicht die gleichberechtigte Partizipation konfessionsloser<br />

Schüler*innen an <strong>der</strong> christlichen Praxis des evangelischen Profils<br />

– und damit im größeren Zusammenhang die prinzipielle Möglichkeit ihrer<br />

Zugehörigkeit zur (nicht mit <strong>der</strong> Amtskirche identischen) κκλησία.<br />

2.1.1 Kirchentheoretische Perspektive<br />

Christian Grethlein bestimmt als Kern <strong>der</strong> christlichen Botschaft die Botschaft<br />

selbst: das <strong>Eva</strong>ngelium. Zugleich setzt er dieses in Äquivalenz zum dadurch<br />

begründeten Kommunikationsprozess. Als Identitätsmerkmal des Schulprofils<br />

meint »evangelisch« also das Bezogensein auf diesen Kommunikationsprozess,<br />

<strong>der</strong> christliche Praxis ausmacht. <strong>Eva</strong>ngelium in seiner kommunikativen Gestalt<br />

ist laut Grethlein kein feststehendes, einseitig-autoritär »ausgerichtetes« Depositum,<br />

son<strong>der</strong>n vielmehr eine Reflexionsperspektive: zugänglich als Interpretation,<br />

welche als »eine theologische im Kontext <strong>der</strong> Gemeinschaft <strong>der</strong>er, die durch<br />

das Auftreten, Wirken und Geschick Jesu von Nazareth berührt wurden und<br />

werden« 21 ,erfolge. Die inhaltlichen Konturen dieser Perspektive macht Grethlein<br />

an ihrem biblischen Ursprung fest, wirft vor ihrer Bestimmung aber zunächst<br />

einen Blick auf die »Interpretationsgemeinschaft« 22 .<br />

Er weist darauf hin, dass <strong>der</strong> zunächst naheliegende Begriff »Kirche« kein<br />

eindeutig neutestamentlicher sei, trotz seines etymologischenBezugs auf κύριος<br />

bzw. κυριακός und damit Bezeichnung für das Phänomen, dass sich Menschen<br />

auf Jesus Christus beziehen. Stattdessen geht er vom Begriff <strong>der</strong> κκλησία aus,<br />

eine <strong>der</strong> zahlreichen Selbstbezeichnungen christlicher Gemeinschaft im Neuen<br />

19<br />

Soweit <strong>der</strong> Begriff des Protestantischen die Vielfalt <strong>der</strong> Realisierung des evangelischen<br />

Profils bejaht, ist er auch mit einem kontextuellen Verständnis von <strong>Eva</strong>ngelium bzw.<br />

Christentum kompatibel.<br />

20<br />

Bei Grethlein biblisch abgeleitet aus <strong>der</strong> sozialen Praxis Jesu, vgl. Grethlein, Kirchentheorie,<br />

36.<br />

21<br />

A.a. O., 33.<br />

22<br />

Ebd.


60 2Das evangelische Profil als christliche Praxis im Kontext<br />

Testament. 23 Diese umfasse vier soziale Formationen: christliche Gemeinschaft<br />

im ökumenischen, also weltumspannenden Sinn, in Städten, in bestimmten<br />

Gegenden o<strong>der</strong> als Institution des Hauses, <strong>der</strong> sozialen Vorform <strong>der</strong> Familie. 24<br />

Diese stünden gleichberechtigt nebeneinan<strong>der</strong>, während die Hervorhebung <strong>der</strong><br />

Ortsgemeinde in synodal-presbyterialen Kirchenordnungen nicht biblisch begründet<br />

sei und sich in einem speziellen, agrarisch strukturierten Kontext entwickelt<br />

habe – für Grethlein <strong>der</strong> Grund, ihre Adäquanz im Hinblick auf soziokulturelle<br />

Verschiebungeninfragezustellen. 25 Entscheidendes Kriteriumfür die<br />

Konstitution von κκλησία sei allein <strong>der</strong> Bezug auf Jesus Christus.<br />

Eine spezifische biblische Ekklesiologie gebe es also nicht, stattdessen eröffne<br />

die in den biblischen Perspektiven begegnende »Pluriformität […] einen<br />

weiten Gestaltungsraum, <strong>der</strong> einem unreflektierten Beharren auf Überkommenem«<br />

26 entgegenstehe. Bereits im Neuen Testament trete <strong>der</strong> jeweilige Kontext als<br />

ausschlaggebend für die jeweilige Gestalt von christlicher Gemeinschaft hervor:<br />

für diese ist <strong>nach</strong> Grethlein die Interpretation <strong>der</strong> konkreten Situation konstitutiv.<br />

27 Das heißt, es gibt keine bestimmte, theologisch ableitbare äußere bzw.<br />

soziale Form christlicher Gemeinschaft.<br />

Laut Grethlein bedeutet das auch, dass das kirchlich-organisierte Handeln<br />

nicht mit <strong>der</strong> Kommunikation des <strong>Eva</strong>ngeliums gleichgesetzt werden dürfe. Als<br />

gemeinsame, reziproke Kommunikations- und Suchbewegung finde diese stattdessen<br />

auch an Orten und in Kontexten jenseits von Kirche statt. 28 Als einen<br />

solchen Kontext – abseits von institutionalisierter Kirche im Sinne von »klassischer«<br />

Kirchgemeinde – kann man demzufolge auch das evangelische Profil<br />

verstehen,soweit es diese Kommunikations- und »Suchbewegung« 29 konstituiert,<br />

die sowohl an evangelischen Schulen als auch im Diskurs um das Profil selbst<br />

stattfindet. 30<br />

23<br />

Grethlein bezieht sich bei den näheren Bestimmungen zu κκλησία auf Jens Schröter, Die<br />

Anfänge christlicher Kirchen <strong>nach</strong> dem Neuen Testament, in: Christian Albrecht (Hg.), Kirche<br />

(Themen <strong>der</strong> Theologie I), Tübingen 2011, 37–80, 38 f.<br />

24<br />

Vgl. Grethlein, Kirchentheorie, 34.<br />

25<br />

Vgl. ebd.<br />

26<br />

A.a. O., 35.<br />

27<br />

Vgl. ebd.<br />

28<br />

Vgl. Grethleins Hinweis, dass die Funktionalität von Kirche entscheidend sei (bei ihm:<br />

Kommunikation des <strong>Eva</strong>ngeliums), vgl. a. a. O., 291.InReferenz auf Jan Hermelink verbindet<br />

Grethlein damit die Öffnung für die »Manifestation des Glaubens jenseits <strong>der</strong> Organisation«<br />

(Hermelink, Kirchliche Organisation, 29.)<br />

29<br />

Grethlein, Kirchentheorie, 5.<br />

30<br />

Vgl. 2.3. die von Schreiner beschriebene »Suchbewegung (…) imSinne eines ständigen<br />

»Auf-dem-Weg-zum-<strong>Eva</strong>ngelium-Seins», als die er das evangelische Profil versteht, o<strong>der</strong><br />

dessen Beschreibung durch Bizer als »offener Prozess« in kommunikativer Gestalt.


2.1 Das evangelische Profil als christliche Praxis 61<br />

Neben dem konstitutiven Bezug auf Jesus Christus weist Grethlein mit <strong>der</strong><br />

Gleichheit aller darin Verbundenen auf ein weiteres Strukturelement von<br />

κκλησία hin, die prinzipiell offen für Menschen unterschiedlicher sozialer und<br />

religiöser Gruppen und Geschlechter sei. In <strong>der</strong> Mahlgemeinschaft und <strong>der</strong><br />

christlichenGemeinschaftgenerell sei die Solidarität von untereinan<strong>der</strong> Gleichen<br />

entscheidend: durch die Inklusion aller sozialen Gruppen und die Überwindung<br />

von diesbezüglichen Unterschieden. 31 Grethlein stellt zudem dieNotwendigkeit,<br />

sich zu öffnen und verständlich zu machen, als Kontur von <strong>Eva</strong>ngelium heraus.<br />

Paulus habe auf die Relevanz von Verständlichmachung hingewiesen, damit auch<br />

»Außenstehende einen Zugang erhalten können (1Kor 14,23)« 32 .<br />

<strong>Im</strong> Hinblick auf die inhaltliche Bestimmung von »<strong>Eva</strong>ngelium« setzt Grethlein<br />

bei einer grammatikalischen Eigenschaft des zugehörigen Verbs εαγγελίζεσθαι<br />

an: dessen Modus, dem zwischen Aktiv und Passiv angesiedeltem Medium.<br />

Dieser entspreche <strong>der</strong> unterschiedlichen Gestaltgewinnung von<br />

»<strong>Eva</strong>ngelium«: Es handele sich dabei eben nicht um eine feststehende Lehre,<br />

son<strong>der</strong>n um einen lebendigen Prozess mit kommunikativem Charakter. 33 Neben<br />

<strong>der</strong> Kontinuität zur Zionstheologie und Gottes erwähltemVolk – in <strong>der</strong> LXX meint<br />

εαγγελίζεσθαι die freudige Botschaft von Frieden und Heil – habe das neutestamentliche<br />

εαγγελίζεσθαι durch den römischen Kontext zugleich eine politische<br />

Note. So habe <strong>der</strong> Begriff eigentlich kaiserliche Botschaften bezeichnet;<br />

subversiv wird er hier quasi uminterpretiert (man kann ihn also als implizite<br />

Herrschaftskritik verstehen, auch Grethlein verweist auf diesen Spin). 34 Inhaltlicher<br />

Fokus des εαγγέλιον sei die ebenfalls zionstheologisch grundierte »Gottesherrschaft«,<br />

eine Freudenbotschaft andie Juden im Exil, bei Jesaja eschatologisch<br />

ausgeweitet (Auferstehung<strong>der</strong> Toten, Vernichtung des Todes selbst) und<br />

von Jesus neu interpretiert bzw., so Grethlein, transformiert: als präsentisch, also<br />

bereits in <strong>der</strong> Gegenwart anbrechend, schöpfungstheologisch und als »Rettung<br />

<strong>der</strong> Verlorenen«. 35<br />

In den <strong>Eva</strong>ngelien selbst abstrahiert Grethlein drei »Kommunikationsmodi«<br />

im Auftreten Jesu: »Lehren und Lernen; gemeinschaftliches Feiern; Helfen zum<br />

Leben«. 36 Konkret macht er diese Modi an den Gleichnissen und Parabeln, den<br />

Mahlgemeinschaften sowieden Heilungen fest. Allen drei Praktiken bescheinigt<br />

Grethlein Ergebnisoffenheit. So hätte Jesus etwa bei seinen Gleichnissen auf<br />

31<br />

Vgl. Grethlein, Kirchentheorie, 36. Diesen inklusiven Anspruch realisiert im Übrigen<br />

gerade das evangelische Profil, indem es die Integration in den Kommunikationsprozess<br />

explizit nicht von Kirchenmitgliedschaft abhängig macht, vgl. dazu im Folgenden 6.2.<br />

32<br />

Grethlein, Kirchentheorie, 36.<br />

33<br />

A.a. O., 37.<br />

34<br />

Vgl. a. a. O., 36 f.<br />

35<br />

Vgl. a. a. O., 37.<br />

36<br />

Ebd.


62 2Das evangelische Profil als christliche Praxis im Kontext<br />

lange Auslegungen verzichtet; zum Teil seien sie somit auf Unverständnis getroffen,<br />

anan<strong>der</strong>er Stelle aber sei es »zu Lernprozessen <strong>der</strong>gestalt, dass sich<br />

Verhaltensdispositionen und Einstellungen än<strong>der</strong>ten« 37 ,gekommen. Als beson<strong>der</strong>e<br />

inhaltliche Akzente <strong>der</strong> Mahlgemeinschaften hebt Grethlein die Öffnung für<br />

rituell o<strong>der</strong> moralisch (o<strong>der</strong> sozial) Exkludierte hervor, ebenso das häufige Vorkommen<br />

von Überfluss über das Stillen von Hunger hinaus (was Jesus den<br />

Vorwurf des »Fressers und Weinsäufers« [Mt 11,19] beschert habe). Dieser inklusive<br />

Charakter des Hineingenommenseins in die Gottesherrschaft zeichne<br />

auch die Heilungen aus, wie die Konflikte um Reinheitsgebote o<strong>der</strong> das Sabbatverständnis<br />

zeigten: »Niemand ist zu keiner Zeit ausgeschlossen.« 38<br />

Als Konsequenz seiner Definition von <strong>Eva</strong>ngelium als Kommunikationsgeschehen<br />

benennt Grethlein die För<strong>der</strong>ung dieser Kommunikation in den extrapolierten<br />

drei Modi als wichtigste Aufgabe von Kirche. Aufgrund <strong>der</strong> Kontextgebundenheit<br />

von Kommunikationsprozessen sei deshalb auch die Analyse <strong>der</strong><br />

jeweiligen Kontexte konstitutiv für die Kirchentheorie. 39 Die von ihm herangezogene<br />

»Erklärung von Nairobi über Gottesdienst und Kultur« 40 beschreibe die<br />

Beziehung zwischen <strong>Eva</strong>ngelium und jeweiliger – konzeptualisieren<strong>der</strong> – Kultur<br />

in vier Dimensionen: als kulturübergreifend (zwischen den unterschiedlichsten<br />

christlichen Gemeinschaften), kontextuell (betreffs <strong>der</strong> Kommunikation), kontrakulturell<br />

(in dem Sinne, dass es nicht evangeliumsgemäßen Werten einer<br />

Kultur wie alle Arten von Unterdrückung o<strong>der</strong> sozialer Ungerechtigkeit entgegensteht)<br />

und kulturell wechselwirksam (im Sinne einer gegenseitigen Bereicherung<br />

von Kirche und kulturellem Kontext). 41<br />

2.1.2 Interkulturell-theologische Perspektive<br />

Aus kulturtheoretischer Perspektive beschreibt das durch den Bezug auf das<br />

<strong>Eva</strong>ngelium konstituierte Christentum die spezifische Lebensweise bzw. -form<br />

eines Kollektivs, die sich von <strong>der</strong> Lebensform an<strong>der</strong>er Kollektive unterscheidet. 42<br />

Als (inter )kulturelles Phänomen manifestiert sich diese Lebensweise jeweils in<br />

spezifischen Kontexten: »Die Geschichte<strong>der</strong> Christenheit ist eine Geschichtevon<br />

Kontextualisierungen, jeweils regional abgewandelt.« 43 Christentum bewegt sich<br />

37<br />

A.a. O., 38.<br />

38<br />

A.a. O., 39.<br />

39<br />

Vgl. a. a. O., 41.<br />

40<br />

Vgl. Stauffer, Christlicher Gottesdienst, 29–35.<br />

41<br />

Vgl. Grethlein, Kirchentheorie, 42; Grethlein zitiert dort aus <strong>der</strong> Erklärung von Nairobi<br />

über Gottesdienst und Kultur; bei Stauffer ebd.<br />

42<br />

Vgl. Antweiler, Kultur, 249.<br />

43<br />

Barth, Konfessionslos glücklich, 208.


2.1 Das evangelische Profil als christliche Praxis 63<br />

also in einer Spannung von Kontextualität und Universalität: Einerseits beansprucht<br />

die christliche BotschaftimSinne des <strong>Eva</strong>ngeliums universelle Geltung.<br />

An<strong>der</strong>erseits ist sie als »radikal kontextualisierte« 44 Botschaft ineinem historisch,<br />

politisch und sozial partikularen Kontext entstanden und existiert seitdem<br />

in ebenso partikularen Kontexten. 45 Damit verbindet sich die Wandelbarkeit und<br />

Relativität <strong>der</strong> Ausprägungen des Christentums, unabhängig vom Wahrheitsanspruch<br />

seiner Begründung. Epistemologisch betrachtethat es somit nicht den<br />

ontologischen Status einer »außersprachlichen ›Tatsachen-Welt‹« 46 ,son<strong>der</strong>n einer<br />

diskursiven, in semiotischen Bedeutungssystemen generierten und verhandelten<br />

Größe. 47<br />

Basierend auf <strong>der</strong> »Einsicht in die Sprachgebundenheit aller […] Erkenntnis«<br />

48 und entgegen den »idealistischen Essenzialismen« 49 <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne folgt<br />

dieser Zugang einem erkenntnistheoretischen Paradigmenwechsel. 50 Die wissenschaftliche<br />

Aufmerksamkeit wird laut Gruber vom Ideal einer objektiven<br />

Rationalität hin zur »Materialität, Medialität und Performanz« 51 von Diskursen<br />

gelenkt. Die Prämisse, dass Erkenntnis sprachförmig ist, betrachtet sie als Verweis<br />

auf den semiotischen Charaktervon Erkenntnis. 52 Damit sei, in Abgrenzung<br />

zum Anspruch <strong>der</strong> Objektivität und Universalität <strong>der</strong> klassischen Mo<strong>der</strong>ne, auch<br />

die <strong>Im</strong>plikation <strong>der</strong> Kontextualität und Lokalität von Erkenntnis verbunden: »[…]<br />

die Zeichen,mit denen Wirklichkeit organisiert wird, tragen ihre Bedeutung nicht<br />

in sich, son<strong>der</strong>n können erst durch Interpretanten in konkreten Kontexten bedeutungsvoll<br />

werden.« 53<br />

Gruber weist darauf hin, dass eine Theologie, »die auf <strong>der</strong> Höhe des epistemologischen<br />

Paradigmas ihrer Zeit argumentiert« 54 ,keine universelle christliche<br />

Identität unter Ausblendung ihrer unterschiedlichen Kontexte behaupten könne.<br />

Christliche Identität könne also nicht essentialistisch als wesenhaft unverän-<br />

44<br />

Estermann, Das Reich Gottes als allumfassen<strong>der</strong> Horizont, 11.<br />

45<br />

Schreijäck/Wenzel, Vielfalt <strong>der</strong> Glaubenskontexte, 7.<br />

46<br />

Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, 10.<br />

47<br />

Vgl. Gruber, Theologie <strong>nach</strong> dem Cultural Turn, 89.<br />

48<br />

Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, 10. Diese Einsicht wird auch als Linguistic Turn<br />

bzw. – als forschungspraktisch daran anknüpfendes wissenstheoretisches Paradigma – als<br />

Cultural Turn beschrieben, vgl. Gruber, Theologie <strong>nach</strong> dem Cultural Turn, 89f.<br />

49<br />

Gruber, Theologie <strong>nach</strong> dem Cultural Turn, 89.<br />

50<br />

Vgl. ebd.<br />

51<br />

Ebd.<br />

52<br />

Vgl. a. a. O., 90. Semiotik als sprachphilosophischer Zugang und Grundlage eines diskurstheoretischen<br />

Zuganges wird in 3.1.1 erläutert und im Hinblick auf die Konstruktionsleistungen<br />

konfessionsloser Schüler*innen adaptiert.<br />

53<br />

A.a. O., 90.<br />

54<br />

A.a. O., 128.


64 2Das evangelische Profil als christliche Praxis im Kontext<br />

<strong>der</strong>liches Phänomenbeschriebenwerden – son<strong>der</strong>n nur in konkreten Kontexten,<br />

entlang diskursiver Grenzziehungen, die sie »je neu verhandeln und festschreiben«<br />

55 würden.Christliche wie generell religiöse Identität versteht Gruber<br />

demzufolge als Praxis, die in diskursiven Verhandlungen Bedeutung generiere<br />

und unter Rückgriff auf spezifische semiotische Konfigurationen Perspektiven<br />

auf die Wirklichkeit eröffne. 56 Das geschehe von Anfang an im interkulturellen<br />

Raum, weshalb es eine Vielzahl von »Christentümern« und partikularen Theologien<br />

gebe. 57<br />

2.2 Kontextualisierung christlicher Praxis: Zwischen<br />

Deskription und Normativit?t<br />

<strong>Im</strong> Anschluss an Grethleins kirchentheoretische Perspektive ist das evangelische<br />

Profil als kontextspezifische Gestalt <strong>der</strong> κκλησία beschrieben worden, in <strong>der</strong><br />

sich <strong>der</strong> Bezug auf das <strong>Eva</strong>ngelium verkörpert. Als nicht-essentialistisches<br />

Phänomen, son<strong>der</strong>n Praxis, die diskursiv Bedeutungen erzeugt, kann es ebenso<br />

als eines <strong>der</strong> von Gruber beschriebenen »Christentümer« 58 verstanden werden.<br />

Beide Konzepte schreiben dem jeweiligen Kontext eine entscheidende Bedeutung<br />

für die Identität des Phänomens zu. In diesem phänomenologischen Sinn ist<br />

Kontextualität eine deskriptive Kategorie zur Beschreibung dessen, was als<br />

christliche, akteur*innenbasierte Praxis vorliegt. Zum an<strong>der</strong>en kann ihre Verwendung<br />

mit einem normativen Moment einhergehen. So leitet etwa Grethlein<br />

aus <strong>der</strong> Kontextualität von <strong>Eva</strong>ngelium die Notwendigkeit kontextgemäßer<br />

Kommunikation ab – und betrachtet die Kontextanalyse als Hilfe zu <strong>der</strong>en erfolgreichem<br />

Zustandekommen. 59<br />

55<br />

Ebd.<br />

56<br />

Vgl. ebd.<br />

57<br />

Vgl. a. a. O., 227.<br />

58<br />

Ebd.<br />

59<br />

Wiebereits dargestellt, benennt er die För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kommunikation des <strong>Eva</strong>ngeliums<br />

als wichtigste Aufgabe von Kirche. Kontextanalyse betrachtet er folglich – wegen <strong>der</strong> Kontextgebundenheit<br />

von Kommunikation – als Voraussetzung für das Gelingen dieser Kommunikation,<br />

vgl. Grethlein, Kirchentheorie, 42. Neben <strong>der</strong> Vorstellung ihrer Steuerbarkeit<br />

wird damit auch die Setzung gemacht, dass <strong>der</strong> Erfolg <strong>der</strong> Kommunikation wünschenswert<br />

sei. Diese Intention ist aus praktisch-theologischer Perspektive <strong>nach</strong>vollziehbar, zugleich<br />

stellt sich die Frage: In welchem Verhältnis steht die För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kommunikation des<br />

<strong>Eva</strong>ngeliums als Aufgabe von Kirche zu ihrem initialen bzw. phänomenologischen Zustandekommen<br />

durch diese Kommunikation? (O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s gefragt: Wie kommt Grethlein – logisch<br />

– von <strong>der</strong> Deskription <strong>der</strong> kirchenkonstitutiven Kommunikation zu ihrer Setzung als<br />

Norm und kirchlicher Aufgabe?)


3 Das evangelische Profil als Diskurs<br />

Als »Praxis« lässt sich die Gesamtheit wirksamer menschlicher Aktivitäten<br />

verstehen,<strong>der</strong>en Folge die »Reproduktion, Umgestaltung und Weiterentwicklung<br />

<strong>der</strong> materiellen und sozialen Umwelt« 1 sind. In diesem Sinne wurde das u. a. im<br />

Schulalltag realisierte evangelische Profil eingangs als Praxis bestimmt, also als<br />

individuelles und soziales, prozessuales Handlungsfeld. 2 Die Teilhabe <strong>der</strong> konfessionslosen<br />

Schüler*innen daran wird aus wissenssoziologischer Perspektive<br />

als soziale Konstruktion begriffen: als Umgang mit dem Profil im Wechselspiel<br />

zwischen Adaption, (Neu )Interpretation und Objektivation. 3<br />

Der Zugang zum evangelischen Profil als Praxis und die Teilhabe konfessionsloser<br />

Schüler*innen daran als Akteur*innen wurden auch theologisch begründet:<br />

zunächst über die vom Bezug auf das <strong>Eva</strong>ngelium ausgehende Bestimmung<br />

des Profils als intersubjektiv realisierter Prozess. 4 Die Vertiefung<br />

dieser theologischen Bestimmung durch Grethleins Konzept <strong>der</strong> Kommunikation<br />

des <strong>Eva</strong>ngeliums und Grubers interkulturell-theologischen Ansatz stützen das<br />

Verständnis des evangelischen Profils als christliche Praxis, als solche konstituiert<br />

durch den Bezug auf das <strong>Eva</strong>ngelium. 5 Die Akteur*innen des evangeli-<br />

1<br />

Sahner, Praxis, 364; vgl. auch die Defintion von Praxis unter 2.1.<br />

2<br />

Vgl. 1.3und 2.1.<br />

3<br />

Vgl. die Erläuterungen zur Wissenssoziologie unter 1.3.3 sowie 3.1.2.<br />

4<br />

Etwa bei Nipkow, <strong>der</strong> das Profil als »evangelisch« durch die geschichtlichen Auslegungen<br />

dieses Bezuges konstituiert sieht, also konkret etwa durch jeweilige schulische Akteur*innen,<br />

vgl. 1.3.1, o<strong>der</strong> ebd. Schreiner bzw. Bizer, die ebenso den nicht-objektivierbaren, son<strong>der</strong>n<br />

prozessualen und stets neu »hergestellten« Charakter des Profils aus seinem Bezug auf das<br />

<strong>Eva</strong>ngelium begründen.<br />

5<br />

Vgl. 2.1.


98 3Das evangelische Profil als Diskurs<br />

schen Profils werden unter dieser Voraussetzung auch als Akteur*innen eines<br />

spezifisch kontextualisierten Christentums verstanden. 6<br />

Dessen diskursive Struktur ist schon angedeutet worden. Auf die Möglichkeit,<br />

Christentum als Diskurs zu verstehen – sowie die Semiotik als Zugang zu<br />

dessen diskursiv hergestellten Bedeutungen – wurde in Zusammenhang mit<br />

Grubers interkulturell-theologischem Ansatz hingewiesen. 7 <strong>Im</strong> Folgenden soll<br />

dieses Verständnis vertieft werden: Das bisher theologisch und wissenssoziologisch<br />

als Praxis bestimmte evangelische Profil wird darüber hinaus als Diskurs<br />

erschlossen. Ziel ist, die strukturelle Seite des Wechselspiels, in dem die Schüler*innen<br />

das Profil adaptieren und ihrerseits deuten, stärker zu akzentuieren:<br />

also das sozial vorausgelegte Wissen, auf das sich die individuellen Konstruktionen<br />

beziehen.<br />

Dazu wird, auf Grundlage von diskurstheoretischen und hermeneutischwissenssoziologischen<br />

Perspektiven, das Forschungsprogramm <strong>der</strong> Wissenssoziologischen<br />

Diskursanalyse von Reiner Keller eingeführt. 8 Der Diskursbegriff<br />

ermöglicht, die strukturelle Seite des Profils und die individuellen Konstruktionsleistungen<br />

(hier spezifisch die <strong>der</strong> konfessionslosen Schüler*innen) zu integrieren,<br />

sie bei <strong>der</strong> Analyse aufeinan<strong>der</strong> zu beziehen und im Verhältnis zueinan<strong>der</strong><br />

zu untersuchen. Neben <strong>der</strong> Teilhabe <strong>der</strong> konfessionslosen<br />

Schüler*innen als diskursives Ereignis werden mit Hilfe <strong>der</strong> Terminologie <strong>der</strong><br />

Wissenssoziologischen Diskursanalyse weitere Perspektiven auf den Diskurs<br />

erschlossen: dessen Materialität und inhaltliche Struktur. Damit wird im Sinne<br />

des adaptierten Forschungsansatzes ermöglicht, im weiteren Verlauf die strukturelle<br />

Seite des Diskurses – als Bezugsgröße <strong>der</strong> Schüler*innen-Deutungen –<br />

begrifflich zu fassen und zu akzentuieren.<br />

Als analytischer Zugang zur Deutungspraxis <strong>der</strong> Schüler*innen wird <strong>der</strong><br />

Forschungsansatz des sozialen Deutungsmusters hinzugezogen. Fokussiert auf<br />

die Wissensebene zwischen Struktur und Individuum dient das Konzept dem<br />

empirischen Zugriff auf kollektiv geteilte Deutungspraktiken, die in sozialen<br />

Zusammenhängen zu beobachten sind. Die Deutungen beziehen sich dabei auf<br />

Phänomene <strong>der</strong> Lebenswelt, die <strong>der</strong> Interpretation bedürfen und damit ein kollektives<br />

objektives bzw. strukturelles Handlungsproblem 9 darstellen. Aus <strong>der</strong><br />

Wissenssoziologie stammend – und <strong>der</strong>en Anliegenrealisierend, dieGenerierung<br />

von Wissen imWechsel zwischen Struktur und Individuum zu beschreiben –,<br />

6<br />

Vgl. 2.2.3, auch zur dezidierten Nicht-Essentialisierung <strong>der</strong> Beteiligten als »christlich« –<br />

ihre Teilhabe als Akteur*innen bezieht sich auf die an einem als christlich qualifizierten<br />

Spezialdiskurs. Zum Verhältnis von Praxis, Diskurs und Akteur*innen vgl. 3.2.1.<br />

7<br />

Dadurch wurde ein Verständnis des Profils als eines von pluralen Christentümern erschlossen,<br />

vgl. 2.1.2 und Gruber, Theologie <strong>nach</strong> dem Cultural Turn, 227.<br />

8<br />

Vgl. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse.<br />

9<br />

Vgl. Oevermann, Zur Analyse <strong>der</strong> Struktur sozialer Deutungsmustern, 4f.


3.1 Analytischer Zugang: Wissenssoziologische Diskursanalyse 99<br />

dient das Konzept hier aber nicht nur als heuristischer Zugang zur Praxis <strong>der</strong><br />

Schüler*innen bzw. zu ihren deutenden Konstruktionen, son<strong>der</strong>n auch zu <strong>der</strong>en<br />

theoretischer Integration in das evangelische Profil als Diskurs. <strong>Im</strong> Anschluss an<br />

Kellers Deutungsmusterbegriff im Rahmen <strong>der</strong> Wissenssoziologischen Diskursanalyse<br />

werden soziale Deutungsmuster nämlich als inhaltlicher Bestandteil<br />

von Diskursen begriffen: als kollektiv geteilte Wissensvorräte, die in konkreten,<br />

durch den Diskurs strukturell bedingten Deutungsakten typischerweise eingesetzt<br />

würden. 10 In diesem Sinn sind dieDeutungsmuster <strong>der</strong> Schüler*innen Teil<br />

des diskursiven Feldes, also: integraler Bestandteil des evangelischen Profils als<br />

Diskurs.<br />

3.1 Analytischer Zugang: Wissenssoziologische<br />

Diskursanalyse<br />

»Der Interaktionsraum unseres jeweiligen konkreten Alltags hat – uns sozialisierend<br />

– sich durch uns verän<strong>der</strong>t und wird weiter von uns verän<strong>der</strong>t. Er ist<br />

unser unmittelbarer Anpassungs-, Handlungs-, Planungs- und Erlebnisraum:<br />

unser Milieu, das wir mitkonstituieren und dessen Teil wir sind.« 11 So fasst Hans-<br />

Georg Soeffner die Prozesse zusammen, welche die bereits eingeführte Wissenssoziologie<br />

untersucht: das Sich-Vorfinden von Akteur*innen in historisch<br />

und sozial entwickelten Routinen und Deutungen, ihre Auslegungen und Aneignungen<br />

<strong>der</strong>selben als handelnde Individuen. 12 Wie beschrieben, gehört dazu<br />

auch die Frage<strong>nach</strong> Neu- und Umdeutungen<strong>der</strong> Wissensformationen,die ihnen<br />

dabei als soziale Deutungsroutinen vorgängig sind. Indem Akteur*innen sie <strong>nach</strong><br />

ihren jeweiligen Relevanzen interpretieren, entstehen (Neu )Deutungen, die<br />

wie<strong>der</strong>um in das gesellschaftliche Handlungsfeld einfließen.<br />

Als analytischer Zugang ist die Wissenssoziologie auf die konfessionslosen<br />

Schüler*innen und ihre Konstruktion <strong>der</strong> sozialen Realität des Schulprofils bezogen<br />

worden. Mit Kellers Ansatz <strong>der</strong> Wissenssoziologischen Diskursanalyse<br />

wird ein Forschungsprogramm adaptiert, das den wissenssoziologischen um<br />

einen diskursanalytischen Zugang ergänzt, um die beschriebene Wechselseitigkeit<br />

zwischen kollektiven Wissensvorräten und subjektiven Sinnsetzungen –<br />

also zwischen Struktur und Individuum – empirisch besser greifbar zu machen.<br />

Der Diskursbegriff integriert die doppelte wissenssoziologische Fokussierung auf<br />

strukturelle Gegebenheiten und individuelle Deutungen – und bildet so die<br />

Zirkularität ab, die beide verbindet. 13 Damit wird auch die Frage <strong>nach</strong> dem<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

Vgl. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, 240.<br />

Soeffner, Auslegung des Alltags, 18.<br />

Vgl. Reichertz, Hermeneutische Wissenssoziologie, 519.<br />

Vgl. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, 181.


100 3Das evangelische Profil als Diskurs<br />

Forschungsgegenstand beantwortet: Das als Praxis begriffene evangelischeProfil<br />

und die Schüler*innenperspektiven als <strong>der</strong>en konstitutiver Teil werden im<br />

Diskursbegriff integriert und abgebildet – ebenso wie ihr wissenssoziologisch<br />

beschriebenes Verhältnisseszueinan<strong>der</strong>. Begreiftman das evangelische Profil als<br />

Diskurs,sinddamit also das Profil auf struktureller Ebene, die individuellen (und<br />

sozialen)Konstruktionsleistungen und <strong>der</strong>en wechselseitige Beziehung gemeint.<br />

<strong>Im</strong> Folgenden werden zunächst <strong>der</strong> Diskursbegriff und damit verbunden die<br />

Semiotik erläutert, die bereits als analytischer Zugang zu den Konstruktionsleistungen<br />

<strong>der</strong> konfessionslosen Schüler*innen erwähnt wurde. Anschließend<br />

wird Kellers Forschungsprogramm <strong>der</strong> Wissenssoziologischen Diskursanalyse<br />

eingeführt. Dem voraus geht eineerneute Betrachtung <strong>der</strong> Wissenssoziologie aus<br />

historischer Perspektive, um die geistesgeschichtliche Verbindung zur Diskursanalyse<br />

zu verdeutlichen.<br />

3.1.1 Diskursbegriff und Semiotik<br />

Reiner Keller führt den Diskursbegriff als Leitbegriff eines sozialwissenschaftlichen<br />

Zweiges ein, <strong>der</strong> sich mit Wissensphänomenen sowie <strong>der</strong> Genese und<br />

Zirkulation von Wissen beschäftigt. 14 Diskurs, wie <strong>der</strong> Begriff hier verwendet<br />

wird, meint insofern nicht (nur) eine kommunikative Form o<strong>der</strong> Gattung, son<strong>der</strong>n<br />

in Anlehnung an Keller eine »<strong>nach</strong> unterschiedlichen Kriterienabgrenzbare<br />

Aussagepraxis bzw. Gesamtheit von Aussageereignissen, die im Hinblick auf<br />

institutionell stabilisierte gemeinsame Strukturmuster, Praktiken, Regeln und<br />

Ressourcen <strong>der</strong> Bedeutungserzeugung untersucht werden« 15 .Maßgeblich bei <strong>der</strong><br />

von Keller adaptierten Verwendung des Diskursbegriffs ist die Referenz auf<br />

französische Diskurstheorien, v.a. <strong>der</strong> Michel Foucaults. Ihnen liegt ein Diskurskonzept<br />

zugrunde, das mit <strong>der</strong> öffentlichen und institutionellen Regulierung<br />

von Wissen, insbeson<strong>der</strong>e in Form kollektiver sprachlicher Klassifikationen und<br />

Ordnungssysteme, verbunden ist. 16<br />

Die Diskurstheorie fragt, wie solche institutionell regulierten Ordnungen<br />

entstehen. Keller beschreibt als Basis dafür die Rezeption des sprachphilosophischen<br />

Ansatzes <strong>der</strong> Semiotik, <strong>der</strong> auf Ferdinand de Saussure zurückgeht. De<br />

Saussure begreife die Entstehung von Sprache (langue) als abstrakt-strukturelle<br />

Ebene, die historisch aus konkreten Sprachhandlungen bzw. Sprechakten (pa-<br />

14<br />

Vgl. a. a. O., 97.<br />

15<br />

A.a. O., 234.<br />

16<br />

Diskurstheorie in diesem Sinne betrachtet Keller als Beschäftigung mit <strong>der</strong> sozialwissenschaftlichen,<br />

philosophischen und historischen Analyse von Diskursen »als Erscheinungs-<br />

und Zirkulationsform des Wissens» (a. a. O., 97).


3.1 Analytischer Zugang: Wissenssoziologische Diskursanalyse 101<br />

roles)von Individuen entstehe. 17 Langue als emergentes Phänomensei in diesem<br />

Sinne als soziale, durch sprachliche Interaktion innerhalb einer Sprachgemeinschaft<br />

entstandene Institution zu verstehen. Die Elemente dieses sozialen Systems<br />

seien die Zeichen,bestehend aus <strong>der</strong> Verbindung von Signifikant – als dem<br />

Bezeichnenden (das Lautbild, <strong>der</strong> Ausdruck) – und Signifikat, dem Bezeichneten<br />

(<strong>der</strong> gemeinte Sinn, die Bedeutung, <strong>der</strong> empirische Gehalt). Ihre Bedeutung erhielten<br />

die sprachlichen Zeichen durch ihre Stellung im gesamten System und<br />

wie<strong>der</strong>um aus dem Eingebundensein <strong>der</strong> sprechenden Individuen in soziale<br />

Zusammenhänge. Als grundlegendes Element <strong>der</strong> Theorie de Saussures für die<br />

Diskurstheorie stellt Keller die »entschiedene Verabschiedung einer Repräsentationsperspektive«<br />

18 heraus, d. h. die Abkehr von <strong>der</strong> Vorstellung, das Zeichen<br />

sei (notwendig) Abbild eines empirischen Phänomens, worauf es sich bezieht. 19<br />

Die Bedeutung eines Zeichen ergebe sich nicht – gleichsam »natürlich« – durch<br />

außersprachliche Realitäten, son<strong>der</strong>n durch seine Stellung innerhalb des Systems<br />

<strong>der</strong> langue, konkret: mittels seiner Differenzbeziehungen zuden an<strong>der</strong>en<br />

Zeichen.Der Gehaltdes Zeichens sei also arbiträr (d. h. willkürlich in dem Sinne,<br />

dass es keine unverrückbare, quasi gesetzmäßige Bedeutung gibt), ihm komme<br />

»keine außensprachlicheNotwendigkeit« 20 zu. Die Verwendung des Zeichens sei<br />

trotzdem nicht willkürlich. Ihre Regulierung ergebe sich aus dem System <strong>der</strong><br />

langue, innerhalb dessen <strong>der</strong> Gebrauch des Zeichens für die betreffende<br />

Sprachgemeinschaft organisiert sei, was wie<strong>der</strong>um Verständigung ermögliche.<br />

Sprachsozialisation hieße in diesem Sinne, ein Bedeutung herstellendes Differenzsystem<br />

(langue) zuinternalisieren, welches dem konkreten Sprechakt (parole)<br />

zugrunde liege. 21<br />

<strong>Im</strong> Kontext <strong>der</strong> philosophischen bzw. soziologischen Strömung des Pragmatismus<br />

geraten Semiotik und Diskursbegriff in einen Zusammenhang. Keller<br />

verweist auf Charles San<strong>der</strong>s Peirce und George Herbert Mead, welche die Abhängigkeit<br />

einer Sprachgemeinschaft von ihrem gemeinsamen universe of discourse,<br />

also einem geteilten Sinnhorizont, beschreiben würden. 22 Aus diesem<br />

»Diskursuniversum« heraus entstünden einzelne Bedeutungszuweisungen bzw.<br />

ein sprachliches Differenzsystem. 23 Das jeweilige Diskursuniversum bilde also<br />

den konkreten Kontext einer sprachlichen Äußerung, indem es die Entschlüs-<br />

17<br />

Vgl. a. a. O., 97 f., und zur folgenden Erklärung des semiotischen Verständnisses de<br />

Saussures a. a. O., 103 f.<br />

18<br />

Vgl. a. a. O., 104.<br />

19<br />

Keller weist darauf hin, dass neben de Saussure etwa auch Kant, Nietzsche, Wittgenstein<br />

und Heidegger diesen Abschied vollziehen würden, vgl. ebd.<br />

20<br />

Ebd.<br />

21<br />

Vgl. ebd.<br />

22<br />

Vgl. a. a. O., 101.<br />

23<br />

Vgl. ebd.


102 3Das evangelische Profil als Diskurs<br />

selung und Codierung von Bedeutungen reguliere. 24 Damit erlangt <strong>der</strong> Diskursbegriff<br />

soziologische Relevanz: Von<strong>der</strong> Bezeichnung einer kommunikativen<br />

Form bzw. Gattung wird er zur Beschreibung <strong>der</strong> Verknüpfung einzelner<br />

Sprachereignisse mit ihrem sozialen Kontext sowie dessen Regulierung von<br />

sprachlicher Bedeutung. 25<br />

Als zentral für die Entwicklungdes Diskursbegriffs im diskurstheoretischen<br />

Sinne und die damit verbundeneÜbertragung <strong>der</strong> Semiotik auf soziale Praktiken<br />

macht Keller den französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus aus. 26<br />

Maßgeblich sei dabei Claude Lévi-Strauss’ Übertragung <strong>der</strong> Sprachtheorie de<br />

Saussures auf die Ethnologie: So wie den konkreten Sprechakten (paroles) eine<br />

abstrakte Struktur zugrunde liege, so verhalte es sich auch mit konkreten kulturellen<br />

Ereignissen bzw. Phänomenen. So wie diesprachlichen Zeichen würden<br />

kulturelle Elemente wie z. B. Mythen, Verwandtschaftsbeziehungen usw. ihre<br />

Bedeutung durch Differenzierungen innerhalb eines Strukturgefüges erhalten<br />

(was bedeutet, dass auch diese jeweiligen Bedeutungen arbiträr, also prinzipiell<br />

verschiebbar und kein »Naturgesetz« sind). 27 Roland Barthes adaptiere die Semiotik<br />

im Hinblick auf unterschiedlichste kulturspezifische Phänomene, auch<br />

Objekte, wie Film, Werbung, Mode, Architektur usw., die allesamt als Zeichenträger<br />

fungieren – wobei die Entschlüsselung <strong>der</strong> Codes, die sie vermitteln, wie<br />

bei sprachlichen Zeichen anhand <strong>der</strong> Differenzierungen einer darunter liegenden,<br />

rekonstruierbaren Struktur erfolge. 28<br />

Beson<strong>der</strong>er Einfluss auf die Diskurstheorie ist Michel Foucault zuzusprechen.<br />

Er analysiert bestimmte historische Wissensordnungen als Struktur, auf<br />

denen individuelle Erkenntnis und ihre sprachliche Veräußerung basiert. 29 <strong>Im</strong><br />

Poststrukturalismus, soKeller, werde etwa durch Jaques Derrida und Pierre<br />

Bourdieu gegenüber den abstrakten Systemendes Strukturalismus wie<strong>der</strong>um die<br />

individuelle Kontextualisierung von sprachlichen Ereignissen betont. 30 Entscheidendist<br />

dabei die entschiedene Historisierung und individuelle Bedingtheit<br />

von Wissen, Erkenntnisund konkreten Sprachhandlungen: Erkenntnis schreitet<br />

nicht linear wachsend voran – son<strong>der</strong>n verän<strong>der</strong>t sich, abhängig von ihren jeweiligen<br />

konkreten Kontexten. Damit geraten die Interpretationsleistungen <strong>der</strong><br />

sozialen Akteur*inneninden Fokus, weshalb diskursanalytische Ansätze heute<br />

24<br />

25<br />

26<br />

27<br />

28<br />

29<br />

30<br />

Vgl. ebd.<br />

Vgl. ebd.<br />

Vgl. zu den folgenden Erläuterungen zum (Post )Strukturalismus a. a. O., 104 ff.<br />

Vgl. a. a. O., 104 f.<br />

Vgl. ebd.<br />

Vgl. zu diesen »Epistemen« a. a. O., 131 f.<br />

Vgl. a. a. O., 105 f.


3.1 Analytischer Zugang: Wissenssoziologische Diskursanalyse 103<br />

überwiegend als qualitative, hermeneutisch-interpretative Forschungsperspektiven<br />

gedeutet werden. 31<br />

3.1.2 Hermeneutische Wissenssoziologie<br />

Berger und Luckmann begreifen die soziale, also in Interaktion zwischen Individuen<br />

geschaffene Realität als Resultat unterschiedlicher, dialektisch aufeinan<strong>der</strong><br />

bezogener Prozesse <strong>der</strong> Externalisierung, <strong>der</strong> Internalisierung und <strong>der</strong><br />

Objektivation. 32 Externalisierung als »Entäußerung« 33 meintdabei das »deutende<br />

Handeln von Menschen, wodurch Kulturprodukte (wie Denkschemata, Typisierungen,<br />

Objekte o<strong>der</strong> Wirklichkeitsdefinitionen) entstehen« 34 .<strong>Im</strong>Prozess <strong>der</strong><br />

Objektivation (»Vergegenständlichung«) würden diese Produkte menschlicher<br />

Selbstentäußerung objektiven Charakter gewinnen: »Die institutionale Welt ist<br />

vergegenständlichte menschliche Tätigkeit, und jede einzelne Institution ist dies<br />

ebenso.« 35 Das Paradoxon bestünde darin, dass die gesellschaftliche Welt trotz<br />

ihrer menschlichen Konstruiertheit als objektiv erlebt würde, obwohl sie keinen<br />

ontologischen Status habe, <strong>der</strong> unabhängig vom menschlichen Tunwäre, das sie<br />

hervorbringt. Die damit verbundene Rückwirkung des »Produktes« auf seine<br />

Produzenten beschreiben Berger und Luckmann als Internalisierung, quasi<br />

»Einverleibung« <strong>der</strong> vergegenständlichten gesellschaftlichen Welt im Verlauf <strong>der</strong><br />

Sozialisation. 36 Sozialisation als ihre Internalisierung durcheine neue Generation<br />

zeige dabei die »fundamentale gesellschaftliche Dialektik in ihrer Totalität« 37 .<br />

Wie beschrieben,nimmt dieWissenssoziologie bei <strong>der</strong>Untersuchung dieser<br />

Vorgänge eine doppelte Perspektive ein. Diese beinhaltet neben dem Blick auf<br />

die Akteur*innen jenen auf soziale und institutionelle Strukturen, da das individuelle<br />

Verhalten nur in Relation zum vorgegebenen, für die jeweiligen<br />

Handlungen relevanten Bezugsrahmen – welcher als »objektiv« erlebt wird –<br />

verständlich wird. 38 Es geht um strukturelle Problemlagen, also Handlungsanfor<strong>der</strong>ungen,<br />

die Individuen in einem bestimmten institutionalisierten<br />

Kontext bewältigen und kollektiv teilen – unabhängig davon, inwiefern diese<br />

31<br />

32<br />

33<br />

34<br />

35<br />

36<br />

37<br />

38<br />

Vgl. a. a. O., 109.<br />

Vgl. Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion <strong>der</strong> Wirklichkeit, 64 f.<br />

A.a. O., 65.<br />

Steets, Pluralismus im Bewusstsein, 181.<br />

Vgl. Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion <strong>der</strong> Wirklichkeit, 65<br />

Vgl. ebd.<br />

Ebd.<br />

Vgl. 1.3.3; vgl. Reichertz, Hermeneutische Wissenssoziologie, 520.


104 3Das evangelische Profil als Diskurs<br />

ihnen bewusst sind. 39 Auf <strong>der</strong> Akteursebene ist die Rekonstruktion singulärindividueller<br />

Sichtweisen deshalb nur ein Zwischenschritt; im Mittelpunkt<br />

steht die Typisierung von Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf strukturell<br />

vorgegebeneHandlungsprobleme. In <strong>der</strong> Spezifik desEinzelfallszeige sich laut<br />

Soeffner vielmehr das Typische des strukturellen Bezugsrahmens. Die Hermeneutik<br />

<strong>der</strong> Wissenssoziologie beschreibt erindiesem Zusammenhang als<br />

»Auslegenund Verstehen desSingulären in seinen typischen undtypisierbaren<br />

Beziehungen zuallgemeinen Strukturen«. 40 Da die wissenschaftlichen Interpret*innen,<br />

soNorbert Schröer, keinen Zugriff auf die handlungsleitenden<br />

Entwürfe hätten, auf welche Akteur*innen (unbewusst) zurückgreifen, seien<br />

sie auf <strong>der</strong>en diskursiv zugänglichen Objektivationen angewiesen, speziell auf<br />

Textdokumente. Anhand dieser sei esmöglich, in einer rationalen »ex-post-<br />

Annäherung« Motivationszusammenhänge, Deutungsmuster, Handlungsentwürfeo<strong>der</strong><br />

implizite Konstitutionsregelnvon Praktiken zu rekonstruieren und<br />

dabei das Typische hinter den Einzelfällen zu abstrahieren. 41<br />

Um sie für sein Programm <strong>der</strong> Wissenssoziologischen Diskursanalyse zu<br />

erschließen, fasst Keller unter dem Begriff <strong>der</strong> Wissenssoziologie heterogene<br />

theoretische Positionen zusammen, die sich mit <strong>der</strong> »sozialen Genese, Zirkulation<br />

und den Effekten von Wissen« 42 beschäftigen. Dabei verweist er zunächst auf die<br />

sehr unterschiedlichen Phänomene, die unter dem Begriff des Wissens verstanden<br />

würden. Dieser stünde nicht nur mit sach- o<strong>der</strong> faktizitätsbezogenen,<br />

erfahrungsbasierten und revidierbaren Kognitionen in Bezug – son<strong>der</strong>n beschreibe<br />

auch Glaubensvorstellungen, körperliche Praktiken o<strong>der</strong> Alltagsroutinen,<br />

die in Aufzeichnungen, individuellen Fähigkeiten o<strong>der</strong> als sozial bzw. institutionell<br />

tradiert vermitteltwürden. 43 Aus historischer Perspektive zeichneter<br />

eine theoretische Linie <strong>der</strong> Wissenssoziologie, die ihren Ausgang bei <strong>der</strong> sozialen<br />

Bedingtheit bzw. Standortgebundenheit des Wissens nimmt und über seine soziale<br />

Konstruktion zu seiner kommunikativen und sozialen Praxis führt. 44<br />

39<br />

Vgl. zu impliziten symbolischen Sinnwelten Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche<br />

Konstruktion <strong>der</strong> Wirklichkeit, 102; 112 ff.<br />

40<br />

Soeffner, Auslegung des Alltags, 13. Zum hermeneutischen Charakter <strong>der</strong> Wissenssoziologie<br />

vgl. auch 1.1.3.<br />

41<br />

Vgl. Schröer, Wissenssoziologische Hermeneutik, 112.<br />

42<br />

Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, 19.<br />

43<br />

Vgl. ebd.<br />

44<br />

Vgl. a. a. O., 22.


4 Zug?nge zu Deutungsmustern<br />

konfessionsloser Sch2ler*innen im<br />

diskursiven Feld des evangelischen<br />

Profils<br />

An dieser Stelle geht es um theoretische und forschungspraktische Zugänge zu<br />

Deutungsmustern konfessionsloser Schüler*innen, die wie beschrieben als<br />

Ausdruck interpretativer Teilhabe am evangelischen Schulprofil betrachtet<br />

werden. 1 Dabei soll zunächst das objektive Handlungsproblem (Oevermann) als<br />

analytischer Zugang zur Deutungspraxis <strong>der</strong> Schüler*innen dargestellt werden:<br />

Um Zugriff auf spezifische, sich durch den Diskurs strukturell ergebende Deutungen<br />

zu erhalten, wird – entsprechend dem gleichnamigen Konzept Leon<br />

Festingers, das zunächst erläutert wird – eine kognitive Dissonanz 2 als Antezedenzbedingung<br />

von kollektiv geteilten Deutungsmustern beschrieben. Diese<br />

ergibt sich im konkreten Fall aus dem Bewusstsein <strong>der</strong> eigenen Nicht-Religiosität<br />

einerseits sowie <strong>der</strong> praktischen und gedanklichen Teilhabe am religiösen<br />

Schulleben an<strong>der</strong>erseits. Es entsteht daraus eine kognitive Spannung, die deutend<br />

bewältigt bzw. aufgelöst werden muss.<br />

Bestimmt ist diese Spannung durch diskurstypische Klassifikationen: zum<br />

einen des Profils als »religiös«, zum an<strong>der</strong>en <strong>der</strong> Schüler*innen als »konfessionslos«.<br />

Die dadurch hergestellte diskursive Grenzziehung ist als strukturelle<br />

Bedingung für die Schüler*innen im Schulalltag zu verstehen. <strong>Im</strong>Sinne des<br />

Deutungsmusteransatzes stellt sie ein objektives Handlungsproblem dar, das<br />

deutend bewältigt werden muss. Schlüsselbegriff ist dabei die Religion: Bezogen<br />

auf das evangelische Profil markiert Religion vielfach Zugehörigkeiten o<strong>der</strong><br />

Ausschlüsse. Als Grenzziehungwird sie dort zur Quelle kognitiver Dissonanz, wo<br />

zur Schule gehörenden Schüler*innen mittels ihrer Negation, also <strong>der</strong> Religionslosigkeit,<br />

eine Unzugehörigkeit o<strong>der</strong> Uneigentlichkeit im Hinblick auf das<br />

spezifische Profil zugeschrieben wird. Zur Herleitung seines Status als Dis-<br />

1<br />

2<br />

Vgl. 3.3.<br />

Vgl. Festinger, Theorie <strong>der</strong> kognitiven Dissonanz.


134 4Zug3nge zu Deutungsmustern konfessionsloser Sch.ler*innen<br />

kurskategorie (hier mit grenzziehen<strong>der</strong> Funktion) wird <strong>der</strong> Religionsbegriff als<br />

diskursive Konstruktion erschlossen. 3<br />

Analytischer Zugang zum deutenden Handeln <strong>der</strong> Schüler*innen ist die<br />

Schulkultur, welche anschließend in <strong>der</strong> Konzeptualisierung durch Werner<br />

Helsper rezipiert und dargestellt wird. Anhand ihrer symbolischen sowie imaginären<br />

Ebene lassen sich Praktiken und Inhalte beschreiben, anhand <strong>der</strong>er<br />

Schüler*innen die diskursivhergestellte Grenzezwischen »konfessionslos« und<br />

»religiös« im Schulalltag erleben. 4<br />

Anknüpfend an die Deutungsmuster- sowie die Wissenssoziologische Diskursanalyse<br />

werden die Erhebung und Auswertung des empirischen Materials,<br />

das als Basis <strong>der</strong> Rekonstruktion von Schüler*innen-Perspektiven dient, in eine<br />

qualitative Forschungsperspektive gestellt, konkret vor den methodologischen<br />

Hintergrund <strong>der</strong> Grounded Theory in ihrer konstruktivistischen Lesart. 5 Die<br />

Integration von Deutungsmusteranalyse und Grounded Theory illustriert ein<br />

entsprechen<strong>der</strong> Ansatz von Maya Halatcheva-Trapp, <strong>der</strong> außerdem explizit an die<br />

Wissenssoziologische Diskursanalyse anschließt. Mit diesem methodologischen<br />

Hintergrund ist ein iterativer Forschungsprozess verbunden, welcher in dieser<br />

Untersuchung die Rekonstruktion von Deutungsmustern charakterisiert. Er wird<br />

in seinen Prinzipien ebenso beleuchtet wie die Forschungslogik <strong>der</strong> Abduktion<br />

und außerdem das Konzept des Idealtypus, an welches die Repräsentativität <strong>der</strong><br />

rekonstruieren Deutungsmuster geknüpft ist.<br />

Methodischbetrachtet handelt es sich bei <strong>der</strong> Rekonstruktion <strong>der</strong> anvisierten<br />

Deutungsmuster um ein Ineinan<strong>der</strong> von Erhebung, Auswertung und dem mit<br />

beiden verbundenen theoretischen Sampling von empirischem Material. Dies<br />

geschieht vor dem Hintergrund <strong>der</strong> theoriebasierten Heuristik, welche ebenso<br />

vom Material beeinflusst wird wie sie selbst dessen Erhebung und Auswertung<br />

leitet. Generiert wird das Material durch qualitative Interviews mit konfessi-<br />

3<br />

Diese Konzeptualisierung des Religionsbegriffs ermöglicht eine weitere Perspektive<br />

darauf: die <strong>der</strong> potentiellen Erweiterbarkeit um Neu- o<strong>der</strong> Umdeutungen. Auf dieser Erweiterbarkeit<br />

basiert das integrative Potential des Begriffs hinsichtlich <strong>der</strong> Deutungen<br />

konfessionsloser Schüler*innen, die man in diesem Sinne als Ergänzung <strong>der</strong> diskursiven<br />

Herstellung von Religion im Kontext des evangelischen Profils verstehen kann, vgl. 6.1.3,<br />

6.2.1 sowie 6.2.2.<br />

4<br />

Als Schulkultur lassen sich die Symbole und <strong>Im</strong>aginationen greifen, mit denen sich<br />

Schüler*innen im Bewusstsein <strong>der</strong> Grenze zwischen christlichem Profil und eigener Konfessionslosigkeit<br />

im Schulalltag auseinan<strong>der</strong>setzen müssen.<br />

5<br />

Die Nähe zur qualitativen Forschung, die <strong>der</strong> hier gewählte Zugang zum evangelischen<br />

Profil als Praxis – also als dynamisches, nicht operationalisierbares Phänomen – schafft, ist<br />

bereits beschrieben worden, vgl. dazu 1.3.2. Vgl. außerdem die Hinweise Kellers zur Rekonstruktion<br />

von Diskursverläufen und -praktiken sowie <strong>der</strong> konkreten inhaltlichen Bestandteile<br />

von Diskursen als Grounded Theory unter 3.1.3.


4.1 Analytische Zug3nge 135<br />

onslosen Schüler*innen an evangelischen Schulen in Ostdeutschland. Ziel <strong>der</strong><br />

Erhebung ist die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> beschriebenen Differentsetzung<br />

des Diskurses sowie <strong>der</strong> damit verbundenen kognitiven Dissonanz. Um diese<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung zu reproduzieren bzw. zu initiieren und auf diese Weise<br />

Zugang zur Deutungspraxis <strong>der</strong> Akteur*innen zuerhalten, werden <strong>Im</strong>pulse des<br />

problemzentrierten unddes diskursiven Interviews 6 reflektiert. <strong>Im</strong> Rückgriff auf<br />

diese Interviewformen sowie die damit verbundenen Prinzipien von Grounded<br />

Theory und Deutungsmusteranalyse werden außerdem die Konstruktion des<br />

Leitfadens und seine Orientierung an <strong>der</strong> Schulkultur, das theoretische Sampling<br />

sowie Vorab-Kriterien <strong>der</strong> Schüler*innen- und Schulauswahl erörtert.<br />

4.1 Analytische Zug?nge<br />

Kognitive Dissonanz und Deutungsmuster haben hier die Funktion heuristischer<br />

Konzepte für die diskursive Praxis <strong>der</strong> konfessionslosen Schüler*innen: Sie<br />

dienen <strong>der</strong> analytischen Erfassung und Kategorisierung empirischer Daten, anhand<br />

<strong>der</strong>er Perspektiven auf die Teilhabe konfessionsloser Schüler*innen am<br />

religiösen Schulprofil rekonstruiert werden – und zugleich <strong>der</strong> theoretischen<br />

Integration <strong>der</strong> Praxis <strong>der</strong> Schüler*innen in den Diskurs. Es handelt sich also um<br />

theoretische Zugänge, die ihrerseits nicht empirisch wahrnehmbar sind bzw.<br />

»erlebt« werden – son<strong>der</strong>n um Begriffe, die <strong>der</strong> theoretischen Fixierung des<br />

empirischen Materials dienen. In diesem Sinne kann man sie auch als eine Art<br />

Setzung verstehen. Diesehat nicht den Anspruch,erlebte Realität zu beschreiben,<br />

son<strong>der</strong>n das gewonnene empirische Material begrifflich zu fassen und zubeschreiben.<br />

7<br />

<strong>Im</strong> Folgenden wird das Konzept <strong>der</strong> kognitiven Dissonanz beschrieben, um es<br />

theoretisch auf das Erleben konfessionsloser Schüler*innen an evangelischen<br />

Schulen zuübertragen und ihre Deutungsmuster als Aktivität zur Dissonanzreduktion<br />

zu interpretieren. Durch die diskursbedingte Grenze zwischen profilspezifischer<br />

Religiosität und <strong>der</strong> eigenen, dem Profil eigentlich nicht entsprechenden<br />

Religiosität bzw. Konfessionslosigkeit erleben die Schüler*innen – so<br />

die hier aus dem Diskurs des evangelischen Profils adaptierte Zuschreibung –<br />

kognitive Dissonanzen im Schulalltag: Indem sie zwar am Profil teilhaben, durch<br />

ihre Beschreibung als konfessionslosaber eigentlich nicht Teil davon sind. Dieses<br />

Erleben wi<strong>der</strong>sprüchlicher Kognitionen wird von Festinger als psychologisch<br />

unhaltbarer Zustand beschrieben, <strong>der</strong> auf Reduktion zielt und somit Ausgangspunkt<br />

(Antezendenz) damit einhergehen<strong>der</strong> Aktivität ist. Als solche Aktivität<br />

6<br />

Vgl. Witzel, Das problemzentrierte Interview, sowie Ullrich, Deutungsmusteranalyse.<br />

7<br />

Vgl. im Folgenden unter 4.2.1 die Ausführungen zur konstruktivistischen Grounded<br />

Theory.


136 4Zug3nge zu Deutungsmustern konfessionsloser Sch.ler*innen<br />

wird hier die Entwicklungvon Deutungen betrachtet, die in kollektiven Mustern<br />

greifbar sind. Sie werden anhand von Gesprächsmaterial rekonstruiert, das durch<br />

die Konfrontation mit den Dissonanz auslösenden diskursiven Grenzziehungen<br />

mittels <strong>der</strong> Religion entsteht.<br />

Analytisch und forschungspraktisch greifbarwerden die Deutungen auf den<br />

unterschiedlichen Ebenen <strong>der</strong> Schulkultur. Anhand dieser Konzeptualisierung<br />

<strong>der</strong> schulischen Praxis und den darin zum Ausdruck kommenden Bedeutungen<br />

und Sinnsetzungen wird eine Perspektive auf die Manifestationen des evangelischen<br />

Profils im Schulalltag eröffnet. Vondieser analytischen Strukturierung<br />

<strong>der</strong> schulischen Praxis ausgehend, lassen sich deutungsbedürftige, kognitive<br />

Dissonanz auslösende Momente imaginärer und symbolischer Natur darin<br />

ebenso beschreiben wie die entsprechenden Umgangsweisen <strong>der</strong> Schüler*innen<br />

damit, die auf jene zugrundeliegenden Deutungsmuster rekurrieren, welche hier<br />

von Interesse sind.<br />

4.1.1 Kognitive Dissonanz als objektives Handlungsproblem und<br />

Antezedenzbedingung von Deutungsmustern<br />

Prinzipiell liegt eine kognitive Dissonanz vor, wenn unterschiedliche Bereiche<br />

eines individuellen Bewusstseins nicht kompatibel sind o<strong>der</strong> wenn Kenntnisse<br />

über die Realität mit Handlungsabläufen kollidieren. 8 Klassisches Beispiel dafür<br />

sind <strong>der</strong> um die gesundheitlichen Gefahren wissende Raucher o<strong>der</strong> eine Physikerin,<br />

die vom kausalen Eingreifen Gottes in Naturzusammenhänge überzeugt<br />

ist. Die Theorie <strong>der</strong> Kognitiven Dissonanz, zurückgehend auf den Sozialpsychologen<br />

Leon Festinger, beruht auf <strong>der</strong> Prämisse, dass <strong>der</strong> Mensch in seinen<br />

Meinungen und Einstellungen jedoch tendenziell <strong>nach</strong> Konsistenz strebt. Inkonsistenzen,<br />

also Abweichungen davon, werden nur selten psychologisch akzeptiert<br />

und z. B. durch beiläufige Rationalisierungen aufgelöst. Scheitern die<br />

Versuche, Inkonsistenzen zu beseitigen, stellt sich laut Festinger »psychologisches<br />

Unbehagen« 9 ein.<br />

In seiner Theorie tauscht Festinger die Begriffe <strong>der</strong> In-/Konsistenz durch<br />

Dissonanz und Konsonanzaus, um zum Ausdruck zu bringen, dass es sich nicht<br />

zwingend nur um logische, son<strong>der</strong>n um psychologische Inkonsistenzen handelt.<br />

10 Konkret definiert Festinger kognitive Dissonanz als »Bestehen von nicht<br />

zueinan<strong>der</strong> passenden Beziehungen zwischen Kognitionen« 11 ,wobei Kognition<br />

»hier […]irgendeine Kenntnis,Meinung o<strong>der</strong> Überzeugung von <strong>der</strong> Umwelt, von<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

Vgl. Steets, Pluralismus im Bewusstsein, 187.<br />

Festinger, Theorie <strong>der</strong> kognitiven Dissonanz, 16.<br />

Vgl. Beckmann, Kognitive Dissonanz, 9.<br />

Festinger, Theorie <strong>der</strong> kognitiven Dissonanz, 17.


4.1 Analytische Zug3nge 137<br />

sich selbst o<strong>der</strong> von dem eigenen Verhalten« 12 meint. Festinger weist explizit<br />

darauf hin, dass sich psychologisch betrachtet Meinungen, Wertvorstellungen<br />

o<strong>der</strong> Überzeugungen nicht von »Kenntnissen« unterscheiden: Eine Person halte<br />

nicht an einer Meinung fest, von <strong>der</strong> sie nicht glaubt, dass sie richtig sei. 13 Dabei<br />

arbeitet er mit zwei grundlegenden Hypothesen: Zum einen motiviere die psychologisch<br />

unangenehme Dissonanz die betreffende Person, die Dissonanz zu<br />

reduzieren und Konsonanz herzustellen. Zum an<strong>der</strong>en werde die Person versuchen,<br />

Situationen und Informationen zu vermeiden, die die vorliegende Dissonanz<br />

erhöhen könnten. 14 Das heißt, dass die kognitive Dissonanz als Antezedenzbedingung<br />

von Aktivitäten gelten kann, die auf Dissonanzreduktion zielen.<br />

Wiekommt es zur Entstehung kognitiver Dissonanzen?Neue Ereignisse o<strong>der</strong><br />

Informationen sind Auslöser von – zumindest temporären – Dissonanzen, da eine<br />

Person über die in ihrer Umwelt geschehenden und sieerreichenden Ereignisse<br />

und Informationen keine absolute Kontrolle hat. 15 Nur wenige Situationen, in<br />

denen es zur Entstehung von Meinungen o<strong>der</strong> Informationen kommt, sind so<br />

eindeutig, dass keine wi<strong>der</strong>streitenden bzw. in sich wi<strong>der</strong>sprüchlichen Kognitionen<br />

darüber entstehen. Strukturell sind es logische Inkonsistenzen, in Wi<strong>der</strong>spruch<br />

geratende kulturell-soziale Regeln und Normen, »Meinungsdilemmata«<br />

(z. B.: ein Demokrat findet einen republikanischen Kandidaten gut) o<strong>der</strong><br />

schon gewonnene Erfahrungen, die dabei die Dissonanzen hervorrufen. 16<br />

Festinger verweist außerdem auf die vielseitige Rolle des sozialen Kontextes<br />

im Hinblick auf kognitive Dissonanzen. Diese bezieht sich sowohl auf die Entstehung<br />

als auch auf dieBeseitigung <strong>der</strong> Dissonanzen: Die soziale Gruppe ist zum<br />

einerseits Induktionsfeldvon neuen Kognitionen, die mit bestehenden dissonant<br />

sind. Ebenso unterstützt sie aber auch darin, bestimmte Kognitionen zugunsten<br />

an<strong>der</strong>er zu verwerfen, um Dissonanzen zu beseitigen: »Prozesse sozialer Kommunikation<br />

[…] sind dem<strong>nach</strong> unlöslich mit den Prozessen <strong>der</strong> Dissonanzentstehung<br />

und Dissonanzreduktion verbunden.« 17 Hervorgerufen werden Dissonanzen<br />

in sozialen Situationen z. B. durch Meinungsverschiedenheiten. Zugleich<br />

entstehen durch die soziale Situation drei Möglichkeiten, die Dissonanz zu reduzieren:<br />

durch eigene Meinungsän<strong>der</strong>ung (sodass sie mit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>er übereinstimmt),<br />

durch Überzeugung an<strong>der</strong>er, ihre Meinung zu än<strong>der</strong>n, o<strong>der</strong> durchdie<br />

Negierung des Vergleichsmomentes (wegen abweichen<strong>der</strong> Erfahrungen, Eigenschaften<br />

o<strong>der</strong> Motive, die die Person/en mit an<strong>der</strong>er Meinung dem Vergleich<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

Ebd.<br />

Vgl. a. a. O., 23.<br />

Vgl. a. a. O., 16.<br />

Vgl. a. a. O., 18.<br />

Vgl. a. a. O., 26 f.<br />

A.a. O., 177.


138 4Zug3nge zu Deutungsmustern konfessionsloser Sch.ler*innen<br />

entziehen). 18 Laut Festinger hängt dabei die Bereitschaft, die eigene Meinung zu<br />

än<strong>der</strong>n, von <strong>der</strong> Relevanz und Attraktivität<strong>der</strong> Gruppe für die betreffende Person<br />

ab. Zweiter Faktor <strong>der</strong> Meinungsän<strong>der</strong>ung ist <strong>der</strong> Umfang an<strong>der</strong>er individueller<br />

Kognitionen, die mit <strong>der</strong> eigenen Meinung konsonant ist: je niedriger ihre Zahl,<br />

desto höher die Bereitschaft zur Meinungsän<strong>der</strong>ung. 19<br />

Durch den Faktor des sozialen Kontextes kann die gleicheDissonanz auch bei<br />

mehreren Personen analog auftreten. Der entstehende Druck, die Dissonanz zu<br />

reduzieren, kann so zum Massenphänomen werden – wie etwa die Entstehung<br />

weit verbreiteter Gerüchte (eine Fehlinformation, die hilft, die eigene Dissonanz<br />

zu reduzieren, wird aus eigenem Antrieb weitererzählt). 20 Auch eine kollektive<br />

Verleugnung <strong>der</strong> Realität kann die Folge sein, wenn eine große Gruppe an<br />

Kognitionen (Meinungen/Überzeugungen) festhält, obwohl Fakten dagegen<br />

sprechen. Umgekehrt handelt es sich etwa bei einer Massenbekehrung (psychologisch<br />

gesehen) um nichts an<strong>der</strong>es als singuläre Meinungsübernahmen bzw.<br />

-än<strong>der</strong>ungen, die als Kollektivphänomen auftreten und durch die soziale Komponente<br />

einen zusätzlichen Konsonanzeffekt haben. 21 Was die Reduktion von<br />

Dissonanzen generell betrifft, lässt sich zusammenfassen: Sie erfolgt entwe<strong>der</strong><br />

durch die Än<strong>der</strong>ung eines <strong>der</strong> kognitiven Elemente (Meinung, Überzeugung, …)<br />

o<strong>der</strong> durch die Addition bzw. Subtraktion von Kognitionen. Die Addition konsonanter<br />

Kognitionen zielt darauf, eine aktuell dominante Handlungstendenz zu<br />

stützen, während die Subtraktion dissonanter Kognitionen bedeutet, die Aufmerksamkeit<br />

von Kognitionen abzuziehen, die die konkurrierende Handlungstendenz<br />

stützen. 22<br />

Jürgen Beckmann weist zudem auf den Stellenwert <strong>der</strong> Relevanz in <strong>der</strong><br />

Theorie <strong>der</strong> Kognitiven Dissonanz hin. Der dem Handeln vorausgehende Motivationszustand<br />

komme erst zustande, indem unvereinbareKognitionen zu einem<br />

bestimmten Zeitpunkt füreinan<strong>der</strong> relevant würden. 23 Relevanz ist in diesem<br />

Sinne die <strong>Im</strong>plikationsbeziehung zwischen zwei Kognitionen, die nicht per se<br />

durch die Existenz<strong>der</strong> Kognitionen gegebenist, son<strong>der</strong>nerst durchdas Element<br />

eines spezifischen Verhaltens initialisiert wird. 24 Dieses Kriterium sei bei <strong>der</strong><br />

Anwendung <strong>der</strong> Theorie deshalb beachtenswert, da <strong>nach</strong> mo<strong>der</strong>nen Gedächtnismodellen<br />

ohnehin alle Kognitionen miteinan<strong>der</strong> verknüpft seien. Inkonsistente<br />

bzw. dissonante Kognitionen können also nebeneinan<strong>der</strong> bestehen, ohne<br />

füreinan<strong>der</strong> relevant zu sein (und würden in diesem Fall auch nicht zwingend<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

24<br />

Vgl. a. a. O., 181 ff.<br />

Vgl. ebd.<br />

Vgl. a. a. O., 194 f.<br />

Vgl. a. a. O., 196.<br />

Vgl. Beckmann, Kognitive Dissonanz, 14.<br />

Vgl. a. a. O., 10.<br />

Vgl. ebd.


4.1 Analytische Zug3nge 139<br />

Unbehagenauslösen). Um nichtinein theoretisches Dilemmazugeraten, sei die<br />

Akzentuierung <strong>der</strong> Relevanzbedingung unerlässlich. Beckmann definiert im<br />

Hinblick auf die Entstehung des Motivationszustandes entsprechend: »Stehen<br />

zwei Kognitionen zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer relevanten Beziehung,<br />

und sind diese beiden Kognitionen miteinan<strong>der</strong> unvereinbar, dann entsteht ein<br />

Motivationszustand, <strong>der</strong> darauf gerichtet ist, die kognitive Präsenz dieser Unvereinbarkeitsbeziehung<br />

zu beseitigen.« 25<br />

4.1.2 Zur diskursiven Herstellung von Religion als Grenzziehung des<br />

Profils<br />

Joachim Matthes betrachtet Religion, Religiöses o<strong>der</strong> Religiosität als diskursive<br />

Tatbestände, also als Phänomene, die im gesellschaftlichen Diskurs konstituiert<br />

werden. Hervorgehen würden diese Tatbestände aus <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />

bestimmten gesellschaftlichen Erfahrungen, die sie unter bestimmten sprachlichen<br />

Ausdrücken thematisieren würden. 26 Das heißt: bestimmten Erfahrungen<br />

wird zugeschrieben, Religion o<strong>der</strong> religiös zu sein – die Erfahrungen sind nicht<br />

per se religiös, son<strong>der</strong>n werden es durch entsprechende Zuschreibung. Dabei<br />

geht Matthes davon aus, dass Religion und Religiöses als diskursive Phänomene<br />

kulturgeschichtlich eine begrenzte, andie <strong>nach</strong>reformatorisch okzidentale Entwicklung<br />

gebundene Reichweite hätten. 27 Sein Zugang impliziert, <strong>nach</strong> Religion<br />

25<br />

A.a. O., 11.<br />

26<br />

Vgl. Matthes, Auf <strong>der</strong> <strong>Suche</strong> <strong>nach</strong> dem ›Religiösen‹, 129.<br />

27<br />

Vgl. ebd. In Bezug auf den theologischen Diskurs weist Matthes darauf hin, dass Religion<br />

in <strong>der</strong> <strong>nach</strong>reformatorischen Zeit relevant werde: einerseits als Bezeichnung für das Verbindende<br />

des sich spaltenden Christlichen auf gleichem Territorium, an<strong>der</strong>erseits für das »auf<br />

Vermittlung durch die Kirche nurmehr subsidiär« (a.a. O., 131) angewiesene Gottesverhältnis<br />

<strong>der</strong> Laienschaft. Diskursanalytisch betrachtet, würden die Termini Kirche und Religion<br />

seitdem unterschiedliche Wirklichkeitsbezüge aufweisen – einerseits die institutionelle,<br />

messbare, definitorisch fassbare Realität <strong>der</strong> Kirche, an<strong>der</strong>erseits Religion als »kulturelle<br />

Programmatik, die einen Möglichkeitsraum absteckt« (a. a. O., 132). Für den Gebrauch des<br />

Religionsbegriffs im theologischen Diskurs macht Matthes zwei bis heute wirksame Folgen<br />

dieser unterschiedlichen Wirklichkeitsbezüge aus: erstens den Versuch <strong>der</strong> »Domestizierung«,<br />

also die »Wie<strong>der</strong>aneignung <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Kirche ausgewan<strong>der</strong>ten ›Religion‹«, und damit<br />

verbunden die »Nostrifizierung« des Nicht-Christlichen – als Umdefinition in das, was sich<br />

am Christlichen als ›Religion‹ ausweisen lasse (ebd.). Diese Ambivalenz in <strong>der</strong> <strong>Suche</strong> <strong>nach</strong><br />

dem Religiösen kennzeichne den theologischen Diskurs bis heute, wobei <strong>der</strong> Blick auf an<strong>der</strong>e<br />

Kulturkreise davon geprägt sei, »etwas zu finden, das sich auf die Ebene <strong>der</strong> eigenen Dignität<br />

und Bestimmtheit bringen lässt – und dennoch auf dieser Ebene different, wenn nicht gar<br />

defizitär bleibt zu dem, was man selber repräsentiert«. In diese Perspektive stellt er auch den<br />

Vorwurf des Eurozentrismus, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Religion als Kategorie inhärent sei: Mit <strong>der</strong> Ausbreitung


<strong>Eva</strong> <strong>Finkenstein</strong>, Dr., Jahrgang 1987, studierte <strong>Eva</strong>ngelische<br />

Theologie in Leipzig, Berlin und Montpellier. Sie ist Pfarrerin<br />

in Berlin.<br />

Bibliographische Information <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in <strong>der</strong><br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

© 2022 by <strong>Eva</strong>ngelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig<br />

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung außerhalb <strong>der</strong> Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne<br />

Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson<strong>der</strong>e für<br />

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung<br />

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig<br />

Satz: 3w+p, Rimpar<br />

Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

ISBN 978-3-374-07223-1 // eISBN (PDF) 978-3-374-07224-8<br />

www.eva-leipzig.de

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