Mitteilungsblatt Thüringer Pfarrverein Jahresheft 2022
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in die Schulbänke gezwungen werden,
dass die Politik den Abbau von Krankenhausbetten
finanziell belohne. In
dieser „Analyse“ kommt die Gefährdung
durch das Virus in keinem Satz vor.
Nachdem so der gesellschaftliche Schaden
bestimmt ist, fährt er mit Martin Luthers
Auslegung der zehn Gebote fort,
beginnend mit dem fünften: „Wir sollen
ja Gott fürchten und lieben und unserm
Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden
zufügen“. Dies geschehe aber, wenn
man den Bestimmungen folge. Michaelis
fährt mit Zitaten zum 7. und 8. Gebot
fort. Aus der Confessio Augustana,
Art. 16, zitiert er dann sinngemäß: Einer
Obrigkeit – wie er völlig undifferenziert
demokratisch Gewählte und offenbar
auch Kirchenleitende charakterisiert
– die etwas anordnet, das ohne Sünde
nicht befolgt werden kann; dieser
Obrigkeit dürfe ein Christ nicht gehorchen,
sondern es gilt: „Man muss Gott
mehr gehorchen als den Menschen.“
Was der selbsternannte Lutherkenner
aber völlig verkennt, ist, dass der Gegenstand
des Widerstands bei Martin
Luther ja die kirchlichen Bestimmungen
sind. Er wendet sich – auf seinem eigenen
Fachgebiet, der Theologie – gegen
kirchliche Satzungen, insbesondere die
Bußsatzung, sowie Zeremonien, die
nicht der Grundlage der heiligen Schrift
entsprächen, sondern durch kirchliche
Konzilien beschlossen worden sind.
Luther und die Pest: Drastische Maßnahmen
Völlig andere Töne schlägt derselbe
Martin Luther allerdings an, wo es um
die Bekämpfung einer Seuche wie der
Pest geht. Mit seiner 1527 erschienenen
Schrift „Ob man vor dem Sterben fliehen
möge“ beantwortet er eine Anfrage
der Breslauer Pfarrerschaft: Soll man
sich vor der Pest in Sicherheit bringen
– oder vor Ort bleiben, um seelsorgerlichen
Beistand zu gewährleisten.
Das ist die Frage – und Luther wende
sich in keinem Wort gegen die
überaus strengen Verordnungen des
städtischen Rats zu Bekämpfung der
Krankheit oder stellt die Sinnhaftigkeit
einzelner Bestimmungen in Frage
oder fordert dazu auf, sie zu überprüfen.
Wer in der Stadt bleibt, setzt sich
der Ansteckungsgefahr aus, das ist klar.
Um zu erörtern, was des Christen
Pflicht in dieser Lage ist, orientiert
sich Luther ausschließlich daran, ob
der Dienst für die Versorgung der (erkrankten)
Bevölkerung notwendig ist.
So sollten Seelsorger, Bürgermeister
und Amtsleute, Ärzte und Pflegende
in der Stadt bleiben, sofern ihr Dienst
notwendig gebraucht werde [228].
Gegebenenfalls könnten die Pfarrer
untereinander ausmachen, wer zur
Versorgung der Menschen bleibt und
wer sich in Sicherheit bringt [ebd.].
Da es sich bei der Pest um eine Strafe
Gottes handle, hält er diejenigen, die
stark im Glauben seien für weniger ansteckungsgefährdet
– und sollten sie
trotzdem den Tod erleiden, so tun sie
es im gottwohlgefälligen Dienst für
den Nächsten. Wer sich allerdings für
im Glauben stark und somit immun
gegen die Krankheit hält, wer aus diesem
Grund die Arznei verachtet und
Personen nicht meidet, die die Pest gehabt
haben oder von ihr genesen sind
– die also die Quarantäneregeln missachten
– die vertrauten nicht auf Gott,
Mitteilungen aus dem Thüringer Pfarrverein Nr. 01-2022 9