LFA69_RZ-21.10.22
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NR. 69 NOVEMBER 2022
in die Elbmündung – und ließ das Tageshochwasser
kaum mehr zurücklaufen.
Oben links: Neues Brack in Francop,
oben: Hohenwischer Straße
Der Zeitzeuge Günter Diercks, damals 30
Jahre alt, erhielt den Auftrag, die Anwohner
des Neuenfelder Fährdeichs zu informieren,
dass sie die Flutschutzschotten in
die Deichdurchfahrten einzusetzen hätten,
da in der Nacht mit einer schweren
Sturmflut zu rechnen sei. Er erinnert sich:
„Als ich meinen Gang über den Fährdeich
machte, reichte das Wasser nicht ganz an
die außendeichs gelegenen Straße heran, die
2 m über dem normalen Hochwasser lag.“
In den folgenden Stunden spitzt sich die
Lage dramatisch zu: „Das Wasser stieg
und stieg, dabei sollte erst gegen Morgen
„Hochwasser“ sein. Bei diesem Gedanken
war mir gar nicht wohl. Ich fuhr nach Hause
und sagte zu meiner Frau: ‚Heute Nacht
werden die Deiche nicht halten!‘“. Sein eigenes
Haus liegt so hoch, dass es nicht unmittelbar
gefährdet war. Die ganze Nacht
setzen er und viele andere Dorfbewohner
ihr Leben dafür ein, diejenigen zu retten,
die weniger Glück mit der Lage hatten.
Das Niedrigwasser gegen 20 Uhr entsprach
etwa dem normalen Tidehochwasser.
Bereits kurz nach Mitternacht kam es
zu ersten Deichüberflutungen. Insgesamt
brachen die Deiche allein auf Hamburger
Gebiet an mehr als 60 Stellen – mit verheerenden
Folgen für Mensch und Tier. Günter
Diercks: „Ich stand bloß ein paar Meter vom
Bruch entfernt und sah das Wasser mit voller
Wucht in die Liedenkummer Feldmark
schießen. Allein die Vorstellung, was das für
all die Menschen und Kreaturen darin bedeutete,
kann ich bis heute nicht vergessen.“
Wie Frieda Holst, eine andere Zeitzeugin,
in ihren Aufzeichnungen zu den Tagen nach
der Sturmflut schreibt: „Vor Feuer kann
man weglaufen, aber nicht vor Wasser.“
Die Hansestadt Hamburg beklagte in
Folge der Sturmflut 315 Tote, die allermeisten
davon südlich der Elbe. Ferner
verendeten den Angaben zufolge 2.500
Schweine, 1.500 Rinder, 125 Pferde, 90
Schafe sowie rund 20.000 Hühner und
sonstiges Geflügel. Für viele Höfe markiert
die Flut damit das Ende der traditionellen
Selbstversorger-Landwirtschaft.
Im Nachhinein stellt sich heraus, dass die
Katastrophe sowohl vom verzögerten Warnverhalten
der Hamburger Behörden als
auch vom teilweise dramatisch schlechten
Zustand der in der Nachkriegszeit stark vernachlässigten
Deiche begünstigt worden war.
Ist heute alles besser?
Um die Region künftig besser zu schützen,
wurden nach der Sturmflut unter anderem
Deiche verlegt und erhöht. Der Elbeseitenarm
Alte Süderelbe wurde vom Tidenstrom
abgetrennt und in ein stehendes Gewässer
umgewandelt. Die Idee, gerade diesen Schritt
mit hohen Investitionen wieder rückgängig
zu machen, sowie die fortgesetzte Vertiefung
und Verschlickung der Elbe, bereitet den
Menschen in der Region indes große Sorge.
Zum 60. Jahrestag der Ereignisse am 16.
Februar 2022 rief die Kirchengemeinde
Neuenfelde zur „Kreidestrich-Aktion“
auf: Die Teilnehmenden sollten mit einem
Strich an ihrer Hauswand die Höhe
der damaligen Flut markieren und sich
selbst damit fotografieren – auch wenn
der Bau erst nach dem Ereignis erfolgte.
Der Heimatverein „900 Jahre Neuenfelde“
stellte mit historischen Fotos,
Text- und Tondokumenten eine beeindruckende
Ausstellung zusammen, die
zusammen mit den rund 40 eingereichten
„Kreidestrich-Bildern“ in der Neuenfelder
Kirche präsentiert wurde. Die Interessengemeinschaft
Süderelbe stellte an den
Stellen, an denen der alte Deich gebrochen
war, Schilder mit historischen Fotos auf.
Passenderweise herrschte mit Sturmtiefs
„Xandra“, „Ylenia“ und „Zeynep“ genau
zum Jahrestag eine ähnliche Wetterlage
wie 1962. Mit einer Serie an Hochwassern,
die in Hamburg in der Spitze 5,90 Meter
über Normalhöhennull lagen – 20 Zentimeter
über dem Höchststand von 1962. Obwohl
viele Zeitzeugen die Situation damals,
schon allein aufgrund der begleitenden polaren
Kaltfront mit entsprechenden Niederschlägen,
als „viel schlimmer“ beschrieben,
sorgte die Analogie für ein erhöhtes Bewusstsein
in der Bevölkerung und hohe Besucherzahlen
der Ausstellung in der Kirche.
Nicht nur die Zeitzeugen hoffen, dass das
Thema Hochwasserschutz nicht wieder zugunsten
von vermeintlich wichtigeren Interessen
vernachlässigt wird, sodass in der Elbregion
keiner mehr vom Wasser überrascht
werden kann.
Susan Stehr
Die Fotos hat uns der Heimatverein Neuenfelde
aus seinem Archiv zur Verfügung gestellt. Es ist
nicht mehr klar festzustellen, wer die Fotos gemacht
hat, weil viele Anwohner damals Abzüge
davon erhalten haben.
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