09.11.2022 Aufrufe

Mitteilungsblatt Thüringer Pfarrverein Jahresheft 2022

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

ein Bild des freien Fluges und schwereloser

Schönheit. Aber haben Sie einer

Balletttruppe schon einmal beim Üben

zugesehen? Eine mühsame Knochenarbeit.

Stunden um Stunden wiederholen

die Tanzenden eine Einstellung, eine

Szene, eine Kombination, bis sie ihnen

zur zweiten Natur geworden sind und

bis es uns als pure Leichtigkeit und Mühelosigkeit

erscheint. Erst aus diesen

harten Übungen entsteht etwas Neues.

So ist es mit unsren geistlichen Übungen

und Sitten. Darum die Frage: gibt

es geistliche Sitten, die uns in glanzloser

und mühseliger Regelmäßigkeit vertraut

machen mit der Schönheit unserer

Tradition. Glanzlos nenne ich diese

Sitten. Denn alles, was man regelmäßig

tut, ist nicht aufregend, ist nicht bezaubernd,

ist oft genug langweilig und kein

Seelenbad. Aber solche Sitten bilden

unsere Herzen. Es sind köstliche Nutzlosigkeiten,

die uns langfristig machen.

Wenn wir dafür keine Zeit haben, leben

wir falsch. Wir brauchen Lebenssitten,

die uns vor der unfruchtbaren Mühe

befreien, ständig „authentisch“ zu sein.

Eine Sitte bindet mich nicht, sie gürtet

mich. (Es gibt aber auch Sitten die

fesseln). Ich liebe das Wort „Sitten“, es

hat nichts mit Moral zu tun. Es sind Verhaltensvorschläge

und Lebensregeln,

die von zermürbenden Entscheidungszwängen

befreien. Wo es Sitten gibt,

sind wir nicht nur auf die Kraft unseres

eigenen Herzens angewiesen. Sitten

sind geronnene Lebensweisheiten, die

mich von meiner eigenen Zufälligkeit

befreien. Sitten sind Selbstbegrenzungen,

die unsere Freiheit fördern und

nicht zerstören. Alles, was produktorientiert

ist, scheint seine Rechtfertigung

in sich selbst zu finden. Die Meditation

und das Gebet rechtfertigen sich nicht

durch ihre Ergebnisse. Wenn wir in

unserem Beruf keine Zeit für die wundervollen

Zwecklosigkeiten haben, keine

Zeit für die Lesung, die Meditation,

das Gebet, dann leben wir falsch. Dies

ist ein Plädoyer für die nichtverwertbaren

Schönheiten unserer Tradition.

Stefan Hessel, ein grosse alte Mann des

Widerstands, wurde gefragt, wie er im

hohen Alter trotz aller Niederlagen die

Hoffnung behalte. Er antwortete: Hört

Mozart, lest Hölderlin und Goethe. Bei

soviel Schönheit kann man die Hoffnung

nicht verlieren. Mir geht es nicht

darum, dass wir in unserem Beruf Meister

und Meisterinnen religiöser Erfahrungen

werden, sondern darum dass

wir unser Handwerk verstehen. Für unsere

geistige Konstitution ist nicht die

außerordentliche religiöse Erfahrung

wichtig, sondern die alltägliche, treue

und unaufgeregte geistige Arbeit: die

Lesung, die Vertiefung, die Übung. Darum

benutze ich solche einfachen Begriffe

wir Sitten, Arbeit und Handwerk.

Religiöse Höhepunkte mögen kommen

oder auch nicht. Maßgebend ist die unaufgeregte

geistliche Arbeit im Alltag.

Bemesst euch selbst nicht nur an Euren

Aktivitäten! Lasst Zeit für ihre geistliche

Bildung und zum Lesen! Eine meiner

Standartfragen in der Weiterbildung mit

Pfarrern hieß: Haben Sie in den letzten

drei Monaten ein theologisches Buch

ohne Verwendungsabsichten gelesen?

Diese Frage hat oft pure Heiterkeit ausgelöst.

Als ob uns dazu Luft bliebe, sagten

viele. Also verschaffen Sie sich Luft!

Damit komme ich zu der Frage: Tue ich

etwas, was ich nicht tun muss; was auch

Mitteilungen aus dem Thüringer Pfarrverein Nr. 01-2022 33

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!