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Von Bischof zu Bischof - Rotpunktverlag

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198 In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

publizierte er das Projekt unter dem Titel »Canaux de montagne. Nouveau système<br />

de transport naturel par voie d’eau«; schon die zahlreichen Abbildungen zeugen<br />

von der Kühnheit des Projekts.<br />

Caminada schlug nichts weniger als eine 591 Kilometer lange Wasserstraße<br />

von Genua über Alessandria, Milano, Como, Chiavenna, den Splügenpass und den<br />

Bodensee bis nach Basel vor, davon 43 Kilometer in den von ihm erfundenen, den<br />

Berg hinaufführenden Rohrschleusen. Erst auf rund 1200 Metern Höhe, zwischen<br />

Isola und der Roflaschlucht, sah er einen 15 Kilometer langen Tunnel vor.<br />

Das Projekt machte rasch Schlagzeilen. »È possibile traversare le Alpi con un<br />

canale?«, fragte der Mailänder »Corriere della Sera« auf der Frontseite. Und die<br />

Sonntagsausgabe der »New York Times« brachte einen reich illustrierten Artikel<br />

»Project for a Waterway across the Alps«. Und die »Weltrundschau <strong>zu</strong> Reclams Universum«<br />

berichtete im Januar 1908, Caminada, »einer der hervorragendsten jetzt<br />

lebenden Wasserbautechniker«, habe einen Kanal erfunden, »der im vollsten Sinne<br />

des Wortes über die Alpen hinwegführt, der an den Abhängen der Berge emporklettert«.<br />

Anstelle der herkömmlichen Schleusen, in denen Schiffe vertikal angehoben<br />

werden, schlug Caminada ein kräfteschonenderes System vor, Autoidroferiche,<br />

wie er seine schrägen Rohrschleusen nannte.<br />

Halten wir uns (leicht gekürzt) an die Zusammenfassung in der populären »Weltrundschau«:<br />

»Caminada hat ein neues Kanalsystem erdacht, das wir uns am besten<br />

vorstellen können, wenn wir uns das Rohr einer Wasserleitung vor Augen halten,<br />

das vom Hauptreservoir über Hügel und Berghänge herab <strong>zu</strong>r Stadt führt.<br />

Ähnliche Röhren, natürlich von bedeutend größerem Durchmesser, will Caminada<br />

überall da, wo die Terrain- und Wasserverhältnisse dies nötig machen, als Kanalbett<br />

verwenden. Die Röhren sind im Innern mit einer großen Anzahl von Schleusentoren<br />

versehen, wodurch sie in einzelne längliche Schleusen zerfallen. Sie führen<br />

nun mit wechselnder Neigung an den Berghängen entlang und klettern –<br />

ähnlich wie die Alpenstraßen – in Serpentinen auf die Höhe hinauf.«<br />

Reclams »Weltrundschau« weiter: »Im Innern [der Röhren] liegt eine Schiene.<br />

Soll nun ein Schiff über die Alpen gebracht werden, so fährt es in die unterste<br />

Schleuse ein, deren Tor sich hinter ihm schließt. Es wird dann durch zwei Rollen mit<br />

der Schiene verbunden, so dass es auf dieser in langsamer Steigung empor<strong>zu</strong>rollen<br />

vermag. Dann wird Wasser in die Schleuse eingelassen, das sich <strong>zu</strong>nächst am<br />

tiefsten Teile, hinter dem Schiffe, <strong>zu</strong> sammeln beginnt, und das in dem Maße, wie<br />

die Wassermenge anwächst, das Schiff vor sich her schiebt, so dass dieses allmählich<br />

vorwärts und aufwärts befördert wird, bis es das Niveau der nächsten<br />

Schleuse erreicht, die sich als direkte Fortset<strong>zu</strong>ng des Rohres anschließt.«<br />

Kur<strong>zu</strong>m: Anstelle vertikal funktionierender Stufenschleusen sehe Caminada fort-<br />

laufende Rohrschleusen vor, und zwar doppelt geführte, weil so das Wasser »doppelt«<br />

verwendbar sei: »Es müssen immer zwei Schiffe gleichzeitig geschleust werden,<br />

ein bergauf und ein bergab fahrendes.«<br />

Das italienische Parlament beschäftigte sich mit Caminadas kühnem Wurf, der<br />

König empfing ihn <strong>zu</strong> einer Audienz, Professoren schlugen Optimierungen des Systems<br />

vor. Allein – der Weltkrieg stoppte die Bemühungen, und danach gelang kein<br />

Neustart, obschon Caminada nach dem Krieg in einem zweibändigen monumentalen<br />

Werk »Le autoidroferiche« ein überarbeitetes Projekt präsentierte.<br />

In Graubünden hatte sich unter anderem der Ingenieur- und Architektenverein<br />

Chur mit der Splügen-Wasserstraße beschäftigt, doch wurde die Erfindung des berühmten<br />

Sohnes in dessen Heimat zwiespältig aufgenommen. Die Gotthardbahn<br />

hatte 1882 den Warentransport auf der Splügenroute <strong>zu</strong>sammenbrechen lassen;<br />

die arbeitslosen Säumer verwünschten die Lokomotive, »diesen Brotschelm«. Die<br />

Politiker setzten auf eine Ostalpenbahn und je nach Herkunft auf eine Septimer-,<br />

Lukmanier-, Greina- oder Splügenbahn. Die Ostalpenbahnlobby, der die Felle ohnehin<br />

davonschwammen (wenn auch nicht in den schrägen Rohrschleusen), sah in<br />

Caminadas Erfindung eine Konkurrenz und fürchtete eine weitere Verzögerung.<br />

»Uns wäre besser gedient, wenn die Italiener sich einmal energisch aufraffen und<br />

fest erklären würden, wir geben so und so viele Millionen an die Splügenbahn«,<br />

also an das Projekt einer Bahnlinie Chur–Chiavenna, schrieb beispielsweise die<br />

»Bündner Post«.<br />

Das »Schweizer Baublatt« würdigte das Projekt wohlwollend, es gehöre »nicht<br />

<strong>zu</strong> den unsinnigen Plänen«, <strong>zu</strong>mal der Businessplan (wie man heute sagen würde)<br />

mit deutlich günstigeren Frachtkosten als jene der Bahn rechne. Mit Caminadas<br />

Kanal könnte man die vom Mittelmeer kommenden Güter wie »Getreide, Baumwolle,<br />

Wolle etc. direkt ins Herz der Schweiz führen und Italien Kohle und Metalle<br />

aus Mitteleuropa <strong>zu</strong>führen«.<br />

In den anderthalb Jahrzehnten, in denen Caminada in Rom an seinen »Autoidroferiche«<br />

arbeitete, war ihm der Splügenpass stets sehr nahe – in den eigenen vier<br />

Wänden, wie der andere Caminada im »Bündner Tagblatt« berichtete: »Ein Bild seiner<br />

Tätigkeit bietet sein Haus in Rom, wo er in der Wohnung das gesamte Schleusensystem<br />

in verschiedenen Varianten en miniature eingerichtet hat.«<br />

Pietro Caminada, Canaux de montagne. Nouveau système de transport naturel par voie d’eau, Rom<br />

1907.<br />

Kurt Wanner, »Pietro Caminada und seine ›via d’acqua transalpina‹. Ein wenig bekanntes Kapitel in<br />

der Geschichte des Splügenpasses.« In: Bündner Monatsblatt, 2/2005, Chur.<br />

199

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