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Mitteilungsblatt Thüringer Pfarrverein Jahresheft 2022

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Pastorale Existenz in säkularen Zeiten

Vortrag von Fulbert Steffensky auf der

Regionalkonferenz der Pfarrerinnen und Pfarrer

in Hannover 2016

Wir sind Kirche im Exil. Wir können uns

den Ort, die Zeit und die Gesellschaft

nicht aussuchen, in denen unsere Kirche

lebt und versucht, die alte Nachricht von

der Gnade Gottes und dem Recht der

Armen zu verbreiten. Ort und Zeit unserer

Kirche: eine säkulare Welt, die wir

sind und in der wir leben. Wir sind Kirche

im Exil, die konstantinische Zeit ist

vorbei. Wir sind in Babel und wir leben

in Babel. Der Prophet Jeremia schreibt

eine Art Dienstanweisung für die in Babel

exilierten Juden. Er schreibt: „Baut

Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten

und esst ihre Früchte! Nehmt euch

Frauen und zeugt Söhne und Töchter!“

Seine Anweisung: Werdet hiesige! Einen

anderen Ort als Babel habt ihr nicht und

habt ihr nicht zu erwarten. Zwar gibt es

Lügenpropheten unter euch, die behaupten,

Babel sei eine kurze Episode,

und bald sei man wieder im alten angestammten

Land. Jeremia zerstört diese

Illusion. 70 Jahre soll der Aufenthalt

in der Fremde dauern, ein Leben lang.

So lange soll das Volk heimisch in der

Fremde sein, Häuser bauen und Gärten

pflanzen.

Was braucht das Volk in der neuen

Welt Babylons, damit es nicht völlig ein

fremd und unbeheimatet bleibt? Was

ist nötigt, dass sie dort ihr eigenes und

der Stadt Bestes suchen können? Zunächst

eine gewisse Treuelosigkeit der

alten Welt gegenüber. Sie werden nie

Boden unter die Füße bekommen, wenn

sie ständig der alten Welt nachweinen.

„Ich vergesse, was hinter mir liegt, und

strecke mich aus nach dem was vor mir

ist.“ (Philipper 3, 13} Die alte und uns so

wohl gesonnene Welt hat kein Recht,

das Diktat unserer Erinnerung zu sein.

Sie hat kein Recht, sich als einzigartig

aufzuspielen. Die verklärte Erinnerung

an die alte Welt könnte sich als Feind

der neuen erweisen. Eine Weise, gänzlich

unbeheimatet im Neuen zu bleiben,

ist der Vergleich der beiden Welten, der

alten und der neuen. Vergleiche sind

immer bösartig und zerstörerisch, nicht

nur in diesem Fall.

Was brauchen wir als Tugend im Exil?

Zunächst die Kraft, die Illusion aufzugeben,

es sei früher in der konstantinischen

Zeit in der Kirche und für die

Kirche alles besser gewesen. Aber war

unsere abendländische Gesellschaft je

so christlich, wie wir vermuten? War es

wirklich unser Jerusalem, wie wir rückschauend

vermuten, oder war es auch

immer schon Babylon? Liegt ein Teil

unserer Depression nicht in der falschen

Annahme, es hätte einmal eine

Zeit gegeben, in der der Geist Christi

eine selbstverständliche Stätte in unserer

Gesellschaft gehabt hätte, heute

aber sei jener Geist verjagt und aufgegeben.

Ja, religiös war diese alte Welt.

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Mitteilungen aus dem Thüringer Pfarrverein Nr. 01-2022

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